Massenradikalisierung - Julia Ebner - E-Book

Massenradikalisierung E-Book

Julia Ebner

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Beschreibung

Noch vor wenigen Jahren zielten Extremisten auf den Rand, auf Einzelgänger und weit Abgetriebene. Doch seit Corona, dem Sturm aufs Kapitol, dem Ukraine-Krieg ist Radikalisierung zum Massenphänomen geworden. Als Extremismusforscherin will Julia Ebner verstehen, warum so viele anfällig sind für radikale Ideen, welche Strukturen und Mechanismen dahinterstehen und was jetzt endlich unternommen werden muss im Kampf um Gerechtigkeit und Demokratie.

Nach vielen Jahren wissenschaftlicher Arbeit, Recherche und zahlreichen verdeckten Einsätzen glaubte Julia Ebner ihren Forschungsgegenstand zu kennen. Doch mit der Pandemie beginnt eine ungeahnte Eskalation. Nun scheren in jedem Freundeskreis, in jeder Familie Leute aus: Massenbewegungen, rekrutiert aus der Mitte der Gesellschaft, entstehen – Querdenker, QAnon, Impfgegner –, radikal und brandgefährlich. Für Julia Ebner folgen intensive Beobachtung, online wie offline, wissenschaftliche Auswertung, riskante Undercover-Missionen, um den Bauplan der Massenradikalisierung freizulegen und laut Alarm zu schlagen.

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Seitenzahl: 419

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Cover

Titel

Julia Ebner

Massenradikalisierung

Wie die Mitte Extremisten zum Opfer fällt

Aus dem Englischen von Kirsten Riesselmann

Suhrkamp

Impressum

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2023

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage des suhrkamp taschenbuchs 5314.

Deutsche Erstausgabe© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2023© Julia Ebner, 2023

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: Brian Barth

eISBN 978-3-518-77583-7

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Einführung

1 Mainstreaming

Von den Radikalisierungsmaschinen zur Massenradikalisierung

2 Subkulturen etablieren

Undercover bei den Incels

3 Netzwerke aufbauen

Unter Klimawandelleugnern

4 Alternative Medien stärken

Bei den Aktivisten von ›White Lives Matter‹

5 Backlashs provozieren

Eine Untersuchung der Transphobie

6 Massen überzeugen

In den Netzwerken der Impfgegner

7 Stellvertreterkriege führen

Russlands Kampf gegen eine freiheitliche Welt

8 Was steht auf dem Spiel?

Der Einzug der Hyperpolarisierung

9 Was können wir tun?

5 Experten, 15 Lösungsansätze

Bei den Berührungspunkten ansetzen

Der psychologische Berührungspunkt

Der soziale Berührungspunkt

Der technologische Berührungspunkt

Interessengruppen zusammenbringen

Aktionsbündnisse schmieden

Auf globaler und lokaler Ebene Menschen aus der Praxis vernetzen

Die Wirtschaft einbinden

Alle Generationen ansprechen

Generation Alpha

Generation Z

Digitale Migranten

Die Trendwende herbeiführen

Die Sprache zurückerobern

Opportunismus zur Anzeige bringen

Desinformation frühzeitig entlarven

In Zukunft

Vertrauen neu aufbauen

Forschung in Echtzeit

Auf Tech-Trends reagieren

Anmerkungen

Einführung

1 Mainstreaming

2 Subkulturen etablieren

3 Netzwerke aufbauen

4 Alternative Medien stärken

5 Backlash provozieren

6 Massen überzeugen

7 Stellvertreterkriege führen

8 Was steht auf dem Spiel?

9 Was können wir tun?

Informationen zum Buch

Einführung

»Wann stürmen wir Capitol Hill, ich bin am Start«, schreibt Kevin am 5. Januar 2021. »Morgen wird's im Kapitol heiß hergehen, nicht nur in der Stadt«, kommentiert Tony.

Nachdem der abgewählte US-Präsident Donald Trump monatelang Wahlbetrugsvorwürfe lanciert hat, sind die Unterhaltungen in dem verschlüsselten 4Deep News-Kanal voll von Emotion und gespannter Vorfreude. Tausende Online-Aktivisten der Pro-Trump-Chatgruppe auf der Gaming-App Discord bereiten sich darauf vor, ihre Wut hinaus in die reale Welt zu tragen. Sie sprechen über gebuchte Hotels und bereits getroffene Reisevorbereitungen, so als würden sie einen Kurzurlaub planen. »Im Trump-Hotel gibt's die besten Taco-Salate und die besten Chocolate Chip Cookies«, schreibt Kevin. Janet lässt von anderen in der Chatgruppe sogar ihre Reisekosten übernehmen.

Die meisten selbsternannten Patriotinnen und Patrioten treffen einen Tag vor der Erstürmung des Kapitols in Washington ein. Für die Mehrheit der Aktivisten aus der Chatgruppe ist es das erste Mal, dass sie sich begegnen. Unter den leidenschaftlichen Trump-Fans, die sich selbst als the deplorables bezeichnen (als ›die Bedauernswerten‹), herrscht eine Atmosphäre der Solidarität und der Unbesiegbarkeit. Alles scheint möglich. »Mein ganzes Hotel ist voll von Trump-Anhängern. Totaler Wahnsinn!«, schreibt Janet. Kevin bestätigt: »Mein Hotel ist eine einzige Party.« Jenn bekundet ebenfalls ihre Aufregung: »OMG, ein Paradies von Hotel! Auch unser Hotel ist voller Patrioten.« Wie viele von ihnen glauben tatsächlich, dass die Präsidentschaftswahl in den USA manipuliert worden ist? Und wie viele wollen eigentlich nur bei einem Experiment in politischer Machtausübung dabei sein? Das lässt sich nur sehr schwer sagen.

Keine vierundzwanzig Stunden später sieht man Mitglieder der neofaschistischen und frauenfeindlichen »Proud Boys«-Bewegung zum Kapitol marschieren. Sie versprechen: »Wir holen uns unser Land zurück1!« In einem Park südlich des Kapitols ruft Trump kurz darauf seinen Anhängerinnen zu: »Wir kämpfen wie die Wilden! Und wer hier nicht wie ein Wilder kämpft, wird bald kein Land mehr haben!« Während der Kongress Joe Bidens Sieg bei der Präsidentschaftswahl 2020 bestätigt, wird die Menge auf der »Stop the Steal«-Demonstration stetig größer. »Fight for Trump! Fight for Trump! Fight for Trump!«, rufen die Protestierenden in Sprechchören, die wie ein Echo von Trumps eigenen Schlachtrufen klingen.

»Fickt euch, ihr Verräter!«, schreit ein Mann mit Army-Shirt, roter Mütze, Sonnenbrille und Stoppelbart einigen Polizeibeamten zu, die durch die Menge gehen. »Ihr Drecksäue!« Dann wendet er sich der Kamera zu, die gerade live über die Website der ›Young Patriot Society‹ streamt: »Wir werden keine Gewalt anwenden. Wir werden keine tödliche Gewalt anwenden. Wir werden diese Gewalt anwenden. Gottes Gewalt.« Der Mann spannt seinen Bizeps an. »Seht euch an, was für einen Schiss sie haben. Seht her, wie viele wir sind. Es wird ein Leichtes sein, den ganzen Ort hier einzunehmen.« Trunken vor begeisterter Erregung fährt er mit irrer Stimme fort: »Scheiß auf unsere Jobs2, scheiß auf unsere Häuser, scheiß auf alles andere. Wir setzen uns jetzt zur Wehr. Denn wenn wir uns nicht zur Wehr setzen, verlieren wir alles. Einfach alles. Sollen sie uns doch erschießen. Sollen sie uns erschießen!«

»Ich bin am Kapitol«, schreibt Lori, eine Frau aus Baltimore, um 13.21 Uhr in die Chatgruppe von 4Deep News. Eine halbe Stunde später fügt sie hinzu: »Also, ich stürme jetzt das Kapitol.« Tony antwortet: »Macht das, ihr Motherfucker. Stop the Steal!«

Um 12.53 Uhr fängt die Menge an, auf die Polizeiabsperrungen zuzumarschieren. Die Beamten der Capitol Police stehen tausenden »Stop the Steal«-, QAnon-, Kekistan- und Konföderierten-Fahnen gegenüber und sind massiv in Unterzahl. Die ersten Protestler durchbrechen bereits die Polizeilinien. Manche klettern über die Absperrzäune, andere feuern nur an und skandieren motivierende Sprechgesänge.

Aufnahmen von Körperkameras der Polizei3 zeigen die Kämpfe an den Frontlinien: Pfefferspray-Scharmützel und Auseinandersetzungen mit Schlagstöcken. Die Polizisten weichen zurück. Es gibt wehende Fahnen4 zu sehen und triumphierende Schreie zu hören, als die ersten Randalierer es bis zur Westtreppe des Kapitols geschafft haben und anfangen, die Stufen hinaufzulaufen. »Fuck you, bitches!«, zischt einer von ihnen, während der Mob im Hintergrund »USA! USA!« brüllt.

Um 13.45 Uhr setzt ein Polizist einen Hilferuf ab. Sie seien auf der Terrasse oben an der westlichen Treppe von beiden Seiten angegriffen und überrannt worden. Er fordert sämtliches militärisches Personal (Military Personnel Divisions, MPD) zur Unterstützung an. »Unsere Linie ist durchbrochen5 worden. Wir können unsere Linie nicht halten. An alle MPD: Zurück!« Es ist zu spät. Immer mehr Randalierer durchbrechen die Tore. Einige schlagen mit Stöcken so lange auf die Fenster des Kapitols ein, bis sie hineinklettern können. Dann treten sie von innen die Türen auf, um andere hinterherkommen zu lassen. »Das ist unser Haus!«, rufen sie, während sie an den Empfangsschaltern vorbei- und auf den Senatssaal zumarschieren, wo die formelle Bestätigung des Wahlergebnisses noch läuft. »USA! USA! USA!«

Der Secret Service beginnt umgehend mit der Evakuierung von Vizepräsident Mike Pence, der bis zu diesem Zeitpunkt den Sitzungsvorsitz geführt hat. Ein Stockwerk tiefer laufen die Randalierer bereits durchs Gebäude, auf der Suche nach dem Plenarsaal. Einige tragen Militäruniformen oder Milizkleidung. Aber die überwiegende Mehrheit direkt hinter ihnen sieht nach völlig durchschnittlicher Trump-Anhängerschaft aus. Als sie nur noch dreißig Meter von Mike Pence entfernt sind, stellt sich ihnen ein Polizist in den Weg. Rufe werden laut, Pence soll genauso aufgehängt werden wie Nancy Pelosi, die Sprecherin des US-Repräsentantenhauses.

Währenddessen drehen die Chatgruppen 4Deep News und God Emperor Trump regelrecht durch. Die Mitglieder, die es nicht zur Demo geschafft haben, verfolgen die unterschiedlichen Livestreams der Protestierenden. Ihr Traum steht kurz davor, in Erfüllung zu gehen. Astrophel schreibt: »Ich hoffe irgendwie, dass die Demonstranten ins Kapitol einbrechen ngl.« Ein paar User geben zu, nicht zu wissen, wie man ›Capitol‹ richtig schreibt, während sie dabei zusehen, wie das wichtigste Symbol der Demokratie in ihrem Land erstürmt wird.

»Drin im Kapitol«, so das nächste Update von Lori.

Will kann es nicht so recht fassen. »Du willst mir jetzt nicht erzählen, dass ich mal für 10 Minuten eingepennt bin und wir das Kapitol erobert haben?«, schreibt er.

»Welp, das Kapitol wurde geschleift und wir sind im Krieg, so viel dazu«, kommt es von Susan.

Will möchte mehr wissen: »Was ist in den letzten 2 Stunden passiert? Sind irgendwelche Politiker vor dem Kapitol aufgehängt worden?«

»Ich dachte, die schnappen sich Pelosi im Kapitol drinnen«, kommentiert Tony.

»Sie ist verdammt schnell gerannt«, erwidert Susan.

Die Grenze zwischen Gewitzel und Anstiftung zur Gewalt wird sehr dünn.

»Die kriegt den Strick als Erste«, schreibt Kevin. Und das liest sich in diesem Augenblick wirklich nicht mehr wie ein Scherz.

»Wo bist du, Nancy?«, rufen einige der Randalierer. Sie versuchen, Pelosi ausfindig zu machen, und hämmern dabei gegen jede Tür, an der sie vorbeikommen. Pelosi ist gerade noch rechtzeitig aus dem Gebäude evakuiert und an einen sicheren Ort gebracht worden. Aber ihre Mitarbeiter verstecken sich immer noch unter den Tischen, ein paar Meter entfernt vom Mob. Sie haben sich in einem Konferenzzimmer verbarrikadiert und hören, wie die Randalierer die äußere Tür zu ihrem Versteck aufbrechen. Sie fürchten um ihr Leben.

Um 14.40 Uhr schreibt Sam: »GERADE WURDE NOCH EINE TÜR ZUM KAPITOL AUFGEMACHT.« Die Randalierer strömen jetzt auch durch das Portal an der Ostseite und verteilen sich im gesamten Gebäude. Die Sitzung im Plenarsaal ist unterbrochen worden, den Abgeordneten wurde gesagt, dass sie sich darauf vorbereiten sollen, ihre Gasmasken aufzuziehen. »Es sind Menschen in der Rotunde, die sich in unsere Richtung bewegen.« Nun hören die Mitglieder des Repräsentantenhauses, dass sie sich im Notfall unter ihren Stühlen verstecken sollen. Der demokratische Kongressabgeordnete Eric Swalwell schickt seiner Frau eine Nachricht: »Ich liebe dich und die Kinder6. Bitte nimm sie für mich in den Arm.«

Durch die östliche Tür strömen immer mehr Menschen in die Rotunde und fluten die Korridore. Niemand weicht zurück, weder auf der Demonstranten- noch auf der Polizistenseite. Die Situation wird mit jeder Minute chaotischer. Wieder gibt es Kämpfe mit Schlagstöcken und Tränengas. Hinten schreit eine Frau »Stopp!«, und ein Mann mit MAGA-Kappe ruft: »Wir brauchen mehr Leute!«

Lori berichtet live vor Ort: »Da waren so Jungs, die Tränengas abgekriegt haben. Haben sich kurz die Augen ausgewaschen und sind direkt wieder rein ins Kapitol haha.«

»Hast du da die Scheiben am Kapitol eingeschlagen?« kommentiert Sam. »Gut gemacht!«

Es gibt nur sehr wenig Platz, und die Polizisten sind geradezu eingequetscht zwischen großen Menschentrauben, die sich ihnen in einem (schlecht) koordinierten Manöver entgegendrücken. In den vordersten Reihen fürchten sowohl Beamte als auch Randalierer um ihr Leben. Das schiere Gewicht des Mobs hätte sie zu Tode quetschen können. Die Menge mit den MAGA-Kappen und den Trump-Klamotten aber schiebt sich weiter und immer weiter vorwärts. »Du siehst mich doch7. Du gehst jetzt nach Hause. Geh nach Hause!«, ruft ein Randalierer einem Polizisten zu, der vor Schmerz aufschreit.

Viele der Polizeibeamten, die am 6. Januar 2021 Dienst haben, verlassen das Kapitol schwer traumatisiert. Einer von ihnen ist Harry Dunn. Später berichtet er im britischen Fernsehen, er habe gedacht, dass er diesen Tag nicht überleben werde. Die riesige Menschenmenge kam ihm vor wie eine Zombie-Horde. Manche riefen ihm das N-Wort zu, und er konnte nichts anderes mehr denken als: »Überleben und dann nach Hause8!«

Einige wenige Leute in den rechtsextremen Discord-Kanälen sind nicht glücklich mit den Szenen, die sie zu sehen bekommen. Über Hunderte von Livestreams, die auf der libertären Social-Media-Plattform Parler von iPhone-Kameras geteilt werden, können sie den Ablauf der Ereignisse in Echtzeit verfolgen. »Findet ihr denn alle gut, was im Kapitol passiert?«, schreibt Cathy, als die Situation sichtbar eskaliert. Aber sie scheint in ihrer Gruppe in der Minderheit zu sein. Im Inneren des Gebäudes brüllt ein Mann mit MAGA-Jacke, MAGA-Sonnenbrille und MAGA-Kappe: »Ihr wollt kämpfen? Wir sind Hunderttausende!« Hinter ihm singt die Menge: »We won't drop, we won't drop!«, »Wir geben nicht auf, wir geben nicht auf!« Jetzt wird ein Polizist angegangen: »Zurück mit dir!« Der Beamte wirkt zwar eingeschüchtert, rührt sich aber nicht vom Fleck. Auch manche der Protestler, die es ins Gebäudeinnere geschafft haben, bekommen nun Angst. Einer sagt in die Kamera: »Wir versuchen, hier ein Zeichen zu setzen9, aber eigentlich will ich mich nicht mit diesen Jungs anlegen.«

Wer bisher gedacht hat, es sei doch noch gar nichts eskaliert, sieht die Sache langsam anders. Randalierer schlagen auf eine abgeschlossene Glastür ein, die zur Lobby der Sprecherin des Repräsentantenhauses vor dem Plenarsaal führt. Sie haben dahinter James McGovern entdeckt, den Vorsitzenden des Geschäftsordnungsausschusses im Repräsentantenhaus, der versucht, den Plenarsaal zu verlassen. »Einschlagen, einschlagen!«, feuert die Menge den Randalierer an, der es mithilfe eines Schlagstocks geschafft hat, ein Loch in die Glastür zu hauen. Dann kommt der Ruf von einem anderen Randalierer: »Er hat eine Knarre!« Ein Polizist hat für den Fall, dass die Randalierer es durch die Tür schaffen, die Waffe auf sie gerichtet. Eine Frau ignoriert die Warnung. Sie wirft sich nach vorn und klettert an der Tür hoch, um durch das eingeschlagene Glas zu kommen. Dann fällt ein Schuss, und Ashli Babbitt bricht auf dem Boden zusammen. Sie bewegt sich kaum noch10, aus ihrem Mund kommt Blut, der Polizist hat ihr in die Schulter geschossen.

Eine Stimme ruft: »Zur Seite! Sie braucht Hilfe, verdammt!« Mehrere Polizisten knien nun neben der sterbenden Frau und versuchen, die Blutung zu stoppen. Aber es ist zu spät. Ashli Babbitt hat nur noch wenige Stunden zu leben. Die Beamten bringen sie die Treppe hinunter, und sowohl Augenzeuginnen als auch Livestream-Zuschauer fangen nun endlich an, den Ernst der Lage zu begreifen. Hier stirbt eine Frau. Auf den verwüsteten Stockwerken des Kapitols liegen Papiere, Glasscherben, Müll und zertrümmerte Möbelstücke herum. Auf einem der Portale zum Kapitol steht: »Murder the media«, »Ermordet die Presse«.

Noch am selben Abend verstirbt Ashli Babbitt im Washington Hospital Center. Sie war eine 35-jährige Armeeveteranin und QAnon-Anhängerin aus der Gegend von San Diego. »Nichts kann uns aufhalten«, hatte sie am Tag vor der Erstürmung des Kapitols noch getwittert. »Sie können sich alle Beine ausreißen, aber der Sturm ist da und wird in weniger als 24 Stunden über DC hereinbrechen ‌… Vom Dunkel zum Licht!« QAnon-Anhänger glauben, dass ›der Sturm‹ jener Tag ist, an dem Donald Trump den ›Pädophilenring der globalen Elite‹ entlarven und Amerikas wahre Größe wiederherstellen wird. Babbitt hatte, bevor sie auf die libertäre Seite überwechselte und zu einer überzeugten Trump-Anhängerin und QAnon-Verschwörungstheoretikerin wurde, Barack Obama gewählt.

In den rechtsextremen Discord-Gruppen schlagen die emotionalen Wellen hoch. Sofort wird Babbitt als unrechtmäßig getötete Patriotin und Märtyrerin dargestellt. »Gerechtigkeit für Ashli Babbitt!«, schreiben viele. »Dieses Gebäude muss niedergebrannt werden«, fordert Sam. Unterdessen bezeichnet Donald Trump alle Menschen am Kapitol als »große Patrioten«. Kurz nach Ashli Babbitts Tod twittert er: »So etwas passiert, wenn großen Patrioten, die schon zu lange schlecht & unfair behandelt werden, ein heiliger Erdrutsch-Wahlsieg kurzerhand & bösartig entrissen wird. Geht in Liebe & Frieden nach Hause. Erinnert euch immer an diesen Tag!«

Manche der User von 4Deep News begreifen, dass die Krawalle am Kapitol nicht in Ordnung sind. Andere jedoch fügen die Ereignisse sofort in ihre größeren Verschwörungserzählungen ein. Ihrer Ansicht nach sind die Ausschreitungen ein vom FBI eingefädeltes Komplott bzw. ein groß angelegtes Täuschungsmanöver der Antifa, um die Bewegung polizeilicher Verfolgung und öffentlicher Kontrolle zu unterwerfen. Aber sogar manchen Mitgliedern des Discord-Kanals fallen hier Unstimmigkeiten auf. Einer bemerkt: »Ihr sagt selbst, ›Wir haben gerade das Kapitol gestürmt‹, behauptet aber gleichzeitig, das sei die Antifa in Trump-Verkleidung?« Verschwörungsmythen müssen keinen logischen Sinn ergeben, um unser Bedürfnis nach kognitiver Schließung zu stillen.

Beim Sturm aufs Kapitol ging es um die Idee der Wahlfälschung. Es ging um eine vollkommen unbegründete These. Eine These, die allerdings von 40 Prozent11 aller Bürgerinnen und Bürger der USA vertreten wird.

Die Ereignisse vom 6. Januar zeigen, wie weit verbreitet radikale Ideen in der Mitte der Gesellschaft bereits sind. Die US-Amerikanerinnen und -Amerikaner, die im Zusammenhang mit dem Aufstand am Kapitol festgenommen wurden, gehörten nicht zum typischen rechtsextremen Mob. Eine investigative Analyse12 des Chicago Project on Security & Threats fand heraus, dass von den 716 Personen, die wegen unrechtmäßigen Betretens des Kapitols am 6. Januar 2021 angeklagt wurden, 90 Prozent keine eindeutige Verbindung zu rechten Milizen oder rechtsextremen Gruppierungen wie den Proud Boys, den Oath Keepers, den Three Percenters oder der Aryan Brotherhood hatten.

»Es ist eine breit aufgestellte Massenbewegung, deren Kern die Gewaltbereitschaft ist«, schrieb Robert Pape, der Leiter des Forschungsprojekts. Die Mehrheit des Mobs am Kapitol bestand aus Geschäftsinhabern und Berufstätigen aus angesehenen Berufen, aus Ärzten, Anwältinnen, Ingenieuren und Managerinnen. Nur 7 Prozent der Verhafteten13 waren arbeitslos. Ashli Babbit war bei weitem nicht die einzige Frau, die an der Belagerung des Kapitols beteiligt war. Ein Jahr nach den Ereignissen vom 6. Januar sind 102 Frauen für damit in Zusammenhang stehende Straftaten verhaftet worden. Die Randaliererinnen kamen aus 28 US-Bundesstaaten14 und waren im Durchschnitt 44 Jahre alt, fünf Jahre älter als ihre männlichen Pendants.

Trotz dieses Profils, das die sogenannte ›Mitte der Gesellschaft‹ zu repräsentieren scheint, war die Gewaltbereitschaft unter den Aufständischen hoch. 30 Prozent der Festgenommenen15 wurde tätlich verübte oder angedrohte körperliche Gewalt zur Last gelegt. Was bringt Menschen dazu, das Risiko einzugehen, alles zu verlieren? Und das, obwohl sie einen guten Job und eine liebende Familie haben, die zuhause auf sie wartet?

Guy Reffitt war einer jener Randalierer, die bereit waren, Gewalt anzuwenden. Reffitt wurde in fünf Anklagepunkten16 schuldig gesprochen, darunter Behinderung der Justiz, unerlaubter Waffenbesitz und unerlaubtes Führen von Schusswaffen mit Benutzungsabsicht. Auf während der Ausschreitungen aufgenommenen Livekamerabildern trägt der 48-jährige Texaner einen Helm und augenscheinlich eine schusssichere Weste. Sein eigener Sohn17, Jackson Reffitt, zeigte ihn beim FBI an. Einige Wochen vor dem Aufstand am Kapitol rief Jackson bei der örtlichen Polizei an und sagte, er mache sich Sorgen, weil sein Vater davon spreche, »etwas Großes« zu tun. Noch während die Ausschreitungen im Gange waren, bestätigte Jackson dem FBI, sein Vater sei Teil des Mobs, der das Kapitol stürme.

Als Jacksons Vater nach Hause kam, sagte er warnend zu seiner Familie: »Wenn ihr Verräter seid, werdet ihr erschossen.« Da ging der 19-Jährige auf Tauchstation. »Ich habe das als eine an mich persönlich gerichtete Drohung empfunden«, erklärte Jackson. Er sprach kaum noch mit seinen Eltern, seine Mutter bezeichnete ihn als »die Gestapo«. Jackson sagte: »Ich will nicht um mein Leben fürchten18, aber ich glaube auch, dass ich das nicht mehr lange tun muss, denn ich weiß, wie viele Leute hinter mir stehen.« Bis heute kann er nicht fassen, was aus seinem Vater geworden ist. »Früher war er einer der besten Daddys aller Zeiten. Er hat aus mir den Menschen gemacht, der ich heute bin. Er hat mir beigebracht19, ehrlich zu sein, nicht zu klauen, diesen ganzen Klischee-Kram. Ich glaube, es liegt an seiner Erziehung, warum ich getan habe, was ich getan habe.«

Der Aufstand kam nicht aus dem Nichts. Er war der Kulminationspunkt eines sich über Wochen und Monate, ja wahrscheinlich über Jahre vertiefenden antidemokratischen Ressentiments in rechten, trumpistischen und verschwörungstheoretischen Netzwerken. Viele der selbsterklärten Patrioten sprachen schon im Jahr 2019 sehr offen von ihren radikalen Träumen, das Kapitol einzunehmen. Jonny beispielsweise postete in der Discord-Gruppe ›God Emperor Trump‹: »Bevor ich den Vorsitzenden des Democratic National Committee auf dem Dach des Kapitols enthaupte, werden sie mir das Gesicht und das Auge aufschlitzen.« Kurz darauf wurde sein Account gelöscht. »Stürmt das verdammte Kapitol!«, wies Sam seine Discord-Freunde am 3. Dezember 2020 an. Was Martin an Heiligabend 2020 folgendermaßen kommentierte: »Wahrscheinlich wäre es besser, jeden Regierungssitz einzunehmen, nicht nur den in Washington.«

In den Tagen nach den Ausschreitungen blieb die Stimmung angespannt. Am 7. Januar fragte Tim: »Wie können wir sie zur Rechenschaft ziehen? Sie haben all unsere Rechte verletzt, uns unsere Wahl gestohlen und uns dann ins Gesicht gelacht, während sie den Sturm aufs Kapitol inszeniert haben.« Kevins Kommentar: »Das gesamte Kapitol sollte sofort in die Luft gesprengt werden.«

»Wir müssen allen sagen, dass sie sich zu ihrem nächsten Regierungsgebäude begeben sollen und sich da dann anwesendes Führungspersonal um alles Weitere kümmert«, schrieb Tim. »Ihr solltet alle längst wissen, wie ihr zu eurem jeweiligen Kapitol kommt. Während wir uns hier unterhalten, trommle ich auf jeden Fall Leute zusammen.« Dann ergänzte er: »Wir nehmen jetzt erst mal jedes Regierungsgebäude ein ‌… Danach erklären wir unsere Bundesstaaten für konservativ, und alle anderen müssen raus.«

Viele User fanden das gut. Manche riefen sogar zum Bürgerkrieg auf: »Krieg!!! Krieg!!! Krieg!! Kein Gelaber mehr, wir holen uns alles zurück, ich breche heute auf zu meinem Kapitol und hoffe, ihr alle entscheidet euch auch dazu, für unsere Sache einzustehen«, schrieb Kevin. »Zieht in den Krieg!«, forderte ein anderer. »Der Krieg steht bevor«, kommentierte der Nächste. »Zeit für Krieg«, verkündete ein Dritter. »Bürgerkrieg!«, schloss der Vierte.

Führende Personen in den Politikwissenschaften stellten sich die Frage, ob die USA wohl am Rand eines Bürgerkriegs stehen. Barbara Walter – eine der weltweit renommiertesten Bürgerkriegsexpertinnen20, die sich mit den Kriegen in Myanmar, Nordirland, Ruanda, Sri Lanka, Syrien und Jugoslawien beschäftigt hat – kam zu dem Schluss, dass in den heutigen USA alle Anzeichen dafür vorliegen, dass es zu weiteren gewaltsamen Auseinandersetzungen kommen wird. In einer nachbereitenden Studie zum Aufstand am Kapitol befragte das Team des Chicago Project on Security & Threats eine repräsentative Gruppe von US-Amerikanern, ob sie den Einsatz von Gewalt befürworten würden, wenn das Trump wieder ins Weiße Haus brächte. 9 Prozent bekundeten umstürzlerische Gedanken und befürworteten den Einsatz politischer Gewalt. Was in den USA einer Menge von 23 Millionen21 Menschen entspricht.

Angefangen beim Sturm auf die Bastille 1789 bis hin zur Erstürmung des Winterpalasts in Sankt Petersburg 1917: Gewaltsame Aufstände gegen zentrale staatliche Institutionen sind ein Kennzeichen für kurz bevorstehende oder bereits laufende Revolutionen. Im Unterschied zu Bastille und Winterpalast, wo die Menschen für die Überwindung monarchistischer Strukturen kämpften, versuchte der Mob vom 6. Januar, eine demokratisch gewählte Regierung abzusetzen. In die geschlossene Gruppe schrieb Bob, ein weit rechts stehender Armeeveteran, der bis heute auf unterschiedlichen Militärbasen arbeitet: »Beim nächsten Sturm aufs Kapitol werden es Hunderttausende sein, nicht nur ein paar Idioten.« In einem Punkt hatte Bob wahrscheinlich recht: Die radikalen Ideen, die die Aufständischen motivierten, werden die Trump-Ära ziemlich sicher überleben. »Wann kapieren die Leute endlich, dass es gar nicht um Trump geht?«, kommentierte Serenity. »Trump hat eine Bewegung ins Leben gerufen, er war das Gesicht dieser Bewegung. Diese Bewegung aber bleibt, und gerade hat sie das Regierungsviertel gestürmt.«

Wenn man die Bilder von dem Mann mit dem gehörnten Kopfschmuck sieht und daneben die in QAnon- und MAGA-Flaggen gehüllten Randalierer, könnte man schnell den Fehler machen, die Aufständischen für ein paar harmlose Trolle zu halten, die eher durch Zufall einen Schritt zu weit gegangen sind. Doch wenn man genauer hinsieht, wird überdeutlich, dass wir Verschwörungserzählungen wie die vom ›Großen Austausch‹ und QAnon ernst nehmen müssen: Umfragen haben ergeben22, dass diese beiden Narrative die zentralen ideologischen Säulen der US-Bürger waren, die Bereitschaft zeigten, Gewalt anzuwenden. Beide Ideen haben im Laufe der letzten Jahre in ganz Nordamerika, in Großbritannien, Europa und Australien Millionen von Anhängerinnen und Anhänger gefunden.

Die Vereinigten Staaten sind auch ganz sicher nicht die einzige westliche Demokratie, der gewaltsame Revolution und Bürgerkrieg drohen: Wenige Monate vor dem Aufstand am Kapitol wurde der deutsche Reichstag von einer Menge rechter, unter dem Einfluss von QAnon stehender Verschwörungstheoretiker und so genannter ›Reichsbürger‹ gestürmt. Im Dezember 202223 wurde ein deutschlandweites Netzwerk von etwa fünfzig Reichsbürgern und Querdenkern aufgedeckt, die einen gewaltsamen Umsturz der Regierung und die Errichtung ihres eigenen Alternativstaates geplant hatten. Die Verbreitung von radikalem Gedankengut ist nicht auf die USA begrenzt, sondern hat an vielen Orten der Welt die gesellschaftliche Mitte erobert. Wie aber konnte es nur so weit kommen? Wie kann es sein, dass unsere liberal-demokratischen Gesellschaften so anfällig geworden sind? Welche menschlichen Faktoren sind es, die uns alle näher an Radikalisierung und Polarisierung herangerückt haben? Und was können wir tun, um unsere Demokratien vor dem Zerfall zu bewahren?

1 Mainstreaming

Von den Radikalisierungsmaschinen zur Massenradikalisierung

Ich bin Claire Lafeuille. Ich bin eine britisch-französische Journalistin und Mutter von zwei kleinen Kindern. Vor meiner Selbstständigkeit habe ich Marketing studiert und in der Modebranche gearbeitet. Aus meinen Social-Media-Profilen wird ersichtlich, dass ich mich leidenschaftlich für die Meinungsfreiheit einsetze und auf meiner Website kontroverse Themen wie Ethnische Zugehörigkeit, Religion, Gender und Klimawandel verhandele. Wo ich selbst stehe? Auf den ersten Blick gebe ich nicht allzu viel preis, aber wer genauer hinsieht, begreift, dass ich eine Gegnerin von Black Lives Matter, von Aktivismus gegen den Klimawandel und von Coronaimpfungen bin.

Ich bin Alex Williamson. Ich bin ein arbeitsloser weißer US-Amerikaner, der die Schnauze voll hat vom Feminismus. Ich bin Ende zwanzig und unglücklich Single. Seit mehr als zehn Jahren bin ich auf der Suche nach einer Freundin oder zumindest einer Sexpartnerin. Meine Brüder sind beide verheiratet, und ich versuche verzweifelt zu begreifen, was ich falsch mache. Im Lockdown habe ich 20 Kilo zugenommen und wieder mit dem Zocken angefangen, womit ich nach meinen Teenagerzeiten eigentlich aufgehört hatte. Bald darauf habe ich mich der frauenfeindlichen Incel-Community angeschlossen. An Politik bin ich nicht wirklich interessiert, ich will eigentlich nur von meinem Frust mit den Frauen abgelenkt werden und irgendein Mittel finden gegen meine Angst vor Zurückweisung.

Ich bin Maria Petrova. Ihr könnt mich auch Mary nennen. Ich komme aus Bayern, habe aber russische Wurzeln und studiere Philosophie. Meine Freunde und ich stehen seit Beginn des Ukrainekriegs ganz klar auf Seiten Russlands. Der deutschen Presse oder der deutschen Regierung, die behauptet, mich zu repräsentieren, traue ich nicht mehr. Ja, ein paar Freundschaften sind in den Diskussionen zum Ukraine-Thema kaputtgegangen. Doch glücklicherweise haben deutsche QAnon- und Impfgegner-Gruppen das entstandene soziale Vakuum gefüllt. Kein Tag vergeht, an dem ich nicht mit ihnen chatte oder bei einer Protestkundgebung mit dabei bin, die sie organisieren.

Ich bin Julia Ebner. Und das bin jetzt wirklich ich. Ich bin eine österreichische Wissenschaftlerin, die am Londoner Institute for Strategic Dialogue sowie am Centre for the Study of Social Cohesion an der Universität von Oxford arbeitet. Mich hat schon immer fasziniert, wie radikale Subkulturen an Einfluss und Macht gewinnen. In den vergangenen Jahren habe ich die Vereinten Nationen, die NATO, die Weltbank und diverse europäische und US-amerikanische Geheimdienste beraten. Wenn ich ausgehend von meiner Forschung einen zentralen Trend fürs kommende Jahrzehnt benennen sollte, würde ich sagen: das Mainstreaming von radikalem Gedankengut.

Um verdeckt ermitteln bzw. undercover arbeiten zu können, braucht es viel Zeit, Aufwand und Empathie. Eine stimmige Geschichte erzählt ja nicht nur, wer du heute bist, sondern auch, wie du zu dem geworden bist und wer du in Zukunft sein willst. Als Nächstes musst du deine Geschichte verinnerlichen, um immer glaubwürdig, also in deiner Rolle zu bleiben. Und wenn du Kontakte knüpfen willst mit Menschen, die radikal andere Ansichten haben als du, ist schließlich noch viel Einfühlungsvermögen vonnöten.

Ich bin eine wissenschaftsbegeisterte, antirassistische Feministin. Aber für dieses Buch habe ich mich mit Antifeministen, Rassisten, Klimawandelleugnern und Verschwörungstheoretikern getroffen. Ich habe mich falscher Identitäten bedient, um in die Netzwerke von Neonazis und weißen Rassisten aufgenommen zu werden, um in die Frauenhasser-Community der Incels eintreten und mit Mitgliedern der internationalen Verschwörungsbewegung QAnon Interviews führen zu können. Ich wollte wissen, wie es bestellt ist um die radikalsten Ränder der Gesellschaft heute, schließlich sind es ihre Ideen, die langsam bis in die Mitte durchsickern und diese besetzen. Welche Mainstreaming-Strategien nutzen Extremisten, und wie kann es sein, dass sie so viel Erfolg damit haben? Wer ist für ihre radikalen Gedanken am empfänglichsten und warum? Auf welchen Schauplätzen vollzieht sich derzeit die stärkste gesellschaftliche Polarisierung und in welcher Form haben Extremisten diese Pole in Beschlag genommen?

Im Laufe der letzten zehn Jahre habe ich dabei zusehen können, wie viele obskure und zunächst unbedeutend kleine Bewegungen zu mächtigen Akteuren eines politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Wandels wurden. Wer hätte gedacht, dass QAnon eines Tages weltweit Millionen von Menschen binden, politische Vertretung finden und Wahlergebnisse beeinflussen würde? Als ich 2017 zum ersten Mal beitrat, hatte QAnon nicht mehr als ein paar tausend Mitglieder, die meisten davon in den USA. Ganz ähnlich steckten auch jugendzentrierte weiße identitäre Bewegungen wie White Lives Matter und toxische Männlichkeitssubkulturen wie die ›Mannosphäre‹ noch in den Kinderschuhen. Heute nehmen sie Einfluss auf die Politik, verändern die kulturellen Codes und drücken unserer Sprache ihren Stempel auf. Ihre Kampagnen haben Begriffen wie ›Feminismus‹, ›Diversity‹ und ›Globalismus‹ im öffentlichen Diskurs einen negativen Beigeschmack verpasst, während sie selbst Begriffe wie ›Freiheit‹, ›Demokratie‹ und ›Menschenrechte‹ gekapert und für ihre Zwecke umgedeutet haben.

Ich habe mich schließlich gefragt: Wie bewegen sich Ideen von den radikalsten Rändern in den Mainstream hinein? Und was bedeutet das für den Kampf gegen Ungerechtigkeit, Diskriminierung und Desinformation? Als Gesellschaft haben wir ein relativ klares Bild davon, wie ein Radikalisierungsprozess im Einzelfall vonstattengeht. Es gibt viele Bücher darüber, wie vulnerable Individuen in die Fänge von gewalttätigen, extremistischen und terroristischen Bewegungen geraten. Was aber passiert, wenn wir alle plötzlich vulnerabel sind und, beispielsweise in Krisenzeiten, Bereitschaft zeigen für radikale Veränderungen? Seitdem ich im Jahr 2015 damit angefangen habe, auf dem Feld der Terrorismusbekämpfung zu arbeiten, haben wir eine Beschleunigung genau jener politischen und gesellschaftlichen Trends gesehen, die Terroristen mit ihren Anschlägen lostreten wollen. Wir haben miterleben müssen, wie liberale Demokratien sich entlang unterschiedlichster Achsen selbst zerreißen. Am vielleicht schockierendsten aber ist es, dass die politische Mitte Stück für Stück erodiert, dass gesellschaftliche Fortschritte zurückgeschraubt werden und die Demokratie sich selbst delegitimiert.

Wie viele von Ihnen, die Sie dieses Buch lesen, haben wegen Meinungsverschiedenheiten beim Thema Maskenpflicht, Corona-Lockdown oder Covid-Impfstoffen einen Freund verloren oder sich mit einem Familienmitglied zerstritten? Wie viele haben über Klimawandel diskutiert? Über Feminismus? Über Rechte für Transgender-Personen? Den Ukrainekrieg? Studien haben ergeben, dass die meisten über mindestens eines dieser Themen hitzige Debatten im Freundeskreis oder innerhalb der Familie geführt haben. 71 Prozent der Deutschen1 hatten mindestens einmal wegen Corona einen Streit mit Verwandten oder Bekannten, 56 Prozent sogar mehrmals. Impfstoffe, insbesondere deren Wirksamkeit oder Nebenwirkungen, sind bei 64 Prozent der Deutschen ein Konfliktthema im privaten Umfeld, Kontaktbeschränkungen und 3G-Regulierungen bei 59 Prozent.

Die Impfdebatte ist ein gutes Beispiel für eine zweipolige Schwarz-oder-Weiß-Diskussion, die mittlerweile untrennbar mit Identitätskonflikten zwischen zwei sich unversöhnlich gegenüberstehenden Gruppen verbunden ist: Man trifft nicht bloß eine Entscheidung darüber, ob man sich impfen lässt, man ist gleich Teil der sogenannten »Impfdiktatur« oder eben »radikaler Impfgegner«. Der Brexit und die letzten Präsidentschaftswahlen in den USA verhielten sich ähnlich binär. In Großbritannien war man ein ›Leaver‹ oder ein ›Remainer‹, in den USA stimmte man entweder für oder gegen Antirassismus, Geschlechtergleichheit und Umweltschutz. Ein Dazwischen schien es nicht mehr zu geben.

Die letzte Bielefelder »Mitte-Studie« zeigt anschaulich, wie weit extreme Ideen auch bis in die Mitte der deutschen Gesellschaft vorgedrungen sind. Antidemokratische Einstellungen nehmen in Deutschland zu. Fast ein Viertel der Deutschen2glaubt an eine Medienverschwörung, und etwa 16 Prozent sind der Ansicht3, die Bundesrepublik ähnele einer Diktatur mehr als einer Demokratie. Über 20 Prozent der Bevölkerung sind der Meinung, es würde »zu viel Rücksicht auf Minderheiten« genommen, und fast ein Viertel denkt, im nationalen Interesse dürften »nicht allen die gleichen Rechte gewährt werden«. 16 Prozent befürworten sogar4 teilweise eine Machthierarchie nach Hautfarbe. Die Leipziger Autoritarismus-Studie kam zu ähnlichen Ergebnissen: Alte Ressentiments gewinnen eine neue Radikalität und die Begriffe ›gemäßigt‹ und ›Mitte‹ sind nicht mehr notwendigerweise synonym. Ein Drittel der Deutschen etwa denkt, die Bundesrepublik sei »durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maße überfremdet«. Auch Islamophobie, Antisemitismus5, Sexismus und Antifeminismus sind stark angestiegen.

Die Ursachen für die rasante Verbreitung menschen- und demokratiefeindlicher Ideen liegen in der globalen Vertrauenskrise. Das Edelman Trust Barometer, eine jährlich weltweit durchgeführte Umfrage, zeigt für 2022 deutlich den Zusammenbruch des gesellschaftlichen Vertrauens in Politik, Medien und Wissenschaft in liberalen Demokratien. So vertraut in Deutschland, Großbritannien, Spanien und den USA weniger als die Hälfte der Bevölkerung den etablierten Institutionen ihres Landes. Bedenken rund um ›Fake News‹ sind auf dem höchsten Niveau aller Zeiten. In Deutschland wie in anderen Ländern ist Misstrauen6 die Standardemotion. Es gibt zwei klare Gewinner dieser Krise: rechtspopulistische Parteien wie die AfD und staatliche Akteure wie Russland, die ein geteiltes Interesse an der Erschütterung der liberalen Demokratien und existierenden Machtverhältnisse haben. Ihre Propaganda baut darauf, das Misstrauen gegenüber den Institutionen weiter zu schüren. Die Wahlerfolge der Fratelli d'Italia und der Schwedendemokraten im Herbst 2022 haben gezeigt, wie erschreckend schnell neofaschistische Parteien mit dieser Taktik wieder in politische Machtpositionen kommen können.

Wir stehen am Beginn eines Jahrzehnts der Massenradikalisierung und der Hyperpolarisierung. Nach nur drei Jahren sind die 2020er Jahre bereits von gesellschaftlichen Gräben durchzogen, die sich entlang der Kampflinien um Antirassismus, Geschlechtergleichheit, Queer-Rechte, Maßnahmen gegen den Klimawandel, Impfstoffakzeptanz und Ukrainekrieg rasant immer weiter auftun. Auf der ganzen Welt sind Black-Lives-Matter-Proteste von White-Lives-Matter-Aktivisten mit rassistischer Gewalt beantwortet worden. Anti-Feministen haben Einschüchterungskampagnen gegen Feministinnen gestartet, und für queere Rechte eintretende Menschen sind von Anti-LGBTQ-Aktivistinnen angegriffen worden. 2021 erschoss ein Sympathisant der gewaltbereiten, misogynen Incel-Community fünf Menschen in Plymouth, während in Frankreich tödliche Hassverbrechen gegen Transgender-Personen ein noch nie dagewesenes Ausmaß erreichen. In Bratislava wurde im Oktober 20227 ein tödlicher Anschlag auf die LGBTQ-Community verübt, bei der zwei junge Männer erschossen wurden. Klimawandelleugner ziehen mit Desinformationskampagnen gegen Umweltschutzbewegungen ins Feld, und verschwörungstheoretisch eingestellte Impfgegner verüben Anschläge auf wissenschaftliche Einrichtungen. In Deutschland ermordete ein QAnon nahestehender Coronaleugner nach einem Streit über die Gesichtsmaske den jungen Mitarbeiter einer Tankstelle.

Rückwärtsgewandte Bewegungen versuchen, Anspruch auf alte Privilegien zu erheben und den in den vergangenen hundert Jahren erzielten gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Fortschritt zurückzudrehen – mit schockierenden Erfolgsquoten. Viele der polarisierenden Gruppierungen von heute sind exklusiver und gefährlicher als frühere. Aber ihr radikales Gedankengut kursiert nicht mehr nur in den dunklen Ecken des Internets oder bei extremistischen Geheimtreffen. Es findet Widerhall in den Parlamenten und ist bei Großdemonstrationen auf der Straße zu hören. Schritt für Schritt erobert es die gesellschaftliche Mitte. Was diese radikalen Ideen gemein haben, ist ein Gefühl der Machtlosigkeit und der Entmündigung. Wir können momentan in Echtzeit beobachten, wie sich der tief empfundene Frust über den Status quo in brandgefährliche antidemokratische Aktivitäten übersetzt. Die Erstürmung des US-Kapitols und der Sturm auf den deutschen Reichstag, ausgeführt jeweils von Koalitionen aus unzufriedenen Bürgerinnen und Bürgern, zielten als Angriff direkt aufs Herz der demokratischen Institutionen. Die Zahl der gewaltsamen Anschläge auf Lokalpolitiker und Journalistinnen hat in jüngster Zeit in vielen europäischen Ländern ein Rekordhoch erreicht. Der beinahe tödliche Angriff8 auf Paul Pelosi, den Ehemann von US-Spitzenpolitikerin Nancy Pelosi, im Oktober 2022 ist ein aktuelles Beispiel für die Gewalt, der Politiker und ihre Familien ausgesetzt sind. In den letzten Jahren gab es eine deutliche Häufung rechtsextrem motivierter Morde an Lokalpolitikerinnen und -politikern, die sich für Migrations-, Feminismus- und LGBTQ-Themen eingesetzt hatten. Die britische Anti-Brexit-Politikerin Jo Cox, der Bürgermeister der polnischen Stadt Gdańsk, Pawel Adamowicz, sowie der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke fielen solchen Verbrechen zum Opfer.

Gleichzeitig haben extremistische, im Internet beheimatete Subkulturen Vorlagen geliefert für eine ganze Reihe gamifizierter Terroranschläge mit dem Ziel, einen weltweiten Bürgerkrieg auszulösen. In allerjüngster Zeit sind Verschwörungstheoretiker aus der QAnon- und der Querdenker-Szene bei pro-russischen Demonstrationen auf die Straße gegangen, um den »Krieg gegen die NATO und die westlichen Werte« zu verklären.

In Radikalisierungsmaschinen, meinem letzten Buch, habe ich in einigen Feldstudien nachgezeichnet, wie Radikalisierung bis hin zu Gewaltbereitschaft und Terrorismus vonstattengeht. Aber Terroristen sind nur die extremsten Stellvertreter deutlich weiter gefasster Konflikte ihrer jeweiligen Zeit. In diesem Buch hier untersuche ich nun sich näher an der Oberfläche unseres Lebens abspielende Identitätskonflikte – und wie diese von den extremsten Positionen innerhalb der jeweiligen Debatten beeinflusst werden. Ich wollte direkt mit den Personen sprechen, die an vorderster Front von zunehmend feindselig geführten Kulturkämpfen stehen. Meine Avatare Claire, Alex, Mary und mein echtes Ich sind also losgezogen, um sich – sowohl on- als auch offline – rund um den Globus mit einer ganzen Reihe radikaler Aktivisten und Aktivistinnen zu treffen. Manche sind in Großbritannien, Europa oder den USA aktiv, andere sitzen in der Antarktis oder im Darknet.

Ich bin überzeugt davon, dass wir der menschlichen Seite aller Radikalisierten Aufmerksamkeit schenken müssen, ganz egal, wie extrem oder kontrafaktisch ihre Beweggründe auch sind. Natürlich steht die Wissenschaft häufiger auf der einen Seite der Diskussion als auf der anderen: Die Argumente von Klimawandelleugnern, Rassistinnen und Impfgegnern sind fehlerbehaftet und beruhen meist auf Falschinformationen und Verschwörungsmythen. Es ist alles andere als einfach, jemandem, der gerade erzählt, alle im Buckingham Palace seien Reptilien und tränken das Blut unschuldiger Kinder, um ewig jung zu bleiben, mit Ruhe und Geduld zuzuhören. Manchmal wusste ich nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Ähnlich abgestoßen war ich, wenn ich den Hasstiraden von Incels oder weißen Rassisten zuhörte. Ein Incel sagte mir mal, er wolle sich an Frauen rächen, indem er sie vergewaltige und ermorde. Aber sogar die radikalsten Individuen, die mir begegnet sind, haben emotionale Geschichten, die es wert sind, angehört zu werden. Zu begreifen, welche Identitätskrisen den Hintergrund extremer Ideologien bilden, scheint mir vor allem wichtig, seitdem wir erleben, dass gesellschaftliche Polarisierung sich verschärft, weil politische Gegner sich gegenseitig nicht mehr als Menschen behandeln. Ebenjener Incel, der Gewalt gegen Frauen gelobt hatte, war gleichzeitig ein tief verletztes, verunsichertes Individuum, das nach Sicherheit, Liebe und Zugehörigkeit in seinem Leben suchte.

Was mir bei meinen Undercover-Recherchen aber am meisten Sorgen bereitet hat, war nicht der gehäuft vorkommende Terrorismus und die zunehmende Zahl an Hassverbrechen, die sich aus dem wachsenden Einfluss extremistischer Communitys ableiten lassen. Noch erschreckender fand ich die langfristigen Auswirkungen, die das Mainstreaming radikaler Ideen auf die Grundpfeiler der Demokratie haben kann. Bei meiner täglichen Arbeit untersuche ich Prozesse der Massenradikalisierung und frage mich wiederholt, was wir von der Zukunft erwarten sollen: weniger Vertrauen in die zentralen demokratischen Institutionen? Mehr tribalistisches Wahlverhalten? Größere Bereitschaft, die Menschenrechte zum Schutz der eigenen Gruppe in den Wind zu schlagen? Als Einzelne, als Gruppe oder als Gesellschaft müssen wir – gerade vor dem Hintergrund der noch nie dagewesenen Herausforderungen und der sich so rasant ändernden Formen sozialer Interaktion – unsere demokratischen Einrichtungen und Prozesse auf eine grundlegende Veränderung in unseren Identitäten vorbereiten. Werfen wir also einen präzisen Blick auf den derzeit zu beobachtenden Trend in Richtung Massenradikalisierung und fragen wir uns: Was können wir tun, um die Eskalation aktueller Identitätskonflikte hin zu Gewalt, Terrorismus und Krieg zu verhindern?

2 Subkulturen etablieren

Undercover bei den Incels

Am Anfang war eine Subkultur.

Meine Knie zittern etwas, als ich aufstehe, um meinen Laptop ganz hinten in meinem Schrank zu verstauen. Versteckt hinter meinen Socken werde ich ihn immerhin für ein paar Stunden nicht mehr ansehen müssen. »Früher oder später werden wir vernichtet«, hat mir gerade jemand anonym über Twitter geschrieben und dazu Fotos von mir und einem Friedhof geteilt. Nicht dass das so außergewöhnlich wäre. Es ist nur die letzte in einer ganzen Reihe von Drohbotschaften, die ich erhalten habe, nachdem ich öffentlich über das Erstarken des Antifeminismus gesprochen habe.

In den 2020er Jahren gibt es für Frauen, die beruflich in der Öffentlichkeit stehen, beim Thema Online-Belästigung kein Entkommen. Eine Studie der Vereinten Nationen hat im Jahr 2021 901 Journalistinnen aus 125 Ländern befragt. Das Ergebnis: Fast drei Viertel der Befragten haben in irgendeiner Form Missbrauch und Hetze im Internet erlebt. Ein Viertel hat sexuelle Drohungen und Morddrohungen erhalten. Zu den anderen häufig angeführten Vorfällen1 gehören öffentlich gemachte private Daten, Belästigung der Familien und zielgerichtete Hacker-Angriffe.

Im Laufe der letzten zehn Jahre ist antifeministischer Hass im Mainstream angekommen. Und ich möchte verstehen, warum. Der beste Ausgangspunkt, um die Zunahme der Frauenfeindlichkeit im Mainstream-Diskurs zurückzuverfolgen, ist eine der radikalsten Subkulturen, die es im Internet gibt: die Incels. Weltweit haben die Incels einige zehntausend Mitglieder. Viel von der misogynen Hetze und den Verschwörungsmythen, die sich in Hasskampagnen gegen Frauenrechtsaktivisten, Influencerinnen und Politikerinnen finden, entstammt dieser obskuren Subkultur.

Um Teil der Incel-Szene zu werden, muss man zunächst verstanden haben, was innerhalb dieser exklusiven Community geht und was nicht. Obwohl die Incels mit der Absicht gegründet wurden, Menschen eine Heimat zu bieten, die das Gefühl haben, nicht in die Gesellschaft zu passen, ist das Forum mittlerweile ironischerweise zu einem der exklusivsten Orte geworden, die sich im Internet finden lassen.

Regel Nr. 1: Die meisten Frauenfeinde wollen nicht mit Frauen reden. Also logge ich mich im Forum der Incels mit einem männlichen Account ein.

Hi, ich bin Alex. Ich bin Mitte 20 und habe die letzten 10 Jahre versucht, eine Freundin zu finden. Ich möchte einfach nur ein ganz normales Mädchen, ich habe ja gar keine hohen Ansprüche. Aber trotzdem: Ich habe einfach keinen Erfolg, egal, was ich mache. Ich habe zwei ältere Brüder, die besser aussehen als ich und die mittlerweile beide glücklich verheiratet sind. In den Lockdowns 2020 und 2021 habe ich zwanzig Kilo zugenommen und jede Hoffnung auf eine Beziehung oder wenigstens eine Sexpartnerin aufgegeben.

Die Entscheidung für eine männliche Identität ist glücklicherweise richtig. Frauen werden nämlich, wie ich später erfahre, »ohne Ausnahme sofort gesperrt«. Es gab bereits etliche Versuche, weibliche Incels, so genannte ›Femcels‹, offiziell zuzulassen, aber die Administratoren des Forums verwahrten sich bislang strikt dagegen. Homo- und Transsexuellen ist der Zugang ebenfalls verboten.

Regel Nr. 2: Man sollte ein Romantik-Nihilist sein. Als Bestandteil meiner Bewerbung muss ich angeben, ob Alex ›bluepilled‹, ›redpilled‹ oder ›blackpilled‹ ist.

Bluepill ist der Glaube daran, dass Paare sich aufgrund persönlicher Kompatibilität finden und genetische Mängel vernachlässigbar werden, wenn Männer sich Frauen gegenüber freundlich und respektvoll verhalten.

Redpill ist die Theorie, dass Menschen ausnahmslos einigen natürlich vorgegebenen Gesetzmäßigkeiten folgen: Alle Frauen fliegen auf das größte Alpha-Männchen (aggressiv, dominant, körperlich stark, einflussreich, reich, mächtig etc.). Schlechte Gene lassen sich daher kompensieren, indem man ein Alpha wird.

Blackpill ist die Vorstellung, dass der gesellschaftlich erreichte Status den biologischen Status niemals aufwiegen kann und dass Frauen ausschließlich Männer mit überragenden Genen attraktiv finden.

Ich wähle ›blackpilled‹, was für die Moderatoren die einzig richtige Antwort ist. »Willkommen. Incels ist ein Forum für Menschen, die Schwierigkeiten damit haben, eine Partnerin fürs Leben zu finden.«

Wer nicht ›unbeliebt‹ genug ist, wird ziemlich wahrscheinlich nicht angenommen. Als einer mal schrieb, dass sich nur übergewichtige und deutlich ältere Frauen für ihn interessierten, wurde er sofort als ›Fakecel‹ angeprangert. Den Moderatoren zufolge kriegt ein wahrer Incel nie ein Match und wird auch nie von irgendwem sexuell interessant gefunden. Die meisten Incels behaupten, dass sie es schon auf unterschiedlichste Art und Weise versucht haben – sich duschen, mal zum Friseur gehen oder ein paar modische Klamotten kaufen –, aber alles nichts geholfen hat.

Regel Nr. 3: Du musst Frauen, insbesondere Feministinnen, verachten wie dich selbst. Auf die Frage »Warum seid ihr Jungs eigentlich Incels?« lautet die Standardantwort: »Wegen der feministischen Unterjochung und mangelhafter genetischer Rekombination.«

»Alles, was nichts mit Frauen zu tun hat, ist gut«, schreibt Steve aus Finnland. Die Incels-Mitglieder, die mir begegnen, haben ihren Profilen Slogans verpasst wie »General des Incel-Kriegs«, »Brustkrebs-Fan« oder »Atomschlag gegen die verschwulte Erde«. Ich selbst entscheide mich für »Anti-Alphamännchen auf der Suche nach blackpilled Ablenkung«. Wie viele der Incels leidet auch mein Avatar an tiefsitzenden Ängsten vor Zurückweisung, Demütigung und Statusverlust.

Die frauenfeindliche Netz-Community ist deutlich diverser, als ich vermutet hätte. Allein die Incels haben2 Männer mit einem breit gefächerten demografischen, ethnischen und religiösen Hintergrund angezogen. Auch das Bildungsniveau ist sehr unterschiedlich. Steve zum Beispiel hat einen Master in Rechnungswesen. Andere sind LKW-Fahrer oder arbeiten im Supermarkt und räumen dort Regale ein. Viele Incels sind Ende 20, arbeitslos und wohnen noch bei ihren Eltern. Manche sind frustriert von der Wirtschaft: »Uni-Abschlüsse sind doch weitestgehend wertlos, die ganze heutige Ökonomie ist hoffnungslos.« Andere sind davon überzeugt, dass ihr miserables Aussehen dafür verantwortlich ist, dass sie keine Arbeit finden. Nur die LKW-Fahrer finden, dass sie sich für den richtigen Job entschieden haben: »Trucker zu sein ist für einen kleinen, hässlichen Mann die beste Möglichkeit, eine Arbeit zu haben. LKW zu fahren ist ungewollt zum Zufluchtsort vor Diskriminierung aufgrund von Körpergröße und Aussehen geworden.«

Die Incel-Community ist3 in den letzten Jahren schnell gewachsen. Da ein typisches demografisches Profil fehlt, ist das Merkmal, das den meisten Incels eignet, die mangelhafte Sozialkompetenz und das fehlende Selbstbewusstsein. Ein Incel schreibt: »Es fällt mir schwer, menschliche Gefühle und soziale Hinweise zu kapieren, aber irgendwie ist mir das auch egal. Es macht mir Spaß, meine Zeit mit Zocken und IQ-Tests im Netz zu verschwenden.« Die Moderatoren des Forums geben zu, dass »manche Incels auch mit psychischen Erkrankungen, Behinderungen und anderen gesundheitlichen Problemen zu kämpfen haben«.

»Bewertet mich und gebt mir Tipps«, schreibt Allan und stellt ein Foto von seinem Gesicht ins Netz. Er erhält folgende Rückmeldungen:

»0.«

»Hoffnungslos.«

»Lass dir mal die Hängelider machen. Sonst siehst du aus, als hättest du einen extrem niedrigen IQ.«

»Dazu fällt mir echt gar nichts mehr ein, Bro.«

Ein Kennzeichen der Incels ist die schon pathologische Fixierung auf den ›Lookism‹, also die Annahme, dass es Vorurteile und Diskriminierungen aufgrund des äußerlichen Erscheinungsbilds gibt. In den Foren Lookism.net und Looksmax.org stellen sich manche Incels mit Sätzen wie »Ich bin ein Vergewaltiger« oder »Hi, ich bin ein autistischer Psychopath« vor. Hier können Mitglieder Fotos von sich posten und sich von anderen auf einer Skala von 0 bis 10 bewerten lassen. Im Anschluss bekommen sie ausgefeilte Tipps, was sich an ihrer äußeren Erscheinung verbessern lassen könnte. Haben Sie sich je gefragt, wie ein ›maskulin geformter Kopf‹ oder ›verführerische Männeraugen‹ im besten Fall aussehen sollten? Ich nicht. Den Incels zufolge gibt es jedoch gerade für Männer sehr klar definierte Schönheitsideale: breite Wangenknochen, Jägeraugen, dichte Augenbrauen, kantiges Kinn, symmetrische Nase, markante Kieferpartie und schlanker Körperbau. Gutaussehende Männer, die mit einer hohen Punktzahl bewertet werden, heißen hier »Chads«, attraktive Frauen hingegen »Stacys«.

Eine der Grundlehren der Community ist die ›80/20-Regel‹, die Hypothese nämlich, dass »80 Prozent der attraktivsten Frauen auf 20 Prozent der genetisch überlegenen Männer fliegen«. Diese Vorstellung hat zu einer stark ausgeprägten Kultur des ›Looksmaxxing‹ geführt, die im Grunde nichts anderes ist als das Streben nach visueller Selbstverbesserung, das von ›Softmaxxing‹ bis hin zu ›Hardmaxxing‹ reichen kann. Softmaxxing bedeutet: Veränderungen in Bezug auf den Kleidungsstil, den Haarschnitt, die Körperpflege, die verwendeten Hautprodukte und das Workout. Die Incels behaupten, fast alle Frauen betrieben ab dem Teenageralter Softmaxxing, indem sie Make-up auflegen, sich vorteilhaft kleiden und Haar- und Hautpflege routinemäßig in ihr Leben integrieren. Manche Incels gehen in ihren Versuchen, die ›Looks-Leiter‹ hochzuklettern, schockierend weit und steigen von einer niedrigen sexuellen Bewertung zu höheren Punktzahlen auf. Hardmaxxing kann bedeuten, anabole Steroide einzunehmen oder sich Schönheitsoperationen zu unterziehen – wozu Kieferfüllungen, Kinnaufbau, Nasenkorrekturen und Wangenknochen-OPs genauso gehören wie Penisdehnungen, Schädelimplantate und Nasenloch- und Ohrenverkleinerungen. Um ehrlich zu sein: Ich wusste nicht mal, dass es all diese chirurgischen Eingriffe gibt.

Es geht aber nicht nur um Äußerlichkeiten. Natürlich liegen viele der Unsicherheiten tiefer: »Diese ständige Zurückweisung, die ich erlebe, ist wirklich entmutigend«, schreibt einer der User. »Deswegen zittern meine Hände mittlerweile schon, wenn ich nur jemand Neues anschreiben will, und zwar so schlimm, dass ich mein Handy fallen lasse oder alles über meiner Tastatur verschütte. Mit Looksmaxxing kann ich meinem emotionalen/mentalen Zustand zumindest ein bisschen entgegenarbeiten.«

Wenn man sich eine Zeitlang in den Looksmaxxing-Foren aufgehalten hat, fällt es schwer, nicht selbst verunsichert zu sein. Etwas, das an einem selbst besser, schlanker oder attraktiver sein könnte, findet sich immer. Ich kann dabei zusehen, wie mancher User stetig unzufriedener mit sich wird, je länger er im Forum unterwegs ist. Auch bei denjenigen, die sämtliche Kriterien erfüllen, finden manche Forumsmitglieder trotzdem noch einen Grund, ihnen eine schlechte Bewertung zu verpassen. Ein einigermaßen gutaussehender Mann, der sein Profilfoto teilt, bekommt folgende Rückmeldung: »Ich finde, du siehst ganz passabel aus, aber obwohl du eigentlich über alle Chad-Merkmale verfügst, wirkt dein Gesicht zu vertrauensselig. Vielleicht fehlen dir die Jägeraugen, denn ich kann den Schmerz in deinen Augen sehen, und es scheint, als würdest du dich unwohl fühlen. Trotzdem würde ich töten, um so auszusehen wie du.«

Manche Incels fühlen sich mit ihrem Aussehen derart unwohl, dass sie behaupten, ihre Wohnung seit Jahren nicht verlassen zu haben. Studien belegen, dass Lookism4 existiert und dass es tatsächlich universelle Attraktivitätsmerkmale gibt. Menschen, die im Vergleich mit den in einer bestimmten Zeit gültigen Schönheitsidealen als weniger attraktiv gelten, stoßen in vielen alltäglichen Situationen auf Vorurteile und Diskriminierung. Es ist Stand der Forschung5, dass Menschen, die als weniger schön wahrgenommen werden, weniger Gehalt und weniger wahrscheinlich einen Job bekommen. Außerdem werden sie häufiger vor Gericht verurteilt als Menschen, die als gutaussehend gelten. Je attraktiver der Delinquent6, desto niedriger sein Strafmaß. Und vice versa.

Allan ist einer der User, die es aufgegeben haben mit dem Looksmaxxing. Allan ist Mitte zwanzig und empfindet seinen Körper als Gefängnis, aus dem es kein Entrinnen gibt. »Dass unsere Vorfahren keine Eugenik betrieben haben, macht mich echt krank«, schreibt er in einem geschlossenen Incel-Thread. »Frauen mit guten Genen und einer guten Vererbungslinie hätten zur Fortpflanzung gezwungen werden und so was wie 8 Kinder kriegen müssen. Frauen mit gesundheitlichen Problemen und/oder genetisch schlechten Vererbungslinien hätten sich die Eileiter abklemmen lassen sollen.« Er findet außerdem, dass ungesunde Babys »eliminiert hätten werden sollen«.

»Ich fühle mich wirklich, als ob ich mich einfach umbringen sollte«, schreibt Allan. »Eine meiner größten Wunschvorstellungen im Leben ist, dass ich mich umbringe und dann als Geist meine Familie beobachte und von der Tatsache bestärkt werde, dass mein Tod ihnen absolut gar nichts bedeutet, dass ich ihnen sowieso nur eine Last war. Ich würde echt gern sehen, wie viel besser ihr Leben wäre, wenn ich tot wäre.« In der Incel-Sprache ist er jemand, der beschlossen hat, nur noch zu »LDAR« (steht für: »lay down and rot«, also »sich hinzulegen und zu verfaulen«). Es ist unter Incels nicht ungewöhnlich, so depressiv, einsam und hoffnungslos zu werden, dass Selbstmord als Lösung vorstellbar wird.