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Elisabeth, Schauspielerin, hat ein kleines Geheimnis. Sie ist ein Hermaphrodit. Unverblümt erzählt sie von ihrem Leben, dem Sex mit ihren Liebhabern, ihren Partnerschaften. Den hocherotischen Momenten und den peinlichen Situationen. Doch ihr Geheimnis macht ihr auch zu schaffen, in ihren Partnerschaften, aber auch in ihrer Beziehung zu ihrer Umwelt. Könnte sie jemals wirklich glücklich werden?
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Seitenzahl: 268
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Nike Maria Vassil
Mein kleines Geheimnis
Gesamtausgabe
Impressum:
Cover: Karsten Sturm, Chichili Agency
EPUB ISBN 978-3-95865-608-6
MOBI ISBN 978-3-95865-609-3
© 110th / Chichili Agency 2015
Urheberrechtshinweis:
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors oder der beteiligten Agentur „Chichili Agency“ reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Heute Morgen ist Elisabeth wieder früh aufgewacht. Sie ist immer eine gute Einschläferin gewesen und selten von den Monstern der Nacht gejagt worden. Schon beim Berühren des Kopfkissens fielen ihr die bleiernen Augen unbeschwert, fast leichtsinnig, zusammen. Doch in letzter Zeit ist es zur Gewohnheit geworden, dass ihre Lider morgens zwischen vier und fünf Uhr wieder aufklappen und sie hellwach im Bett liegt, ohne offensichtlichen Grund.
Weder der Wecker, noch ein kurz aufschnarchendes, brummendes Geräusch in ihre Ohrmuschel, noch ein ‚Guten Morgen Kuss‘, gegen den sie nichts einzuwenden hätte, sind an diesem Trieb Schuld. Ein unruhiger Strom reißt ihr plötzlich die Augen auf, und sie wird in wenigen Sekunden zu einem wachsamen Adler, der in null Komma nichts hoch konzentiert auf seine Jagdbeute hinunterfliegt, sie greift und zerfleischt. Jeder Versuch in den Schlaf zurückzukehren, ist vergeblich.
Zugegeben, heute ist es ihr Lieblingstraum. Ein Traum, der sogar einen Morgenmuffel schneller in den Tag katapultiert. Ein Todestraum mit glücklicher Wendung, der sie öfters aufsucht, und der ihren Adrenalinspiegel steigen lässt, während sie sich beim Träumen des glücklichen Endes gewiss ist. Es kommt ihr vor, als ob die naive Hälfte des Gehirns den Traum als die einzige Realität akzeptiert, während die nüchterne Hälfte die Täuschung erkennt und belächelt. Es ist immer der gleiche Traum.
Sie sitzt auf dem Beifahrersitz eines roten Opel Kadetts und fährt mit ihren drei besten Freundinnen, Marie, Cristina und Brigitte eine Serpentinstraße entlang, irgendwo im Süden. Es könnte Südfrankreich, Italien oder Griechenland sein. Ganz unerwartet geschieht es. Cristina, die am Steuer sitzt, greift reflexartig nach etwas Belanglosem, das auf den Boden fällt, und während sich ihr Blick darauf fixiert und ihr Fuß noch auf dem Gaspedal klebt, verselbstständigt sich das Steuer für maximal eine oder zwei Sekunden, nicht länger. Auf der nächsten Linkskurve gerät das Auto außer Kontrolle. Es hat dem festen Boden 'Adieu' gesagt und befindet sich nun in freier Atmosphäre. Dabei wird jede Lenkratsdrehung, die sich von den Reifen abgekoppelt hat, beliebig. Paradoxerweise erscheinen nun die Reifen wie vom Abschleppdienst festgeklemmt. Die weiteren Sekunden verlaufen im Zeitlupentempo.
Alle vier Frauen stoßen einen kurzenTodeschreiaus, bevor der Anblick nach unten sie in einen Trancezustand versetzt und ihre Panik erstickt. Vermutlich erkennen sie ihren neuen Gastgeber Hades, wie er ihnen seine Tore öffnet, sie schadenfroh angrinst, aber dem sie keine Genugtuung einräumen möchten. Nur hundert Meter unter ihnen, den steilen Abhang hinunter, nähmen sie von dieser Welt Abschied, um in den Tunnel der unbekannten Reise, ins Universum, geschleudert zu werden.
Dort breitet sich das dunkelblaue tiefe Meer wie ein kobaltblauer Teppich aus.
Sie fallen, und diese Sequenzen einzelner Lebensabschnitte, ,von denen viele Überlebenden in todesähnlichen Momenten berichten, wollen einfach nicht erscheinen. Stattdessen beginnt Elisabeth das hintere Fenster herunterzukurbeln. Der Blitz eines klitzekleinen Hoffnungsschimmers?
Oft liegt sie mit ihrer medialen Vorahnung richtig. In diesen Sekunden spürt sie, wie unbeschwert und konzentriert ihre Reaktionen erfolgen. Zum Denken fehlt die Zeit und diese Zeitlosigkeit verwandelt panische Angst in geschmeidige, zielstrebige und fließende Bewegungen.
Das Auto taucht ins Meer ein und Elisabeth kurbelt unbeirrt das Fenster herunter. Nur noch ein paar Zentimeter bis der Spalt breit genug ist, damit sich die Körper hindurch winden können. Der Aufprall ins Wasser hat wie ein Wunder alle unverletzt gelassen. Kaum ist das Innere des Wagens mit Wasser gefüllt, gelingt Elisabeth die Flucht aus dem eisenblechartigen Gefängnis und alle übrigen drei Frauen folgen mit gefasster Disziplin, bis sie gierig nach Luft schnappend an die Wasseroberfläche geschwemmt werden.
Das Tief- undTürkisblaue wechseln sichab, ein bis zum Grund kristallklares Wasser möchte in sie eindringen, wie die Heilkraft einer Quelle und die Frische des Morgentaus. Nicht mehr weit entfernt strahlt sie eine feinsandige Bucht an, während alle vier heil und erschöpft daraufzuschwimmen.
Elisabeth schaut auf die Uhr. Es ist 4.50 Uhr. Ein unbeschwerter, leichtsinniger Moment im Auto mündet in einen gleitenden Sturz, dessen Wende überraschender nicht hätte sein können. Soll sie es als eine Vorahnung oder nur als Metapher für ihren unstillbaren Durst nach Leben und Improvisationsmut auffassen?
Sie atmet auf. Saubere Gewässer, gutes Omen. Das hat sie von ihrer Mutter und diese wieder von ihrer, deren Mutter es von ihren Ahnen genauso in die Wiege gelegt bekommen hatte. Dafür braucht sie kein Traumlexikon aufzuschlagen, das neben ihrem Bett griffbereit liegt.
Sie hat nur fünf Stunden geschlafen. Erstaunlicherweise fühlt sie sich fit, ausgeruht und ausgeschlafen. Der Regelfall ist es nicht, nur eine phasische Gewohnheit. In anderen, heiteren Zeiten, wenn die Monster ihre Gedanken nicht belangen, sie nicht mit existenziellen Horrorvisionen irritieren, gönnt ihr die Schlaf-Fee auch eine acht- oder zehnstündige Ruhepause. So gesehen verlängern die Frühaufstehmonster ihren Tag, vor dessen Leere es ihr allerdings nicht selten graust.
In Schweiß gebadet und mit einem erleichterten Seufzer steht sie auf, noch bevor die Stimme ihrer Mutter sie, mit Sätzen wie 'Du Unglücksrabin, nichts haftet an dir' oder ähnlichen Schmeicheleien, einholt und fährt mit ihren morgendlichen Jogaübungen fort, die etwa dreißig Minuten dauern. Dann bereitet sie ihren Tee vor.
Während sie sich fürs Joggen anzieht, schlürft sie aus der heißen Tasse, und verbrennt sich die Zunge dabei. Sie muss nicht in Eile sein, aber es passiert einfach. Ungezügelte Gier. Andere schlitzen sich die Haut auf. Auch nicht immer bewusst und gewollt. Es passiert einfach. Die Zunge regeneriert sich dennoch schnell und die Geschmacksnerven geben den Mut nicht auf. Erfreulicherweise bleiben dabei keine augenscheinliche Narben zurück.
Sie weiß, sie braucht einen disziplinierten Tagesablauf, denn sonst würde sie an manch einem Tag nicht wissen, warum sie aufstehen soll. Wie den verflixten Tag in Zeiten absoluter Dürre herumkriegen, wenn sich keiner rührt, weder Regisseure, Tonstudios, Besetzungsbüros noch ihre letzte Hoffnung, ihre Agentin?
Entweder sie melden sich alle auf einmal, oder dieses Telefon schweigt wie verhext in der Ecke. Traut sich ein Dramaturg oder Regisseur ihr ein Projekt anzubieten, folgen wie bei einer Gedankenübertragung auch andere Schäfchen nach. Ob es für dieses Phänomen eine mathematische Formel gibt?
Sie sollte sich nicht beklagen, schließlich hat sie es die ganzen Jahren geschafft, über die Runden zu kommen, zugegebenermaßen mal besser, mal schlechter. Nicht wenige ihrer Kollegen rutschen in Hartz IV, V, VI oder wie sie alle heißen ab, müssen sich als Arbeitssuchende Maßnahmenkorsetts anziehen. Schauspieler sein ist nicht immer geil, denn man kann kaum konstant ein anderer sein, als der man wirklich ist. Die Rolle ist immer begrenzt auf die eine oder zwei Stunden, solange das Stück dauert, solange die kleine Fernsehrolle es erlaubt. Wenn man den Weg zum verzweifelten Ich nicht wiederfindet, kommt das Etikett 'Schauspieler' weg und wird durch das Etikett 'Patient' ersetzt, und in abgesperrten Räumen verlegt. Es bleibt immer ein Restrisiko, dass sie den Weg nicht zurückfinden, aber die Ekstase zahlt sich aus. Jede Rolle gewährt dem Schauspieler auch eine Flucht und Auszeit aus dem eigenen gequälten Ich.
Kommt das Telefon erstmal in Schwung, ist der Spuk für kurz oder lang aufgehoben. Sprachaufnahmen, Lesungen, ein Low-Budget Hochschulfilm (wozu sie sich immer wieder überreden lässt, wenn ein engagierter Filmstudent an ihre künstlerische Solidarität appelliert). Ein, zwei oder drei Drehtage und Castings türmen sich über mehrere Wochen auf. Manchmal lässt sich nicht alles unter einen Hut bringen. Das Leben kennt einfach keinen moderaten Rhythmus. Einen routinierten Tagesablauf, feste Rituale und eine gewisse Beständigkeit braucht jeder Mensch, egal wie größenwahnsinnig, exzentrisch, sensationslustig oder narzisstisch veranlagt.
Herr Köhler, der Nachbar über ihr, lässt auch keinen Tag aus, an dem er morgens um acht seine Brötchen und Zeitung holt, es sei denn, er befindet sich grade in Brasilien, und dort wird er sicher auch nicht auf seine Brötchen verzichten.
Ein netter Frührentner, der letztes Jahr eine Brasilianerin mitgeschleppt hat. An manchen Tagen sind die beiden bei ihrem morgendlichen Liebesspiel unüberhörbar triebhaft. Eines der schönsten morgendlichen Rituale, das Elisabeth in letzter Zeit wieder sehr vermisst.
Diese Brasilianerin besitzt zu Elisabeths Unmut ein übertrieben lautes Organ, das, säße sie einem gegenüber, nur mit Ohropax zu ertragen ist. Manchmal wundert sich Elisabeth, wie Herr Köhler dieses temperamentvolle und kreischende Hysteriebündel so bedingungslos erträgt. In Brasilien ist es wie in den südeuropäischen Ländern: Wer am lautesten schreit, bekommt Recht. Motive und Situation sind da unerheblich. Bei einem romantischen Abendessen mit Kerzenlicht kann ein profaner Heiratsantrag für den Skandinavier am Nebentisch als erhitztes Argument mit tödlichen Konsequenzen gedeutet werden. Elisabeth fragt sich manchmal, warum dieser freundlich lächelnde, liebenswürdige Mann, diesen kreischenden, südamerikanischen Affen einführen musste. Aus Einsamkeit?
'Ich Rassistin? Nee! Ich hab doch selbst einen Migrationshintergrund, aber es gibt schließlich auch kleine Unterschiede...so unter den verschiedenen Migranten, meine ich. Ich weiß, wovon ich spreche. Logisch.'
Toleranz und Intoleranz unterscheiden sich nur durch diese eine Silbe 'in', also dulden oder nicht dulden. Aber wie soll man das Fremde ertragen, wenn die eigenen Phobien gegenüber dem Gewohnten schon so zäh sind?
Es gibt viele einsame Individuen in ihrem Haus und in ihrer Nachbarschaft, deren Blicke sie in letzter Zeit durchlöchern und auf Schritt und Tritt begleiten. Meistens gelingt es ihr, sie abzuschmettern.
Sie registrieren jede Einzelheit in ihrem Leben, verfolgen penibel ihren Tagesablauf. In stressigeren Phasen kommt es häufig zu Bemerkungen wie, „Sie sind momentan ziemlich viel unterwegs, nicht wahr?“
Eine ältere Dame mit ihrem Bärenfellhund vom dritten Stock kann ihrem Konditionierungsdrill nicht entrinnen, und ihr scheinbar ungezügelter Mitteilungsdrang lässt sich nicht so leicht dressieren, wie ihr offensichtlich braver Hund, der trotz jugendlichen Alters einen sehr müden Gang hat.
„Schon früh so fleißig?“
„Entschuldigen Sie, aber für eine Aufzugskonversation ist es mir noch zu früh…“ kontert Elisabeth, wenn sie sich gerade in einer prämenstruellen Phase befindet. Gewisse Hormone führen oft zu direkten Tönen und trampeln gerne althergebrachte Hemmungen nieder.
Diese akribische Genauigkeit des Beobachtens braucht eine gewisse Zeit, um sie zu perfektionieren. Elisabeth fragt sich manchmal, ob die Aufmunterung zur Denunziation der Vorläufer dafür ist, oder leidet sie einfach an Paranoia?
In der Tat, das Glotzen ist eine fast zur Perfektion ausgebildete Eigenschaft in diesem Land. Dem Land, das ihr zweites Heimatland geworden ist.
Als fünfjähriges Mädchen hatte sie kaum eine andere Wahl, als ihren Eltern zu folgen. Heute ist sie ihnen dankbar, denn sie hat sich längst mit dieser Heimat versöhnt und an die Eigenheiten gewöhnt; schöne Freundschaften, bunte Nischen und Oasen gefunden. Die Heimat kann sich kaum jemand selber aussuchen. Kinder kommen überall auf die Welt, in Taxis, Flugzeugen, auf Feldern, Wiesen, in Wüsten und Armutsvierteln. Sie werden vorher nie gefragt.
Als kleines Mädchen ist sie oft ins Fettnäpfchen getreten und fühlte sich den unbarmherzigen Kinderstreichen ausgesetzt. Nicht selten auch ausgegrenzt. Für die erwachsene Frau traten andere Phänomene und Fragestellungen in den Vordergrund, so etwa Gemeinsamkeiten und Unterschiede des weiblichen und männlichen Chromosoms. Kann die Ungleichheit der Geschlechter auf ein schwaches weibliches Selbstvertrauen zurückzuführen sein? Wie lässt sich die Verteilung von Rollen in Film und Theater akzeptieren, wenn auf vier männlichen Rollen nur eine weibliche zukommt?
Ihre studentische Frauenpowerzeit paarte sich mit extrem feministischen Überzeugungen und bescherte ihr jahrelang ein schlechtes Gewissen, wenn sie mal von einem Mann eingeladen wurde. Sie kam später aus eigener Eingebung darauf, dass Männer sich geehrt und geschmeichelt fühlen, wenn sie eine Frau verwöhnen dürfen. Nicht Eleni, ihre Mutter, hatte sie an die Hand genommen, und in diese geschlechtsspezifischen Verhaltensmuster eingeführt. Sie erwarb sie sich alle allein, aufgrund eigener Beobachtungsgabe und etlicher harter Bruchlandungen.
In einigen Momenten, wenn sie die Süße des Lebens zulässt, springt in ihr ein Funke auf und lässt die Frau Frau sein, ohne dieses lästige Schicksal auf den Schultern zu tragen. Ihre Mutter presste und presste, es gab keinen Ultraschall damals, um das Geschlecht des Fötus vor der Geburt zu ermitteln, und sie konnte es nicht abwarten dem Neugeborenen, dem Jungen, ihrem ganzen Stolz, die Brust zu geben.
Und dann kam Elisabeth statt dessen und ein Schleier der Enttäuschung legte sich über diesen Tag, an dem ihre Mutter um die Gunst ihres geliebten Bruders fürchten musste, der sie mit den Worten 'Du Sau, du, kannst nur lästige Mädchen gebären' bespuckte.
Immerhin wurde die Neugeborene nicht erwürgt in einem Behälter entsorgt, und für die eventuelle männliche Nachkommenschaft geopfert.
Warum diese Familie!? An Zufälle glaubt sie nicht. Welchen gordischen Knoten, welches Rätsel soll sie in diesem Leben lösen und wofür? Hatte sie mit ihrer Geburt den Auftrag erhalten den männlichen Part, ihren Vater, zu ersetzen, dann bedingte dies, dass sie ihr eigenes Leben nicht leben konnte. Hatte sie sich die ganzen Jahre in der Vorstellungswelt ihrer Mutter bewegt, dann liegt das Rätsel vielleicht darin, sich von den Anforderungen dieser Familie zu lösen, von deren Urteilen, Vorurteilen zu befreien, und ihr Leben selbst zu bestimmen.
Die Leute dringen in letzter Zeit immer stärker mit ihren Blicken in sie ein.
Staunen und Glotzen haben nichts Gemeinsames. Kinder staunen mit ihrer unschuldigen Neugierde auf ihre Umgebung und ihre Augen öffnen sich, während Erwachsene mit einem Neid irrsinnigen Ursprungs glotzen, und deren Augen zu Schlitzaugen mutieren, immer kleiner werden.
Elisabeth überlegt oft, ob sie alle Nachbarn mal zum Kaffee und Kuchen einladen sollte, um diese Schranken zwischen den Wohnungstüren, hinter denen sich so viele düstere Blicke verstecken, einzureißen. So bleibt es immer eine Einbahnstraße, eine einseitige Teilnahme anderer an ihrem Leben. Zwischen Nachbarn in Deutschland, hatte mal ein verstorbener Dichter und Freund von ihr gesagt, klaffen Gräben, worin nie Blumen wachsen können. Erbittert kämpfte er, schrieb Gedichte, erklärte seine Wohnung zum Kunstobjekt mit einem eigensinnigen, aber auch genauen Blick auf seine Umwelt. Doch leider ertrank er zuletzt sehr einsam in seiner Selbstgefälligkeit und seinem Größenwahnsinn. Er starb sehr plötzlich, ohne ein großes Begräbnis. Ein Ausgestoßener.
Wahrscheinlich ist es die Angst, die sie zu akribischer Beobachtung antreibt. Denn, so vermutet Elisabeth in letzter Zeit, alles Übel im Menschen wird durch Angst hervorgerufen, so wie die Eifersucht aus einer Angst vor dem Verlust des eigenen Partners herrührt, oder der Neid aus der Angst vor dem persönlichen Versagen, so verraten die argwöhnischen Blicke auf arbeitslose Schauspieler, eine Angst vor leeren Rentenkassen. Sie zahlen schließlich nicht fleißig und permanent Rente ein.
Es sei denn, sie gehören zu der privilegierten, winzig kleinen Gruppe von Schauspielern mit einem festen Vertrag an einem der größeren satten Theaterhäusern, die von Steuerzahlern leben.
Gegen diese Schauspieler haben die Nachbarn aber nichts einzuwenden, obwohl sie sie viel mehr Geld kosten, als die paar Groschen, die an die freie Theaterszene gehen. Und wofür? Damit sich so ein dekadenter Bühnenbildguru für hundert Tausend Euro ein Sofa aus Amerika für sein Bühnenbild einschiffen lässt. Authentizität und Größenwahn haben schließlich auch ihren Preis.
Mittlerweile kennt sie den Fahrplan der Tramlinie auswendig und sorgt dafür, dass sie immer dann aus dem Haus geht, wenn die Tram grade abgefahren ist, damit keine wartenden Blicke auf sie starren, wenn sie an der Haltestelle vorbeihüpft, um im Park ihre Runden zu drehen.
Vor Menschenmassen hütet sie sich lieber, denn sie vergöttern ihre 'Anführer', versteifen sich auf ihre 'Sündenböcke' und pflegen diese Prinzipien sorgfältig und akkurat. Diese disziplinierte Haltung geht auf Kosten des Scharfsinns, des Geistreichtums, und gehört ihrer Meinung nach sowohl zu den Tugenden als auch zu den Lastern neudeutscher Kultur.
Der Frühling hat sich dieses Jahr früh angekündigt und der morgendliche Frost ist sehr schnell abgeklungen. Während des Laufens muss sie immer wieder an diese kurzlebige Affäre mit Michael denken, die allerdings schon viele Jahre zurückliegt. Auch bei ihm faszinierte sie sein unnahbares Potenzial. Ein Potenzial, das ihrer Phantasie keine Grenzen setzte. Mit seiner wunderschönen Stimme und der poetischen Ausdrucksvielfalt seiner Briefe und Mails gelang es ihm sehr geschickt, sie über seine Beziehungsunfähigkeit hinwegzutäuschen. Einem klaren und wachen Geist wäre dies kurz oder lang aufgefallen. Elisabeth aber ignoriert gern Dinge, die nicht in ihr Phantasiebild passen, und presst den anderen, wenn’s sein muss, auf Biegen und Brechen in dieses Bild hinein. Michael hatte sie bei einem Vorsprechen kennen gelernt und sich dann Hals über Kopf in ihn verliebt. In ihn oder eher in das Bild, dass sie auf ihre eigene Leinwand projizierte?
Sie stürzte sich in eine Fernbeziehung, ohne wesentliche Dinge zu berücksichtigen. Wie kam es, dass ein attraktiver Schauspieler mit Mitte vierzig ohne festes Engagement, um seine Existenz kämpfte, sich noch keine gut situierte Ärztin oder reiche Tochter geangelt hatte? Zu viele Neurosen können einen guten Fang vergrämen. Sollte dies nicht jede Frau misstrauisch stimmen? Nicht Elisabeth.
Wie sie später von ihm durch die Blume erfuhr, hatten seine Marotten bisher alle Frauen rechtzeitig verscheucht. Erwies sich allerdings die Frau als zäh und hartnäckig, beeilte er sich die Beziehung zu beenden, sobald Verantwortung drohte. Ein Mann, der bis Mitte vierzig mit keiner Frau länger als ein Jahr zusammengelebt hatte, schien doch sehr verdächtig. Da empfahl es sich, den Rückwärtsgang einzuschalten.
Nicht Elisabeth, die lieber an das ersehnte Potenzial von Michael glauben wollte, als an die Tatsachen, die dem widersprachen.
So musste sie erleben, wie er sie in einer fremden Stadt mit ein paar Groschen vor die Tür setzte, obgleich er sie eine Woche vorher zu sich eingeladen hatte, bei ihm zu übernachten. Sie biss sich mit Leib und Seele fest in seine Stimmungsschwankungen und Marotten. Es faszinierte sie regelrecht, dass er fünf verschiedene Sorten von Bettdecken hatte, um sie je nach Außentemperatur auszuwechseln. Eine für sehr kalte Wintertage (bis minus 15° Grad), eine für Tage um den Gefrierpunkt (die Schneedecke); dann gab es noch eine für bis zu plus 10° Grad, eine für mildere Tage, Frühlingsgefühle und Osterglöckchen, und ab plus 25° Grad gab es dann die Sommerdecke.
Dies war natürlich nicht die einzige Marotte von Michael. Er hatte noch eine Schwäche für extradünne Frauen. Elisabeth ist auf ihre schöne Figur immer stolz gewesen. Sein Faible für abgemagerte Frauen allerdings trieb sie nach einigen Wochen fast zur Magersucht. Er machte kein Hehl daraus, je abgemagerter die Frau, desto attraktiver für ihn. Aber auf eine Liebesbeziehung mit einem Nekrophilen war sie nicht vorbereitet. Ihr Appetit sank auf Null, und jeder Bissen kostete sie eine Überwindung.
Sie fing an, sich dagegen zu wehren. Nur langsam kam die Lust auf Süßes und Salziges wieder, einhergehend mit dem Loslassen.
Warum hatte sie nicht auf ihre Intuition gehört und die anfänglich warnenden Signale ignoriert? War es doch ihr allererster Impuls am Flughafen gewesen, sich umzudrehen und sofort zurückzufliegen. Hüpfend wie ein Pelikan und zehn Minuten verspätet kam er die Rolltreppe hinunter und fing sofort an, Schnappschüsse zu machen. Was war denn das nun für eine Schrulle? Auf diesen ersten, lang ersehnten, zarten Moment ihres Wiedersehens trampelte er wie ein Elefant herum. Elisabeth schloss die Augen und versuchte es zu ignorieren. Aber auch ihr Geruchssinn rebellierte.
Spätestens als sie sein Aftershave roch, war ihr klar, dass sich ihre Gerüche nie vertragen würden.
„Donna?“ fragte er schmunzelnd.
„Donna?! Wie kommst du auf Donna?“ wollte sie verwundert wissen.
„Das Parfüm meiner Ex!!“ lächelte er etwas verlegen.
Seine Ex, die ihn, wie Elisabeth später erfuhr, vor drei Monaten unspektakulär rausgeworfen hatte. Aus reiner Neugierde hat sich Elisabeth später dieses Parfüm in einer Drogerie mal auf die Haut gesprüht. Es war so widerlich, dass sie beinahe in der Drogerie erbrochen hätte. Und dieses widerliche Parfüm hat er mit ihrem wunderbaren `wild cinnamon’ verwechselt. Was für ein Ignorant!
Nein, es ist nicht einfach, dir selbst gegenüber ehrlich zu sein und vorurteilslos hinzuhören, wenn deine innere Stimme mit dir spricht. Es braucht viel Übung, Überwindung und Mut. Das trügerische Versteckspiel allerdings ist verführerisch, spielt sich mühelos, vor allem wenn Ohren und Augen die femininen Instinkte zensieren und als esoterischen Unsinn abtun.
Die Theorie, Gleiches gesellt sich zu Gleichem und fühlt sich voneinander angezogen, würde somit einschließen, dass Elisabeths Neurosen mit denen von Michael zu vergleichen sind. Elisabeth hat grade ihre zweite Runde gedreht, und der Gedanke einer Parallelität zu Michael scheint ihr zu sehr an den Haaren herbeigezogen.
Reichte seine warme und männliche Bassstimme sowie das ungekrümmte wohlgeformte Glied, das er so geschmeidig in ihre Muschi einführte und es sich wie angegossen darin fühlte, nicht aus, um sich der Wollust hinzugeben?
Dennoch versprach sie sich das nächste Mal mehr innere Wachsamkeit, statt sich von einem Adonisglied verleiten zu lassen. Guter Sex ist für sie wie ein atemberaubendes acht Gänge Menü. Es versüßt den Tag, kann aber auch zu schlimmen Magenverstimmungen führen, wenn die Zutaten, Gewürze und Kräuter sich zu sehr beißen.
Zur Liebe gehört einfach viel mehr als ein wohlgeformtes Glied; gegenseitige Aufmerksamkeit, ein liebevoller Blickaustausch ohne große Worte, Anteilnahme am Leben des anderen, den passenden Duft des anderen erahnen oder mal die eigenen warmen Handschuhe anbieten, statt in einer fremden Stadt nachts vor die Tür gesetzt zu werden, weil 'zu viel Klammern abtörnt'.
Michael war eben das, was er war, aber Elisabeth wollte aus ihm ein anderes Wesen formen. Ihr Wesen blieb seinem fremd und umgekehrt. Kein Adonispenis der Welt könnte eine so große Diskrepanz aufwiegen.
Die Joggingtour brachte heute keine völlig neuen Erkenntnisse, fasste aber mit einem Zauberstab alles in einer Nussschale zusammen.
Mann und Frau leben seit Adam und Eva harmonisch neben und miteinander, trotz Erbsünde und Vertreibung vom Paradies, vorausgesetzt sie akzeptieren ihre Andersartigkeit und ihre unüberwindliche Distanz. Aus dieser Distanz können sie sich annähern und kommunizieren. Mit gefilterten und geschliffenen Emotionen verteidigen beide ihr Terrain und das des anderen. Jeder tut gut daran, den anderen zum Wächter seiner Einsamkeit zu ernennen und die fatale so häufig propagierte Verschmelzung mit dem anderen zu vermeiden. Eine gegenseitig erwünschte Distanz, ein Raum dazwischen, ermöglicht, dass beide Partner sich wacher und bewusster wahrnehmen, ihr eigenes Wesen und die eigenen Geheimnisse nicht aufgeben. Verfallen sie nicht ins Unbewusste, folgen sie nicht besinnungslosen Gewohnheiten, können Liebespaare alle Hürden überwinden, sofern sich ihre Schwingungen berühren und ihre Duftstoffe vertragen.
Allzu oft ertappt sich Elisabeth in diesem Wirrwarr von Gedanken. Heute gelingt ihr mit ihren Sportschuhen auch diesen Gedankenwirrwarr vor die Wohnungstüre abzulegen.
Sie verschwindet unter die Dusche, bereitet dann ihr Müsli vor, gefolgt von der morgendlichen Reinigung. Diese besteht vorwiegend aus dem ‚sweepen‘ aller negativer Gedanken und Begegnungen vom Vortag. Sie reinigt sich von negativer Energie und löst innere Blockaden auf. Jetzt kann der Tag beginnen. Diese ‚Technik‘ kennt sie aus einem Joga/ Meditationsseminar. Sie gehört zu ihren morgendlichen Ritualen, auch wenn sich keine direkt unmittelbaren Resultate zeigen. Denn sie weiß ja: Aha-Effekte treten unvermittelt schlagartig oder nach mehrjähriger Verzögerung auf.
Zum Frühstück gibt es jetzt häufiger Müsli. Ein wertvolles Erbstück von Michael, wofür sie ihm schon sehr dankbar ist, denn heute läuft sie nicht mehr tagelang mit vollgestopftem, angeschwollenem Bauch herum, bis die Darmentleerung endlich einsetzt. Michael der Reizdarmspezialist. Seit sie seine Müslimischung nimmt, hat sich ihr Stuhlgang wesentlich verbessert. Die Liste der Ursachen eines Darmverschlusses ist unendlich lang und nicht selten auch psychosomatischer Natur. Zu schade, dass die sich an die anale Phase ihrer Kindheit nicht mehr entsinnen kann.
Bedachte ihre Mutter sie mit einem Lächeln oder einem angewiderten Gesichtsausdruck, wenn sie die Windeln wechselte? Lange erfüllte es Elisabeth mit einer heimlichen Freude, im Badezimmer nicht täglich diese unangenehmen Düfte verströmen zu müssen. Lieber hielt sie sich zurück und vergiftete ihren Körper mit den Ausscheidungen eines vollen Darms. Doch das ist nun vorbei, und sie verdankt es ihrem Reizdarmspezialisten, Michael. Die Wahnvorstellungen des Afterfesthaltens scheinen kuriert zu sein.
Kaum ist sie mit dem Müsli fertig, klingelt das Telefon. Wenn sie doch die Nummer des Anrufers auf dem Display erkennen könnte! Aber dafür bräuchte sie ein modernes schnurloses Telefon, das momentan nicht unbedingt erforderlich ist.
Schwungvoll hebt sie den Hörer ab und versucht dabei ihre Erwartungshaltung bezüglich eines Engagements oder Auftrages zu bremsen. Die wichtigen Anrufe kommen sowieso immer völlig unerwartet, wenn sie gerade erschöpft, übermüdet und nicht richtig aufnahmefähig ist. Trotzdem hofft sie insgeheim, es könnte ihre Agentin sein.
Für Cristinas Lamentieren hat sie momentan wirklich kein Verständnis. Ihre Stimme klingt schrill und gereizt, und der Grund liegt auf der Hand, denn sie hatte gestern ein ‚blind date‘ mit einem Typ aus dem Internet, und laut gestriger SMS, die sie ihrer Freundin immer schickt, wenn sie sich mit einem Unbekannten trifft, als Rückversicherung, falls es sich dabei um einen Serienkiller handeln sollte, lag er mit der Note 2 ziemlich weit unten. Christina hat die Angewohnheit, allen Typen eine Note zwischen 0 und 10 zu verpassen. 9 ist der Frosch, der dabei ist, sich in einen Prinzen zu verwandeln, und die Note 1 ist der Schlappschwanz vor dem Einsturz. Kommt kurioserweise viel zu oft vor. Sie muss also schon wieder eine Niete gezogen haben, denkt sich Elisabeth, als sie ihre grantige Stimme hört, „Hi, na wie geht’s?“.
Dies ist eindeutig nur eine Floskel, die keinerlei Interesse an Elisabeths Wohlbefinden verrät. Aber man fällt ja nicht immer gleich mit der Tür ins Haus. Schließlich kommt Cristina aus einer Diplomatenfamilie und gehört genau genommen zur privilegierten Gesellschaftsschicht. Sie hat die besten Internate Frankreichs, Italiens und Deutschlands besucht. Trotzdem hat sie schon immer eine Schwäche für leicht debile Prolotypen gehabt. Vielleicht das Gegenstück ihres erfolgreichen und preußischen Vaters, der seine erste Frau, eine feurige Italienerin, gegen eine um zwanzig Jahre jüngere und wohlhabendere Italienerin eingetauscht hatte, und somit Cristinas traumatische Pubertät und gestörte Männerbeziehungen auf dem Gewissen haben muss. Gelegentlich schien es Elisabeth, als ob ihre Freundin auf dem Stand eines achtjährigen Mädchens stehengeblieben wäre, und auf die lang ersehnte Bestätigung ihres Vaters wartete, um weiter zu wachsen.
Cristinas Talent und Ehrgeiz haben für eine Karriere als Filmregisseurin nicht ausgereicht, und sie musste sich von diesem Berufswunsch verabschieden.
Es gab auch oft kleinere Einbrüche ihrer Freundschaft, die am Set eines Kurzfilms begann, aber nicht ganz frei war von Neid und Kapriolen. Cristina entschuldigte sich rasch für ihre zickige Art, hegte ihren Groll nicht allzu lang und ihre intelligente Loyalität, Treue und wertvollen Ratschläge gepaart mit einer ebenfalls launischen Herzlichkeit, haben Elisabeth von einem endgültigen Bruch bis zum jetzigen Tag abgehalten.
„Also, der Typ gestern war fade, deutsches Muttersöhnchen. Das ist mein Problem. Ich hab's mit den deutschen Männern einfach nicht. Seine Mami übrigens hat da auch ein Wörtchen mitzureden. Mami ist so toll und so fit mit ihren achtundachtzig Jahren. Er fährt einmal im Jahr mit Mami in Urlaub...ist ihm wichtig.“
„Oh, verstehe! Wieso hast du dich nicht schnell aus dem Staub gemacht? “
Elisabeths Stimme klingt leicht quietschend.
„Dann beharrte er drauf, dass „Die Wasserschildkröte“ einen Oscar bekommen haben soll. Aber als ich mit ihm um ein Abendessen wetten wollte, machte der Geizkragen sofort einen Rückzieher. Hat mir nicht mal den Drink bezahlt. “
Elisabeth hat diesbezüglich eine neue Theorie, die sie vermuten lässt, dass Cristina nicht wirklich einen Partner sucht, sondern eher einen Mann, der ihr bezeugt, wie gräulich das männliche Geschlecht sein kann. Zugegeben, der Vulkan unter den Männern brodelt und gärt. Davon kann ihre Zuhörerin auch ein Liedchen singen.
Aber jetzt lieber Thema wechseln, denkt Elisabeth, denn diese Gespräche über katastrophale ‚blind dates‘ hinterlassen einen bitteren Nachgeschmack. Wünsche und hohe Erwartungen werden enttäuscht, und die Folge sind Depressionen angesichts des mangelnden Angebots an psychisch Stabilen. Einen perfekten Mann gibt's nur bei Otto Versand auf Bestellung und der hat auch längst Pleite gemacht. Die Illusion 'Mr Right' könnte so aus dem Nichts auftauchen, dir alle Sorgen abnehmen, dich zu seiner Prinzessin küren, kann nicht funktionieren, weil du ständig dieser Idee hinterherläufst und nie stehenbleibst und guckst, wenn dir beispielsweise einer den einzigen freien Stuhl im Restaurant anbietet, dich großzügig in einer langen Schlange vorlässt oder liebevoll zuhört, wenn du jemanden brauchst. Elisabeth hat Cristina des Öfteren gewarnt und ihr geraten, ihre Erwartungen herunterzuschrauben, aber vielleicht braucht Cristina diesen Kick, ständig auf hartem Boden zu landen, um dann wieder aufzustehen. Soll sie ihre Erfahrungen machen, aber Wiederholungstäter werden auf Dauer öde. Elisabeth spürt ihre Ungeduld.
In solchen Fällen schadet eine direkte Bemerkung nicht, wenn sie mit einer Prise Takt einhergeht. Nicht unbedingt eine von Elisabeths Stärken.
„Komm endlich runter! Das führt zu nichts, kapier's doch endlich! Entspann dich, sonst surfst du noch mit siebzig in der Internetseite ‚Seele gesucht’ …Warum vergeudest du deine Zeit auch immer mit diesen Psychos…? Du wirst noch selbst eine...“
Es kam wie aus der Kanone geschossen. Sie wollte doch nur einen Witz machen, kriegte aber dann nicht mehr die Kurve.
„Hast du vielleicht noch was Nettes auf Lager?“ ertönt die Stimme am Ende der Leitung, „Und was ist mit dir und deiner chronischen Sucht nach manisch-depressiven Männern, wie dem Kris!“.
Typisch, warum muss sie immer so rachsüchtig kontern, denkt sich Elisabeth. Diese zickige Art ist ihr unappetitlich, doch sie will ihre Freundin auch nicht vergraulen.
„Was hat denn Kris damit zu tun? Sorry, war nicht so gemeint, aber du versteifst dich viel zu sehr auf diese Internetseite.“
Nicht dass sie eine Patentlösung hätte, Sucht, animalische Bedürfnisse und Liebe auseinander zu dividieren. Sie selbst wurde gezwungen sich in ihrem Single-Dasein zu arrangieren, nachdem sie endlich von einem höllischen Karussell heruntergesprungen war.
Während Elisabeth versucht, Cristina wieder aufzubauen, spürt sie, wie sich ihr After öffnet, und der Dick- oder vielleicht Dünndarm (?) sie vor dem 'Anmarsch' warnen. Das zu unterdrücken wäre fatal. Mittlerweile weiß sie über die verheerenden Konsequenzen des Blockierens Bescheid, aber wie soll sie in diesem Moment das Gespräch abwürgen, ohne Cristina zu verletzen?
Die Telefonschnur reicht nicht bis zum Badezimmer. Kein schnurloses Telefon. Ein paar Mal, als sie im Kaufhaus davorstand, zog sie es zögerlich in Betracht, zuzugreifen. Für Michael, den Fernneurotiker, hatte sie sich sogar einige Modelle angeschaut, weil er mit ihr immer nachts vom Bett aus telefonieren wollte, und beinahe wäre es eines Abends passiert,: Telefonsex. Er hatte sich aber nie richtig getraut, damit anzufangen. Der Anfang sollte wohl von ihr kommen, aber er löste bei ihr kein Quäntchen an Vulgarität aus. Sie kämpften beide krampfhaft gegen die Disharmonie ihrer Charaktere. Er pfiff Pop und sie pfiff soul. Jetzt assoziiert sie schnurlose Telefone mit unbefriedigtem Telefonsex und Zwangsneurotikern. Aus diesem Grund kommt ihr kein schnurloses Telefon ins Haus.
Jeder kennt diese komischen elektromagnetischen Störungen am Festnetztelefon, wenn ein Handy zu klingeln beginnt. „Oh, nein, mein Handy! Du, Cristina, ich muss rangehen, denn es könnte meine Agentur sein. Ruf gleich zurück.“
In der Tat gibt es Menschen, die dein Dilemma im entscheidenden Augenblick ahnen. Sie tippt auf Marie. Marie, die Berührungsfetischistin. Dann, wenn sie eine kleine Umarmung so nötig hatte, überraschte sie Marie mit einer generösen Geste.
Nummer unterdrückt. Stutzig aber erleichtert, dass sie Cristina so schnell abwürgen konnte, greift sie nach dem Handy und rennt ins Badezimmer. Kaum lässt sie die Vorahnung zu, die nichts Gutes verheißt, erklingt seine Stimme im Hörer.
„Hallo mein Liebes. Ich bin’s, Kris. Wie geht’s dir?“
Elisabeth erkennt Kris' Stimme sofort. Sie merkt regelrecht wie ihr das Blut in den Kopf steigt, ihr Herz schneller schlägt während der Klang seiner Vokale sie wie eine warme Glocke einhüllt.
„Ah, Kris!? Danke gut…und dir? Was treibst du so? “
Blöde Frage. Erst gestern trafen sie sich nach mehreren Monaten Funkstille wieder. Beruflich tut sich momentan recht viel bei ihm, na, ja, laut eigener Berichte, die immer mit Vorsicht zu genießen sind.
„Ich wollte mich nur noch mal bedanken. Es war sehr schön, dich wieder zusehen. Wo bist du denn gerade?“
„Ich bin zu Hause.“ Will er es genau wissen? Vielleicht hat er die Klospülung gehört, denkt sie sich und versucht ungewollte Geräusche, so gut wie möglich zu unterdrücken.
„Muss hier noch was erledigen….“ Jetzt sofort Thema wechseln, schießt es ihr in den Kopf. „Ich bin so froh für dich, dass nun Aufträge reinkommen, und drück dir fest die Daumen. Diese Musikagentur klingt spannend, und du hast das 'Know how' und die richtige Intuition dafür…“
Plumps, da fiel gerade das erste Häufchen.
Sie spürt eine Mischung aus Verlegenheit, Peinlichkeit und einer gewissen Aufregung während sie auf der Klobrille hockt und mit ihm spricht, was wiederum auch den Entleerungsprozess gewaltig beschleunigt. Vor Premieren oder Vorstellungen arbeitet ihr Dickdarm ebenfalls sehr emsig und fleißig.
„Hört sich rosiger an, als es ist, und bedeutet ne Menge Arbeit….Und du? Wann geht’s wieder auf die Bühne? Irgendwelche Pläne? Du weißt, wie gern ich dir zugucke...“