Mein erstes Mal - Jutta Vey - E-Book

Mein erstes Mal E-Book

Jutta Vey

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Beschreibung

Das erste Mal ist für jede Frau eine der intimsten und persönlichsten Erfahrungen überhaupt. Während sich die Teenager von heute offen in Internet-Foren über das Thema austauschen, weiß man so gut wie nichts darüber, wie Frauen früherer Generationen ihr erstes Mal erlebt haben. Tatsächlich haben sich die Rahmenbedingungen für Sexualität in den letzten Jahrzehnten sehr verändert. Bis Anfang der sechziger Jahre war das Thema ein Tabu, über das weder öffentlich noch privat gesprochen wurde. Aufklärung fand nicht statt, Nacktheit war verpönt. Man könnte daher vermuten, dass das erste Mal bei älteren Frauen enttäuschend verlief. Doch ist das wirklich so? Und ist umgekehrt das erste Mal bei den Mädchen von heute schöner, weil sie selbstbestimmter und selbstbewusster mit dem Thema umgehen? Kurz: Wo hört der Mythos auf, und wo fängt die Wahrheit an? "Mein erstes Mal" versammelt die Erinnerungen von 22 Frauen aus vier Generationen an ihr "erstes Mal". Die Älteste ist 86 Jahre alt und erlebte es 1937 in einem Hamburger Park, die Jüngste ist 16 und hatte es im Sommer 2006 auf einem Schulhof. Das Buch spannt den Bogen von der NS-Zeit über die prüden Fünfziger und die "wilden" Siebziger bis hin zu den Teenagern von heute. Jutta Vey sprach mit Frauen unterschiedlichster Herkunft und Bildung. Jede erzählt vor dem Hintergrund des jeweils herrschenden Zeitgeistes ihre persönliche Geschichte: wie sie erzogen wurde, was sie vor dem ersten Mal über Sexualität wusste, wie sie es erlebt hat. "Mein erstes Mal" lebt von der Offenheit der Frauen und macht anhand der sehr privaten Protokolle die Veränderungen der Sexualmoral im Verlauf der letzten siebzig Jahre deutlich. Das Buch zeigt aber auch Kontinuitäten auf, wo man sie nicht erwartet hätte.

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Seitenzahl: 393

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Jutta Vey

MEIN ERSTES MAL

Frauen aus vier Generationen erzählen

Schwarzkopf & Schwarzkopf

Sehnsucht nach Liebe, Lust auf Leben

Vorwort

Das erste Mal – ein kurzer Moment nur im Leben einer Frau und doch einer, der jeder in Erinnerung bleibt. Manche Frauen verklären das Erlebnis rückblickend, weil es mit großen Gefühlen verbunden war: der ersten Liebe. Andere betrachten es im Nachhinein vor allem als körperliche Erfahrung. Für alle aber ist es eine biographische Zäsur.

Als ich die Idee, ein Buch über das erste Mal zu machen, in meinem Bekanntenkreis vorstellte, war häufig die erste Reaktion: »Spannend!« Viele bezweifelten aber, dass ich genug Frauen finden würde, die bereit wären, darüber zu reden. Denn über die erste sexuelle Erfahrung zu sprechen, bedeutet immer, viel von sich selbst und seiner Vergangenheit preiszugeben: Es bedeutet, Kindheit und Jugend, das Verhältnis zu den Eltern und das soziale Umfeld zu beschreiben. Und viele Frauen würden nicht nur von schönen und berührenden Momenten erzählen können, sondern auch enttäuschte Hoffnungen und tiefe Demütigungen offenlegen müssen, die vielleicht bis heute nicht verarbeitet sind. Für die meisten Frauen bedeutet die Reise in die Vergangenheit auch, über ihr Sexual- und Liebesleben Bilanz zu ziehen. Kurzum: Über das erste Mal zu sprechen, ist ein Seelenstriptease.

Ich habe 22 mutige Frauen aus vier Generationen gefunden, die sich darauf eingelassen haben. Sie erzählten mir, wie sie aufgewachsen sind, welche Erwartungen sie an ihr erstes Mal hatten, wie sie es erlebt haben und in welcher Weise diese Erfahrung heute noch nachwirkt. Die inhaltlichen Akzente habe ich die Frauen selbst setzen lassen: So beschreiben einige das Erlebnis an sich sehr ausführlich, während andere es in nur wenigen Sätzen abhandeln und dafür der Vorgeschichte und dem weiteren Lebenslauf mehr Raum geben. Weil es authentische Protokolle sein sollten, habe ich die Sprache der einzelnen Frauen weitgehend erhalten.

Ihre Vielschichtigkeit bezieht die Porträtsammlung nicht nur aus den völlig unterschiedlichen Persönlichkeiten – Frauen mit »bewegten« wie geradlinigen Lebensläufen, aus Dörfern und Großstädten, katholischen und protestantischen Gegenden sowie verschiedenen Einkommens- und Bildungsschichten –, sondern vor allem auch aus der Altersstruktur: Mit Katharina (86), die ihr erstes Mal 1937 erlebte, beginnt das Buch, mit Marta (16), die im Sommer 2006 zum ersten Mal mit einem Jungen schlief, endet es. Damit umfasst das Buch siebzig Jahre Sozial- und Sexualgeschichte und entfaltet ein Spannungsfeld zwischen individuellem Schicksal und soziohistorischen Rahmenbedingungen. Jedes Einzelschicksal gewinnt so eine über das Persönliche hinausgehende Dimension und erscheint als das, was es immer auch ist: ein Stück gelebte Geschichte.

Dass bis Anfang der sechziger Jahre Körperlichkeit und Sexualität Tabuthemen waren, spiegeln die Protokolle der älteren Frauen eindrucksvoll wieder. »Kurz vor meinem ersten Mal wusste ich fast nichts. Ich wurde ja weder zu Hause noch in der Schule aufgeklärt. Das war damals einfach undenkbar. Über so was redete man nicht. Ich weiß noch, dass wir Mädchen in der Schule uns gegenseitig gefragt haben: ›Weißt du, wie Kinder entstehen?‹ Wer schon etwas wusste, erzählte es den anderen. Dass man vom miteinander Schlafen schwanger werden konnte, wusste ich dann zwar. Aber wie genau das ablief, das war mir nicht klar«, erzählt Gerdi (82, erstes Mal 1945), die erst lange nach ihrem ersten sexuellen Erlebnis von Verhütung erfuhr, und das auch eher zufällig.

Anna (67, erstes Mal 1959) litt besonders unter der verklemmten Sexualmoral ihrer Zeit: »Man wuchs in einer derart prüden Atmosphäre auf, dass man mit Nacktheit und Körperlichkeit überhaupt nichts anfangen konnte. Die Bemerkungen, die die Erwachsenen machten, ließen alles, was damit zu tun hatte, in schlechtem Licht erscheinen. Das tat man nicht. Dafür interessierte man sich nicht.«

Die Einführung der Antibabypille (1961), die Aufklärungsfilme von Oswalt Kolle (1967-1972) und vor allem die sexuelle Revolution als Folge der Studentenbewegung von 1968 führten in den siebziger Jahren zu einem befreiteren Umgang mit Sexualität. In dieser Zeit trat auch die Bravo ihren Siegeszug als Aufklärungspostille der Nation an: Die Dr.-Sommer-Rubrik war 1969 aus der Taufe gehoben worden. Monika (49, erstes Mal 1973): »Durch Dr. Sommer war meine Generation schon recht gut aufgeklärt. Ich kann mich noch an eine Fotostory erinnern, die beschrieb, wie man einen Zungenkuss ausführt. Das habe ich morgens gelesen und abends gleich an einem Jungen ausprobiert.«

Aufklärung hielt bald flächendeckend Einzug in den Schulen. Ruth (78, erstes Mal 1948), die noch mit 16 glaubte, vom Küssen schwanger zu werden, erinnert sich an eine Episode mit ihrer Tochter Susan-Maria (50): »Einmal kam sie nach Hause und meinte: ›Heute hat uns der Lehrer Präservative vorgeführt in allen Formen und Farben.‹ Dann fragte sie: ›Kann ich zehn Mark haben?‹ Ich: ›Wofür denn das?‹ Sie: ›Für ein T-Shirt von Fromms Act.‹ Das war eine Präservativ-Marke. Da meinte ich nur: ›Soweit kommt’s noch.‹«

Die Eltern avancierten mehr und mehr zu Vertrauenspersonen in sexuellen Fragen. 1980 wurden immerhin schon rund 35 Prozent der Mädchen von den Eltern in Sachen Verhütung beraten, wie die erste Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zum Thema Jugendsexualität zeigte. 25 Jahre später waren es bereits 70 Prozent. Die 16-jährige Cecilia etwa, die ihr erstes Mal 2006 erlebte, wurde von ihrer Mutter umfassend aufgeklärt: »Sie setzte sich gleich nach dem Arzttermin mit mir hin. Wir redeten über die Pille, was wichtig ist, wie man sie einnehmen muss. Wir kamen natürlich auf das ganze Thema ›Miteinander schlafen‹. Das war ein richtig tolles Aufklärungsgespräch. Sie erzählte von allen möglichen Krankheiten, die man durch Geschlechtsverkehr bekommen kann. Ich weiß noch, dass sie mir sagte: ›Der beste Schutz ist immer noch ein Kondom.‹«

Gestern Tabu, heute Tischgespräch – so könnte man verkürzt die Veränderung der Sexualmoral in den vergangenen siebzig Jahren auf den Punkt bringen. Der Zeitgeist schlägt sich eindrucksvoll in den Geschichten nieder und beeinflusst das erste Mal erheblich. Ob es allerdings als negative oder positive Erfahrung wahrgenommen, als schönes oder enttäuschendes Erlebnis empfunden wird, hängt letztlich vom Zusammenspiel vieler individueller Faktoren ab: ob die junge Frau bereit für die Erfahrung war, welche Erwartungen sie daran geknüpft hatte, wie stark die gefühlsmäßige Bindung zwischen ihr und dem ersten Mann war und nicht zuletzt, wie sensibel er mit ihr umging. Deshalb erleben auch gleichaltrige Frauen das erste Mal ganz unterschiedlich.

Obwohl Ruth (78) und Gerdi (82) beide in einer prüden Zeit erzogen wurden und nicht aufgeklärt waren, haben sie beim ersten Mal doch völlig verschiedene Erfahrungen gemacht. Ruth empfand ihr erstes sexuelles Erlebnis 1948 als »Demütigung« und konnte sich deshalb zwanzig Jahre lang beim Sex nicht fallen lassen: »Kurz danach sagte Hermann dann diesen einprägsamen Satz, der mich mein Leben lang verfolgt hat. Er schaute mich an und sagte: ›Weißt du, Du versprichst mehr Seele, als du hast.‹ Das hat mich so erschüttert.« Für Gerdi, die ihr erstes Mal während der Flüchtlingswirren mit einem Soldaten auf dem Hof ihrer Eltern erlebte, war es ein romantisches Initiationserlebnis, weil er ihre erste große Liebe war und ihr das Gefühl gab, ein ganz besonderer Mensch zu sein: »Ich muss sagen, es war wunderbar. Das kann ich nur jeder Frau wünschen.« Anders als Ruth, die sich in das Erlebnis hineindrängen ließ, war Gerdi bereit dafür: »Ich war ja nun auch schon zwanzig. Das war bei uns damals alt fürs erste Mal.«

Auch die aufgeklärten und selbstbewussten jungen Frauen von heute bewerten das erste Mal völlig unterschiedlich und berichten von gleichermaßen schönen wie verstörenden Erlebnissen. In einer aktuellen Studie zur Jugendsexualität gab immerhin jedes fünfte Mädchen an, das erste Mal als »etwas Unangenehmes« erlebt zu haben. Für Sandra (21, erstes Mal mit 13) war es mehr als das: Ihr erstes Mal war für sie eine große Enttäuschung, weil sie zum einen zu hohe Erwartungen daran geknüpft und es im Vorfeld zu einer Hollywood-Fantasie verklärt hatte, zum anderen weil ihr Freund alles andere als feinfühlig war: »Ich weiß noch, dass ich an meinem Fenster stand und ihm nachschaute, wie er über die Straße ging. Ich fühlte nichts, dachte nichts. Ich stand einfach nur da und guckte. Meine ganze Traumvorstellung, wie es sein könnte, war plötzlich – peng! – wie eine Seifenblase geplatzt.«

Cecilia (16, erstes Mal mit 14) dagegen machte ihre ersten Erfahrungen mit einem Jungen, der für sie einen romantischen Traum inszenierte und sehr einfühlsam und liebevoll mit ihr umging: »Auf dem Boden, auf dem Bett, überall im Zimmer hatte er Rosenblätter verstreut. Überall waren Kerzen aufgestellt, und es duftete nach Lavendel. Ich war sprachlos.«

Jedes der 22 Porträts ist für sich genommen eine mitreißende Geschichte über das Erwachsenwerden und das Leben an sich, und so wird vor allem eins beim generationsübergreifenden Vergleich deutlich: Die gesellschaftlichen Bedingungen für Sexualität mögen sich verändert haben, die Bedeutung des Erlebnisses für die Einzelne nicht. Quer durch alle Generationen ist das erste Mal eine Erfahrung, die den Anfang eines neuen Lebensabschnitts markiert – und insofern für alle Frauen ein einmaliges und unvergessliches Erlebnis.

Mich interessiert sehr, wie Ihnen das Buch gefällt, und würde mich über ein Feedback freuen. Per Mail an: [email protected] oder per Brief an den Verlag, zu meinen Händen:

Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag

Stichwort MEIN ERSTES MAL

Kastanienallee 32, 10435 Berlin

Jutta Vey

Nachts auf einer Parkbank …

Katharina, 86, RentnerinErstes Mal 1937 mit 16 Jahren

Ich bin Widder. Ich lasse mir nichts gefallen. Ich nehme mir, was ich will. Schon als junges Mädchen war ich eine Rebellin und habe mit Vorliebe das gemacht, was man nicht machen sollte. Ich war aufsässig und sehr selbstbewusst. Um Konventionen habe ich mich nie geschert. Ich war mit fast hundert Männern zusammen. Seit vierzig Jahren bin ich nun in fünfter Ehe verheiratet. Er ist zwanzig Jahre jünger. Wenn es der Körper zuließe, hätte ich bestimmt heute noch Sex. Mir hat es immer großen Spaß gemacht.

Mein Vater war wesentlich älter als meine Mutter. Als ich im Frühjahr 1921 geboren wurde, war er schon über vierzig. Die beiden lernten sich während des Ersten Weltkrieges in Hamburg kennen. Mein Vater war Soldat und kam als Verwundeter zur Kur dorthin. Als er meine Mutter mit ihrer älteren Schwester an der Elbe spazieren gehen sah, war ihm sofort klar, dass er sie haben wollte. Und dann hat er sie sich gegriffen, süße 18 und noch Jungfrau, wie das früher eben so war. Es fiel ihm nicht schwer, ihren Vater zur Heirat zu überreden. Schließlich stellte er etwas dar: Nicht nur, dass er aus einer Apothekerfamilie kam – was damals schon was war –, er hatte außerdem studiert, war Chemiker. Kein Wunder, dass meine Mutter, ein ganz einfaches Bauernmädchen, sehr verliebt in ihn war und ihn anhimmelte.

Mein Vater hat sie sich nach der Heirat langsam herangezogen. Damit sie kochen lernte, schickte er sie in ein Seminar. Er hat ihr sogar mal eine Handbürste geschenkt mit der Bemerkung: »Kind, mach dir die Nägel sauber.« Als mein Vater eine Anstellung in Pommern fand, zogen sie zunächst dorthin. Hier wurde ich 1921 geboren. Ein Jahr später kam mein Bruder, da lebten wir dann schon wieder in Hamburg. Mein Vater hatte zu der Zeit eine sehr gute Arbeit: Er richtete große Farbenfabriken in Deutschland, Polen und Dänemark ein.

Zunächst wohnten wir bei meinen Großeltern, den Eltern meiner Mutter. Als ich vier war, mieteten wir eine dreistöckige Villa. Ich weiß noch, dass mein Bruder und ich immer in der gleichen Badewanne gebadet wurden. Erst mit vier habe ich allerdings begriffen, dass Jungen und Mädchen unterschiedlich sind. Mein Bruder pinkelte gerne über den Balkon, was natürlich verboten war. Eines Tages meinte ich zu meiner Mutter: »Ich möchte auch mal Hosen anhaben.«

Die bekam ich dann auch, zog sie an und stellte mich auch auf den Balkon, um zu pinkeln. Das ging aber nicht. Da merkte ich, dass ich anders bin als mein Bruder.

Ende der zwanziger Jahre mussten wir aus der Villa ausziehen, weil wir uns die Miete nicht mehr leisten konnten. Aufgrund der Wirtschaftskrise, die fast alle Branchen traf, verlor auch mein Vater seine Arbeit. Weil es damals keine günstigen Wohnungen gab, zogen meine Eltern kurz in ein Altenheim, kamen dann bei verschiedenen Freunden meines Vaters unter. Schließlich sind wir 1931 in dem Haus gelandet, das früher mal unseren Großeltern gehört hatte.

Dort bekamen wir die oberste Wohnung ohne Bad, die sehr billig war. Sie hatte zweieinhalb Zimmer. Nur das Wohnzimmer konnte geheizt werden, sonst war alles kalt. Mein Vater richtete sich das zweite Zimmer als Studierzimmer mit seinen Büchern und einem Bett ein. Das halbe Zimmer bekamen mein Bruder, ich und meine Mutter als Schlafzimmer. Wir sahen unsere Mutter höchstens mal im Unterrock, ins väterliche Schlafzimmer wären wir nie reingegangen.

Unsere Eltern waren zwei völlig unterschiedliche Menschen. Meine Mutter war eine unendlich gütige und liebe Person, die, wenn mein Vater seine Hand gegen uns erhoben hat, immer ausglich und ihn bremste.

Mein Vater war für uns Kinder ein Halbgott. Er wusste alles. Er kannte alles. Er erklärte uns die Welt. Wir konnten immer zu ihm gehen, wenn wir Fragen hatten.

Mein Bruder und ich haben uns oft gekabbelt und geblödelt. Manchmal haben wir auch zusammen gekuschelt. Ich weiß noch, dass mein Bruder immer gerne meinen Hintern angefasst hat. Einmal hat mir das ein schönes Gefühl gegeben, sodass ich am nächsten Tag zu ihm meinte: »Mach noch mal.« Hat aber nicht mehr funktioniert. Sehr viel später erst fiel mir auf, dass dieses Gefühl wahrscheinlich schon ein Orgasmus gewesen war.

Ich habe immer mal wieder etwas über Sexualität, Kinderkriegen und das ganze Drumherum aufgeschnappt. Von meinem Bruder, Kindern auf der Straße, meiner Mutter und meinem Vater. Im Unterricht fand das Thema überhaupt nicht statt.

Ich weiß noch, dass meine Mutter mal eine abfällige Bemerkung über eine Familie in der Nachbarschaft machte. Da muss ich zehn gewesen sein. »Wie eine Karnickelzucht ist das bei denen«, meinte sie. Die hatten viele Kinder, und jedes Jahr kam ein neues dazu. Die Pille gab es ja damals noch nicht. Und wenn der Mann keinen Schutz wollte, war die Frau eben dran.

Ein andermal kam mein Bruder zu mir und meinte über einen Nachbarsjungen: »Karli kann schon Schaum machen.« Dabei machte mein Bruder eine Geste, um zu zeigen, dass da was rauskam. Ich empfand das als unanständig und völlig unmöglich.

Zu der Zeit bekam ich auch mit, dass einige Kinder auf der Straße obszöne Worte fallen ließen. »Ficken« zum Beispiel. Da waren die früher nicht anders als heute. »Frag mal deine Eltern«, sagte einer zu mir, worauf ich zu meinem Vater ging: »Das ist ganz was Hässliches. So ist das nicht«, meinte er und sagte dann zu mir: »Wenn Vater und Mutter sich lieb haben, dann legt der liebe Gott der Mutter ein Samenkorn unters Herz, und dann trägt die Mutter das Kind aus.« Das war sehr schön und sehr poetisch. Seitdem habe ich Sexualität und Liebe voneinander getrennt. Das eine war etwas Schmutziges, das andere etwas Reines. Das ist lange so geblieben. Erst später in der Ehe brachte ich beides zusammen.

Von Jungs wollte ich zunächst nichts wissen. Als ich 13 war, wurde ein gleichaltriges Mädchen, das schwanger geworden war, von der Schule verwiesen. Das Kind war von einem Nachbarn. Sie hatte mitgemacht, weil sie neugierig war. Sie tat mir unendlich leid.

So etwa ein Jahr später meinte mein Bruder zu mir, dass dieser Karli was von mir wolle. Vor allem aber wollte mein Bruder was von dem: eine Briefmarke. Die gab der Junge aber nicht heraus: »Die kriegst du nur, wenn ich deine Schwester bekomme«, hat er zu meinem Bruder gesagt, worauf der zu mir kam. Ich war entrüstet und fauchte ihn an: »Du bist ja verrückt!«

In der Schule gab es Jungs, die Mädchen, die sich das gefallen ließen, begrabbelten. Sie griffen ihnen an den Busen, auch mal in die Hose rein. Überall, wo sie rankamen. Wenn das bei mir einer gewagt hätte, hätte ich ihm eine geknallt.

Ich war ein Streber und insofern sowieso eher ein Außenseiter. Denn weil ich gescheit war und im Unterricht immer vorbildlich mitgemacht habe, war ich bei den Lehrern sehr beliebt. Unser Vater hat uns aber auch immer angetrieben zu lernen. Oft sagte er zu uns: »Ihr seid keine Straßenkinder. Ihr seid was anderes!«

In der Zwischenzeit hatte er eine Anstellung in der Chemisch-Technischen Reichsanstalt in Berlin bekommen. Im Krieg wurden dort Farben, die Firmen ans Militär lieferten, auf Frost- und Sonnenverträglichkeit geprüft. Er arbeitete während der Woche in Berlin und kam nur am Wochenende nach Hause. Dann setzte er sich mit uns hin und kontrollierte unsere Hausaufgaben. War ein Aufsatz zu schreiben, hat er uns gefordert: »Jetzt sucht mal einen anderen Ausdruck!« Er wollte eben, dass wir es zu was bringen.

Nach der Schule stand die Frage im Raum, was ich lernen sollte. Ich wäre gerne Schneiderin oder Friseuse geworden, aber das wollte mein Vater nicht. Ich sollte Drogistin lernen.

Ich fing dann zwar auch mit der Ausbildung an, aber weil ich überhaupt keine Lust dazu hatte, strengte ich mich beim Lernen nicht an. Dann hatte ich mir zu allem Überfluss auch noch die Haare abschneiden lassen – ich hatte dicke, schwere Haare, die sich immer wieder aus dem Knoten lösten, der damals Mode war –, woraufhin ich von meinem Chef zu hören bekam: »Ein deutsches Mädchen behält lange Haare!« Ich hatte schon früh meinen eigenen Kopf und ließ mir keine Vorschriften machen.

Als mein Vater mit dem Drogeriebesitzer schließlich ins Reine kommen wollte und ein Gespräch mit ihm führte, meinte der indirekt zu ihm, es sei ja auch kein Wunder, dass das mit mir nichts werde – bei dem Elternhaus. Er spielte darauf an, dass mein Vater viel älter war als meine Mutter. Nach einem Jahr schmiss er mich raus.

Als ich 16 war, fing mein Vater an, uns aufzuklären. Er hatte ein Lexikon, das war ganz fantastisch. Da sah man ein Bild von einem Mann mit seinem Pimmel, ohne ein Blatt drüber, und daneben die Frau. Man konnte den ganzen Körper stückweise aufklappen und hineinsehen. Daran hat unser Vater die Geschlechter erklärt. Es war für uns ganz normal, dass das mein Vater machte. Wir sind ja ohnehin immer zu ihm gegangen, wenn wir Fragen hatten. Er war der Akademiker, der Aufklärer. Meine Mutter führte den Haushalt und hielt sich aus dem Ganzen raus. Die hat sich bei dem Thema sowieso nur geschämt. Mein Vater erklärte uns zwar die Geschlechtsteile, sagte uns aber nicht, wie Sexualität genau funktioniert. Er glaubte wohl, das müsste ich noch nicht wissen. Für ihn war es undenkbar, dass ich mit 16 schon mit einem Mann zusammen sein könnte. Er kam ja aus einer ganz anderen Zeit. Seine Jugend hat um 1890 stattgefunden. Damals durfte kein Mädchen ohne Begleitung irgendwohin gehen.

Gerade deshalb hätte man allerdings auch meinen können, dass er auf seine einzige Tochter besonders aufpasste. In einer Hinsicht hat er das aber nicht getan, und das ging dann fatal aus. Er schickte mich zu einem jungen Drogisten in die Lehre, der gerade mal zehn Jahre älter war als ich. Seine Freunde machten mich eines Tages besoffen, schleppten mich ab und benutzten mich. Das war aber nicht mein erstes Mal. Das hatte ich mit einem Golftrainer.

Ich begegnete ihm mit 16 auf einem Golfplatz, wo ich mir neben meiner Lehre als Caddy etwas Geld dazuverdiente. Er war ungefähr doppelt so alt wie ich, und ich fühlte mich gebauchpinselt, als er anfing, mich zu hofieren. Er war beliebt, tüchtig, konnte sehr gut Golf spielen. Er hätte alle Frauen haben können, aber nein, er wollte mich. Das war natürlich ein tolles Gefühl für ein junges Mädchen wie mich.

Etwas später stellte sich heraus, dass er auch nur einer dieser Chauvis war, die scharf auf eine Jungfrau sind.

Bevor er zum ersten Mal mit mir ausging, hat er ganz offiziell meine Mutter um Erlaubnis gefragt. Sie hatte wohl gedacht, sie hätte das im Griff und ließ mich mit ihm weggehen. Mein Bruder war mein Verbündeter, wenn es darum ging, spätabends wieder unbemerkt ins Haus zu kommen. Sein Bett stand mit dem Fußende direkt am Fenster. Er bekam einen Bindfaden an den großen Zeh, den er nachts aus dem Fenster hängen ließ. Ich zog daran, wenn ich nachts wieder reinwollte.

Ich traf den Golftrainer nur alle zwei Wochen, meist freitags. Wenn ich zwischendurch Sehnsucht hatte, rief ich ihn an. Das kam ziemlich oft vor, ich war ja sehr verliebt in ihn. Er ging immer groß mit mir aus, führte mich in Tanzlokale und Restaurants auf der Reeperbahn. Er hatte Geld, war charmant, ein Mann von Welt. Das beeindruckte mich. Einmal schenkte er mir passend zu meinem grünen Lieblingskostüm eine grüne Handtasche. Das fand ich natürlich toll.

Es passierte an einem dieser Freitage. Wir waren wieder mal zusammen ausgegangen und fuhren zurück in einem Taxi. An einem Park ließ er anhalten, und wir stiegen aus. Wir waren schon ziemlich beschwipst, stolperten den Weg entlang. Irgendwann fand ich mich mit ihm auf einer Parkbank wieder, wo wir knutschten.

Plötzlich spürte ich seine Erregung. Das hat mich zwar im ersten Moment irritiert, aber dann angespornt. Ich war neugierig, wollte es jetzt auch wissen. Er natürlich auch. Darauf hatte er ja nur gewartet. Es ging dann auch entsprechend schnell. Er schlug meinen Rock hoch, zog mir die Unterhose aus. Ich hielt ganz still. Dann bumste er mich.

Mir war bewusst, dass ich schwanger werden könnte. In dem Moment habe ich aber nicht an Verhütung gedacht. Das ging einfach alles zu schnell. Später allerdings habe ich schon aufgepasst. Vor allem, wenn ich den Mann nicht wirklich wollte.

Als wir von der Bank aufstanden, merkte ich, dass etwas Feuchtes an meinen Beinen runterlief. Dieses Gefühl am Bein fand ich komisch. Erst später zuhause – er fuhr mich in einem Taxi zurück – sah ich, dass es Blut war.

Alles in allem war dieses erste Mal enttäuschend. Ich wollte es zwar auch in dem Moment, das schon, aber die Art und Weise, nachts auf einer Parkbank, das hat mich doch ernüchtert. Kurz danach war dann auch erst mal Schluss mit uns beiden.

Ein halbes Jahr später kam es zu der Geschichte mit den Jungs, die über mich herfielen. Die Freunde des Drogisten. Er machte übrigens erotische Fotos. Einmal kamen mir Abzüge in die Hände, auf denen Nackte zu sehen waren.

Eines Abends bin ich mit seinen Freunden weggegangen. Ich war jung, naiv und neugierig damals, fand das interessant. Sie machten mich betrunken und schleppten mich in diese Absteige. Wo die war, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur, dass ich plötzlich auf einem Bett lag und sich einer auf mich drauflegte. Ich schrie laut und machte Theater.

Da ging die Tür auf und jemand fragte: »Ist alles in Ordnung?« – »Ja, ja«, sagten die Jungs und machten weiter. Alle drei Minuten der nächste. Dann waren sie fertig.

Es war nicht so, dass ich Angst hatte. Ich war vor allem unglaublich wütend, dass sie das mit mir machten. Sie haben mich danach zur S-Bahn gebracht und nach Hause fahren lassen.

Erzählt habe ich das niemandem. Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um, habe ich als Kind von meinem Vater gelernt. Wir sind mit solchen Sprüchen aufgewachsen. Und ich hatte mich ja nun in Gefahr begeben und war also selbst schuld.

Man hätte ja meinen können, dass ich nach dem Erlebnis mit den drei Jungen erst mal die Nase voll hatte. Aber dem war nicht so. Ich hakte das sehr schnell ab und kam wenig später wieder mit dem Golftrainer zusammen.

Er hatte für uns beim zweiten Mal ein Hotelzimmer genommen – danach hat er mich fallen gelassen. Wie sich herausstellte, war er in der Nacht im Park so besoffen gewesen, dass er gar nicht gemerkt hatte, dass er mich schon entjungfert hatte. Er ging davon aus, dass ich noch Jungfrau war. Weil ich aber nicht mehr blutete, glaubte er nun, ein anderer wäre ihm zuvorgekommen. Damit war ich nicht mehr interessant für ihn.

Mir glaubte er nicht.

An dem Tag habe ich mir geschworen, mich nie mehr benutzen zu lassen und drehte den Spieß um. Ich suchte mir von da an die Männer aus, die ich wollte. Und ich hatte keine Hemmungen. Ich nahm mir überall, was mir gefiel.

Obwohl ich ihm nichts erzählte, merkte mein Vater, dass ich schon mal was mit einem Mann gehabt hatte. Er muss mir das irgendwie angesehen haben. In der Zeit fiel jedenfalls öfter mal der Satz: »Komm mir bloß nicht mit einem Kind an.« Eines Tages nahm er mich in ein Krankenhaus mit: »Ich zeig’ dir jetzt mal, was alles durch Geschlechtsverkehr passieren kann.« Mir wurden Kinder mit Ausschlag gezeigt. Er sagte, so was bekäme man, wenn man mit jemandem Geschlechtsverkehr hätte, der krank sei.

Ich sagte mir zwar: »Ab jetzt aufpassen!« Es war aber nicht so, dass mich das grundsätzlich abgeschreckt hat. Widder bilden sich ja ein, ihnen kann nichts passieren. Tatsache ist, dass ich später tatsächlich geschlechtskrank geworden bin.

In dem Jahr bekam ich auch das Buch Die vollkommene Ehe des Holländers Hendrik van de Velde in die Hände. Eine Nachbarin, die mich gut leiden mochte, hatte es mir mitgebracht: »Lies mal und sieh dich vor«, sagte sie zu mir. Sie hatte es aus einem Puff, in dem sie geputzt hat. Es ist ein dicker Wälzer – ich habe ihn heute noch –, in dem alles ganz genau drinsteht. Die katholische Kirche hatte das Buch deshalb auch auf den Index gesetzt.

Ich weiß nicht mehr, was mich am meisten interessiert hat. Ich meine aber, ich habe dort zum ersten Mal etwas über Selbstbefriedigung gelesen. Später, wenn ich mal eine Weile keinen Mann hatte, habe ich das auch praktiziert. Ich habe übrigens nie akzeptiert, wenn jemand behauptete, dass das etwas Schlechtes sei.

Weil ich immer wilder und ungezogener wurde, fing meine Mutter an, sich bei meinem Vater zu beklagen. Dass sie mit mir nicht mehr zurechtkäme. Dass ich mir nichts mehr sagen ließe. Da riss meinem Vater die Hutschnur. Da war Schluss, Aus, Feierabend, und er steckte mich in eine Erziehungsanstalt. Damals konnten Eltern mit ihrem Kind machen, was sie wollten, bis es 21 war. Und ich war ja nun widerspenstig wie sonst was. Ich brach die Lehre also zum zweiten Mal ab, kam für ein halbes Jahr in diese Besserungsanstalt.

Da war man eingesperrt bis zum Gehtnichtmehr. Das war natürlich nichts für mich. Einmal versuchte ich über den Balkon auszubüxen, an der Straßenbahnhaltestelle fingen sie mich aber wieder ein. Zur Strafe wurde ich von der Leiterin, die keine Ahnung von Kindererziehung hatte, in einen dunklen Keller gesteckt. Das war das Hinterletzte, und ich schwor mir: »Dich krieg’ ich!« Ich meldete mich also freiwillig zum Arbeitsdienst, weil ich wusste, dass sie mich dann ziehen lassen musste. So kam ich im Oktober 1938 da auch wirklich raus.

Nach einem halben Jahr Arbeitsdienst bei Bauern in Schlesien zog ich wieder zurück zu meinen Eltern. Bei meiner Mutter war inzwischen Gebärmutterkrebs im Endstadium festgestellt worden. Ich sollte sie pflegen, aber tat mich schwer damit. Ich war ja erst 17.

Auf meine Bitte hin bekam ich schließlich an einem Tag in der Woche ein paar Stunden frei. Da konnte ich dann zum Florettfechten gehen. Hin und wieder verabredete ich mich auch mit Männern. Meist nachmittags, wenn ich ohnehin zum Einkaufen nach draußen ging.

Nachdem meine Mutter im Oktober 1939 gestorben war, schickte mich mein Vater eine Weile als Hausmädchen in einen Haushalt. Er arbeitete ja die Woche über noch in Berlin. Ein halbes Jahr später wurde ich dann als Luftwaffen-Helferin in den Kriegsdienst eingezogen. Ich war auf einem Flughafen in Schlesien stationiert, lernte dort im Büro Chiffrieren und Schreiben. Dort war ich mit vielen Männern zusammen. Ich war jung, in Hochform und wollte und musste und brauchte das einfach. Das war für mich wie für andere zum Turnen zu gehen. Ich habe mir nie Gedanken darüber gemacht, was andere über mich reden, dass ich als leichtes Mädchen gelten könnte. Das war mir egal.

In dieser Zeit ist es dann passiert: Ich steckte mich mit Tripper an. Sonst hatte ich immer verhütet. Dieses Mal nicht. Aber so ist es ja. Einmal nicht, und schon passiert’s. Beim Militär wurde das stramm und streng bestraft. Ich kam in eine Klinik nach Breslau, wo ich behandelt wurde und musste danach das Militär verlassen.

Ich ging nach Berlin, wo ich als Fotolaborantin arbeitete. In dieser Zeit hatte ich alle paar Tage einen anderen Mann. Ich habe es einfach als Bedürfnis empfunden, und so habe ich mir die Männer ausgesucht, die mir gefielen und sie mir genommen. Insofern war ich emanzipiert bis zum Letzten. Sehr ungewöhnlich zur damaligen Zeit. Ich habe mich übrigens auch mal in ein Mädchen verliebt und auch das ausprobiert.

In den folgenden zwanzig Jahren habe ich viermal geheiratet. Viermal ging es schief. Der eine trank, der andere ging fremd, der dritte zu Huren. Die kürzeste Ehe dauerte nur vier Tage. Immer war ich diejenige, die sich getrennt hat.

1966, mit 45, lernte ich meinen fünften Mann kennen, mit dem ich immer noch zusammen bin. Kinder habe ich nie bekommen. Ich habe zehn Abbrüche gemacht, weil es mit den Männern nicht geklappt hat. Ein Kind kam tot zur Welt. Mein jetziger Ehemann und ich haben zwar am Anfang unserer Beziehung noch mit dem Gedanken an Kinder gespielt. Da ich aber schon weit über vierzig war, haben die Ärzte mir abgeraten.

Was Sex angeht: Ehrlich gesagt ist das heute noch für mich interessant. Praktisch ist ein normaler Verkehr zwar nicht mehr möglich. Das würde mir zu weh tun. Aber französisch ginge noch. Habe ich mit meinem Mann vor ein paar Jahren auch probiert. Aber das war nichts für ihn.

Dann eben nicht. Ich kann mich auch alleine befriedigen, wenn mir danach ist. Und das Bedürfnis ist durchaus noch da, wenn auch selten. Viele ältere Frauen gestehen sich das nicht ein. Igitt, da muss man sich doch schämen, wenn man in dem Alter noch an Sexualität denkt, hört man ja oft. Verrückt und bescheuert ist das. Warum denn nicht? Das ist doch normal.

Es wurde ja auch höchste Zeit

Gerdi, 82, RentnerinErstes Mal 1945 mit 20 Jahren Mutter von Monika und Großmutter von Melina

Am 10. Oktober, meinem Geburtstag, bin ich so richtig mit ihm zusammengekommen. Er war der erste Mann, der mich überhaupt interessiert hat. Und ich hätte keinen besseren kriegen können fürs erste Mal.

Es war im Jahr 1945. Überall war Chaos, das ganz große Flüchtlingselend. Im Januar schon waren die ersten Flüchtlingstrecks aus Schlesien durch unser Dorf gekommen. Das riss bis zum Ende des Krieges nicht mehr ab. Danach kamen die Soldaten, die zurück zu ihren Familien wollten. So lernte ich Wilhelm kennen. Ich lebte damals mit meinen Eltern und meinem fünf Jahre jüngeren Bruder in einem kleinen oberfränkischen Dorf direkt an der tschechischen Grenze.

Da mein Vater zu der Zeit noch Bürgermeister war, stand er in der Pflicht, für die Flüchtlinge Unterkünfte zu besorgen. Die Bauern erwarteten das, sagten zu ihm: »Mach du erst mal dein Haus voll.« Wir hatten ja auch viel Platz, denn meine Eltern bewirtschafteten einen 20 Hektar großen Bauernhof und einen Gasthof. Wir hatten eine vierstöckige Scheune und einen großen Tanzsaal mit 130 Quadratmetern. Ständig kamen neue Flüchtlingstrecks. Ständig war das Haus voll. Im großen Saal wurden Strohlager eingerichtet. Da hatte jeder Flüchtling dann eine kleine Ecke für sich. Ich musste rund um die Uhr mit anpacken in diesem Jahr, oft Suppe verteilen. Ich hatte überhaupt keine Freizeit.

Nach dem 8. Mai zogen bei uns die Amerikaner durch. Mein Vater lief ihnen mit einem weißen Betttuch entgegen. Ich kochte Wasser, damit sie den Nescafé, den sie mitgebracht hatten, aufbrühen konnten. Einer konnte sogar etwas Deutsch. Er sang immer »Ach du lieber Augustin, alles ist hin«.

Es kamen auch immer mehr deutsche Soldaten bei uns vorbei. Unter denen gab es den einen oder anderen, der mir schöne Augen machte und meinte, er würde gerne bleiben. Da hab’ ich aber immer ganz entrüstet gesagt: »Niemals!« Bis Wilhelm kam. Da sagte ich mir, jawoll, mit dem könntest du dir vorstellen, zusammen zu sein. Sogar ans Heiraten habe ich in der Zeit oft gedacht.

Er kam Ende September aus Garmisch-Partenkirchen. Dort war er als Gebirgsjäger stationiert. Jetzt wollte er wieder zurück nach Hause, nach Meißen in Sachsen. Er machte sofort großen Eindruck auf mich. Ich fand, er war ein wahnsinnig interessanter, hübscher Mann. Groß, schneidig, blond, mit blauen Augen. Er sah ein bisschen aus wie der Gerhart Lippert, der den Bergdoktor gespielt hat. Er war gelernter Porzellanmaler. Ein Künstler. Der konnte eine Rose malen, die aussah wie echt. Das hat mich sehr beeindruckt. Und was er mir für Karten geschenkt hat. Alle selbst gemalt. Wunderbar waren die.

Ihm ging es genauso wie mir. Auch ich bin ihm sofort aufgefallen. Natürlich hat er den ersten Schritt gemacht und mich angesprochen. Ich wäre viel zu schüchtern gewesen. Eigentlich wollte er nur eine Nacht bleiben und dann weiterziehen. Wegen mir ist er sechs Wochen geblieben. »Ich brauche ja noch gar nicht so schnell nach Hause. Ich bleib’ erst mal hier bei dir«, sagte er. Das hat mich sehr gefreut.

Ich wollte, dass er mein Erster ist. Ich war ja nun auch schon zwanzig. Das war bei uns damals alt fürs erste Mal. Meine Schulfreundinnen hatten sich schon lange vor mir mit Jungen getroffen. Moralische Vorbehalte von wegen »nicht vor der Ehe« gab es bei uns in der Gegend weniger.

Ich hatte einfach keine Zeit, mit Jungs auszugehen. Ich musste in der Gastwirtschaft ja arbeiten bis zum Gehtnichtmehr.

Es gab zwar einige Wirte bei uns in der Gegend, die mich mit Kusshand genommen hätten. Für die war ich natürlich die perfekte Ehefrau, weil ich die Arbeit ja genau kannte. Aber das wollte ich auf keinen Fall. Ich wusste, wie hart das war und wollte nicht mein ganzes Leben lang so schuften. Ich wollte einen Beamten. Die hatten es so gut. Das sah ich bei meiner Tante, deren Mann Polizeimeister war.

Manche Flüchtlingsfrauen konnten es gar nicht glauben, dass ich noch keinen Mann gehabt hatte: »Was, die Gerdi ist noch Jungfrau?«, hieß es. Das war wie ein Makel, und so habe ich es auch empfunden. Viele Mädchen in meinem Alter waren schon verheiratet, und ich war noch nicht mal mit einem Mann zusammen gewesen.

Meine Mutter hatte ihr erstes Mal allerdings erst mit dreißig. Sie dachte, sie darf erst mit einem Mann schlafen, wenn sie verheiratet ist. Und so hat sie eben gewartet. Meine Eltern haben sich durch eine Zeitungsannonce kennengelernt. Mein Vater war von 1916 bis 1920 in französischer Gefangenschaft und suchte dann gleich eine Frau zum Heiraten. Dass sie noch nie mit einem Mann zusammen war, fand mein Vater, der genauso alt war wie sie, seltsam. »Wie kann man nur so dumm sein?«, muss er mal zu ihr gesagt haben. Das hat sie ihm zeitlebens vorgehalten.

Verhütet haben sie nicht. Mein Vater hat sich nicht darum gekümmert, und meine Mutter wusste es nicht besser. Ich weiß noch, dass er ihr Vorwürfe machte: »Ich darf dich ja gar nicht anfassen. Du kriegst ja jedes Mal ein Kind.« Eine andere Frau aus unserem Dorf bekam von ihrem Mann doch tatsächlich zu hören: »Ich hab’ schon mindestens 400 gehabt, aber so blöd wie du war keine. Die haben sich alle zu schützen gewusst.« Hundsgemein war das. Die Männer haben von den Frauen erwartet, dass sie sich um das Thema kümmerten.

Es gab aber auch viele, die aufpassten, damit sie nicht ständig schwanger wurden. Lange nach meinem ersten Mal bekam ich mal mit, wie mein Onkel über meine Tante sagte: »Mir ging’s schlecht mit meiner Frau. Die hat mich immer ausgesperrt.« Meine Tante hatte nur zwei Söhne, zehn Jahre auseinander. Wenn sie ihren Eisprung hatte, hat sie ihn nicht reingelassen. Dann durfte er gar nicht mit ihr schlafen.

Kurz vor meinem ersten Mal wusste ich fast nichts. Ich wurde ja weder zu Hause noch in der Schule aufgeklärt. Das war damals einfach undenkbar. Über so was redete man nicht. Das hätte sich nicht gehört. Wäre ich zu meiner Mutter gegangen, hätte sie mir bestimmt keine Antwort gegeben. Eine traurige Zeit war das.

Ich weiß noch, dass wir Mädchen in der Schule uns kurz vor der Konfirmation, so mit 14, gegenseitig gefragt haben: »Weißt du, wie Kinder entstehen?« Wer schon etwas wusste, erzählte es den anderen. Dass man vom Miteinander-Schlafen schwanger werden konnte, das wusste ich dann zwar. Aber wie das genau ablief, das war mir nicht klar.

Dass man verhüten konnte, davon habe ich auch erst lange nach meinem ersten Mal erfahren. Die jungen Gäste haben sich manchmal einen Jux daraus gemacht, Pariser aufzublasen. Da erzählten sie dann, wofür sie sind. Wenn ich heute daran denke, dass ich nichts von Verhütung wusste damals. Ich hätte ja beim ersten Mal sofort ein Kind kriegen können! Aber ich war naiv, hab’ mir wohl gedacht, der Wilhelm hatte ja schon Frauen gehabt und war dabei noch nie Vater geworden. Warum sollte es bei mir jetzt so sein?

Ich hatte keine Vorstellung davon, wie das Miteinander-Schlafen sein könnte. Ich habe mir darüber nie Gedanken gemacht. Es hat mich einfach nicht interessiert. Ich bin aber auch ein Mensch, der das überhaupt nicht braucht. Ich hätte genauso gut ganz ledig bleiben können. Ich muss lachen über die Frauen, die sagen, sie brauchen unbedingt einen Mann. Ich habe im Urlaub mal eine Frau getroffen, die zu mir meinte: »Also ich werde jetzt den Omnibusfahrer fragen, ob er nicht mit mir schlafen will.« Die konnte ohne gar nicht. Keine Nacht. Da bin ich ganz anders.

Ich glaube, wenn ich Wilhelm nicht kennengelernt hätte, dann hätte es bis zu meinem ersten Mal noch lange gedauert. Auch er meinte: »Es ist eine Schande, mit zwanzig noch Jungfrau zu sein.« Er war nur zwei Jahre älter als ich, aber ein richtig jugendlicher Draufgänger. Er muss schon wahnsinnig viele Frauen gehabt haben. Er war ja auch Soldat. Überall, wo die Soldaten hinkamen, haben die sich eine Freundin gesucht. Das war im Krieg doch so.

Zuletzt ist er für seine Tapferkeit zum Leutnant befördert worden. Das machte natürlich auch Eindruck bei den Frauen. Er hat mir sogar Fotos von einigen gezeigt. Geschockt hat mich das nicht. Damals war es Sitte, dass die Männer sich erst austoben sollten. Nur die Mädchen, die durften das nicht. Aber das fand ich auch nicht schlimm. Ich war ja nie so verrückt darauf.

Wilhelm und ich sahen uns jeden Tag, gingen spazieren oder saßen nachmittags, wenn nichts los war, zusammen im Gastzimmer. Wir unterhielten uns über den Krieg, was wir erlebt haben. Wir konnten über alles reden. Das war einmalig. In der kurzen Zeit ist eine richtig schöne Freundschaft entstanden.

Dann kam der 10. Oktober, mein Geburtstag. Da waren wir beide schon richtig verliebt und haben zum ersten Mal Händchen gehalten. Ich weiß noch genau, dass wir mit ein paar anderen jungen Leuten abends rund vier Kilometer bis zum Grenzzaun nach Sachsen gelaufen sind.

Später am Abend ist es dann in unserer Küche passiert. Meine Eltern waren längst im Bett. Ich hatte im Gastraum noch die Gläser gespült und aufgeräumt. Dann brachte ich das Geld nach oben. Als ich zurückkam, war er schon da. Da wir schön alle Türen absperren konnten, mussten wir keine Angst haben, dass jemand hereinkam.

Wir setzten uns zusammen auf die Couch und küssten uns. Dann kam eins zum anderen. Angst hatte ich überhaupt nicht. Ich dachte, jetzt bist du schon so alt. Jetzt wird es auch höchste Zeit. Außerdem war ich ja begeistert von ihm. Ich habe ja sogar schon ans Heiraten gedacht. Dass er schon erfahren war, merkte man. Er wusste genau, was er tat. Er war sehr lieb und sehr vorsichtig. Weh tat es überhaupt nicht. Ich muss sagen, es war wunderbar. Das kann ich nur jeder Frau wünschen.

Wir haben noch eine Weile zusammen gelegen. Dann ging er wieder in den Saal zu seinem Lager. Ich hätte meine Eltern fragen sollen, ob er nicht ein Zimmer bekommen konnte. Dass er die ganzen sechs Wochen im Saal mit den anderen schlafen musste, das tut mir heute noch leid. Zu mir konnte ich ihn nicht mitnehmen. Ich habe ja mit meiner Mutter und meinem Bruder in einem Zimmer geschlafen. Meine Eltern hatten getrennte Schlafzimmer.

Wir saßen in diesen Wochen oft zusammen, haben Händchen gehalten, geredet. Und er malte seine Karten mit Rosen und Herzen. Als es im November anfing zu schneien, gingen wir zusammen Ski laufen. Ich habe das Bild heute noch im Kopf, als wir zusammen auf den Skiern standen und uns küssten. Ich war sehr glücklich in dieser Zeit.

Er schrieb oft nach Hause, an seine Mutter. Er erzählte ihr auch viel über mich, das habe ich selbst mal gelesen. »Dann bring sie doch mit«, schrieb sie zurück. Er war ihr einziger Sohn. Sie konnte es gar nicht erwarten, ihn wiederzusehen.

Er hätte mich liebend gern mitgenommen, und es gab auch nichts, was ich lieber getan hätte. Aber es ging nicht. Es ging einfach nicht. Da mein Bruder erst 15 war, war ich die einzige Stütze im Haus für meine Eltern. Sie brauchten mich. Ohne mich wäre unsere Gastwirtschaft zusammengebrochen. Ich war zu verantwortungsbewusst und habe ihn deshalb ziehen lassen. Das bereue ich heute immer noch.

Er schickte mir noch ein halbes Jahr lang wunderbare Briefe. »Meine Herzallerliebste …« So fingen sie an. Das war schön. Ich bin richtig verwöhnt worden. In einem seiner letzten schrieb er, es wäre besser, wenn wir uns nicht mehr wiedersehen: »Ich bin zu arm für dich.« Aber das war ja Quatsch. Wir hatten ein Einfamilienhaus zu Hause, das schon, aber er hatte doch seinen wunderschönen Beruf. Aber ihm war ja nun auch klar, dass ich nicht gehen wollte. Nicht gehen konnte. Vielleicht wollte er es mir auch nur leichter machen. So ging es auseinander mit uns. Ich habe ihn nie wiedergesehen.

Drei Jahre lang blieb ich allein. Ich habe meine Eltern unterstützt und viel gearbeitet. Ich weiß noch, dass mal junge Gäste zu mir meinten: »Wie machst du das eigentlich, schwitzt du das durch die Rippen?« Sie spielten darauf an, dass ich keinen Mann hatte. Aber ich war nun mal nicht so veranlagt, dass ich das brauchte. Ich war nicht so verrückt wie manche, die unbedingt einen Freund haben mussten.

Dann lernte ich einen zwei Jahre älteren Mann aus Nürnberg kennen. Er war bei der Bahn angestellt. Mit dem habe ich mal eine ganze Nacht durchgetanzt, das weiß ich noch. Ich war in ihn verliebt, habe gehofft, ihn heiraten zu können und auch mit ihm geschlafen. Doch dann gestand er mir, dass er schon verheiratet sei. Da habe ich natürlich sofort Schluss gemacht.

Mit 26 verliebte ich mich in einen Mann aus der Nähe. Seine Eltern hatten eine Firma und ein großes Haus. Er war der einzige Sohn. Ich war oft am Wochenende bei ihm, und ich habe mich auch sehr wohl gefühlt. Wir waren ein halbes Jahr zusammen, dann meinte seine Mutter zu mir: »Ja, 20 000 Mark musst du schon mitbringen. Sonst kannst du hier nicht einheiraten.« 20 000 waren damals so viel wie heute 200 000! Das hätte ich natürlich nicht aufbringen können. Da war dann auch Schluss.

Neun Jahre später, Weihnachten 1957, lernte ich Georg kennen, den Vater meiner beiden Kinder, einen Zollbeamten. Er war fünf Jahre jünger. Um mich rumzukriegen, meinte er: »Ich würde dich vom Fleck weg heiraten.« Ich glaubte ihm, ließ mich auf ihn ein – und wurde schwanger. Er wollte, dass ich das Kind abtreibe. Das kam für mich aber überhaupt nicht in Frage.

Deshalb trennte ich mich dann auch von ihm und zog aus unserem Dorf weg. Schwanger und unverheiratet, das ging damals gar nicht. Ich entschied mich für München, weil mein Cousin da arbeitete. So war ich wenigstens nicht ganz alleine. Ein paar Monate hatte ich Arbeit. Als meine Schwangerschaft sichtbar wurde, kündigte man mir. Nach der Geburt kam ich mit meiner Tochter in einem katholischen Mütterheim unter. Ich schrieb Georg übrigens von Monika, woraufhin er meinte: »Komm zurück, wir heiraten.« Da ich noch verliebt in ihn war, habe ich das auch getan.

Zwei Monate lebten wir zusammen in meinem Heimatort. Dann wurde ich wieder schwanger. Ich wusste damals zwar, dass man verhüten konnte. Aber man hat es nicht so gemacht. Es war damals allgemein noch so, dass es eine Schande war, Kondome zu nehmen. Das war nicht üblich. Kurze Zeit später wurde Georg an die holländische Grenze versetzt. Er nahm sich zuerst allein ein Zimmer, später kam ich nach – dort erfuhr ich dann, dass er schon etwas mit einer anderen angefangen hatte. 1961 habe ich mich scheiden lassen. Da war ich 35.

Seitdem war ich mit keinem Mann mehr zusammen. Aber ich hatte auch nicht das Bedürfnis danach. Wenn man verheiratet ist, dann gehört das natürlich dazu. Dann ist das ja auch irgendwo Pflicht. Aber ich brauche das nicht zu meinem Glück.

Mit 52 habe ich zwar noch mal geheiratet, einen Witwer, aber das war nur wegen der Rente. Ich habe damals in Kaufhäusern als selbstständige Propagandistin gearbeitet und Waren angepriesen. Da hätte ich aber später keine Rente bekommen. Ich habe für ihn gewaschen und ihm die Wohnung saubergemacht. Sex hatten wir nicht. Er hatte auch kein Verlangen danach. Das fand ich in Ordnung.

Ich habe immer mal wieder an Wilhelm denken müssen. Die wunderschönen Karten, die er mir gemalt hat, habe ich immer noch. Sogar ein Bild von ihm habe ich noch. Die ganzen sechzig Jahre lang habe ich das aufgehoben. Vor ein paar Jahren war ich sogar mal in seiner Heimatstadt Meißen und dachte mir, mein Gott, wie interessant wäre das doch, ihn noch mal zu treffen. Ich habe mich dann aber doch nicht getraut nachzuforschen. Ich würde ihn schon gerne noch einmal wiedersehen. Er müsste jetzt 84 sein. Wenn er noch lebt … Er wäre der beste Mann überhaupt für mich gewesen.

Du versprichst mehr Seele, als du hast

Ruth, 78, SchauspielerinErstes Mal mit 19, 1948Mutter von Susan-Maria und Großmutter von Marnie

Mein erstes Mal war eine Demütigung. Deshalb konnte ich mich beim Sex jahrzehntelang nicht entspannen. Erst mit knapp fünfzig traf ich einen Mann, bei dem ich mich fallen lassen konnte. Er war mein fünfter Liebhaber. Insgesamt hatte ich sechs. Guter Durchschnitt für eine Frau meines Alters, denke ich. Ich bin schließlich in einer ganz anderen Zeit als heute aufgewachsen. Körperlichkeit, Aufklärung, Sex – darüber wurde so gut wie nicht gesprochen. Die dreißiger und vierziger Jahre waren eine verklemmte, strenge Zeit.

Ich bin in Hamburg-Eilbek großgeworden. Dort lebte ich mit meinen Eltern in einer Mietwohnung. Meine Mutter war Diätköchin im Krankenhaus. Mein Vater fuhr erst zur See, dann machte er sich selbstständig als Fuhrunternehmer. Er war nicht viel zu Hause. Von der Ehe der beiden habe ich deshalb auch nicht viel mitgekriegt. Sie kann aber nicht gut gewesen sein, denn meine Mutter hat oft geweint. Vielleicht ist sie deshalb auch so hart geworden. Sie sagte immer: »Die Liebe ist wie Leberwurst. Die kannst du dir aufs Brot streichen. Das ist nur ein großes Wort. Da steckt nichts dahinter.«

Zu Hause führte sie ein strenges Regiment. Mit 14 musste ich abends um 19 Uhr zu Hause sein. Wenn ich mal nicht pünktlich da war, setzte es was. Kam ich zum Beispiel nur zehn Minuten zu spät, dann hatte ich, sobald unsere Wohnungstür aufging, schon – wumms! – die Hand meiner Mutter im Gesicht. Wenn ich mal was nicht essen wollte, dann sagte sie zu mir: »Der nächste Schritt, mein Fräulein, ist die Erziehungsanstalt. Die haben da Gummiwände, da kannst du schreien, soviel du willst.« Sie hat oft gedroht. Aber so richtig aufsässig bin ich eigentlich sowieso nie gewesen. Ich habe immer gemacht, was mir gesagt wurde. Manchmal allerdings habe ich sie mit meinen Fragen zur Verzweiflung gebracht. Das war, als ich in die Pubertät kam und eben bestimmte Fragen aufkamen.