Mein Lesesommer - Joachim Leberecht - E-Book

Mein Lesesommer E-Book

Joachim Leberecht

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Beschreibung

In Mein Lesesommer versucht der Autor, seine umfangreiche Sommerlektüre des Jahres 2024 mit seinem Leben und seiner Sicht auf aktuelle gesellschaftliche Prozesse in Verbindung zu bringen. Es geht hier nicht um möglichst sachliche und umfassende Rezensionen der vorgestellten Bücher, sondern primär um die Frage, welche Resonanz das Gelesene hervorruft. Joachim Leberecht versteht Mein Lesesommer als ein Beispiel für existenzielles Lesen. Viele der zwölf besprochenen Bücher sind Neuerscheinungen der Jahre 2023 und 2024.

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Seitenzahl: 51

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Für Theo und Mattis

Bücher des Lesesommers (in chronologischer Reihenfolge)

Dana Vowinckel: Gewässer im Ziplock

Annie Ernaux: Das andere Mädchen

Rosa Liksom: Über den Strom

Judith Hermann: Wir hätten uns alles gesagt

Karl Ove Knausgard: Das dritte Königreich

Agi Mishol: Gedicht für den unvollkommenen Menschen

James Baldwin: Nach der Flut das Feuer, >The Fire Next Time<

Emmanuel Carrère: V13. Die Terroranschläge in Paris. Gerichtsreportage

Regina Ullmann: Gedichte

Joseph Roth: Hiob. Roman eines einfachen Mannes

Helena Adler: Miserere. Drei Texte

Marion Messina: Die Entblößten

Hiroko Oyamada: Das Loch

Vorwort

Im Laufe meiner Leseexistenz habe ich schon viele Romane rezensiert. Das Schreiben von Rezensionen macht mir Freude und hilft mir, ein Werk zu durchdringen. Das Projekt Mein Lesesommer ist eine Fortsetzung dieser Leidenschaft, jedoch unter einem besonderen Vorzeichen. In Mein Lesesommer versuche ich, meine Sommerlektüre des Jahres 2024 mit meinem Leben und meiner Sicht auf aktuelle gesellschaftliche Prozesse in Verbindung zu bringen. Es geht hier nicht um möglichst sachliche und umfassende Rezensionen der vorgestellten Bücher, sondern primär um die Frage, welche Resonanz das Gelesene in mir hervorruft. Ich verstehe Mein Lesesommer als ein Beispiel für existenzielles Lesen.

Der gewählte Zeitraum, der Sommer, war zufällig, hat sich aber, da ich gerade an langen Sommer- und Urlaubstagen viel zum Lesen komme, als günstig erwiesen. Die Auswahl der Literatur entspricht meiner Neigung für Romane und andere Texte, die das Leben in seinen Höhen und Tiefen ausloten. Zwei Werke hatte ich zur Vorbereitung eines regionalen Literarischen Quartetts über jüdische Literatur in der Gegenwart zu lesen, ein umfangreicher Band stand sowieso auf meiner Sommerleseliste. Da ich mich gern auf Buchempfehlungen, meist aus dem Radio, einlasse, sind viele der hier vorgestellten Bücher Neuerscheinungen der letzten beiden Jahre.

Joachim Leberecht, im Frühjahr 2025

Wissant, den 13. Juli 2024

Dana Vowinckel: Gewässer im Ziplock

Heute habe ich mit Dana Vowinckels Roman Gewässer im Ziplock begonnen. Sie erzählt verdichtet eine jüdische Familiengeschichte und trifft dabei einen Ton, der viele schöne Seiten verheißt. Die Sprache und das Thema locken mich.

Schon ihr erster Satz eröffnet die Welt des Romans: „Einmal war er noch für Kiddusch geblieben, ein großes Abendessen nach dem Gebet am Freitagabend“ (7). Wie natürlich Dana Vowinckel von der religiösen jüdischen Praxis im gegenwärtigen Berlin erzählt, beeindruckt mich: „Sein Verhältnis zu Gott war nie so friedlich wie dann, wenn er an ihn dachte als Freund, als Begleiter seiner Stimme, ruhig und sanft" (9).

Wissant, den 16. Juli 2024

Gewässer

Ich mag die Art, wie Dana Vowinckel das Leben von Avi, einem jüdischen Kantor, beschreibt. Er ist ein ernster, leicht depressiver Vater, der als Chasan (Kantor) und Person ganz im jüdischen Festjahr aufgeht, täglich Psalmen singend betet, in den Synagogen Berlins die Liturgie als Vorbeter singt und das gemeinsame Gebet anleitet. Seine Singstimme ist für ihn die tiefste Verbindung mit Gott. Neben seiner religiösen Innerlichkeit nimmt die Sorge des alleinerziehenden Vaters um seine fünfzehnjährige Tochter Margarita den größten Teil seines Seelenlebens in Beschlag. Avi spürt schmerzhaft, wie die enge Vertrautheit mit seiner Tochter bröckelt.

Dana Vowinckel erzählt die Geschichte des Vaters und Margaritas parallel. Margaritas Geschichte ist ein Roadmovie und eine Coming-Out-Geschichte von Berlin über Chicago nach Jerusalem.

Zurzeit ist sie zu Besuch bei ihrer Mutter Marsha in Jerusalem, die dort einen Forschungsauftrag angenommen hat. Beide sind sich fremd und Fremde in Israel. Margarita folgt ihrer Intuition und ihrem sexuellen Erwachen. Sie teilt dieses geheime Leben nicht mit dem fernen, sich sorgenden Vater und der kühlen, distanzierten Mutter. Dana Vowinckel gelingt es, mich in das Seelengefüge von Avi, Marsha und Margarita durch ihr sinnliches Erzählen hineinzunehmen. Es entstehen echte Menschen vor meinen Augen. Das ist Erzählkunst, wie ich sie liebe.

Wissant, den 19. Juli 2024

Gewässer

Avi nimmt sich Urlaub und fährt auf die Insel Spiekeroog, wo er mit der hochschwangeren Marsha die Flitterwochen verbracht hat. Immer wieder erinnert er sich an einzelne Szenen und den zärtlichen Sex mit Marsha. Überraschend will ihn nun Hannah besuchen. Vor ein paar Wochen hatten sie sich nach der Trauerfeier ihres Vaters kennen gelernt. Zwischen Hannah und Avi gibt es zarte Schwingungen. Hannah will mehr über ihren Vater wissen, der bei Avi Hebräisch gelernt hat, um einmal im Synagogengottesdienst aus der Tora vorzulesen. Das passt gar nicht in das Bild, das Hannah von ihrem Vater hat. Ihr Vater war nach den KZ-Erfahrungen bekennender Atheist. Die jüdischen Rituale spielten in ihrer Familie keine Rolle. Auf der einen Seite ist Hannah von der Selbstverständlichkeit, wie Avi die jüdischen Rituale ungebrochen im Alltag lebt, fasziniert, auf der anderen Seite fordert sie Avi heraus, indem sie den Sinn in Frage stellt, heute jüdisch zu leben. Höhepunkt des Gesprächs ist für mich Avis Antwort auf ihre Frage: „‘Glaubst du, Gott hat uns zu etwas Besserem geschaffen als die Möwen?' Aus Hannahs Mund klang Gott wie eine Beschimpfung.“ Avi spürt in sich hinein und nimmt wahr: „Der Gesang verpflichtete ihn, zu glauben. Denn die Worte, die er singen durfte, die sein Beruf waren, es waren Worte, die ihm den Sinn der Welt aufschlossen und manchmal sogar den Unsinn, das Glück und den Schmerz“ (159).

Wissant, den 20. Juli 2024

Gewässer

Avi lebt durch die Worte der Tora. Seine Stimme macht das Wort lebendig, sein rhythmisch schwankender Körper verleiblicht die Tora. „Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde. Die Erde aber war Irrsal und Wirrsal. ... Gott sprach: Licht werde. Licht ward“ (Genesis 1,1f nach der Übersetzung Buber/Rosenzweig). Durch sein Wort ordnet Gott das Chaos, nennt das Licht Tag und die Finsternis Nacht, schafft das Leben durch sein Schöpferwort. Avis Glaube entspringt aus dem Wort. Wie Dana Vowinckel Avis Erfahrungstheologie als Wort-Gottes-Erfahrung skizziert, sind meiner Erfahrung als Liturg und Prediger überraschend ähnlich. Ich sehe es als großes Glück an, dass ich mich als Gemeindepfarrer mit biblischen Texten auseinandersetzen muss. Gottes Wort mutet sich mir zu, stellt mich in Frage, ermutigt mich, birgt mich und hält meine Beziehung zu Gott lebendig. Ich glaube, dass der radikale Bezug auf das Wort – durch das Gott zu uns spricht und zugleich wir Gott für die Welt offenhalten – das große Geschenk der jüdischen Religion an das Christentum und den Islam ist. Mir ist