Mein kleines Geheimnis #4 - Nike Maria Vassil - E-Book

Mein kleines Geheimnis #4 E-Book

Nike Maria Vassil

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Beschreibung

Aus dem Leben einer Intersexuellen: Elisabeth erkennt, dass sie ein Alkoholproblem hat und versucht ihr Glück bei den Anonymen Alkoholikern. Parallel macht ihr ihr Alter zu schaffen. Noch nicht ganz vierzig, hat sie das Gefühl, dass sich verstärkt über 60-jährige Männer für sie interessieren. Gerade als sie sich am Tiefpunkt glaubt, erhält sie ein interessantes Rollenangebot und ihr neuer Nachbar steht plötzlich vor der Tür.

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Seitenzahl: 69

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Nike Maria Vassil

Mein kleines Geheimnis

Episode 4

Impressum:

Cover: Karsten Sturm, Chichili Agency

© 110th / Chichili Agency 2015

EPUB ISBN 978-3-95865-616-1

MOBI ISBN 978-3-95865-617-8

Urheberrechtshinweis:

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors oder der beteiligten Agentur „Chichili Agency“ reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

8.

Der Flyer, den Marie ihr vorgestern in 'Aphrodites Austern' in die Hand gedrückt hatte, lag noch in ihrer Tasche, und die Slogans 'spirituelle Erfahrung', 'Dienst', Einigkeit', 'Genesung', 'zwölf Schritte' sprangen wie kleine Funken immer wieder vor ihren Augen hervor.

Sie fühlt sich von den klugen Ratschlägen der Psychologen, Bekannten und Freunde, die 'es immer gut mit ihr meinten', ermattet. 'Machen Sie doch endlich einen sauberen Schnitt', als ob der Mensch eine Scheibe Käse sei, die man einfach abschneiden kann. 'Wie lange wollen Sie in einer Dreierbeziehung leben?', 'Sie sehen doch die Flasche ist ihre größte Konkurrentin!', und die Ablösungsversuche von Kris scheiterten um so schneller.

Die neueste Durchleuchtung ihres Uterus und die damit ernüchternden Befunde stehen für Elisabeth zweifellos in einem wechselseitigen Verhältnis zu Kris' Präsenz. Das ist Grund genug, von nun an konsequenter zu bleiben, einen neuen ungewohnten Weg aufzusuchen.

Weglaufen kann nicht die Antwort sein, aber eine kleine Verschnaufpause tut schon gut. 'Ich will ihm auf keinen Fall begegnen, noch nicht!', überzeugt sie sich selbst immer wieder. Es kommt ihr vor, wie das 'Katz und Maus' Spiel, wo der räumliche Abstand jeden Moment übertreten werden kann. Sie traut ihren eigenen Reaktionen nicht, weil sie ihnen machtlos gegenübersteht. Vor nur einer Woche, in diesem Café, muss sie ihn wieder indirekt aufgefordert haben. Er hatte gespürt, dass er bei ihr wieder anklopfen kann, denn sie zeigte sich empfänglich. Er war in der Symbiose mit der Flasche ausgetrickst worden und sie wiederum in der Symbiose mit ihm. Der Krebs hatte ihr mit dem Auge zugezwinkert.

Nachts wird sie schweißgebadet aus ihren Träumen rausgerissen und nicht selten von ihm aufgesucht. Letzte Nacht hätte sie schwören können, seinen Schatten in ihrem Schafzimmer gesehen zu haben.

Sie schaut auf die Uhr. Es ist fast neun Uhr abends. Es ist nicht zu spät. Sie holt den Al-anon Flyer aus der Tasche und wählt die oben fettgedruckte Nummer. Nach mehrerem Klingeln meldet sich eine tiefe weibliche Stimme mit der üblichen Aufforderung und Elisabeth hinterläßt Namen und Telefonnummer. Diesen initialen Schritt vergisst sie dabei sofort und als zwei Tage später der Wurf zurückkommt, und es bei ihr klingelt, ist sie überrascht.

„Hier spricht Hildegard. Sie haben mich vorgestern angerufen? Ich bin ein paar Tage zu meiner Schwiegertochter gefahren.“

Die lebendige und anmutende Stimme einer etwas älteren Frau klingt in den erwartungsvollen Ohren beliebig, und bevor Elisabeth bereit ist, weiter auszuholen, stellt sie einige Fragen und hört Hildegard zu, die sich als trockene Alki vorstellt und von ihrem Ex-Mann, ebenfalls Trinker, seit vielen Jahren geschieden ist. Bald plaudert sie so ungeniert über die schwierigen Jahre ihrer Ehe, die Trennung, über ihre Motivation und ihren ersten Kontakt mit AA. Seit ihr Sohn auch angefangen hat, zu trinken, ist sie auch aktives Mitglied bei den 'Angehörigen' und Ansprechpartner für alle Hilfesuchenden.

Elisabeth andererseits gibt ihr nur ein paar Stichpunkte ihrer vier bis fünfjährigen Odyssee mit Kris, denn sie ist es leid auf Details einzugehen, und ihre Zuhörerin verhält sich unüblich aller anderen 'eingeweihten Therapeuten'. Statt der gewohnten Vorwürfe und einer unterschwelligen Kritik, bekommt sie Lob, dafür dass die den Schritt ans Telefon gewagt hat, und wird zur kommenden Sitzung eingeladen. Ihre Zusage ist nicht bindend. Sie ist aber sehr willkommen.

Die Adresse merkt sie sich, weil sie den gotischen Kirchenbau kennt. Zu oft ist sie dran vorbeigelaufen, das wuchtig stolze Gebäude bewundert aber sich nie getraut reinzugehen. Nicht auszuschließen, dass die herrische Architektur sie eingeschüchtert haben könnte. Am Seiteneingang sieht sie die Treppe, die zu einer gewölbten Kellereingangstür führt und am Griff hängt das Schild 'Al-non'.

Sie geht die Treppe hinunter, öffnet die schwere Holztür und wird am Gang von zwei, drei Leuten kurz begrüßt. Einer trägt eine Kiste mit Büchern, Prospekten, Kerzen und einer Aluminiumdose zu einem großen Tisch. Es stehen mehrere leere Stühle um den Tisch herum. Abgesehen von einem kurzen 'Hallo' kümmert sich kaum jemand um das neugierige, neue und zögernde Gesicht in der Runde. Der Umgang miteinander verrät, sie kennen sich fast alle untereinander.

Innerhalb weniger Minuten füllt sich der Raum mit den unterschiedlichsten Begrüßungsritualen. Manche umarmen sich fast demonstrativ, andere geben sich einen Kuß auf die Wange und manch einsamere Seele setzt sich einfach auf einen Stuhl, streichelt kurz dem Sitznachbarn über die Schulter, ohne jegliche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Viele nehmen eine Tasse Tee oder Kaffee bevor sie sich an den Tisch setzen und bedienen sich an einer der Plätzchendosen, die zwischen Kerzen und Büchern verstreut auf dem Tisch stehen. Eine Rednerin erhebt das Wort, begrüßt alle, stellt sich nur mit dem Vornamen vor, und bittet Neuankömmlinge, in diesem Fall Elisabeth, sich und ihr Anliegen vorzustellen. Elisabeth schaut sich um und viele der Blicke fallen unverzüglich auf sie, während ihr Puls wie ein Specht anfängt zu pochen und ihr Herzschlag wie laute Regentropfen auf dem Dach prasselt.

Daß sie so direkt in Zugzwang gebracht werden würde, hätte sie nicht gedacht und setzt ein 'Ich heiße Elisabeth und war vier Jahre mit einem Trinker zusammen...nun, es ist Zeit Bilanz zu ziehen!' entgegen.

Er ist physisch abwesend, faktisch aus ihrem Leben ausgeschlossen, und dennoch leistet sie Widerstand. Sie widersetzt sich vehement gegen seine Präsenz und ihre Gedanken wollen nicht kapitulieren und ihn einfach gehen lassen. Ihn ganz zu verlieren und aus ihrem Geist zu verbannen, musste so schmerzhaft sein, als dass ihr jedes Opfer recht scheint. Körperliche, verbale und psychische Torturspielchen hätte sie unendlich lang weitergespielt. Jetzt ist Schluß. Ihre wachsende Gebärmutter hat ein erstes und kritisches Stoppschild gesetzt.

Mit diesem Schritt heute, will sie das Lavafeld verlassen und lernen ohne Lava glücklich zu werden. Fürs erste mag sie der Runde nicht ihre geheimsten Motive offenlegen, denn sie ist sich selbst über vieles noch sehr unklar und gibt schnell das Wort weiter.

Einige Gesichter sehen die neue Einsteigerin mit einem blasierten Mitleid an, andere nehmen sie nur zur Kenntnis und bei anderen wieder greifen leidende Gesichtszüge, ihrem eigenen Schmerz vor. Auch scheinbar Unbeteiligte schauen in die Runde oder nicken verständnisvoll. Anmutende Gesten, die die leichte Spannung abbauen.

Während die Rednerin mit dem üblichen Programm fortfährt, das aus Ankündigungen, einer Willkommensrede und das Vortragen der zwölf Schritte besteht, legt sich eine Gelassenheit und Ruhe über den Raum, wie ein Deckel auf einen Kessel und versprüht ein Sedativum. Dabei verlangsamt sich die Zeit, sie friert fast ein.

Elisabeth begutachtet die übrigen Teilnehmer nicht vorurteilsfrei, wie mit der Lupe nach besonderen Auffälligkeiten, und dabei distanziert sie sich abschätzig von ihnen. 'Ganz schön verbrauchte Fratzen, die ihr Leben nicht in den Griff bekommen'. Von leicht ungepflegten Birkenstockträgern bis zu schicken Geschäftsleuten in Bossanzügen, ist alles vertreten. Das Durchschnittsalter schätzt sie zwischen Mitte zwanzig und Mitte sechzig ein.

Im Chor wird dann ein Leitspruch aufgesagt, worin das Wort 'Gott' in ihren Ohren zu auffällig heraussticht und sektisch belagert klingt. Das Händchen halten dabei ist ihr ebenso befremdlich wie der christliche Glaube und die Kirche mit ihrem 'göttlichen' Anspruch, hinter dem die Gläubigen ihre Scheinheiligkeit maskieren. Alles zu ambivalent.