Middelhoff - Massimo Bognanni - E-Book

Middelhoff E-Book

Massimo Bognanni

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Beschreibung

Mit diesem Buch erhalten Sie das E-Book inklusive! Thomas Middelhoff: Wirtschaftsgeschichte hautnah »Big T«: Gefeierter Vorstandschef bei Bertelsmann, Privatflüge auf Firmenkosten, Karstadt-Pleite, Graupensuppe in der JVA Essen. Kaum ein Manager ist in der Öffentlichkeit so zum Symbol für Gier und Größenwahn geworden wie Thomas Middelhoff. Eine Karriere wie im Rausch. Ein Absturz mit Privatinsolvenz und Gefängnis, ohne Reue und ohne Sympathien. Und die offene Frage: Wo sind die vielen Millionen geblieben? In der ersten auf dem Markt befindlichen Biografie gibt der preisgekrönte Reporter Massimo Bognanni unbekannte Einblicke in Aufstieg und Fall des einstigen Shootingstars - dieses Buch ist kritisch, erhellend und spannend wie ein Krimi. - Bognanni beschreibt den spektakulären Fall vom bestbezahlten Manager der Republik zum verurteilten Straftäter. - Das Buch über »Big T« mit exklusiven Recherchen und spannenden Enthüllungen.

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Massimo Bognanni

MIDDELHOFF

ABSTIEG EINES STAR-MANAGERS

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Vom bestbezahlten Manager der Republik zum verurteilen Straftäter

»Big T«: Gefeierter Vorstandschef bei Bertelsmann, gescheiterter Karstadt-Retter, Privatflüge auf Firmenkosten, Graupensuppe in der JVA Essen. Kaum ein Manager ist in der Öffentlichkeit so zum Symbol für Gier und Größenwahn geworden wie Thomas Middelhoff. Eine Karriere wie im Rausch. Ein Absturz mit Privatinsolvenz und Gefängnis, ohne Selbstkritik und ohne Reue. Und die offene Frage: Wo sind die vielen Millionen geblieben?

In dieser auf tiefgreifenden Recherchen beruhenden Biografie gibt der vielfach ausgezeichnete Reporter Massimo Bognanni bislang unbekannte Einblicke in Aufstieg und Fall des einstigen Shootingstars – kritisch, erhellend und mit spannenden Enthüllungen.

Vita

Massimo Bognanni ist Reporter im Investigativteam beim Handelsblatt. Jahrelang hat er die Hintergründe von Thomas Middelhoffs Karriere recherchiert, seinen Strafprozess verfolgt und unzählige Gespräche geführt. 2016 veröffentlichte er im Campus Verlag gemeinsam mit Sven Prange das Buch Made in Germany.

Inhalt

Einleitung

1. Die Apokalypse

2. Spätzünder

3. Eine Ohrfeige namens Mohndruck

Go East

Wiedersehen in Gütersloh

Windbeutel of Change

Westfälischer Unfrieden

4. Dealmaker

Jackpot AOL

Kaufrausch

Erste Dissonanzen

Die Entscheidung

Krönung mit Kratzer

Big T am Big Apple

Rückkehr des verlorenen Sohns

5. Planet M

Gas, Gas, Gas

Schatten der Vergangenheit

Duftmarken

Unter Haien

Cash is king

Wössners Ende

Bestverdiener per Vertrag

Expo 2000

Gestutzte Flügel

Champagnerwette und Katerstimmung

Geldsorgen

Online ist tot, es lebe das Fernsehen!

Premierenfieber

Der Machtkampf

Das Ende

6. Comeback-Boy

Geister der Vergangenheit

Milliarden aus dem Morgenland

Die Versuchung

Tristesse

Diagnose: Intensivstation

Wer Wind sät …

Der Geheimplan

Achenbachs Abgang

7. Seine Majestät

Sale! Ausverkauf!

Geldsammler

Märchen-Sommer

Auf PR-Tour

Erbsenzähler

Highstreet

Medici

Risse

Big T, Big Show

Rohe Weihnacht

Megatrend Tourismus

Gute Governance, schlechte Governance

Ar-can-dor

Karstadt-Krise

Hängepartien

Hattrick

Projekt Big

Nackter Konzern

Germany 1

Heißer Herbst

Rabenschwarzer Mittwoch

Nacht und Nebel

Klassentreffen

Das Ende

8. Vom Jäger zum Gejagten

Enthüllungen

Die Arcandor-Pleite

AEG Power Solutions

Pleitegeister

Razzia

Krieg mit Josef

Small T

Abschied von den Windesbleichen

PR-Show, PR-GAU

Nackenschläge

9. Der Gerichtssaal als Showbühne

10. Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen

Die Insolvenz

Folter-Gate

Zurück ins Gefängnis

Danksagung

Resümee

Quellenverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Einleitung

Der Termin wäre uns beinahe durchgerutscht. Beginn des Prozesses am Landgericht Essen gegen den früheren Arcandor-Chef Middelhoff wegen Vorwurfs der Untreue, vermeldete die tägliche Themenvorschau für den 6. Mai 2014 nüchtern. Ich war seinerzeit 29 Jahre alt, Reporter bei Deutschlands führender Wirtschaftszeitung, dem Handelsblatt. Solche Strafprozesse waren nicht selten dröge Veranstaltungen. Die Angeklagten, die ich bislang erlebt hatte, huschten an den wartenden Journalisten vorbei, versteckten sich hinter ihren Anwälten. Stundenlang wurden Klageschriften verlesen, Anwälte trugen Anträge vor. Und so fiel mir, dem Jungreporter, der Job zu, aus dem Gerichtssaal zu berichten.

Doch dieser Auftrag war ein Glücksgriff. Thomas Middelhoff war anders. Bevor ich ihn das erste Mal live sah, hörte ich ihn schon. Eine laute, tiefe Stimme dröhnte aus einem Pulk von Journalisten. Ich drängelte mich dazu. Wie in einem »Townhall-Meeting« tigerte Middelhoff über eine imaginäre Bühne, die ihm die Journalisten bereiteten. Der groß gewachsene Mann war eine Erscheinung. Die Haut braun gebrannt, der Anzug saß perfekt. Voller Inbrunst beteuerte er seine Unschuld, noch bevor der Prozess überhaupt begonnen hatte.

Am gleichen Tag legte er auch dem Gericht seine Sicht der Dinge dar. Er, der gläubige Katholik und fünffache Familienvater, so der Tenor, sei das Opfer einer von Staatsanwälten, Insolvenzverwaltern, Journalisten konspirativ angezettelten Hetzkampagne. Und die deutsche Öffentlichkeit mit ihren Biertischen und Neidhammeln habe dies gierig aufgesogen.

Drei Stunden lang redete Middelhoff und klang dabei recht überzeugend. War »Big T«, der vielen als böse Fratze des Kapitalismus galt, wirklich so schlimm?, fragte ich mich, oder war er Beute von Ermittlern im Jagdfieber geworden? Hatten ihn alle zu Unrecht vorverurteilt? Waren wir es, die das Problem hatten? Die einfach nicht verstanden, was Manager in solchen Konzernen eigentlich auf sich nehmen? Wie unwichtig da ein paar Flugreisen und ein hübsches Geburtstagsgeschenk auf Firmenkosten waren?

Andererseits, so schoss es mir durch den Kopf, was wäre, wenn sein Handeln tatsächlich kriminell war? Wie abgehoben wäre dieser Middelhoff, sich hier so vor das Gericht zu stellen? Mit welcher Arroganz war er hier aufgetreten? Über 80 gedruckte Seiten vorzutragen, auf denen er hauptsächlich seinen Zuhörern von oben herab referierte, warum für ihn die Vorwürfe im Grunde Lappalien waren.

Schließlich war Thomas Middelhoff einst der schillernde Posterboy der deutschen Wirtschaft, angestellt bei einem der weltweit größten Medienkonzerne: bei Bertelsmann. Hier war Middelhoff nicht nur einer der einflussreichsten Manager der Republik, er war ein Star. Wunderkind der deutschen Wirtschaft, Tempomacher, Dealmaker, High-Flyer – die deutsche Presse überschlug sich. Sie feierte einen Mann, der es mit 45 Jahren an die Spitze des Bertelsmann-Konzerns gebracht hatte. Der »erste Popstar an der Spitze des Medienhauses«, befand das Manager Magazin. Das amerikanische Time-Magazin wählte Middelhoff 1996 unter die zehn dynamischsten Deutschen, die der Gesellschaft »den Weg in das neue Jahrtausend weisen«.

Und er hatte in der Tat einiges vorzuweisen. Durch die von Middelhoff eingefädelte Übernahme des US-Verlages Random House 1998 wurde der Konzern im Buchgeschäft die Nummer eins der Welt. Mit dem Kauf der Mehrheit an der Sendergruppe RTL sicherte »Big T«, wie Freund und Feind ihn rief, dem Unternehmen eine der rentabelsten Privatfernsehfirmen.

Nach dem Platzen der Dotcom-Blase verlor Middelhoff allerdings an Auftrieb und Geltung. Als er dann in Zeiten abnehmenden Scheinwerferlichts Bertelsmann partout an die Börse bringen wollte, fiel er auch noch beim Unternehmenspatriarchen Reinhard Mohn in Ungnade. 2002 kam er seinem Rauswurf mit einer Kündigung zuvor – nicht unüblich in solchen Fällen.

Der stets breit strahlende Sunnyboy fiel weich. Als einer der bestbezahlten Manager Europas vertrieb er sich die Zeit in London bei der Beteiligungsgesellschaft Investcorp. Er suchte Anlageobjekte für Scheichs, war das deutsche Gesicht der so gescholtenen Private-Equity-Industrie.

Doch ihn drängte es zurück auf die große Bühne. Es schien, als wollte er Rehabilitation in der Beletage der deutschen Wirtschaft. Das Bild, bei Bertelsmann einfach vom Hof gejagt worden zu sein, sollte nicht stehen bleiben. So konnte Middelhoff nicht widerstehen, als ihn Quelle-Erbin Madeleine Schickedanz 2004 fragte, ob er dem angeschlagenen Handelskonzern KarstadtQuelle helfen könne. Vor allem aber suchte die Großaktionärin jemanden, der ihr privates Vermögen rettete.

Middelhoffs Regie im Reich der Handelswaren ließ sich zunächst gut an. Mit raffinierten Deals, undurchschaubaren Zahlen und vor allem viel Euphorie verhalf Middelhoff KarstadtQuelle zu neuen Höhen. Er taufte den Konzern in Arcandor um, der Aktienkurs stieg von knapp 8 Euro bei seinem Amtsantritt auf fast 30 Euro im Jahr 2007.

Wenige Monate später kam der Wendepunkt. Von nun an ging es nur noch bergab. Für Arcandor. Und für Middelhoff.

Und die weltweite Finanzkrise 2008 gab dem angeschlagenen Handelsriesen den Rest. Middelhoff wurde ein zweites Mal zur Tür hinauskomplimentiert. Kurz darauf meldete Arcandor Insolvenz an. Der Name Middelhoff klebte wie ein Warnschild an einer der größten Pleiten der deutschen Wirtschaftsgeschichte.

Er hatte das Arcandor-Reich noch nicht ganz verlassen, da hielt sich hartnäckig der Verdacht, Middelhoff habe beim kriselnden Konzern in die Kassen gegriffen. Die Bundesjustizministerin forderte am 4. Juni 2009 Ermittlungen. Spezialisten von der Bochumer Schwerpunktstaatsanwaltschaft für Wirtschaftskriminalität hefteten sich an seine Fersen. Es folgte der beispiellose Absturz eines Superstars. Middelhoff wurde der Prozess gemacht.

Ab dem 6. Mai 2014 saß ich regelmäßig im Gerichtssaal. Das Medieninteresse des ersten Verhandlungstages war schnell verflogen, immer schlechter gelang es Middelhoff zu verbergen, wie sehr ihn das ganze Verfahren nervte. Und dennoch bot der Prozess mehr als eine gewöhnliche Gerichtsreportage. In der ersten Reihe sitzend, lauschte ich den Ausführungen des Richters, als mir aus dem Zuschauerraum jemand eine Kaugummiverpackung unterschob. Auf der Rückseite stand geschrieben: »Folgen Sie in der Mittagspause dem Mann mit dem pinken Polohemd. Es ist ein Gerichtsvollzieher.«

Der Tipp bewahrheitete sich. Der Mann im Polohemd war tatsächlich ein Gerichtsvollzieher, geschickt von Middelhoffs mächtigen Gläubigern, darunter die Beraterlegende Roland Berger. In der Mittagspause bat der Beamte Middelhoff in einen Mediationsraum des Gerichts, überreichte unangenehme Post. Termine wie diese wiederholten sich. Der Schuldner musste sein Portemonnaie wenden. Taschenpfändung.

Die Schlammschlacht des inzwischen hochverschuldeten Middelhoff mit seinen Gläubigern beschäftigte mich noch für Monate. Ich gewann immer tiefere Einblicke und ging schließlich der Frage nach, ob Middelhoff versuchte, während des Prozesses Firmen und Vermögenswerte auf einen seiner engsten Berater und langjährigen Anwalt zu übertragen: Hartmut Fromm.

Der Berliner Jurist, den Middelhoff bereits aus Bertelsmann-Zeiten kannte, fragte mich im Herbst 2016, ob ich mir vorstellen könne, an einer Biografie über Herrn Middelhoff mitzuwirken. Middelhoff habe bereits erste Gedanken zu Papier gebracht, ich könne sie mir anschauen, um eine Einschätzung abzugeben.

Fromm residiert in einer Villa am Dianasee, im Berliner Nobelviertel Grunewald. Auf schweren Sitzmöbeln präsentierte er mir mehrere Ordner. Das sei Middelhoffs Biografie, sagte Fromm – und entschwand zu einem Termin. Später wollte er meine Meinung hören. Zwischen allerlei Gemälden und Skulpturen sitzend, zog ich den ersten Ordner zu mir heran. Die Seiten waren mit einer raumgreifenden Handschrift beschrieben.

Was ich auszugsweise las, stimmte mich misstrauisch. Es war das Bild einer glanzvollen Managerkarriere, sabotiert durch eine jahrelange, ungerechte Medienkampagne, beendet von einem skandalösen Urteil des Landgerichts Essen. Keine Reue, keine Demut, keine Selbstkritik.

Einen Tag später antwortete ich dem Middelhoff-Anwalt per Mail, dass ich mir vorstellen könnte, Koautor einer Biografie zu sein. Allerdings nicht als Ghostwriter, der das Manuskript nur »ins Reine« brachte. Vielmehr wäre ich ein Konterpart, der mit Nachfragen und Recherchen hilft, einen authentischen, in allen Teilen auch belegbaren Text zu schreiben. Middelhoff jedoch hatte daran offenbar kein Interesse.

Als ich von Rechtsanwalt Fromm einen der Textordner als Stichprobe überreicht bekam, sicherte ich zu, diese nicht ohne Absprache zu veröffentlichen. Ich werde mit diesem Buch nicht dagegen verstoßen. Im Gegenteil. Dieses Buch ist aus kritischer Distanz entstanden.

Um Thomas Middelhoffs Leben ranken sich unzählige Legenden. Viele wurden von ihm selbst in die Welt gesetzt. Ich beschloss, mit den Recherchewerkzeugen eines Investigativreporters, kritisch und fair die einzigartige Karriere von Thomas Middelhoff aufzuarbeiten, seine Vita akribisch und gewissenhaft zu rekonstruieren. Dieser Text lässt die Fakten sprechen und basiert auf zahlreichen Quellen.

Ich interviewte Dutzende Zeitzeugen – Freunde wie Feinde Middelhoffs, engste Weggefährten wie energische Widersacher. Darunter ranghohe Politiker, mächtige Konzernlenker, Vorstandskollegen und Aufsichtsräte, PR-Berater und Journalisten, Assistenten und Sekretärinnen, Kommilitonen, Mitschüler, Nachbarn. Ich nutzte Stadt- und Unternehmensarchive, fragte Historiker, Ministerien, nutzte Auskunfteien, fuhr ins Bundesarchiv nach Koblenz. Zehntausende Seiten von Gerichtsunterlagen und unveröffentlichten Dokumenten ergänzten das Bild ebenso wie Informationen aus Hunderten Presseartikeln.

Stück für Stück fügte sich ein Mosaik dieses glänzenden Netzwerkers und Menschenfängers zusammen, der hinter seiner Maske des stets fröhlichen Grinsens ebenso Unsicherheiten wie aggressiven Machthunger verbarg. Finden sich in diesem Werk Wertungen über Thomas Middelhoff, so wurden sie von Menschen getroffen, die eng mit ihm zusammenarbeiteten, ihn bestens kannten.

Middelhoff selbst weigerte sich, auf meine Nachfragen einzugehen. Eine von Rechtsanwalt Fromm übermittelte Zusage zu einem Hintergrundgespräch nahm er unvermutet zurück. Auf Anrufe und SMS reagierte er nicht. Mitte Mai 2017 fuhr ich ins Landgericht Essen. Dort saß er erneut auf der Anklagebank. Dieses Mal warf die Staatsanwaltschaft Middelhoff vor, er habe Aufsichtsräte angestiftet, ihm einen ungerechtfertigten Millionenbonus auszuzahlen. Middelhoff bestritt dies. Das Verfahren gegen ihn wurde – mit Blick auf die bereits verhängte Gefängnisstrafe – eingestellt.

Ich versuchte, Middelhoff meine Fragen zu überreichen. Starren Blickes schritt er an mir vorbei. Ich übergab meine Fragen seinem Anwalt Fromm. Zu meinem Bedauern hat Thomas Middelhoff auf die Gelegenheit kategorisch verzichtet, seine Sicht auf die Ergebnisse meiner Recherchen zu schildern.

In diesem Buch soll es um mehr gehen als um die Vita eines Managers. Es bietet auch ein Stück jüngere deutsche Wirtschaftsgeschichte. Dotcom-Blase und Internet-Hype, Konsumflaute und Warenhaussterben. Die Finanzkrise und ihre Folgen für die Weltwirtschaft. Die Managerkritik jüngerer Tage. Die Laufbahn des Topmanagers Thomas Middelhoff spiegelt all diese Entwicklungen und ist ein aufschlussreiches Zeitzeugnis.

1. Die Apokalypse

Thomas Middelhoff springt mit einem Strahlen aus dem nachtschwarzen Audi A8, als wolle er der Öffentlichkeit neue Rekordgewinne präsentieren. Es ist der 14. November 2014. Der Tag der Urteilsverkündung. Nach 35 Verhandlungstagen endet heute der Strafprozess gegen den einstigen Managerstar. Untreue soll Middelhoff begangen haben, drei Jahre und zwei Monate Gefängnis fordern die Ankläger.

Mit dynamisch wehendem Jackett steuert Middelhoff an diesem Morgen das Gerichtsgebäude an. Der blaue Anzug sitzt tadellos, der Hemdkragen ist weiß, die gepunktete Krawatte sitzt fest. Galant schiebt er sich als freier Mann durch die Sicherheitsschleuse des Landgerichts Essen. Small Talk mit den Beamten, Kleinkram und den braunen Aktenkoffer wirft er in eine Schale. Siegerlächeln.

Hinter der Schleuse großes Hallo mit den Anwälten. Der Staranwalt Sven Thomas, der sich beim Prozessstart noch schützend vor Middelhoff gestellt hatte, ist heute verhindert. Formel-1-Boss Bernie Ecclestone hat Sven Thomas in Beschlag genommen. Diese böse Korruptionsgeschichte, Middelhoff hat das Nachsehen.

Und so wartet die Zweitbesetzung auf Middelhoff. Der nervöse Jungjurist Udo Wackernagel, 32 Jahre, groß gewachsen, die dunklen Haare gescheitelt, hellgrauer Anzug, wirkt wie eine jüngere Version seines Mandanten. Wackernagel zur Seite steht der Stuttgarter Haudegen Dr. Winfried Holtermüller. Die Haupthaare weichen, dafür trägt der schwarze Schnurrbart dick auf. Wie ein Pfau seine Federn stellt Holtermüller den Louis-Vuitton-Schal zur Schau, die dazu passende Ledertasche hat er auch dabei. Für den Tag der Urteilsverkündung hat er die breite rote Krawatte gebunden.

Bevor es in den Saal geht, steuert das Trio die Gerichtskantine an, die Männer sitzen auf weißen Plastikstühlen. Vor ihnen steht ein Fläschchen Maggie-Würze, die pinken Blümchen der Tischdeko lassen den Kopf hängen. Der Espresso in der Kantine bietet eine letzte Atempause. Dann geht es rauf in Saal 101.

Schon im Treppenhaus umzingelt ein ganzer Pulk von Fotografen den Angeklagten. Kameraleute, ihr Arbeitsgerät geschultert, drängeln sich nach vorne. Reporter halten ihm Mikrofone wie Klappmesser ins Gesicht. Jedes Detail, jedes Statement taugt heute zur News. Journalisten zücken Handys und Tablets. Zeitungsredakteure schließen Wetten ab. Nur die Kühnsten setzen auf eine Gefängnisstrafe.

»Hier her, hier her!«, brüllen die Fotografen, als Middelhoff den Gerichtssaal 101 betritt. »Guten Morgen«, entgegnet er mit tiefer Stimme, lächelt in die Objektive. Nach einigen Minuten müssen die Fotografen weichen, in der holzvertäfelten Rückwand des Saals öffnet sich eine zuvor unsichtbare Tür. Richter Jörg Schmitt betritt in schwarzer Robe den von Neonröhren beleuchteten Hauptsaal, begleitet von seinen Kolleginnen Astrid Rohrschneider und Katrin Grönegräs, in diesem Prozess Beisitzerinnen, und Ersatzrichter Hans-Jürgen Konrad. Auch die beiden Schöffen ziehen mit ein.

Mit einem Ruck erheben sich die Zuschauer von den Stühlen. Alle Blicke kleben nun an Schmitt. Der Richter trägt die graumelierten Haare zurückgekämmt, die Brille gerahmt und die Krawatte – wie üblich – in Weiß. Aus seiner Sicht links stehen die Staatsanwälte Daniela Friese und Helmut Fuhrmann. Rechts wartet Thomas Middelhoff, flankiert von den Verteidigern, auf sein Urteil. Wenige Atemzüge lang herrscht angespannte Stille im Saal.

Der Satz, der Middelhoffs Leben in ein Davor und Danach, in das Leben eines Starmanagers und das eines Straftäters teilt, fällt um 9:25 Uhr. Richter Schmitt zieht das Mikrofon zu sich heran, verkündet, im Namen des Volkes, das Urteil. Drei Jahre Freiheitsstrafe. Middelhoff habe sich in 27 Fällen der Untreue, in drei Fällen der Steuerhinterziehung schuldig gemacht. Setzen, bitte!

Ein letztes Mal lächelt Middelhoff, dann verdreht er die Augen, als sei ihm gerade Senf aufs Hemd gekleckst, schließlich versteinert seine Miene. Der frühere Topmanager soll ins Gefängnis. Keine Geldstrafe, keine Bewährung, keine Auswege. 35 Verhandlungstage lang hatte er, braun gebrannt, den Rücken gerade durchgedrückt, seine Unschuld beteuert. Jetzt wirkt der 61-Jährige blass, er hat die Ellenbogen auf der Tischplatte, sein Kopf sinkt auf die gefalteten Hände, abwesend starrt er aus dem Fenster. Die mahnenden Worte des Richters – wabernde Wortfetzen aus dem Off.

Middelhoff habe davon gesprochen, um seine Ehre kämpfen zu wollen, holt Richter Schmitt aus. »Aber Ehre hat auch etwas mit Ehrlichkeit zu tun. Ich habe selten einen Angeklagten erlebt, der so oft unehrlich war. Sie sind an entscheidenden Stellen nicht ehrlich mit uns gewesen – vielleicht auch nicht mit sich selbst.« Noch nie in seiner Richterlaufbahn habe er solch »hilflose und abenteuerliche« Erklärungsversuche erlebt. »Mit einigen Aussagen haben Sie mich regelrecht vom Stuhl gehauen. Etwa mit der Aussage, Sie seien Mister Arcandor und lebensnotwendig für den Konzern. Nach dieser Argumentation hätte Ihnen Arcandor Ihr ganzes Leben zahlen müssen.«

Gegenstand des Urteils, so Schmitt, seien 26 private oder teilweise private Reisen, die sich Middelhoff als Vorstandsvorsitzender der Arcandor AG vom Unternehmen bezahlen ließ. Dies habe dem Konzern einen Schaden von 308 812 Euro und 14 Cent verursacht. »Sie haben sich dabei zunutze gemacht, dass Sie als Vorstandsvorsitzender Ihre Charterflugrechnungen ebenso wie Hotel- und Limousinenrechnungen ohne Beteiligung anderer freizeichnen konnten.« Ein Anspruch auf Übernahme der Kosten, befand Schmitt, bestand in keinem der abgeurteilten Fälle – und das sei Middelhoff jederzeit bewusst gewesen.

Nicht besser kommen bei Gericht die vielen Helikopterflüge der Jahre 2008 und 2009 an. Von seinem Anwesen in Bielefeld war Middelhoff in die Essener Arcandor-Zentrale geflogen. Für die 150 Kilometer standen dem Manager Dienstwagen und Fahrer zu, selbst eine Wohnung in Düsseldorf, Monatsmiete 3 500 Euro, hätte er nutzen können. Doch der Manager bevorzugte den Heli, um den gehassten Stau am Kamener Kreuz zu überfliegen. »Dann hätten Sie früher aufstehen müssen oder die Kosten selbst tragen«, urteilt Schmitt. Der Schaden: über 74 000 Euro. Ins Urteil fließt auch ein Helikopterflug von Düsseldorf nach Münster ein. Middelhoff sei mit dem Hubschrauber zu einer Hochschulsitzung seiner alten Uni geflogen, für 1 368 Euro. »Was hat das mit Arcandor zu tun?«

Da sind weitere Flüge mit Privatjets zu Nebenjobs, etwa nach New York, wo Middelhoff Aufsichtsratsmitglied der New York Times war. Entstandene Kosten pro Flug: 80 000 Euro und mehr. Nicht milder stimmten Richter Schmitt Middelhoffs Flüge nach Saint-Tropez auf Arcandor-Kosten. Middelhoff hatte sich verteidigt, er habe seinen Urlaub wegen dienstlicher Termine unterbrechen müssen, ihm stünde die Erstattung der »Heimflüge« zu. Papperlapapp, meint Schmitt. »Die Diensttermine standen schon lange fest. Wenn jemand nach Saint-Tropez will, sei ihm das gegönnt. Aber dann muss er bitte auch die Kosten selbst tragen! Was wäre denn gewesen, wenn Ihr Zweitwohnsitz in Südafrika läge?«

Vor allem aber ist da die Festschrift, die Middelhoff für seinen früheren Mentor bei Bertelsmann, Mark Wössner, anfertigen ließ. Richter Schmitt ist sich sicher: Das war ein privates Geschenk von den »Wössner Boys«, einer Gruppe von einstigen Jungmanagern, die der Bertelsmann-Boss einst besonders gefördert hatte. Middelhoff war einer von ihnen und habe seinem früheren Mentor, »Entdecker«, privaten Freund und Vorgänger im Amt des Bertelsmann-Chefs zum 70. Geburtstag eine besondere Freude machen wollen.

Auf einem eigens dafür veranstalteten Symposium am 25. Oktober 2008 hatte Middelhoff die Festschrift Wössner feierlich übergeben. Die redaktionelle Bearbeitung der Artikel und der Druck des grauen Buches kosteten insgesamt 179 437,70 Euro. Als Middelhoff später auf den Kosten sitzen blieb, habe er sie Arcandor nachträglich zugeschoben. Er habe gar um eine neue Rechnung gebeten und damit unbeteiligte Personen hineingezogen. »Die Kostenübernahme entsprach nicht dem Interesse des Arcandor-Konzerns. Ein messbarer finanzieller Vorteil war durch die Herausgabe der Festschrift und die Veranstaltung des Symposiums nicht erzielt und von Herrn Middelhoff auch nie beabsichtigt worden.« Ein besonders schwerer Fall der Untreue sei das, der sich »strafverschärfend« auswirke. Zudem sei die in den Rechnungen ausgewiesene Umsatzsteuer in Höhe von 26 885,55 Euro zu Unrecht bei der Vorsteueranmeldung geltend gemacht worden, woraus die Verurteilungen wegen dreifacher Steuerhinterziehung resultieren.

Milde zeigt sich die 15. Wirtschaftskammer des Landgerichts Essen bei 13 anderen Reisen sowie den »Vorstandswochenenden« in Saint-Tropez. Middelhoff hatte Vorstandskollegen und andere Führungskräfte in seine Ferienvilla »Aldea« eingeladen. »Natürlich wird da der ein oder andere vielleicht geschluckt haben, dass dort bei einem Glas Wein etwa das Sanierungsprogramm für Neckermann mit dem Abbau von 4 000 Arbeitsplätzen beschlossen wurde«, sagt Schmitt. Das alles mache zwar einen dekadenten Eindruck, sei aber von Middelhoffs Führungsanspruch umfasst. »Es ging Ihnen darum, eine Art Teambuilding zu organisieren.«

Nach über einer Stunde Urteilsbegründung folgt der nächste Schock. Wegen der Höhe der Strafe bestehe Fluchtgefahr, sagt Richter Schmitt ansatzlos, er habe deshalb Untersuchungshaft angeordnet. Ein Raunen geht durch den Saal. Stühle rücken, Tastaturen klackern, Journalisten twittern, Radioreporter hasten aus dem Raum zur nächsten Schalte. Schmitt ordnet an, den Saal zu räumen. Middelhoff muss ins Gefängnis – sofort.

Zögerlich leert sich der Raum. In den hinteren Reihen des Zuschauerbereiches, ganz am Rand, sitzt noch ein kleines Grüppchen. Ein Schluchzen ist zu hören. Middelhoffs Frau Cornelie und drei der fünf Kinder hatten sich unter das Publikum gemischt. Sie verlassen den Raum durch einen Nebenausgang.

Vor dem Saal bedrängen Dutzende Reporter den Sprecher des Landgerichts. Middelhoffs Fahrer tigert nervös vor den verschlossenen Türen hin und her. Ratlos, aber unwillig, das Revier zu räumen. Vor grellen Standscheinwerfern machen Fernsehreporter Aufsager. Plötzlich eilen Fotografen der Bild-Zeitung ins Treppenhaus. Die Journalisten fragen: »Verlässt Middelhoff das Gebäude? Wird er abgeführt?« Niemand will die Szene verpassen. Wie eine Herde Hyänen, die ein schwaches Jungtier wittern, stürmen die Journalisten hinter den Bild-Fotografen her. Ein älterer Magazinjournalist stürzt. Die Kollegen springen über ihn hinweg. Der Aufruhr ist indes umsonst. Fehlalarm.

Die schweren Türen des Saals 101 vermögen die Tumulte im Vorraum nicht zurückzuhalten. In dieser aufgewühlten Atmosphäre begründet Richter Schmitt nüchtern die angeordnete Untersuchungshaft. Da gebe es die Wohnortfrage (Bielefeld oder Saint-Tropez?), die nicht geklärten Vermögensverhältnisse (pleite oder nicht?), schließlich das internationale Netzwerk (China, USA), auf das Middelhoff zurückgreifen könne. Unterm Strich bestehe Fluchtgefahr. Als Middelhoff dem Gericht einen abgelaufenen Pass vorlegt, gibt es kein Zurück. Der Verurteilte muss umgehend in Untersuchungshaft.

»Mein Bruder hat sich umgebracht. Machen Sie sich um mich keine Sorgen.« Die beiden Sätze, die Middelhoff entgleiten, sieht der Richter als Bestätigung einer bösen Vorahnung. Als Schmitt zum Abschluss seines Arbeitstages die Haftbedingungen diktiert, fällt die, wie sich zeigen wird, folgenschwere Formulierung: »Gefahr der Selbsttötung und Selbstverletzung«.

Nachdem sich Richter und Schöffen verabschiedet haben, geht es, eskortiert von Sicherheitspersonal, einen Gang entlang, Treppenstufen hinunter, in einen unterirdischen Flur. Dessen Ende mündet im Innenhof der Justizvollzugsanstalt Essen. Hohe Mauern, Wachtürme, Stacheldraht.

Middelhoffs Albtraum beginnt mit Papierkram. Name, Alter und Konfession will der Vollzugsbeamte wissen. Die Geschäftsstelle ist in einem dunklen Kabuff untergebracht. Neuankömmlinge bekommen hier ihre Akte. Ein paar Formalitäten, ein Foto noch, dann geht es über Treppenstufen aus Gitterrost in die Kleiderkammer.

Wie alle neuen Gefangenen muss sich Middelhoff auf die grüne Gummimatte stellen. Als lege er sein altes Leben ab, löst er die Krawatte, zieht das sportlich geschnittene Jackett seines blauen Anzuges aus, stellt die Lederschuhe beiseite, öffnet den Gürtel. Middelhoff, der am Morgen vom Fahrer chauffiert nach Essen gereist war, muss nun die Socken abstreifen, die Unterhose ausziehen. Die Befehle der Beamten sind Routine: Hände auseinander, Beine breit. Wie bei jedem Neuankömmling ertasten die Beamten, ob der Häftling Teile an oder in seinem Körper versteckt hat.

Middelhoffs Anzug, das Handy, alle Habseligkeiten werden verpackt, verschnürt und verstaut. Das alte Leben in einem Karton. Für die Neuen gibt es ein Begrüßungspaket, eingewickelt in eine blaue Wolldecke: Geschirr, Handtücher, Rasierzeug, eine Rolle Toilettenpapier, Besteck, Schlafanzug.

Er ist entblößt. Am Abend des 14. November 2014, streift sich jener Mann, der als Deutschlands modernster Manager galt, die fremde Unterwäsche über, fixiert die Jeans mit einem Riemen, zieht den Pulli an. In der JVA ist er eine Nummer unter vielen. Häftling 173 14 1.

2. Spätzünder

Die Wunden des Zweiten Weltkrieges waren dem vierstöckigen roten Backsteingebäude auch 1953, acht Jahre nach dem Ende der Nazi-Herrschaft, noch anzusehen. »Marienhospital« prangte in altdeutscher weißer Schrift über der Eingangspforte. Während des Hitler-Regimes hatte das katholische Krankenhaus, das von den Armenschwestern des Heiligen Franziskus betrieben wurde, als Lazarett der Wehrmacht gedient – und war so ins Visier der alliierten Kampfflieger geraten. Fenster zerborsten, Räume brannten aus, ganze Gebäudetrakte wurden zerstört. 70 Prozent des Hospitals lagen in Schutt und Asche.

Nach Kriegsende wurde das Haus mühsam geflickt – wie so vieles im besetzten Nachkriegsdeutschland. Am 11. Mai 1953 brachte Christine Cäcilie Apolline Middelhoff, 28 Jahre alt, in diesem Provisorium einen Jungen zur Welt. Mit ihr freute sich ihr zehn Jahre älterer Ehemann Heinrich. Das Baby war nach Gabriele und Heinz der dritte Spross der Familie und sollte auf den Namen Thomas getauft werden. Er hatte das Glück, in eine wohlhabende Kaufmannsfamilie hineingeboren worden zu sein.

Vater Heinrich, Jahrgang 1915, war auf einem Bauernhof in Emsdetten aufgewachsen. Doch Gummistiefel und Kuhmist waren nicht seine Sache. Heinrich Middelhoff heuerte in der Textilfirma seines Onkels an, der »Leo Middelhoff GmbH«. Schon vor dem Zweiten Weltkrieg hatte es die Spinnerei und Scheuertuchweberei in Emsdetten zu respektabler Größe gebracht. Das Firmengelände in der Kleinstadt bei Münster zierten zahlreiche Hallen. Der Familienbetrieb lieferte Aufnehmer und Bohnertücher, Spüllappen und Poliertücher. Die Familie war im wahrsten Sinne gut betucht.

Nach dem Krieg war es auch dem begabten Vertriebler Heinrich Middelhoff zu verdanken, dass die Firma weiter wuchs. Heinrich war der perfekte Verkäufer, wusste die Menschen für sich einzunehmen. Unter der Marke »LeoMi« gab es die Frotteewaren aus dem Hause Middelhoff bei Karstadt, Herti und Metro zu kaufen. Mehrere Hundert Beschäftigte produzierten Handtücher, Bademäntel und Putzlappen »Made in Germany«.

Doch Heinrich Middelhoff wollte sein eigenes Geschäft, machte sich selbstständig, zog ins Rheinland – und schickte sich an, der eigenen Familie Konkurrenz zu machen. Die Ware war nicht sexy, passte aber gut in die Zeit des Wiederaufbaus.

Kurz nach der Geburt von Sohn Thomas wurde es für die Familie zu eng in dem Düsseldorfer Mehrfamilienhaus in der Johannstraße. Sie kehrte der Landeshauptstadt den Rücken. Es zog sie aufs Land, ins nahe gelegene Lintorf bei Ratingen. Der Krieg hatte einen Bogen um das Dorf am Dickelsbach gemacht. Das 6 000-Einwohner-Örtchen liegt verkehrsgünstig an der Autobahn Köln-Oberhausen und der Bundesstraße B1. Düsseldorf, Essen und Duisburg sind bestens zu erreichen.

Ihre Möbel brachten die Middelhoffs in ein freistehendes Haus in der Eichendorffstraße. Die Grundstücke hier waren großzügig geschnitten, grenzten auf der Rückseite an einen Wald. In den Einfahrten standen Autos. Hier lebten die Besserverdiener. Zum Beispiel der gut betuchte Inhaber einer Geldschrankbaufirma.

Im nördlichen Gewerbegebiet siedelten sich vor allem mittelständische Industrie- und Handelsbetriebe an. Die Tornada-Ramset GmbH etwa, die Autoersatzteile herstellte. Ebenso wie die Maschinenfabrik Zimmer und die Fahrrad- und Motorradfabrik Hoffmann, die mit ihren 700 Mitarbeitern die legendäre »Vespa« herstellte. Nicht zu vergessen die Deutsche Stahllamelle Hünnebeck KG, die ein wichtiger Zulieferer der aufstrebenden bundesdeutschen Bauwirtschaft war.

Im Breitscheider Weg 168 war auch die Produktion der Middelhoff GmbH untergebracht. Der Textilbetrieb der Familie. Es waren gute Zeiten für eine Textilfirma.

Als die junge Bundesrepublik, von den westlichen Alliierten unterstützt, in den folgenden Jahren zusehends auf die Beine kam, als der Marshall-Plan griff, der Republik die Kriegsschulden in London zu einem großen Teil erlassen wurden und die D-Mark als Währung erstarkte, da wuchs der Hunger der Deutschen auf Konsum. Middelhoff bediente nun die Nachfrage des Wirtschaftswunders mit Frottierware wie Bademänteln.

Nach Thomas war die Familie um zwei weitere Kinder gewachsen – Ulrich und Bernhard Alexander. Ein paar Jahre später zogen die Middelhoffs, inzwischen siebenköpfig, auf das Anwesen an der Mühlheimer Straße in Ratingen. Die Aufmerksamkeit der Eltern war hart umkämpft.

Die Eltern schickten Thomas auf das Görres-Gymnasium im nahegelegenen Düsseldorf. Die katholische Oberschule zählte zu den besten Adressen der Stadt, den ältesten der Republik. Seit ihrer Gründung 1545 wurden auf der humanistischen Schule ab der fünften Klasse Latein und Altgriechisch gelehrt.

Auf dem Pausenhof fiel Thomas Mitschülern durch seine große Klappe auf. Im Klassenzimmer hatte er es hingegen schwer. Mundwerk und Leistung ließen sich einfach nicht in Einklang bringen. Die alten Sprachen, diese ganze stupide Lernerei. Das alles entsprach nicht seinen Neigungen und Talenten. Nach der Mittleren Reife wechselte er schließlich die Schule.

Der Junge war ein Spätentwickler. Er flüchtete sich regelrecht in Zeitungen und Zeitschriften. Vor allem aber versank er in der Welt der Bücher. Der Teenager träumte davon, selbst einmal Schriftsteller zu werden. Er wünschte sich in ein irisches Landhaus – eingeschossig, niedrige Decke, viel Holz, ein lodernder Kamin. Vor dem irischen Schmuddelwetter geschützt, träumte Thomas, wollte er bei Rotwein und Zigarre gut lesbare, schwungvolle Romane schreiben. Krimis, Spionagegeschichten, Historienromane.

Viel Zeit verbrachte der Bücherwurm auch in der Kirche. Middelhoff und seine Geschwister wurden, ganz im Sinne Vater Heinrichs, streng katholisch erzogen. Er war Messdiener, brachte es zum Oberministranten. Im roten Rock begleitete er die Heilige Messe, darüber das weiße Gewand, das an ein Taufkleid erinnern sollte. Die Kirchenlieder waren ihm ebenso vertraut wie der würzige Geruch des Weihrauchs. In seiner Funktion erstellte er den Messdienerplan – und ließ sich mit Schokoriegeln entlohnen, wenn er seine Mitministranten vor der ungeliebten Sieben-Uhr-Messe bewahrte.

Und dann war da noch die Musik. Das Klavierspiel. Seine Mutter Christine, eine studierte Medizinerin, gab die Leidenschaft für das Musizieren an den Sohn weiter. Sie spielte Jahre lang Violine im Ratinger »Collegium Musicum«, einem Amateur-Kammerorchester. Auch auf Hochzeiten musizierte die Mutter, die in der Familie als herzensgute Frau beliebt war.

Thomas’ Klavierlehrerin war die Pianistin Magdalena Adams. Beethoven, Mozart, Brahms und Chopin. Fräulein Adams hatte an der Musikhochschule in Köln studiert, gab Konzerte und begleitete bekannte Kammersänger. Doch sie lebte für den Unterricht. Adams hatte keine Kinder, keinen Mann. Sie lehrte das Spiel mit eiserner Härte. Am Flügel verzieh sie keine Fehler. Sie konnte keinen Pfusch hinnehmen, alles musste erstklassig sein. Für ihre Schüler hielt sie auch ihre wichtigste Lebensweisheit parat: »Wenn es Probleme gibt, redet mit eurer Mutter, sie ist eure beste Freundin.«

Der Wechsel auf das Adam-Josef-Cüppers-Berufskolleg in Ratingen veränderte Thomas Leben. Bis dato hatte er mit Ach und Krach die Mittlere Reife geschafft und wusste nicht, was er werden wollte. Dann kam der Schulwechsel. Vor dem Start, so sah es die duale Ausbildung der Fachoberschule vor, musste er ein Praktikum machen. In dem Elektrounternehmen, in dem er dies absolvierte, packte ihn der Gedanke, so etwas wie ein Manager werden zu wollen. Aufgeregt kam er nach Hause und informierte seine Geschwister über die bevorstehende Laufbahn.

Thomas fing auch gleich mit der Arbeit an. Mit 17 jobbte er in der Textilfirma von Onkel Leo, in der auch sein Vater Heinrich einst sein Berufsleben begonnen hatte. Der Teenager schleppte die Modekollektionen bei Karstadt in Fürth die Treppen rauf.

Am Berufskolleg blühte der einstige Problem-Gymnasiast auf. Er erlernte Grundlagen der Buchhaltung, EDV und Statistik. Die Welt der Zahlen erschloss sich ihm leichter als die der alten Sprachen. 1972 machte er in Ratingen sein Fachabitur in Wirtschaft und Verwaltung. Tatendurstig wollte er die Welt erobern. Amerika sollte es sein.

Doch die Zukunft lag auf dem Parkett einer Düsseldorfer Tanzschule. Eine junge Brünette wurde zur Tanzpartnerin – und mehr. Sie hieß Cornelie Henriette Renate Klischan und ist ein halbes Jahr älter als Thomas.

Schon früh schmiedete das junge Paar Pläne, diskutierte mit Freunden darüber, ob man in Zeiten des Kalten Krieges überhaupt Kinder haben soll. Sie bekamen zu hören: »Wie kann man in diese Welt nur Kinder setzen? Ihr seid geradezu verantwortungslos.« Für die beiden stand da längst fest: Sie wollten mindestens fünf.

Statt in die USA zu reisen, studierte Middelhoff an der Fachhochschule Ratingen, nach sechs Semestern hatte er seinen Abschluss in BWL in der Tasche. Wissensdurstig wechselte er zur Universität Münster. Er schrieb sich in BWL und Publizistik ein. Gerade die geisteswissenschaftlichen Vorlesungen packten ihn. Doch er spürte, er würde nicht beides zeitnah fertig bringen können. Nach drei Semestern gab er das Publizistikstudium auf.

Der Plan ging auf. Nach sechs Semestern durfte er sich Diplomkaufmann nennen. Zudem ergatterte er eine Assistentenstelle bei einer lebenden Legende: dem Marketing-Guru Professor Heribert Meffert. Als einer der Ersten in Deutschland beschäftigte er sich mit dem Thema Marketing, gründete gar ein Institut an der Uni Münster.

In Vorlesungen und Seminaren war Meffert auf Middelhoff aufmerksam geworden. Ein engagierter, selbstbewusster, qualifizierter Mann – überzeugendes Auftreten, befand Meffert. Der Professor bot Middelhoff eine freigewordene Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter an seinem Institut an. Der junge Mann bekam eine Halbtagsstelle. Aufgabengebiet: wissenschaftliche Recherchen zu »neuen Medien«. Der Assistent wurde auch im Lehrbetrieb eingesetzt.

Am Lehrstuhl war Middelhoff fleißig, umtriebig und rastlos. Als Meffert sein Team nach Südtirol zum Wandern einlud, konnte der junge Mann kaum ruhig sitzen. Nach langen Wanderungen, als die Kollegen gemütlich bei einem guten Glas Rotwein beisammensaßen, sprang Middelhoff auf, baute Steinmännchen, so groß wie er selbst. Meffert sah in ihm den kommenden Chefredakteur einer Zeitung: ein Generalist, ein Verkäufer, der perspektivisch denkt.

Am Institut teilte sich Middelhoff das Büro mit »Fritz«: Friedrich Wehrle. Zusammen hockten sie oft bis in die Abendstunden in ihrem kleinen Kabuff, bei Meffert wurde viel gearbeitet. Die Schreibmaschinen hämmerten aufs Papier, die Sprüche flogen durch den Raum. Die jungen Wissenschaftler verstanden sich blendend. Die Stimmung war gut, im ganzen Team.

Abends tauchten sie gemeinsam mit den Assistenzkollegen – Meffert beschäftigte zehn an der Zahl – in die Münsteraner Kneipenwelt ein. Berüchtigt waren auch die Karnevalspartys, die Meffert in seinem Keller organisierte, und die Exkursionen. Bei all der Feierei, die Nachwuchsforscher ackerten wie die Berserker. Sie waren in der Industrie gefragte Leute. So zog es Middelhoffs Schreibtischnachbar ins benachbarte Ostwestfalen. Zu Bertelsmann.

Parallel zur Stelle an der Uni arbeitete Middelhoff im väterlichen Betrieb. Dem Vater machte die Textilkrise zu schaffen. Sohn Thomas, frisch gebackener Diplomkaufmann, wollte jetzt mitmischen, stieg in das Unternehmen ein. Während der Vater am Standort Deutschland klebte, richtete der Sohnemann den Blick Richtung Ausland.

Am 26. Juni 1980 ließen die beiden Middelhoffs die »Heinrich Middelhoff Textilgesellschaft mbH« beim Amtsgericht eintragen, den Gesellschaftervertrag hatten sie schon im Mai aufgesetzt. Heinrich als Geschäftsführer und der Junior als Prokurist vertraten die Firma nach außen. Nun war Thomas dem Vater, den er mit vier Geschwistern zu teilen hatte, ganz nah.

Der Zweck des Unternehmens, hier klang der Sound des Nachwuchses durch, ging weit über Putzlappen und Bademäntel hinaus: »Der Import von und Handel mit Textilien, die Beratung beim Einkauf von Textilien sowie die Beteiligung an in- und ausländischen Produktionsstätten«. Sohn Thomas war es, der auf eine Internationalisierung drängte – und sie gleich selbst an sich riss.

Auch mit seiner Cornelie ging Middelhoff aufs Ganze. Am 6. November 1981 heirateten die beiden auf dem Standesamt Düsseldorf. Mit der Ehe verbanden sich die Clans zweier Familienunternehmer. Nicht nur Middelhoffs Vater machte in Stoffen, auch die Klischans kannten sich mit Textilien bestens aus. Ihr Familienunternehmen hatten sie 1880 in Wuppertal gegründet. Seit 1900 war das Modehaus der Klischans an der Düsseldorfer Flingerstraße ansässig. Weitere Geschäfte in Mettmann und Ratingen sollten folgen. Einen Monat nach der Hochzeit meldete sich das junge Paar um. Ihre neue Adresse war die Düsseldorfer Reichswaldallee.

Doch oft war Junggatte Thomas dort nicht zu finden. Neben dem Studium in Münster stieg Middelhoff regelmäßig ins Flugzeug, flog ins griechische Thessaloniki. Fast zwei Autostunden von der zweitgrößten Stadt Griechenlands entfernt liegt das Städtchen Larisa. Dort waren die Middelhoffs an der Textilfirma »Mira« beteiligt. Das Unternehmen mit seinen 350 Beschäftigten wurde von einem Griechen geleitet. Middelhoff besuchte die Produktionsstätten mehrfach.

Das Engagement im Ausland konnte nicht verhindern, dass die gesamte Textilfirma der Middelhoffs der Krise zum Opfer fiel. 1985, fünf Jahre nach Start des Vater-Sohn-Experiments, wurde die Firma liquidiert.

Und auch an der Uni lief es nicht rund. Thomas Middelhoffs Dissertation machte Ärger. Anders als am Institut üblich, hatte sich Middelhoff nicht gemeinsam mit einem Alt-Assistenten auf das Doktorandenkolloquium vorbereitet, wo er sein Thema präsentieren sollte. Ein Fehler. Meffert überzeugten Middelhoffs Pläne nicht. Die Themenstellung und Forschungsfragen seien für eine Promotion nicht präzise genug, befand der Professor.

Drei Jahre lang hatte Middelhoff am Institut für Marketing auf seine Promotion hingearbeitet – nun wurde nichts aus seiner Dissertation in Münster.

Middelhoff fuhr zur Uni des Saarlandes. Dort lehrte der als »Handelspapst« bekannte Professor Bruno Tietz. Der Gelehrte nahm Middelhoff als Doktoranden auf. Thema der Dissertation: »Integrierte Planung von Kommunikationssystemen: dargestellt an der Einführung von Btx in einzelhandelsorientierte Filialsysteme und Verbundgruppen«.

Längst war die Dissertation Nebensache. Der junge Mann, der sein Familienunternehmen nicht hatte retten können, verfolgte andere Ziele. Er wollte Topmanager werden. Die Medienbranche sollte es sein. Ehrfürchtig blickte er nach Gütersloh. Zum weltweit zweitgrößten Medienkonzern. Sein Büronachbar Fritz Wehrle hatte es schon dorthin geschafft: zu Bertelsmann.

Wie viele ehrgeizige Talente schrieb Doktorand Middelhoff Bertelsmann AG auf den Umschlag seiner Bewerbung.

3. Eine Ohrfeige namens Mohndruck

Der Bau war kaum prätentiöser als das Berufskolleg in Ratingen. Und doch war es die Zentrale des zweitgrößten Medienkonzerns der Welt: Bertelsmann. Der Büroklotz lag am Rande der Kreisstadt Gütersloh, Regierungsbezirk Detmold, Ostwestfalen-Lippe, gleich neben einer Pferdekoppel. Zielgerichtet steuerte Middelhoff auf den Flachdachbau mit der weiß vertäfelten Fassade zu.

Der junge Mann im Anzug meldete sich beim Pförtner, hastete die zwei Treppen hoch – und schon lugte er ins Vorstandssekretariat. Drei emsige Damen erledigten ihren Dienst. Herr Wössner, der Vorstandsvorsitzende, habe gleich ein paar Minuten, ließ jene Sekretärin wissen, die hier offensichtlich den Ton angab. Gute Manieren, offenes Lächeln, zarte gepflegte Hände. Der Gast wusste das Sekretariat zu überzeugen: ein hübscher junger Mann.

Wössner. Schon der Name ließ Bewerber ehrfürchtig erschaudern. »Jetzt verdienen wir erst mal Geld« hatte Mark Wössner im März 1983 bei seinem Amtsantritt versprochen – und geliefert. Der promovierte Ingenieur schmiedete aus einem Regionalverlag mit angeschlossenem Buchclub den zeitweise größten Medienkonzern der Welt. Bertelsmann war als eines der ersten deutschen Unternehmen in den USA aktiv. Auch die Gründung des Privatfernsehsenders RTL in Deutschland machte die Gütersloher zum Vorreiter. Jahr für Jahr präsentierte Wössner »langweilige Kurven«: immer neue Rekordgewinne.

Jetzt saß Middelhoff im riesigen Büro des Bertelsmann-Vorstandsvorsitzenden. Der Raum war mit dunklen Holzpanelen und indirekt beleuchteten Einbauschränken ausgestattet. Seinem Traum, dem mächtigen Chef als Assistent über die Schulter zu schauen, schien greifbar nahe. Schon äußerlich war Wössner eine eindrückliche Erscheinung. Die weiße Mähne seitlich gescheitelt, ausgestattet mit der Statur eines Ringers, klang schwäbische Wärme durch, wenn er sprach.

Im Gegensatz zu seinem Gegenüber war Wössner wenig beeindruckt von dem Bewerber aus Münster. Hier hatten schon ganz andere gesessen. Unternehmenspatriarch Reinhard Mohn hatte vor Jahren die Philosophie geprägt, nur die klügsten Köpfe nach Gütersloh zu locken. Nachwuchsarbeit, das war bei Bertelsmann Chefsache.

Carl Bertelsmann hatte das Unternehmen 1835 als Verlag für christliche Literatur und Liederbücher gegründet – ganz im Dienste der Minden-Ravensberger Erweckungsbewegung. Bertelsmann, überzeugter Lutheraner, nannte die Druckerei seine »Herrgotts Kanzeley«. Während des Nationalsozialismus, so zumindest stellte es Bertelsmann lange Zeit dar, wurde der Verlag unter Heinrich Mohn als eines der wenigen nicht-jüdischen Häuser geschlossen.

Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg begann dessen Sohn Reinhard Mohn, den Verlag umzukrempeln. Als Leutnant der Division »Hermann Göring« war Mohn während des Krieges in amerikanische Gefangenschaft geraten. Nach seiner Rückkehr, 1946, lag die Druckerei in Schutt und Asche. Ein Bruder war gefallen, der andere vermisst. Reinhard, der eigentlich Ingenieurswissenschaften studieren wollte und nicht viel für Bücher übrig hatte, machte sich daran, den Familienbetrieb wieder aufzubauen. Und er hatte eine Idee, die aus der bedeutungslosen Druckerei am Teutoburger Wald einen Mediengiganten machen sollte: den Buchclub.

Mit einem aggressiven Vertrieb, den Mohn von den Amerikanern abkupferte, lockte das Unternehmen die Leser in seinen Buchclub. Verkäufer keilten die Menschen in den Einkaufspassagen regelrecht ein. Die Kunden wurden Mitglieder des Bertelsmann Clubs, schlossen preiswerte Abos ab und kamen für kleines Geld in den Genuss hochwertiger Lektüre. Es folgte ein Aufstieg, wie ihn nur die Wirtschaftswunderjahre in Deutschland möglich machten. Bertelsmann wurde zum Weltkonzern, laut Wirtschaftsmagazin Fortune eine der begehrtesten Firmen der Welt. Das Familienunternehmen war vor allem eines: eine Marketingmaschine.

Nur mit den besten Talenten der Unis, befand Mohn, könne sich das Unternehmen in der ostwestfälischen Pampa behaupten. Bertelsmann-Rekruten wie der legendäre Manfred Köhnlechner belagerten die Campusse der Elite-Unis Harvard und St. Gallen, quatschten nur die besten Absolventen an, wedelten mit unanständig hohen Gehaltschecks. Eine Gruppe von rund 50 absoluten High Potentials arbeitete schließlich bei Bertelsmann. Sternengreifer.

Middelhoff, vor Wössner sitzend, wirkte da eher wie jemand, der die Sterne von weit unten zu betrachten hatte. Er passte nicht ins Beuteschema. Zweiter Bildungsweg, mäßige Noten, nicht einmal den Doktortitel hatte er mit 32 Jahren in der Tasche. Für Wössner nicht mehr als: Mittelmaß.

Dafür glänzte er mit einer anderen Eigenschaft. Konnte er sie schon nicht greifen, so besaß er das Talent, seinem Gegenüber die Sterne vom Himmel zu versprechen. Der Junge trat so eloquent auf, als sei das Vorstandsbüro sein naturgemäßes Biotop. Irgendwie hatte er was. Middelhoff war hochpräsent, schien tatkräftig und hatte eine extrovertierte Art. Einen guten Verkäufer, befand Wössner, könnte der schon abgeben.

Nach ein paar warmen Worten drückte Wössner den Knopf unter seinem Schreibtisch, mit dem er manchem Gespräch zu einem vorzeitigen Ende verhalf. Sekunden später stand die Sekretärin im Raum. Wössner wolle Tunnat sprechen. »Ich schicke ihm jemanden rüber.«

Middelhoff wusste kaum, wie ihm geschah, da war er auf dem Weg quer über die Carl-Bertelsmann-Straße, vorbei an der Schallplatten-Tochter Sonopress, zur Tochterfirma Mohndruck – der größten Offset-Druckerei Europas. Hier, so Wössners Ansage, könne Middelhoff starten. Er solle Aufträge an Land ziehen. Wenn er sich bewähre, sei gar irgendwann der Verkaufsleiterposten drin.

Wenig später betrat Middelhoff das Büro von Siegfried Tunnat. Der Geschäftsführer leitete die »Geschäftseinheit II« bei Mohndruck, Werbemittel und Kataloge, von einem schlichten Büro in einem zweigeschossigen Flachdachbau aus. Sein Büro war mit grauem Teppich ausgelegt, die Wände zierten einfache Drucke.

Auch wenn das hier nicht die Adresse war, zu der er wollte: Middelhoff wusste zu überzeugen. Der Bewerber, hochgeschossen, sportlich, würde auch bei der Leichtathletik-WM unter den Hochspringern nicht auffallen. Wortreich berichtete er von der Unternehmung des Vaters, wie er, jedes Wochenende reisend, neben der Wissenschaft noch eine eigene Produktion in Griechenland aufgebaut habe. Doch die Textilkrise – keine Chance.

Freimütig räumt er ein, er habe in Münster Professor Meffert nicht überzeugt. Er sei daraufhin ins Saarland gefahren, zum »Handelspapst« Bruno Tietz, um sich dort nochmals an einer Dissertation zu versuchen. Tunnat spitzte die Ohren. Beeindruckend, dieser Middelhoff. Das Gespräch endete mit einem Angebot. Wenn er wolle, könne der Bewerber als Assistent des Geschäftsführers Tunnat bei Mohndruck anfangen. Rund 85 000 D-Mark Jahresgehalt waren drin.

Bertelsmann war elitär, keine Frage. Wössner hatte ihn beeindruckt, zweifelsohne. Doch was sollte Middelhoff bei einer biederen Druckerei? Er hatte in Münster über Marketing geforscht, Texte an Bildschirmen, die schillernde Zukunft.

Mohndruck war die Talentschmiede des Konzerns. Jeder spätere Bertelsmann-Boss hatte zuerst Mohndruck geleitet. Für Patriarch Reinhard Mohn, der sich selbst für Technik begeisterte, war die größte Offset-Druckerei Europas ein enorm wichtiges Geschäft. Und Siegfried Tunnat, jener Geschäftsführer, der Middelhoff unter seine Fittiche nehmen sollte, war eine Vertrauensperson Wössners. Vielen galt er als die Augen und Ohren Wössners bei Mohndruck. Zahlreiche Jungmanager mussten zunächst an Tunnat vorbei, bevor es die Karriereleiter weiter hinauf ging. Tunnat und Wössner hatten sich bei Mohndruck kennen gelernt. Auch der Bertelsmann-Chef hatte die Station einst durchlaufen.

Im Herbst 1986 trat Middelhoff seine Assistenzstelle an. Der Nachwuchsmanager bezog eine kleine Wohnung in Gütersloh zur Untermiete. Für die junge Familie bedeutete der neue Job eine Fernbeziehung. Cornelie blieb mit den Kindern in der Düsseldorfer Wohnung in der Reichswaldallee. Sohn Jan Heinrich war gerade drei Jahre alt, seine Schwester fast zwei. Sonntags brach der Papa wieder auf nach Gütersloh, an der Karriere feilen.

Als »Trainee on the Job« schaute Middelhoff bei Mohndruck den Facharbeitern in Tag-, Spät- und Nachtschichten über die breiten Schultern. Vorstufe, Druck, Buchbinderei. Der Mann, der sich mit Krawatte und Anzug im Vorstandsbüro wähnte, eilte im Blaumann durch die Hallen. Der Lärm war ohrenbetäubend. In Rotation schossen die Zeitungen an ihm vorbei. Im Sekundentakt spuckte das Monster Magazine und Werbehefte, ganze Bücher aus. Die Bewegung, der Output – berauschend.

Und auch im Büro legte er Spätschichten ein. Bis 22 Uhr hockte er im »Führerbunker«, wie sie bei Mohndruck den zweigeschossigen Flachdachbau nannten, in dem die Geschäftsleitung untergebracht war. Middelhoff schrieb Sitzungsprotokolle, brütete über Strategiepapieren.

Westfalen, hatten sie Middelhoff gewarnt, mussten mit jemandem einen Sack Salz gefressen haben, bevor sie mit ihm warm wurden. Middelhoff, derlei Alarm in den Wind schießend, fegte mit seiner fröhlich-rheinischen Art durch die Büros der Sachbearbeiter. Betrat er den Raum, war stets Action angesagt. Seine flotten Sprüche, das Strahlen: ansteckend. Neugierig löcherte er die Kollegen mit Detailfragen. Was die Fans des Jungen nicht ahnten: Er scannte sie bereits mit den Augen eines künftigen Chefs.

Tunnat spürte, dass Middelhoff als Assistent nicht ausgelastet war. Der Mohndruck-Geschäftsführer war gerade im Urlaub in Norditalien, als ihn Middelhoff anrief und um seinen »Rat« bat – der Assistent trug nichts anderes als eine Drohung vor. Er habe ein tolles Angebot als Vertriebsleiter bei der Computerfirma Wincor Nixdorf, posaunte der Zögling. Tunnat war verstimmt. Gern wollte er Middelhoff ziehen lassen. Es war Gunther Thielen, im Bertelsmann-Vorstand für den Druck zuständig, der Tunnat warnte: Wössner wäre not amused, sollte sich der Nachwuchsmann verabschieden.

Und so organisierte Tunnat dem Jungen einen neuen Termin beim Bertelsmann-Boss. Wössner, ein schwäbischer Preuße, verantwortungsbewusst bis in die weißen Haarspitzen, stand voll im Saft und hielt trotzdem schon nach einem potenziellen Nachfolger Ausschau. Es sollte ein Mann aus dem eigenen Haus sein. Der künftige Bertelsmann-Chef sollte zudem eine Eigenschaft haben, die selbst dem Ausnahmemanager Wössner abging: Es sollte ein Kandidat mit Glamourfaktor sein. Der mit den Staatschefs und Medienmogulen der Welt auskam.

Als Middelhoff ein weiteres Mal vor ihm saß, tatkräftig, schwungvoll wie er war, beschloss Wössner, ihn auf Tauglichkeit zu prüfen.

Go East

Middelhoffs erster Managerposten führte ihn nach Berlin. Die Mauer, 160 Kilometer lang, zerschnitt die Stadt in zwei Teile. Drüben, hinter Betonwall und Stacheldraht, lebten die Menschen in der Planwirtschaft der DDR. Middelhoffs Firma war im westlichen Teil gelegen. Sie musste Auftraggeber finden, sich im Markt bewähren – und sie schwächelte. Die Zahlen der Bertelsmann-Tochter Elsnerdruck waren katastrophal, die Fluktuation hoch.

Hinter den Maschinen wurde noch kräftig gesoffen. Außerdem trieb dort der berüchtigte Betriebsrat Hermann sein Unwesen, der keinen Streik ausließ. Elsnerdruck war eine Abschussrampe.

Bertelsmann hatte Anfang der 1980er Jahre das Traditionsunternehmen Elsnerdruck, 1871 gegründet, gekauft. Rund 12 Millionen D-Mark investierte der Konzern, um die Westberliner Druckerei zum europäischen Taschenbuchzentrum auszubauen. Die extreme Nachfrage nach günstiger Lektüre hatte den Ausbau attraktiv erscheinen lassen. Über 200 Mitarbeiter arbeiteten am Standort. Die 1,30 Meter breiten Druckmaschinen konnten 15 000 Groschenromane, ein jeder 160 Seiten dick, pro Stunde produzieren. 100 Millionen Taschenbücher jährlich. Doch die Druckerei kam nicht in die Puschen. Die teuren Maschinen waren nicht ausgelastet. Und die Belegschaft beschlich das ungute Gefühl, die Bosse in Gütersloh hatten sie längst abgeschrieben.

Anders als bei seinem Start bei Mohndruck, holte Middelhoff die ganze Familie zu sich nach Westberlin. Die Middelhoffs bezogen eine Doppelhaushälfte im Zikadenweg. Die Eichkamp-Siedlung, benannt nach der gleichnamigen Revierförsterei, liegt im Westend. Die Architekten Max und Bruno Taut hatten sie in den 1920er Jahren entworfen. Üppiger alter Baumbestand ziert die Anlage. Zahlreiche Trampelpfade und die schmalen Straßen erwecken den Eindruck, man lebe auf dem Land. Schriftsteller Ludwig Marcuse begeisterte sich während der Weimarer Republik für das lichte Berliner Dörfchen, mit seinen »kindlich-schlichten Straßen und Häuschen«. Die S-Bahnhöfe Grunewald und Messe Süd liegen gleich vor der Tür.

Hungrig stürzte sich Middelhoff im Juli 1987 auf den Posten. Um den Laden zu sanieren, musste er die Belegschaft hinter sich bringen. Doch unter den Druckereibeschäftigten rumorte es. Immer wieder legten sie ihre Arbeit nieder.

Middelhoff blieb nicht in seinem Büro hocken. Morgens um 7 Uhr eilte er bereits durch die Produktionshallen, fragte seine Mitarbeiter, wie es denn laufe. Demonstrativ besprach sich Middelhoff, 34 Jahre alt, mit dem Betriebsrat auf dem Firmenparkplatz. Viele Mitarbeiter begrüßte der junge Manager persönlich. Bei Betriebsausflügen setzte er sich in der Hotellobby auch mal ans Klavier, spielte ein paar Lieder – und kassierte zur Belustigung der Mitarbeiter Groschen von alten Damen. In der Belegschaft nannte ihn Freund wie Feind »Tommi« – zumindest, wenn er nicht mit im Raum war.

Wenn Middelhoff, der regelmäßig am längsten am Schreibtisch saß, abends die Firma abschloss, durchwehte ihn das Gefühl: »Dies hier ist mein