Meister Eckhart - Joel F. Harrington - E-Book

Meister Eckhart E-Book

Joel F. Harrington

0,0
24,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die große Biographie des berühmten deutschen Mystikers

Er ist der Ahnherr der Selbsthilfephilosophie, der Guru der New Age-Bewegung, die Millionen von Anhängern hat: Meister Eckhart, Dominikaner, Mystiker und Philosoph. Doch wer war der Mann hinter den Lehren, die nach sieben Jahrhunderten noch Menschen begeistern? Wie sind seine Ideen entstanden? Der Mönch aus Thüringen zeigte damals, dass nur der persönliche Weg zu Gott zum Seelenheil führt und predigte, dass diese spirituelle Erfahrung allen möglich war, die die innere Haltung des Loslassens („Gelâzenheit“) einnahmen. Dieses verblüffend moderne Denken brachte den Mönch Eckhart in Konflikt mit der Kirche, die sich von der Sprengkraft seiner Ideen herausgefordert fühlte. Der Historiker Joel F. Harrington hat sich auf die Spuren des bedeutenden Mystikers begeben und lässt in seiner Biographie eine der faszinierendsten Figuren des Mittelalters auferstehen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 626

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die große Biografie des berühmten deutschen Mystikers

Er ist der Ahnherr der Selbsthilfephilosophie, der Guru der New-Age-Bewegung, die Millionen von Anhängern hat: Meister Eckhart, Dominikaner, Mystiker und Philosoph. Doch wer war der Mann hinter den Lehren, die nach sieben Jahrhunderten noch Menschen begeistern? Wie sind seine Ideen entstanden? Der Mönch aus Thüringen zeigte damals, dass nur der persönliche Weg zu Gott zum Seelenheil führt, und predigte, dass diese spirituelle Erfahrung allen möglich war, die die innere Haltung des Loslassens (»Gelâzenheit«) einnahmen. Dieses verblüffend moderne Denken brachte den Mönch Eckhart in Konflikt mit der Kirche, die sich von der Sprengkraft seiner Ideen herausgefordert fühlte. Der Historiker Joel F. Harrington hat sich auf die Spuren des bedeutenden Mystikers begeben und lässt in seiner Biografie eine der faszinierendsten Figuren des Mittelalters auferstehen.

Joel F. Harrington ist Professor für Europäische Geschichte an der Vanderbilt University. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Sozialgeschichte, vor allem zur Zeit der Reformation und der Frühen Neuzeit in Deutschland. Für seine Forschung hat er zahlreiche Förderungen erhalten, darunter von der Fulbright-Hayes Foundation und der John Simon Guggenheim Foundation. Harrington hat in Nordamerika und Europa gelehrt und war u. a. Fellow der American Academy in Berlin sowie Gastprofessor in Cambridge und an der Universität Erlangen-Nürnberg. Harrington ist Autor zahlreicher Publikationen, darunter The Unwanted Child (2009), ein preisgekröntes Buch über Findelkinder, Waisen und jugendliche Kriminelle in der frühen Neuzeit. 2014 erschien Die Ehre des Scharfrichters. Meister Frantz oder ein Henkersleben im 16. Jahrhundert.

»Meisterhaft ausgeführt.« Chicago Tribune

»Eindrucksvoll.« Publishers Weekly

»Unglaublich gut recherchiert und flüssig geschrieben.« Kirkus Review

Besuchen Sie uns auf www.siedler-verlag.de

Joel F. Harrington

Meister

Eckhart

Der Mönch, der die Kirche

herausforderte und seinen

eigenen Weg zu Gott fand

Aus dem Englischen von

Norbert Juraschitz und Andreas Thomsen

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel

Dangerous Mystic: Meister Eckhart’s Path to the God Within bei Penguin Press.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Copyright © 2018 by Joel Harrington

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021

by Siedler Verlag, München

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Manuela Knetsch

Umschlaggestaltung: Favoritbuero, München

Umschlagabbildungen: © Fine Art Images/Heritage Images/

Getty Images; © nicoolay/Getty Images

Karten: Gene Thorp

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-21103-5V001

www.siedler-verlag.de

Für Beth

Inhalt

Prolog

TEIL I

Die Welt loslassen

Der Mönch

1. Das edle Herz

Der junge Eckhart verinnerlicht das ritterliche Ideal einer höheren Liebe

2. Heldenhaftes Christentum

Der junge Eckhart sucht reine Spiritualität in der spätmittelalterlichen Welt der Religion

3. Die dominikanische Art und Weise

Eckhart tritt in den Priesterorden in Erfurt ein

4. Die rechte Geisteshaltung

Prior Eckhart lehrt junge Mönche das innere Wesen wahrer Religion

TEIL II

Gott loslassen

Der Gelehrte

5. Die Lehre von Gott

Eckhart beginnt ein Studium der Theologie an der Universität von Paris

6. Meister der Lehre

Eckhart wird ein geschickter Scholastiker

7. Den unerkennbaren Gott erkennen

Eckhart übernimmt die negative Theologie und intuitives Wissen

TEIL III

Sich selbst loslassen

Der Prediger

8. Verderbte Frauen

Eckhart begegnet den Nonnen und Beginen von Straßburg

9. Meister des Lebens

Eckhart passt seine Lehren an ein breites Publikum an

10. Der weglose Weg

Eckhart predigt über das Erreichen einer Einheit mit Gott

11. Leben ohne Warum

Eckhart predigt über das Leben und die Moral nach der Einheit mit Gott

TEIL IV

An der Religion festhalten

Die geistige Ikone

12. Teufelssaat

Eckhart ringt mit den Inquisitoren in Straßburg und Avignon

13. Der Mann, vor dem Gott nichts verbarg

Eckharts Ruf und Vermächtnis bis heute

Epilog

Dank

Empfohlene Literatur

Wichtige Namen und Begriffe

Abkürzungen

Anmerkungen

Bildnachweis

Manche Menschen suchen Wissen um des Wissens willen; das ist Neugier. Andere suchen nach Wissen, um von anderen geschätzt zu werden; das ist Eitelkeit. Es gibt Menschen, die wissen wollen, um zu erbauen, und das ist [ein Ausdruck von] Liebe.

Bernhard von Clairvaux (1090–1153)1

Prolog

Der Gegensatz zwischen dem gegebenen Rahmen und der Botschaft hätte kaum größer sein können. Man schrieb das Jahr 1318; der Ort war das Liebfrauenmünster in der deutschen Stadt Straßburg, der Anlass eine gewöhnliche Sonntagmorgenmesse.2 Der Mann, der in Kürze sprechen sollte, war Eckhart von Hochheim, der Nachwelt besser bekannt als Meister Eckhart. Rund 300 Männer und Frauen saßen schweigend auf den Holzbänken. Einige murmelten lateinische Gebete, während sie die erst kürzlich erfundenen Gebetsperlen, den sogenannten Rosenkranz, durch die Finger gleiten ließen. Die meisten warteten still, ihr Blick ruhte auf dem Priester mittleren Alters, der mit ernster Miene links vom Altar saß. Sein Haupt war nach der üblichen Tonsur der Mönchsorden rasiert, der Mann selbst auffällig gekleidet – er trug die bestickten, grünen Gewänder der liturgischen Jahreszeit.

Während der langen Pause, die nach der Schriftlesung folgte und der Besinnung dienen sollte, ließen wohl etliche Mitglieder der Gemeinde ihren Blick über die Wunder der prächtigen Kathedrale schweifen, von denen sie umgeben waren. Fast ein Jahrhundert lang war die erste Kirche, die man in einem Stil errichtet hatte, den man später romanisch nennen sollte, nach und nach in eine Kirche des »französischen Stils« umgebaut worden, der heutigen Gotik. Außen liegende Streben und andere bautechnische Wunderdinge hatten es den Erbauern der Kathedrale ermöglicht, zu hohen Bögen und dünnen, weitgehend als Schmuck dienenden Säulen überzugehen, sodass der Innenraum der Kirche gleichsam steil und dramatisch aufwärts, zu Gott hin, zu streben schien. Hell gefärbte Buntglasfenster erzählten Geschichten von Heiligen und Märtyrern und warfen regenbogenfarbene Strahlen des Morgenlichtes auf die Gemeinde. Weihrauchschwaden von der Eröffnungsprozession der Messe schwebten im Sonnenschein und erfüllten die Luft mit ihrem mild-süßlichen, jenseitigen Duft.

Manche Mitglieder der Gemeinde mochten, während sie noch darauf warteten, dass der Zelebrant das Wort an sie richtete, die Wandverkleidungen und Plastiken an den Seiten des Kirchenschiffs begutachtet haben, die ebenfalls an heilige Vorgänger erinnerten. Die bekannteste darunter war die »Liebe Frau«, die heilige Jungfrau Maria und Schutzherrin der Kathedrale, doch keineswegs alle Bilder spendeten Trost. Viele stellten schreckliche Todesqualen dar, die im Dienst des Herrn erduldet worden waren, allen voran das riesige Kruzifix, das über dem Hauptaltar hing. Eine Säule – der sogenannte Engelspfeiler – ermahnte die Versammelten an ihr eigenes bevorstehendes Ableben und an ihr Schicksal im Jenseits. Übergroße Figuren der vier Evangelisten schmückten die Säule, gekrönt von vier Engeln, welche die Posaunen des Jüngsten Gerichts bliesen. Darüber wiederum sah man drei Engel und einen leidenden Jesus, der bereit war, über die verstorbenen Seelen zu urteilen. Im Gegensatz zu diesem beunruhigenden Bild glänzte der Altar vor verzierten Reliquienschreinen, die jeweils einen Knochensplitter oder einen auf wundersame Weise erhaltenen Körperteil eines verehrten Heiligen zur Schau stellten – ein Anblick, der, so grausig er nach heutigen Standards auch sein mag, für Christen des Mittelalters eine unfehlbare Aura der Geborgenheit und Heiligkeit ausstrahlte.

Detail des Engelspfeilers im Südquerhaus des Straßburger Liebfrauenmünsters. Die Engel blasen die Posaunen, die das Jüngste Gericht der Lebenden und der Toten ankündigen – und damit das endgültige Schicksal der ewigen Belohnung oder Strafe für jede Seele.

Schließlich erhob sich Meister Eckhart. Alle Augen wandten sich dem Priester zu, während er gemessenen Schrittes die Stufen zur Kanzel hochstieg. Für die meisten Menschen in der Gemeinde war er ein Fremder, ein eigens eingeladener Gast, aber nahezu alle Anwesenden kannten seinen bemerkenswerten Ruf. Der strikt im geistlichen Orden der Prediger – oder Dominikaner – geschulte Priester studierte bereits seit Jahrzehnten die Bibel und die Theologie und hatte sogar schon zwei Mal an der Universität von Paris gelehrt, der angesehensten theologischen Fakultät der christlichen Welt. Er war unbestreitbar ein überaus gebildeter Mann. Aber Eckhart war auch für seine verzaubernde Redekunst bekannt. Er galt als jemand, der die jahrhundertealte Weisheit selbst dem einfachsten Zuhörer vermitteln konnte. Mit seinem überaus einnehmenden Wesen war der leicht untersetzte Mönch laut seinen Bewunderern imstande, die wahren Frommen unter ihnen zu einer unmittelbaren, persönlichen Erfahrung Gottes selbst zu leiten.

Der Bibeltext, der als Ausgangsbasis für die Predigt diente, stammte aus dem Buch der Weisheit (18,14–15): »Als tiefes Schweigen das All umfing und die Nacht in ihrem Lauf bis zur Mitte gelangt war, da sprang dein allmächtiges Wort vom Himmel, vom Königsthron herab.«3 Nach der Übersetzung des Verses aus dem Lateinischen ins Deutsche, der Sprache seiner Zuhörer, referierte der Prediger in der Umgangssprache über die Geburt des Wortes – eine beliebte Metapher für das Erscheinen Jesu auf Erden. Aber Eckhart sprach nicht von Eseln, Ställen, Hirten oder Engeln. Die Geburt, die dieser Prediger beschrieb, war die »ewige Geburt«, die Gegenwart Gottes auf Erden, nicht nur in der Person des Jesus von Nazareth oder im geweihten Brot und Wein der Eucharistie, sondern als greifbare Präsenz, die in die Seele eines jeden Gläubigen einzog, der ausreichend vorbereitet war. Man brauche gar nicht den Priester, um Brot und Wein in den Leib und das Blut Jesu zu verwandeln, erklärte er. Man müsse weder ein Mönch noch eine Nonne oder auch nur ein gebildeter Mensch sein. Nein, betonte Eckhart, jeder, der geistig bereit sei, könne die Geburt Gottes direkt in seiner eigenen Seele erleben.

Wie kann das sein?, dürften sich die meisten Zuhörer gefragt haben. Soweit sie wussten, waren seit den Tagen des Heilands nur sehr wenige heilige Menschen mit echten Visionen oder anderen direkten Begegnungen mit Gott gesegnet worden. Aber Eckhart betonte nachdrücklich: Die authentische Erfahrung des Göttlichen, die er beschrieb, hänge nicht von Erscheinungen, besonderen Kräften oder außergewöhnlichen Taten der Frömmigkeit ab. Sie sei nicht an bestimmte heilige Orte oder Rituale gebunden. Vielmehr erfordere die »ewige Geburt« eine entsprechende Geisteshaltung, eine Seele, die gelernt habe, von allen weltlichen Dingen, allen Wünschen und vorgefassten Meinungen, sogar vom Bild Gottes selbst loszulassen. »Je mehr du alle deine Kräfte zusammenziehen und alle Dinge und ihre Bilder vergessen kannst, die du je in dich gezogen hast, und je mehr du dich von den Geschöpfen und ihren Bildern entfernst, um so näher bist du diesem und um so empfänglicher [dafür].« Dann werde, so Eckhart, »mitten im Schweigen« Gott in ihre Seelen einziehen.4

Nach mehr als 20 Minuten kam der Prediger allmählich zum Schluss. »Der Sohn des himmlischen Vaters«, wiederholte er, »wird nicht allein in dieser Finsternis geboren, die ›sein Eigen‹ ist. Vielmehr: du wirst auch dort als Kind desselben himmlischen Vaters geboren und nicht als eines anderen [Vaters], und Er gibt [auch] dir diese Macht.« Der Schlüssel liege darin, »dass du dich deiner selbst beraubst und all dessen, was äußerlich ist, das gibt es dir in der Wahrheit. Und in der Wahrheit«, fuhr er fort, »glaube ich das und bin dessen sicher, dass dieser Mensch, der darin recht stünde, niemals mehr von Gott geschieden werden könnte, niemals, in keiner Weise. Ich spreche, er kann in keiner Weise in Todsünde fallen […] [solche Menschen] können keine lässliche Sünde begehen oder willentlich an sich selber noch auch an anderen Leuten zulassen, wo sie es verhindern können.« Der Prediger ließ den Blick über das Publikum schweifen. »In diese Geburt helfe uns Gott, der jetzt als Mensch geboren ist, dass wir schwache Menschen in ihm auf göttliche Weise geboren werden. Amen.«5 Er wandte sich um, schritt die Kanzelstufen hinab und begab sich an seinen Platz neben dem Altar. Die Kirche blieb von tiefer Stille erfüllt.

Diese Predigt war ganz anders als all das, was die Leute bisher innerhalb der Mauern des Münsters gehört hatten. Nach 40 Jahren der Kontemplation und des Studiums nutzte der geschätzte Mönch und Theologe seine Berufung in diese wichtige Stadt, um dem einfachen Volk seine spirituelle Weltanschauung zu predigen. Schon allein der Umstand, auf diese Weise zu gewöhnlichen Frauen und Männern über »höhere Dinge« zu sprechen, war bemerkenswert – ein Unterfangen, das von den meisten Priestern und Gelehrten jener Zeit höhnisch belächelt wurde. Noch provokativer war jedoch die radikale Botschaft, die Eckhart übermittelte. Auch wenn er die äußeren Formen der Frömmigkeit im unmittelbaren Umfeld nicht schlecht machte – immerhin war er gerade dabei, eine Messe zu feiern –, war Eckharts Fokus auf das Innere, auf das Denken gerichtet, höchst ungewöhnlich und für viele Zuhörer womöglich sogar beunruhigend. Die Kirche, die sie kannten, predigte, dass das Heil eines jeden Menschen vom Vollbringen guter Taten und von reuevollen Handlungen der Buße abhänge – doch in Eckharts Lehre fehlten diese Dogmen völlig. In der Kirche, die sie kannten, drehte sich alles um die Verehrung der Heiligen und die Verabreichung der Sakramente – aber diese spielten in der von Eckhart beschriebenen inneren Selbst-Transzendenz keine nach außen ersichtliche Rolle. Die Kirche, die sie kannten, ging davon aus, dass Mönche, Nonnen und andere kontemplative Menschen Gott näher seien – aber Eckhart predigte, dass die direkte Erfahrung Gottes für jeden wahren Suchenden, unabhängig von seinem sozialen oder religiösen Status möglich sei. Und, was noch erstaunlicher war, er schien zu behaupten, dass der Effekt dieser göttlichen Einheit von Dauer sei, ja, dass er dem Gläubigen, der sie erlebte, einen ewigen Zustand der Schuldlosigkeit und der Glückseligkeit garantiere.

Das mag den Gemeindemitgliedern an jenem Tag wie eine inspirierende Neuigkeit vorgekommen sein, doch hatte sie nichts mit all jenen Beschreibungen des Heils zu tun, die sie in ihrem Leben bisher gehört hatten. Obwohl Eckhart selbst der Meinung war, dass seine Lehre mit denen der Kirche übereinstimme, teilten andere in dieser Einrichtung seine Auffassung nicht. In den folgenden Jahren sollte dieser studierte Mönch und begnadete Prediger schließlich erleben, dass ein großer Teil seiner Theologie von einer päpstlichen Inquisition verurteilt wurde, dass seine Lehren offiziell unterdrückt und seine Anhänger zerstreut wurden.

Überspringen wir sieben Jahrhunderte, so präsentiert sich uns Meister Eckhart – nach vielen Jahrhunderten in relativer Vergessenheit – als eine Art spirituelle Berühmtheit. Millionen römisch-katholischer und anderer Christen reklamieren den rehabilitierten Prediger für sich, ganz zu schweigen von vielen Zen-Buddhisten, Sufi-Muslimen, Advaita-Vedanta-Hindus, jüdischen Kabbalisten und einer bunten Palette anderer Sucher, die sich selbst als spirituell, aber nicht als religiös bezeichnen. Sogar viele eingeschworene Atheisten wie Martin Heidegger und Jean-Paul Sartre haben die spekulative Philosophie des Meisters bewundert und dazu beigetragen, seine Erkenntnisse unter ihren eigenen Schülergenerationen zu verbreiten. Die Komponisten John Cage und John Adams haben musikalische Werke verfasst, die von den Lehren Meister Eckharts inspiriert sind. Das Internet wimmelt geradezu von Zitaten, die Eckhart zugeschrieben werden (darunter etliche zweifelhafte), und von Websites, die sich mit seinen Lehren befassen. Jährlich erscheinen mehr als hundert Publikationen über sein Leben und seine Lehre (Blogs nicht mitgezählt). Außerdem gibt es inzwischen drei internationale Meister-Eckhart-Gesellschaften sowie zwei wissenschaftliche Zeitschriften, die sich dem einst verfemten Mönch widmen.

In den Vereinigten Staaten verdanken Meister Eckharts Werke ihre derzeitige Popularität zum großen Teil dessen Namensvetter Eckhart (geboren Ulrich) Tolle, einem spirituellen Lehrer und Autor, dessen Anschauungen die Lehren des mittelalterlichen Mönchs mit einer eklektizistischen Mischung zeitgenössischer östlicher und New-Age-Konzepte verweben. Er wolle seine Leser darauf hinweisen, schreibt Tolle, »dass es in Essenz immer nur eine [spirituelle] Lehre gibt und gegeben hat, obwohl sie in mehreren Formen erscheint.«6 Diese eine Lehre, behauptet Tolle, sei nirgendwo besser zusammengefasst als in den Erkenntnissen des Meister Eckhart, dessen Kernbegriffe Tolles eigenes Glaubenssystem prägen. Insbesondere durch die massiv einflussreiche Werbung im Rahmen von Oprah Winfreys Oprah’s Book Club hielten sich die Bücher The Power of Now (1997; deutsch: Jetzt! Die Kraft der Gegenwart, 2000) und A New Earth (2005; deutsch: Eine neue Erde, 2005) des modernen Eckharts monatelang auf der Bestsellerliste der New York Times und sind zusammen in 33 Sprachen übersetzt worden. Weltweit wurden von den beiden Titeln über zehn Millionen Exemplare verkauft. Und Tolle ist keineswegs der Einzige. Andere zeitgenössische spirituelle Autoren – aus einer breiten Palette an Traditionen – bedienen sich vergleichbar umfassend der unzähligen Predigten und philosophischen Schriften des Meisters.

Was genau sehen all diese Leute in den Worten des mittelalterlichen Weisen? Der häufigste gemeinsame Nenner ist allem Anschein nach der Reiz von Eckharts revolutionärer Methode des direkten Zugangs zu einer ultimativen Realität (alias Gott) – ein zutiefst subjektiver Ansatz, der zugleich intuitiv und pragmatisch, philosophisch und doch nicht rational, vor allem aber allgemein zugänglich ist. Viele moderne christliche Autoren wie der amerikanische Katholik Richard Rohr – der Eckhart einen »Mystiker par excellence« nennt – betrachten seine Lehren als Teil einer langen und alten christlichen Tradition der Kontemplation.7Aber auch wenn Eckharts Weg religiösen Riten oder den kirchlichen Behörden niemals widerspricht oder sie gar verunglimpft, so stützt er sich doch nicht auf sie. Deshalb übt er auf Individuen und Gruppen, die christliche Vorstellungen von Gott und von der Seele ablehnen, eine ebenso große Anziehungskraft aus. Zum Beispiel achten Buddhisten und Existenzialisten die Unterscheidung des Meisters zwischen dem künstlichen »Ich« oder »falschen Selbst« – der konstruierten individuellen Identität eines jeden Menschen – und dem authentischen Selbst, dem gemeinsamen Wesen, das uns allen eigen ist. Gleichzeitig ist Eckhart mit seinem Plädoyer für Meditation und Achtsamkeit der Beliebtheit dieser beiden Praktiken bei Gläubigen und einer stetig wachsenden Zahl von New-Age-Suchenden, Agnostikern und erklärten Atheisten, die unter Religionszugehörigkeit »keine« eintragen, um sieben Jahrhunderte voraus. Der zu Lebzeiten marginalisierte Meister Eckhart scheint in Wirklichkeit für unsere Zeit geschaffen, ein Zeitalter mit einem Hang zu Spiritualität, die maßgeschneidert, erfahrbar und nicht von Dogmen überladen ist.

Doch bei unserem Eifer, diesen »vergessenen Ketzer« zu begrüßen, in seiner Lehre die Erfüllung der eigenen Bedürfnisse zu finden und ihn für unsere eigenen Zwecke zu vereinnahmen, besteht die Gefahr, den historischen Menschen und sein Denken erheblich zu verzerren. Das Etikett »Mystiker« etwa – ein im 17. Jahrhundert erfundener Begriff – ruft die Vorstellung eines zurückgezogen lebenden, dem Jenseits zugewandten Weisen hervor, der in den Fängen des göttlichen Rausches gefangen ist. Meister Eckhart dagegen war kein Einsiedler und schrieb nie von besonderen Visionen, wundersamen Ereignissen oder ekstatischen physischen Erlebnissen. In Wahrheit lebte er als ein in die Betriebsamkeit der äußeren Welt eingebundener Mensch, als weitgereister Prediger, Universitätsprofessor, Beichtvater, Verwalter und Diplomat. Er betrachtete sich an erster Stelle als dominikanischer Mönch, der sich der Verbreitung des Evangeliums verschrieben hatte, und erst an zweiter Stelle als religiöser Philosoph, als Gelehrter, der entschlossen war, sämtliche Formen des Wissens – christliche und heidnische, intuitive und wissenschaftliche, allgemeine und persönliche – zusammenzuführen und sie zu einem kohärenten, umfassenden Ganzen zu versammeln, das zurück zu Gott führt.8

Die Einheit mit Gott, die er predigte, erforderte in Wirklichkeit nicht das Aussetzen des rationalen Denkens, geschweige denn, dass sie irgendwelche individuellen Kräfte mit sich brächte. Im Gegenteil. Eben jene allgemeine Zugänglichkeit der von ihm beschriebenen Erfahrung machte ihn populär unter seinen Zuhörern und zugleich gefährlich für seine Widersacher im Klerus. Die innere Wandlung selbst, räumte er ein, sei mit Worten schwer zu beschreiben und erscheine deshalb dem menschlichen Denken »mysteriös«. Doch das Erreichen dieses Punktes war eine klare Angelegenheit der Intention und der Haltung, ein von Eckhart praktisch beschriebener Prozess. Und die »Gottesgeburt« in der Seele brachte, sobald sie einmal erlangt war, unweigerlich ein Leben hervor, das anderen gewidmet war, und keinen Rückzug von der Welt. Wenn Meister Eckhart ein Mystiker im heutigen Sinn des Wortes war, so war er ein zutiefst egalitärer und bodenständiger und hatte mit Obskurantismus überhaupt nichts am Hut.

Ganz ähnlich ignoriert das Eckhart-Bild eines missverstandenen Visionärs, eines Mannes, der sich in unserer fortschrittlichen Ära eher zu Hause gefühlt hätte als in seiner eigenen engstirnigen Zeit, die Vielfalt und spirituelle Dynamik der mittelalterlichen europäischen Gesellschaft. Tatsächlich scharte Meister Eckhart zu Lebzeiten eine beträchtliche Anhängerschar um sich – ein eindeutiger Beweis dafür, dass er nicht der einsame, missachtete und seiner Zeit vorausdenkende Mensch war, für den man ihn vielleicht halten könnte. In Wirklichkeit teilten im 14. Jahrhundert viele Menschen seinen Wunsch nach einer direkten Erfahrung des Göttlichen in ihrem Leben – über die Erfahrung hinaus, welche die herkömmlichen religiösen Praktiken anboten. Gewiss liefen einfache Christen zu Tausenden zusammen, um seine Predigten zu hören. Aber viele seiner gelehrten Kollegen teilten sein radikal neues Bild von »Gott« und »Himmel« und auch seinen Fokus auf die Göttlichkeit in jedem Menschen, etwas, das Eckhart den »göttlichen Funken« nannte. Was ihn am stärksten von anderen Theologen seiner Zeit unterschied, war seine Bereitschaft, die Lehre der Universitäten auf die Kanzel zu bringen und eine praktische Form des Mystizismus zu lehren, die allen mit reinen Absichten und Haltung offen stand. Die Tatsache, dass später eine päpstliche Kommission seine Lehren zum Teil verdammte, sollte nicht als Beweis dafür herhalten, dass alle oder auch nur die meisten seiner Zeitgenossen Eckharts Herangehensweise an Gott ablehnten.

Tatsächlich entdecken wir, wenn wir unsere modernen falschen Vorstellungen über das mittelalterliche Christentum ablegen, eine überraschend dynamische Phase in der westlichen Geschichte. Eine Phase, in der eine Vielzahl an neuen Ideen und Praktiken unter der Bevölkerung kursierte, die nach bedeutsamen spirituellen Erfahrungen dürstete. Wäre die Geschichte womöglich anders verlaufen, wenn Eckharts Lehren nicht von einer kirchlichen, die spirituelle Anarchie fürchtenden Hierarchie unterdrückt worden wären? Wenn die wenigen betroffenen Kirchenbehörden Eckharts Lehren übernommen (oder zumindest nicht verdammt) hätten, hätte dann ein großer Teil des späteren Missbrauchswesens vermieden werden können, das zur protestantischen Reformation führten? Mit dieser Frage erörtern wir einen verborgenen Wendepunkt und eine mögliche alternative Weltgeschichte. Die meisten Aspekte der Lehren Eckharts sind genau genommen sowohl mit der katholischen als auch mit der späteren protestantischen Glaubenslehre absolut vereinbar. Wie sähe die christliche Welt heute aus, wenn die Reformation selbst einer vorüberziehenden Brise statt eines Wirbelwindes entsprochen hätte?

Es ist ganz offensichtlich ebenso heikel, den Mann aus seiner Zeit herauszulösen, wie seine Lehren von dem Menschen selbst zu trennen. Ein anachronistischer Eckhart ist ein verzerrter und in die Irre führender Eckhart, so persönlich befriedigend manche Erfahrungen auch sein mögen. Ehe wir versuchen, seine Ideen an unsere Bedürfnisse anzupassen, müssen wir eine ehrliche Anstrengung unternehmen, den Autor im Kontext seines eigenen Lebens und seiner Welt zu verstehen.9 Die meisten gebildeten Leute – einschließlich jener, die sich zu seinen Bewunderern zählen – wissen sehr wenig über den Menschen Eckhart selbst. Bis heute wird der Mann, der häufig als »einflussreichster Mystiker der christlichen Geschichte« bezeichnet wird, hauptsächlich von Theologen, Philosophen und deutschen Literaturwissenschaftlern kritisch erforscht. Diese Gelehrten haben eine reichhaltige, aber oftmals abschreckende Forschungsliteratur hervorgebracht, die sich überwiegend – und häufig in einer überaus anspruchsvollen Sprache – auf Eckharts Lehren konzentriert. Unter populärwissenschaftlichen Autoren werden das gesellschaftliche Umfeld und die biografischen Aspekte des verehrten Lehrers sogar noch kürzer abgehandelt, sodass Eckhart selbst zu einer schattenhaften und ätherischen Figur degradiert wird, die zu rätselhaften Erklärungen wie der folgenden neigt: »Das Auge, in dem ich Gott sehe, ist dasselbe Auge, darin mich Gott sieht.«10 Ohne historischen Kontext klingt der Meister nicht wie ein gelehrter Theologe und Philosoph, sondern eher wie die Karikatur eines Gurus auf einer Bergspitze.

Meister Eckhart war jedoch, wie wir alle, das Produkt eines bestimmten Ortes und einer bestimmten Zeit. Es ist sinnlos, über die »zeitlose« Natur seiner Lehren zu sprechen, wenn wir nicht zuerst verstehen, welche Aspekte davon tatsächlich zeitlich – also von seinen eigenen Lebenserfahrungen und dem Umfeld geprägt – waren und auf welche Weise. Wir müssen den dynamischen Charakter seiner sozialen und geistigen Welt kennenlernen, seine eigenständige Stimme als Prediger und Denker und die verschiedenen Arten, auf denen er zu seinen Lebzeiten verstanden wurde. Wenn wir so weit sind, werden wir zwangsläufig auch seine Bedeutung für unsere eigene Zeit besser verstehen.

Warum ist so wenig über den Menschen Eckhart geschrieben worden? Möglicherweise liegt es daran, dass die spärlichen Ressourcen, die einem angehenden Eckhart-Biografen zur Verfügung stehen, diesen vor ein hohes, wenn auch nicht unüberwindliches Hindernis stellen. Weder Eckharts Korrespondenz noch seine persönlichen Schriften haben die sieben Jahrhunderte seit seinem Tod überdauert. Im Zusammenhang mit seinem Ketzerprozess sind einige lateinische Quellen erhalten, die Einblicke in die am heftigsten umstrittenen Punkte bieten, aber auch wenn er in anderen zeitgenössischen Dokumenten mindestens zwei Dutzend Mal genannt wird, so handelt es sich doch in all diesen Fällen lediglich um eine beiläufige Erwähnung. Damit bleiben uns Meister Eckharts eigene theologische Lehren. Was deren Veröffentlichung angeht, so kennen wir mindestens 128 authentifizierte deutsche Predigten (plus zwei Dutzend weitere, die in Betracht kommen), 56 lateinische Predigten, drei deutsche Diskurse, sieben lateinische Kommentare und eine Handvoll kurzer akademischer Beiträge, von denen der Meister keinen einzigen wirklich mit eigener Hand geschrieben hat – stattdessen wurden sie von Anhängern transkribiert, die ihn sprechen hörten. In manchen Fällen billigte Eckhart ausdrücklich die Veröffentlichung der Transkripte. Das vorliegende Buch stützt sich stark auf die hervorragend editierten Sammlungen der lateinischen und deutschen Schriften Eckharts, die zwischen 1936 und 2007 erschienen sind (siehe »Empfohlene Literatur«), sowie auf die gewissenhafte Forschung mehrerer Generationen von Eckhart-Experten, insbesondere in den letzten vier Jahrzehnten.

Ich habe einen sowohl chronologischen als auch thematischen Ansatz gewählt, der die wesentlichen Schritte in Meister Eckharts lebenslangem Streben zu Gott mit den verschiedenen Identitäten kombiniert, die er im Laufe der Jahre erwarb: Mönch, Gelehrter, Prediger und geistliche Ikone. Alle vier Abschnitte des Buches wurden um den in meinen Augen wichtigsten Begriff Eckharts herum gestaltet: gelâzenheit (Gelassenheit im heutigen Deutsch) – ein von ihm selbst geprägter Begriff, der kaum übersetzbar ist. Zur Unterscheidung von den herkömmlichen – aber irreführenden – englischen Übertragungen wie »detachment«, »releasement« oder »abandonment« habe ich im englischen Original ganz bewusst das etwas merkwürdig klingende »letting-go-ness« gewählt. Das implizite Vertrauen, das mit diesem »Gehenlassen« oder Loslassen des Wunsches selbst verbunden war, war für Eckhart die unabdingbare Voraussetzung für das Erlangen einer Einheit mit Gott, einer Verwirklichung, die er erst nach vielen Jahren der praktischen Hingabe und Reflexion predigte. Erst nachdem er gelernt hatte, die äußere Welt (Teil I) sowie all seine vorgefassten Vorstellungen von »Gott« (Teil II) loszulassen, fühlte Eckhart sich bereit, sein eigenes Selbst, einschließlich der Suche nach Gott, loszulassen und es Gott damit zu gestatten, zu ihm zu kommen (Teil III). Die Implikationen dieser Erkenntnis für die organisierte Religion, die er keineswegs »lassen« wollte, werden in Teil IV beschrieben.

Dieses Narrativ von Eckharts eigener innerer, spiritueller Entwicklung ist eng mit der Geschichte seiner Erfahrungen in der weiten Welt verflochten. Im Gegensatz zu den meisten Beschreibungen Meister Eckharts – die seine Lehren als vollständig ausgebildet, kohärent und statisch präsentieren –, gestattet diese chronologische Sichtweise es, die Entwicklung von Eckharts Denken im Laufe seines Lebens nachzuverfolgen. Wie und warum wurde ein scheinbar gewöhnlicher junger deutscher Adliger zu dem legendären radikalen und spirituellen Denker, der nicht nur einen großen Teil der rechtgläubigen Annäherung an Gott, sondern gar die vorherrschende Vorstellung von Gott selbst infrage stellte? Als Erstes tauchen wir in die dynamische Welt des 13. Jahrhunderts auf deutschem Boden ein, indem wir die Ursprünge von Eckharts lebenslanger Suche und seiner prägenden Annahme der dominikanischen Lebensweise entdecken (Teil I). Hier erleben wir, wie sich seine traditionelle Spiritualität, die auf äußeren Handlungen basierte, allmählich zu einer Form hin veränderte, die auf Kontemplation und Achtsamkeit basierte. Seine Identität als geschulter Prediger wiederum gibt den Rahmen für seine spätere Entwicklung als bekannter Gelehrter vor (Teil II). Da sich Eckhart in dieser Funktion verstärkt mit philosophischen Denkweisen auseinandersetzte, tendierte er schließlich zu einer noch radikaleren intuitiven Herangehensweise an Gott und an die Spiritualität. Den größten Teil dieser frühen Jahre – bis er Mitte fünfzig war – hielt er sich in seiner Heimat Thüringen auf, mit Sitz in dem dominikanischen Priorat in Erfurt. Er unternahm jedoch weite Reisen und verbrachte dabei viele Jahre des höheren Studiums in Köln und Paris – mehrere Jahre als Administrator seines Ordens und drei Jahre als Dozent an der Pariser Universität. Teil III schildert die anschließenden Bemühungen des gefeierten Theologen, seine komplexen und unorthodoxen Anschauungen in Predigten einfließen zu lassen, die auch einfache Frauen und Männer verstanden. Die meisten populären Predigten wurden im letzten Lebensviertel in den deutschen Städten Straßburg und Köln gehalten. Die daraus hervorgehende Kontroverse um seine provokativen Lehren wiederum machte aus Eckhart schließlich eine spirituelle Ikone, wobei sich seine Bewunderer und Kritiker gleich schwertun, sein Vermächtnis für die kommenden Jahrhunderte zu definieren (Teil IV).

Der spektakuläre Aufstieg und der Fall dieses vorausschauenden spirituellen Lehrers hatten entscheidende Auswirkungen auf die endlose Debatte um religiöse Autorität, und das haben sie noch heute. Die Bedenken der Kirchenführer zu Eckharts Lebzeiten, dass einfache Menschen die Worte des Meisters missverstehen und die gesamte Religion ablehnen könnten, mögen auf den ersten Blick wie eine reine Selbstrechtfertigung ihrer eigenen autoritären Agenda erscheinen. Aber wie die spätere protestantische Reformation und darauffolgende Schismen gezeigt haben, führt der Appell an das individuelle Gewissen als ultimativer Richter über die spirituelle Wahrheit unweigerlich zu immer mehr Interpretationen, zu immer mehr Konfessionen und zu immer mehr religiösen Konflikten. Was könnte eine umfassendere Übernahme der Lehren Eckharts für die Glaubenslehre, Struktur und Riten der heutigen katholischen und protestantischen Kirchen bedeuten? Für die organisierte Religion überhaupt? Eckhart selbst hielt sich nicht für einen radikalen Gegner der traditionellen Religion, aber seine Wirkung auf dieselbe ist noch heute umstritten. Unterdessen begrüßen viele heutige Leser, die eine individualistischere Herangehensweise an die Spiritualität vorziehen, jenen Skeptizismus gegenüber jeder institutionellen, religiösen Autorität, den sie aus den Lehren Eckharts ableiten. Aber ist das überhaupt die Art von individueller Erleuchtung, die Eckhart selbst sich vorstellte? Ist der Relativismus der heutigen, auf jeden Einzelnen zugeschnittenen Spiritualität das unweigerliche Ergebnis des subjektiven Ansatzes, den Eckhart und seine modernen Nachfolger predigten?

Es liegt auf der Hand, weshalb die Verteidiger der religiösen Rechtgläubigkeit und Ordnung des 14. Jahrhunderts Meister Eckhart für einen gefährlichen Mystiker hielten. Aber auch viele christliche Führer des 21. Jahrhunderts fürchten den moralischen Relativismus und das spirituelle Chaos, das von der »religionslosen Spiritualität« ausgelöst wird. Stellt ein wiederbelebter Eckhart immer noch eine Gefahr für die etablierten Kirchen dar oder bietet er ihnen eine Brücke, die neue spirituelle Bewegungen mit alten Traditionen verbindet? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zuerst bereit dafür sein, Meister Eckhart mit unvoreingenommenem Blick zu betrachten, ihm zum ersten Mal wiederbegegnen.11

Hinweis für den Leser:

Wörtliche Zitate aus den deutschen Predigten Meister Eckharts sind, soweit möglich, der Standardausgabe Meister Eckhart,Die deutschen Werke (siehe »Empfohlene Literatur«) entnommen. Für Zitate aus den lateinischen Schriften wurde die entsprechende Ausgabe Meister Eckhart, Die lateinischen Werke herangezogen. Alle anderen Übersetzungen aus dem Französischen oder Lateinischen orientieren sich an der Vorlage des Autors, sofern nicht anders angegeben. Um größere Klarheit zu schaffen (Eckhart liebte zweideutige Pronomen), werden Er, Ihm, Ihn und Sein, wenn von Gott dem Schöpfer die Rede ist, großgeschrieben (obwohl der reife Eckhart es außerhalb eines zweckmäßigen Sprachgebrauchs ablehnte, dem Göttlichen ein menschliches Geschlecht zuzuweisen).

Zu Eckharts Lebzeiten hielten die meisten Menschen Ostern oder eine enge Annäherung (etwa den 25. März) für den Beginn des neuen Jahres. Ich habe mich an die heutige Datierung gehalten, nach der das neue Jahr mit dem 1. Januar beginnt.

Am Ende des Buches finden Sie außerdem eine Erklärung der wichtigsten Namen und Begriffe.

Teil I

Die Welt loslassen

Der Mönch

1 Das edle Herz

Etliche Leute stehen [nur] halb auf, sie üben sich [nur] in einer Tugend und nicht in der anderen. Es gibt gewisse Leute, die von Natur unedel sind, die sind begierig nach Reichtum. Andere die sind von edlerer Natur und achten nicht auf Besitz, sie streben aber nach Ehre.1

Deutsche Predigt 35

Eine Welt ohne Liebe

Meister Eckhart lebte von ungefähr 1260 bis 1328. Nach unserer modernen Auffassung erstreckte sich seine Lebenszeit vom Hochmittelalter (um 1000–1300) bis ins Spätmittelalter (um 1300–1500). Selbstverständlich wären diese Konzepte Eckhart und seinen Zeitgenossen völlig fremd gewesen. Sie hielten sich selbst für »modern« – wie alle Menschen, die jemals gelebt haben, es taten. Um in die Vorstellung von Modernität in seiner Welt und in deren Ringen einzutauchen, müssen wir uns zuerst nahezu aller im 21. Jahrhundert mitschwingender Konnotationen des Wortes »mittelalterlich« entledigen. Seit ihren Ursprüngen im späten 15. Jahrhundert wurde die Bezeichnung überwiegend abwertend verwendet und man warf die rund tausend Jahre, die auf den Niedergang des Weströmischen Reiches folgten, in einen Topf. Anhängern der Renaissance und später der Aufklärung gefiel besonders die Vorstellung, das »böse« Mittelalter habe im Widerspruch zu ihren eigenen Auffassungen des menschlichen Fortschritts gestanden: Es sei eine gewalttätige, schmutzige und rückständige Zeit gewesen, in der Aberglaube und Grausamkeit geherrscht hatten. Die Romantiker des 19. Jahrhunderts hielten dem ein »gutes« Mittelalter entgegen: eine Ära der einfachen, munteren Vitalität und des Prunks, die von den Tugenden der Treue, Tapferkeit und Höflichkeit dominiert wurde. Aktuellere Vorstellungen – etwa aus Der Herr der Ringe oder Game of Thrones – haben verschiedene Aspekte dieser beiden Klischees auf kreative Weise miteinander kombiniert, allerdings mit dem gleichen impliziten Gegensatz zu unserem eigenen kultivierteren Zeitalter.

»Mittelalterlich« ist heute folglich zu einem Synonym für minderwertig geworden. Ob in der Diskussion des Strafrechts, bei den sanitären Bedingungen, sozialen Haltungen, dem Verständnis der Natur oder so gut wie allen Aspekten des zeitgenössischen Lebens – das Mittelalter wird als etwas Mangelhaftes angesehen. Und gewiss, was die äußeren Bedingungen angeht, so gleicht die Modernität Europas im 13. Jahrhundert eher der Modernität eines Entwicklungslandes im 21. Jahrhundert, etwa Afghanistan oder Somalia: schwache Zentralregierungen, umherziehende Warlords, keine klare Trennung zwischen säkularen und religiösen Sphären, patriarchale Gesellschaftsstrukturen, niedrige Alphabetisierungsraten, hohe Kindersterblichkeit und insgesamt ein niedriger Lebensstandard.

Die materiellen Beschränkungen in Eckharts Welt hemmten die regelrechte Explosion der künstlerischen, literarischen und geistigen Kreativität jedoch nicht. Die im Vergleich zu heute kürzere Lebenserwartung hielt die Eltern nicht davon ab, ihre Kinder zu lieben; immer wiederkehrende, natürliche und von Menschen gemachte Notlagen brachten die häufig abgehaltenen öffentlichen Feierlichkeiten keineswegs zum Erliegen. Die Intelligenz, wenn auch nicht die Bildung, war innerhalb der Bevölkerung genauso gleichmäßig verteilt wie in jeder anderen menschlichen Gesellschaft. Wie viele aktuelle Studien zum Wohlergehen zeigten, hängen Glück und Niedergeschlagenheit außerdem nicht unmittelbar mit dem materiellen Lebensstandard zusammen (und in vielen Fällen schneiden arme Gesellschaften dabei sogar besser ab). Dies ist kein Plädoyer für schlechte Hygiene und allgegenwärtige Gewalt, sondern der Versuch, sich von einem westlichen, technologischen Determinismus frei zu machen, der materiellen Fortschritt mit sozialer, psychischer und spiritueller Entwicklung gleichsetzt. Eckharts relativ primitive Lebensbedingungen schränkten seine Einblicke in den menschlichen Geist ebenso wenig ein, wie üppiges Essen und fortschrittliche Technologie jedem modernen Westeuropäer ein umfangreiches Wissen garantieren.

Die Modernität Eckharts und seiner Zeitgenossen wich von unserer eigenen in einem weiteren wichtigen Aspekt ab, nämlich in ihrer Auffassung von Geschichte. Nicht nur, dass es für die Europäer des 13. Jahrhunderts keine mittelalterliche Ära gab, es gab überhaupt nichts, das nach etwas anderem als dem politischen Regime benannt wurde (etwa »die Ära Kaiser Karls des Großen«). Der Ruhm der alten Griechen und Römer war offensichtlich längst vergangen, kulturell jedoch schienen sie gar nicht so fern zu sein. Schon ein kurzer Blick auf die Gemälde oder Skulpturen von Jesus und den Aposteln aus dieser Zeit enthüllt eine imaginierte vergangene Welt, die in der Kleidung, in den Bewegungen und Emotionen kaum von ihrer eigenen zu unterscheiden ist. Das Weströmische Reich war noch lebendig und wohlauf – wenn auch seit über zwei Jahrhunderten von deutschen Königen beherrscht –, und die sich auf Jesus berufende Kirche verwendete immer noch lateinische Liturgien und die römischen Gewänder der Geistlichen. Kaiser und Päpste kamen und gingen, doch die Institutionen schienen bestehen zu bleiben. Vor allem aber stellte sich im 13. Jahrhundert niemand die Menschheitsgeschichte unter dem Gesichtspunkt Fortschritt vor – ein völlig fremdes Konzept in einer Gesellschaft, die von den alljährlich wiederkehrenden Rhythmen des Ackerbaus und dem liturgischen Kalender der Festtage geregelt war.

Das heißt keineswegs, dass die damaligen Menschen keine Vorstellung von einem gesellschaftlichen Wandel hatten. Im Gegenteil, die meisten Zeitgenossen Eckharts waren überzeugt davon, dass ihre Welt immer schlechter werde, womöglich gar unmittelbar vor dem Jüngsten Gericht stehe. Freilich waren sie sich in dieser Überzeugung kaum einig. Es zählt zu den ältesten, von Historikern immer wiedergekäuten Binsenweisheiten, dass sich jede Gesellschaft in jedem Zeitalter (unsere eigene mitgerechnet) selbst als im Verfall begriffen wahrnimmt. Kinder werden immer undankbarer und ungezogener, Jugendliche immer rüpelhafter und fauler, Erwachsene immer selbstsüchtiger und egoistischer. Politiker werden stets korrupter, religiöse Führer immer heuchlerischer und Geschäftsleute immer unehrlicher. Ob diese allgemeinere Sichtweise einen nun tröstet oder in die Verzweiflung treibt, es lässt sich kaum bestreiten, dass diese Klage im Laufe der Menschheitsgeschichte stets allgemein verbreitet war. Was sich in den jeweiligen Zivilisationen und Zeitaltern – bisweilen in erheblichem Ausmaß – unterscheidet, ist die wahrgenommene Natur und Quelle jenes Verfalls eines einst Goldenen Zeitalters. Und an diesem Punkt fangen wir an, die Welt des Meister Eckhart und die Anziehungskraft seiner Lehren zu begreifen.

Das beliebteste Motiv in der gesamten Literatur, Dichtung, Malerei, Bildhauerei und den Predigten des 13. Jahrhunderts war die Liebe. Auch das mag kein einzigartiges Phänomen einer bestimmten Gesellschaft sein, doch ist die Art und Weise, wie dieses Thema dargestellt wurde, überaus aufschlussreich. Liebe – so hieß es einstimmig – sei unverzichtbar für das Glück in diesem und im nächsten Leben. Die Liebe unter Familienmitgliedern, Freunden, Nachbarn und Mitchristen (caritas) war das Bindeglied, das die Gesellschaft zusammenhielt und einem in schweren Zeiten half. »Auf dieser Erde gibt es nichts, was höher zu rühmen ist, als wahre Freundschaft«, schrieb der Theologe Thomas von Aquin (1225–1274) und gibt damit ein weit verbreitetes Empfinden wieder.2 Liebe und Vertrauen zwischen einem Herrn und seinem Leibeigenen, zwischen Handelspartnern, zwischen allen Arten von Partnern (fides) garantierten Frieden und Gerechtigkeit. (Nur Juden und Muslime blieben bei diesem exklusiv christlichen Kreis der gegenseitigen Abhängigkeit und Nächstenliebe außen vor.) Die Liebe Gottes, der Jungfrau Maria und der Heiligen (religio oder pietas) inspirierte ein tugendhaftes irdisches Leben, an dessen Ende ein himmlischer Lohn wartete. Eckharts exakter Zeitgenosse Dante Alighieri staunte über das von Gottes Liebe gewobene Netz, das »unendlich, unerschöpflich« sei. »Je mehr Seelen sich verstehend finden, um so viel stärker wächst und wirkt die Liebe; wie Spiegel strahlen sie’s einander zu.«3

Um die Zeit von Eckharts Geburt waren sich auch fast alle einig darüber, dass die Liebe in Gefahr war. Der wahrgenommene Verfall von unterschiedlichsten persönlichen Beziehungen bedrohte nicht nur das Glück des Einzelnen, sondern die Gesellschaftsordnung selbst. Ritter Wirnt von Grafenberg klagte: »Die Welt hat sich verändert; um ihre Freude steht es jammervoll. Das Recht ist entflohen, die Gewalt richtet sich auf. Die Treue ist brüchig geworden, Untreue und Hass setzen sich durch. Die Zeit hat sich gänzlich verwandelt, und von Jahr zu Jahr wird sie böser.«4 »Früher war die Welt so schön«, seufzte der Dichter Walther von der Vogelweide, »jetzt ist sie so schändlich.«5 In einer Welt mit nur geringem Vertrauen in die Institutionen waren persönliches Vertrauen und gegenseitige Verlässlichkeit unverzichtbar, und eine Welt ohne sie war zu beängstigend, um überhaupt darüber nachzudenken.

Es gab eine Fülle von Erklärungen für den Verfall der Liebe – von unfähigen politischen Führern über verantwortungslose Eltern bis hin zum direkten Wirken des Satans und seiner unzähligen menschlichen Verbündeten – allen voran ermutigte Verbrecher, blutrünstige Söldner und jüdische Finanzleute. In jedem Fall stellten die Übeltäter ihren eigenen persönlichen Gewinn über die Pflichten der christlichen Nächstenliebe und schadeten damit der ganzen Gesellschaft. »Schlechte Sitten« war eine bequeme, allumfassende Beschreibung für den gesellschaftlichen Verfall, die die Schuld verallgemeinerte, ohne eine konkrete Ursache zu nennen. Manche frommen Menschen betrachteten ihr kollektives Leid als die verdiente Strafe Gottes für ein derart verbreitetes sündiges Benehmen, richteten ihr Augenmerk aber wiederum ganz auf selbstsüchtige, individuelle Entscheidungen statt auf systemische Probleme. Es gab nur einen gemeinsamen, nicht persönlichen Auslöser, der in beinahe jeder Klage über den jämmerlichen Zustand der europäischen Gesellschaft um die Mitte des 13. Jahrhunderts auftauchte: die korrumpierende und heimtückische Vorherrschaft des Geldes.

Die Wurzel aller Übel

Geld ist selbstverständlich so alt wie die menschliche Zivilisation. Was in Eckharts Welt neu hinzukam, war die Intensität, mit der viele Bestandteile einer, wie wir heute sagen, »Verbrauchermentalität« die verbreiteten Haltungen und Überzeugungen durchdrang. Seit den Tagen des alten Roms, gut sieben Jahrhunderte zuvor, hatte Geld keine so prominente Rolle im Alltag und in den Vorstellungen der einfachen Europäer mehr gespielt. Die neue Allgegenwart des Geldes war vor allem das Produkt einer steigenden Nachfrage, die wiederum auf mehrere Generationen stetigen demografischen Wachstums in den meisten europäischen Landstrichen zurückging. Die fünf Jahrhunderte, die auf den Zerfall des Weströmischen Reiches folgten – das heutige Frühmittelalter –, waren eine Phase ausgedehnter politischer und wirtschaftlicher Instabilität gewesen. Sobald um das Jahr 1000 wieder eine größere Ordnung hergestellt war, wuchs die Bevölkerung des Kontinents stetig und hatte sich bis zur Zeit Eckharts auf über 70 Millionen Menschen verdreifacht.

Die Expansion vollzog sich zwar im Laufe von mehreren Generationen, doch viele dramatische Veränderungen sollten gerade zu Lebzeiten von Eckharts eigenen Eltern und Großeltern auftreten. Allein in seinem Jahrhundert schnellte die Bevölkerung der deutschen Länder – damals für gewöhnlich als östlich des Rheins, nördlich der Alpen und westlich der Elbe definiert – von 8 auf 14 Millionen. Eckharts Heimat Thüringen erfuhr im gleichen Zeitraum ein Wachstum um mindestens das Zehnfache, was vom »Drang nach Osten« angeregt wurde. Zu Hunderttausenden zogen deutsche Siedler in slawische Gebiete, was die Gründung von mehr als 250 Städten östlich der Elbe und der Saale zur Folge hatte, sowie insgesamt fast 200.000 neue Gemeinden. Menschliche Siedlungen drangen in ehemals »leere, gewaltige Räume« vor, die von wilden Tieren beherrscht wurden – dichte Wälder, bedrohliche Sümpfe, weite Wiesen. Die Menschen passten dieses »Ödland« an ihre Bedürfnisse an.6

Selbstverständlich waren die verschiedenen Gesellschaften Europas damals noch überwiegend ländlich ausgerichtet – und sie blieben dies auch bis weit ins 19. Jahrhundert hinein. Innerhalb der deutschen Länder lebte höchstens ein Fünftel der Bevölkerung in Städten mit mehr als 3000 Einwohnern, und selbst unter den rund 50 Städten, die diese Schwelle überschritten, hatten die wenigsten mehr als 10.000 Einwohner. Köln, wo Eckhart seine lange Berufslaufbahn beenden sollte, war mit einer Bevölkerungszahl von 40.000 die größte deutsche Stadt – sie war ungefähr so groß wie das zeitgenössische London und etwa ein Fünftel der ausgedehnten Metropole Paris. Eckharts eigenes winziges Heimatdorf Tambach mit seinen paar hundert Menschen blieb noch jahrhundertelang die typische Erfahrungslandschaft eines Bewohners des vormodernen Europas.7

Was den Stadtbewohnern zahlenmäßig fehlte, kompensierten sie jedoch durch den wirtschaftlichen und kulturellen Einfluss, insbesondere, da durch sie die neue Konsumhaltung Einzug hielt. Die Marktplätze, die kleine und große Städte für landwirtschaftliche und handwerkliche Waren zur Verfügung stellten, blühten unter der Geldwirtschaft regelrecht auf. Sowohl die Bauern, die ihre Produkte zum Verkauf auf den Markt brachten, als auch die städtischen Handwerker, die für Löhne arbeiteten, waren auf einen ausreichenden Vorrat an Bargeld angewiesen. Bankiers und Kaufleute, die am Fernhandel beteiligt waren, benötigten ihrerseits noch größere Mengen an Gold und Silber für ihre Zahlungen, auch wenn im Laufe des 13. Jahrhunderts verschiedene Kreditvereinbarungen aufkamen. Durch die wachsende Stadtbevölkerung erhöhte sich der Bedarf an zusätzlichen Investitionen in die Infrastruktur, was zu weitgehend öffentlich finanzierten Bauprojekten führte – von Straßen, Brücken und Kanälen bis hin zu gepflasterten oder überdachten Marktplätzen und neuen Rathäusern. Und all diese Ausgaben beschleunigten unweigerlich die Spirale aus einer noch größeren Nachfrage nach gelernten Arbeitern, einem sich ausweitenden Angebot an Konsumgütern, einer noch intensiveren Bautätigkeit und immer mehr Geld.

Der Marktplatz einer mittelalterlichen Stadt, im wörtlichen und symbolischen Sinn das Herz der wachsenden Geldwirtschaft. Geld war unerlässlich für den Tausch von gefertigten und landwirtschaftlichen Waren zwischen Produzent und Verbraucher, im Kleinen ebenso wie im Großen.

Viele Ergebnisse dieser Käufernachfrage aus dem 13. Jahrhundert sind uns bis heute erhalten geblieben, allen voran die mächtigen Burgen, die von reichen Adligen in Auftrag gegeben wurden, sowie die majestätischen Kathedralen, die über mehrere Generationen hinweg mit Mitteln der Kirche und der Stadt gebaut wurden. Die beeindruckende Kathedrale in Chartres wurde um die Zeit von Eckharts Geburt geweiht; die gigantischen Gemäuer von Notre-Dame de Paris, des Straßburger Münsters und des Kölner Doms waren zeit seines Lebens weitläufige, mehrsprachige Baustellen. Weitere Beispiele für die zunehmende Konsumhaltung innerhalb der Elite lassen sich in modernen Museen besichtigen: prächtige Mäntel aus Leinen und Seide und mit Gold- und Pelzbesatz, fein ziselierte Ringe und Halsketten, kunstvoll maßgefertigte persönliche Rüstungen. Die meisten kostspieligen Ausgaben der Reichen sind jedoch in Vergessenheit geraten. Nur aufgrund zeitgenössischer Schilderungen wissen wir von meist üppigen Banketten, die Unsummen an Bargeld verschlangen – sogar mehr als die Ritterturniere und unzähligen anderen Zerstreuungen des Adels.

Die bei Weitem höchsten Ausgaben des Landadels waren die Kosten für den Erhalt und die Ausdehnung der territorialen Besitztümer einer Familie. Söldner mussten bezahlt werden, Eroberungen erforderten eine kostspielige militärische Ausrüstung, und andere Adlige erwarteten teure Geschenke, wenn man sich ihrer Loyalität versichern wollte – wobei Geld einer Immobilie zunehmend vorgezogen wurde. Selbst für angeblich hehre Unternehmungen wie die Kreuzzüge ins Heilige Land bedurfte es mehr als nur des Glaubens. »Wir brauchen dringend Geld«, hatte Kaiser Friedrich II. einige Jahrzehnte zuvor, als er sich um die Organisation des sechsten Kreuzzuges bemühte, mehr als einmal geklagt.8 Die gleiche Klage war auch in den kommenden Jahrzehnten von den Planern der Kreuzzüge zu hören.

Land blieb im 13. Jahrhundert zwar das kostbarste aller Güter, doch der neuerdings allgegenwärtige Einfluss des Geldes wirkte sich auf wichtige politische und wirtschaftliche Veränderungen aus, die englische Historiker früher als bastard feudalism, also »Bastard-Feudalismus« bezeichneten. Da Monarchen und andere Adlige dringend Gelder für ihre militärischen Abenteuer und die ausschweifende Lebensweise brauchten, bemühten sie sich verzweifelt, einen Großteil ihrer feudalherrschaftlichen Rechte zu Geld zu machen. Viele wandelten Besitztümer und Privilegien (wie die Kontrolle über bestimmte Wälder oder Quellen) in finanzielle Mittel um, indem sie Pacht- oder Kaufverträge mit Banken, Genossenschaften, anderen Adligen, ja praktisch mit jedem abschlossen, der zahlen konnte. In manchen deutschen Ländern wandelten sich die Lehnsabgaben, die noch Ende des 12. Jahrhunderts fast ausschließlich in Naturalien bezahlt worden waren, binnen 50 Jahren zu mehr als 90 Prozent in Pachtzahlungen. Manchmal wurden ganze Lehnsrechte oder hohe Kirchenämter direkt verkauft oder zumindest ordnungsgemäß zusammen mit sehr großen »Geldgeschenken« übertragen. Vor allem Könige und Kaiser sicherten sich durch hohe Schmiergeldzahlungen in wichtigen Phasen die Unterstützung des Adels und waren umgekehrt gelegentlich gezwungen, Steuern auf bestimmte Verkäufe und Produkte zu erheben. Städte und Marktplätze griffen ihrerseits ebenfalls auf öffentliche Mittel zurück, um die Kosten für die Infrastruktur zu decken.9

Aus der Sicht des 21. Jahrhunderts hatte die neue Geldkultur zu Eckharts Zeiten durchaus ihre positiven Seiten. Die gleichzeitige Ausweitung des Fernhandels brachte eine immer größere Vielfalt an Konsumgütern in eben jene Städte, und es waren hauptsächlich Luxuswaren: Pfeffer, Gewürznelken und andere seltene Gewürze aus Asien, hochwertige Wollstoffe und kunstvolle Wandteppiche aus Flandern, feines Leinen aus der Champagne, Seide aus China, hochwertiges Leder aus Pisa, noble Pelze aus dem Norden Russlands, Edelsteine aus Indien und Perlen aus dem Persischen Golf. Diese Artikel waren zwar für die große Mehrheit der Bevölkerung noch unerschwinglich, doch allein deren Sichtbarkeit schürte das allgemeine Konsumbestreben und setzte so eine höhere Produktion von bezahlbareren Produkten wie Schuhen, Werkzeugen und einer Reihe von Stoffen in Gang.

Genau wie heute versprach der Besitz von Geld den Menschen größere Wahlmöglichkeiten und generell bessere Chancen – deshalb hatte es eine so gewaltige Anziehungskraft. Der städtische Marktplatz, die Hauptmetapher für den Kapitalismus des 21. Jahrhunderts, verkörperte dieses Versprechen der Freiheit. Hier kamen viele Menschen, vor allem Zuwanderer aus den ländlichen Gegenden, in der Hoffnung zusammen, ihre eigene Lebensqualität zu verbessern – typischerweise durch ungelernte Tätigkeiten. Der ein oder andere Sohn eines Neuankömmlings trat möglicherweise sogar eine Lehre bei einem Handwerker an und erhielt auf diese Weise weitere Chancen für einen Aufstieg. Über die wirtschaftliche Unabhängigkeit in deutschen Städten erlangten viele schrittweise eine politische Unabhängigkeit von lokalen Grundherren. Schließlich förderte der größere Wohlstand, wie in jeder Gesellschaft, auch das Mäzenatentum für die Künste und regte in der Handwerker- und Bürgerschicht einen weiteren Wirtschaftssektor an, darunter Lehrtätigkeiten für den Unterricht von Jungen und Mädchen (allerdings nicht vergleichbar mit der modernen Schulpflicht). In all diesen Punkten scheint die spätmittelalterliche Stadt die von manchen Historikern gepflegte Bezeichnung »Wiege der Moderne« (im derzeitigen Sinn der Moderne) zu verdienen.

Wenn Menschen zu Eckharts Zeiten jedoch von »städtischen Wertvorstellungen« sprachen, meinten sie das in den seltensten Fällen als Kompliment. Der Umstand, dass potenziell alles zu Ware gemacht werden konnte, kam vielen Zeitgenossen unnatürlich und gefährlich vor. Die elementaren zwischenmenschlichen Beziehungen, die auf Vertrauen oder Gefolgschaft basierten, sollten doch, so argumentierten sie, wichtiger sein als das Bestreben, sämtliche Wünsche und Begierden zu erfüllen, die der Materialismus ausgelöst hatte. Was uns als Individualismus erscheint – ein in der westlichen Welt gepriesener Wert –, wirkte auf Eckhart und viele seiner Zeitgenossen wie Egoismus auf Kosten der allgemeinen caritas und der göttlichen religio, der Frömmigkeit. Die Ausbreitung des Geldes führte unweigerlich zu einer Ausbreitung von Diebstahl, Raub, Prostitution und organisiertem Verbrechen – weitere Anzeichen eines gesellschaftlichen Verfalls. Angesichts der Vielzahl von Arbeitskräften schnellten Arbeitslosigkeit und Bettelei in die Höhe, was noch mehr Konflikte und Spaltungen auslöste.

Ein gesellschaftlicher Wandel ist immer beunruhigend und verwirrend, selbst für jene, die am meisten davon profitieren. Im Allgemeinen blieb der Status quo anscheinend weitgehend erhalten: Tatsächlich wuchs bei den meisten Adligen des 13. Jahrhunderts im Zuge der neuen Geldwirtschaft der Wohlstand, und Geschichten von Zuwanderern aus der ländlichen Umgebung, die in kurzer Zeit zu Reichtum gelangten, blieben die Ausnahme. Allenfalls der eine oder andere Ritter in Geldnöten mochte bei seinem Abstieg innerhalb der gesellschaftlichen Rangordnung von einem unternehmerischen Bauern im Aufwind überholt worden sein. Dennoch reichten solche Episoden aus, um ein allgemeines Unbehagen über die scheinbare Schnelligkeit und das Ausmaß des in Gang gekommenen kulturellen Wandels auszulösen. Und durch dieses Unbehagen wiederum kam auch die Wahrnehmung eines Verfalls der grundlegenden Sitten und des Anstands auf, eines Verfalls, der weitgehend mit dem Aufstieg des Geldes verknüpft war. »Das Geld macht Zauberdinge«, spottete der Spanier Juan Ruiz, »drum müssen wir es lieben.« Sein Liebreiz und Grind verseuche die ganze Erde. »Es macht aus Herren Diener, aus Dienern macht es Herren.«10

In diese »Welt ohne Liebe« hinein geboren, in eine Gesellschaft, die weithin als in einem steilen politischen und sittlichen Verfall befindlich wahrgenommen wurde, hätte der künftige Meister Eckhart anders aufwachsen können – durchdrungen von einer kulturellen Verzweiflung oder von einer Sehnsucht nach einem vergangenen Goldenen Zeitalter. Stattdessen sollte sich der junge Adlige aus Thüringen jenen anschließen, die danach trachteten, ihre Welt voller Unruhen und dabei sich selbst zu erlösen. Zur Inspiration blickten sie auf ihre eigene mythische Vergangenheit zurück und suchten nach Beispielen für Männer und Frauen, die der Bewunderung und Nachahmung würdig waren. Verachtung für die persönliche Bereicherung war selbstverständlich; Stärke, Beharrlichkeit und Mut waren unverzichtbar; doch das am höchsten geschätzte gemeinsame Merkmal dieser Helden des 13. Jahrhunderts war ihr selbstloser und unumstrittener Dienst an einer Sache, die größer war als sie selbst. Eckhart und andere Jungen seines gesellschaftlichen Rangs kehrten bei der Suche nach einem höheren Ziel in den oberflächlichen Erscheinungen des Tages unablässig zu zwei Heldentypen zurück: dem tapferen Krieger, der alles, gelegentlich auch sein Leben, für eine heilige Sache opferte, und dem ebenso reinen und hingebungsvollen Heiligen, der zugunsten einer höheren Liebe auf ähnliche Weise auf die Verführungen der materiellen Welt verzichtet hatte. Beide Figuren lehnten den lieblosen Materialismus jener Zeit rundheraus ab. Für den jungen Eckhart waren Geschichten von selbstlosen Kriegern und furchtlosen Heiligen mehr als nostalgische Unterhaltung: Sie waren die Lichter in der Finsternis einer immer liebloseren Welt.

Kindheit eines Adligen

Die erste schriftliche Erwähnung des thüringischen Weilers Tambach vom 13. Dezember 1251 taucht in der dokumentierten Abtretung eines Landstücks an das Zisterzienserkloster im benachbarten Georgenthal auf, die die Gräfin Heilwig von Berka zum Gedenken an ihren verstorbenen Mann Dietrich veranlasste. Einer der anwesenden Zeugen war ein Ritter, ein »Eckehard de Hochheim«, wohnhaft in Tambach, der als voigt (Burgvogt) der nahe gelegenen Burg Waldenfels fungierte.11 Zu der Zeit gab es in den deutschen Ländern wohl an die 10.000 »Burgen« unterschiedlicher Beschreibung, von denen viele im Zuge des Baubooms der vorangegangenen 500 Jahre errichtet worden waren.12 In den meisten Fällen handelte es sich um unscheinbare Bauten, nicht zu vergleichen mit den mächtigen Festungen, an die man heutzutage bei dem Wort »Burg« denkt. Von der ursprünglichen Burg Waldenfels sind keine Überreste erhalten. Ihr Nachfolger aus dem 17. Jahrhundert war ein bescheidener Bau mit einer Höhe von etwa 12 Metern, errichtet auf einem Felsblock, der einen Bach überragt, rund 15 Kilometer südlich von Tambach. In der Nähe befand sich ein See namens Schmalwasser. Bei der Burg aus dem 13. Jahrhundert dürfte es sich wahrscheinlich um einen rudimentären Bau aus Holz und Mörtel gehandelt haben, der für solche Zollposten typisch war, möglicherweise umgeben von einem Zaun, einer Palisade oder sogar einem Burggraben. Nach damaligem Recht konnte dieser Bau nicht mehr als drei Stockwerke hoch gewesen sein, und selbst wenn das zutraf, wäre er – gemessen an den wenigen großen Bauten, die aus jener Zeit erhalten sind – weder besonders groß noch kunstvoll oder auf anderer Weise beeindruckend gewesen.13

Der Lehnsherr des Ritters Eckehard von Hochheim war das Familienoberhaupt der Wettiner, Heinrich III. (»der Erlauchte«), Markgraf von Meißen und von der Lausitz und mutmaßlich Landgraf von Thüringen. Sowohl der Lehnsherr als auch sein Vasall galten als adlig, doch sie standen an entgegengesetzten Enden einer steilen Adelshierarchie, der insgesamt allenfalls zwei Prozent der Gesamtbevölkerung angehörten. Landgrafen wie Heinrich waren den Herzögen gleichgestellt und hatten damit den höchsten Adelsrang nach Königen und Kaisern. Viele der rund 20 deutschen Adligen dieses Rangs konnten die Privilegien ihres Geschlechts vier oder gar fünf Jahrhunderte zurückverfolgen, bis in die Zeit Karls des Großen – in vielen Fällen mithilfe frei erfundener Stammbäume.

Eckehard von Hochheim hingegen zählte zu den zahlreichen »neuen Adligen« des vorangegangenen halben Jahrhunderts, die als Ministeriale, ehemalige Bedienstete von Königen und anderen Adligen, bekannt waren und über die Verwaltungstätigkeit oder dank ihrer Heldentaten auf dem Schlachtfeld aufgestiegen und sowohl frei als auch adlig geworden waren (auch wenn ihre Herren noch gewisse Vorrechte über sie behielten). Ministeriale waren tendenziell gebildet, und viele arbeiteten als Vogt, Richter, Zolleintreiber, Marktaufseher, Kämmerer oder Obermünzer. Eine dieser Funktionen übte Eckehard für Landgraf Heinrich aus. Manche neuen Adligen übernahmen noch mehr Verwaltungsaufgaben im Dienst ihres Lehnsherrn, häuften allerdings gleichzeitig auch eigenes Vermögen an und ließen sich auf kommerzielle Unternehmungen ein. In den alten Adelskreisen wurde dies zwar argwöhnisch beobachtet, doch Ministeriale wie der Ritter Eckehard von Hochheim und seine Familie genossen die gleichen Privilegien und den gleichen Lebensstandard wie die meisten adligen Haushalte.14

Um 1260 brachte die Frau des Ritters einen Sohn zur Welt, der wenig später auf den Namen seines Vaters getauft wurde.15 Das lässt vermuten, dass der junge Eckhart der älteste Junge des Haushalts war; es ist jedoch möglich, dass andere Geschwister das Säuglingsalter nicht überlebt hatten und der Name – ein alter deutscher Name, abgeleitet von ekke (»die Kante einer Schwertklinge«) und hart (»tapfer, zäh«) – immer noch verfügbar war. Die Namen christlicher Heiliger waren im deutschen Adel damals noch nicht üblich. Der Familienname ergab sich, gemäß der Tradition vieler Adelsfamilien jener Zeit, aus dem Stammsitz der Familie – in diesem Fall Hochheim, gut 30 Kilometer nördlich von Tambach. Eckehard und sein Haushalt wohnten jedoch weder in Hochheim noch in Waldenfels, das als Verwaltungsposten diente, sondern wahrscheinlich in Tambach, eventuell auch im benachbarten Gotha. Fünf Jahre später bezeichnet ein weiteres Dokument Eckehard als »ehemaligen« Burgvogt von Waldenfels, der inzwischen von Bertold von Siebeleben abgelöst worden war. Und weitere 13 Jahre später, zu einer Zeit, als der junge Eckhart bereits das Haus verlassen hatte, lebte der Ritter immer noch in der Region von Tambach, was auf eine dauerhafte Präsenz der Familie vor Ort schließen lässt.16

Wie der größte Teil Deutschlands war auch Thüringen damals ein überwiegend bewaldetes Land, beschattet von riesigen Wäldern aus hoch aufragenden Buchen, Fichten und Kiefern. Noch heute, nach Jahrhunderten der Forstwirtschaft, wird die Region »das grüne Herz Deutschlands« genannt, da sie in der Mitte der Bundesrepublik nach 1990 liegt. Um die Zeit von Eckharts Geburt bildete die Gegend die Nordostgrenze zwischen traditionell germanischen und slawischen Gebieten. Der Weiler Tambach, inmitten des dichten Thüringer Walds, lag nur knapp 20 Kilometer südlich der Via Regia, der wichtigsten Ost-West-Verbindung zwischen Paris und Frankfurt am Main im Westen und Krakau und Kiew im Osten. Im benachbarten Gotha, einer Stadt mit rund 4000 Einwohnern und in Eckharts Kindheit möglicherweise auch ein Wohnsitz seiner Familie, sah man Tag für Tag eine Vielzahl von Händlern, Pilgern und nach Osten ziehenden Siedlern die Tore passieren. Somit war das Zuhause des jungen Eckhart zwar ringsum von Hügelketten umgeben und lag fern der großen Machtzentren, doch es war weder in sozialer noch in kultureller Hinsicht isoliert.

Gleichzeitig lässt sich jedoch unmöglich sagen, wie stark Eckhart als Kind über Gotha und die Via Regia mit der Außenwelt in Berührung kam. Wir wissen auch nichts über seine Mutter oder Geschwister, und selbst seinen Vater erwähnte er in den erhaltenen Predigttexten nur vier Mal. Der Ton des erwachsenen Eckharts ist bei diesen Nennungen durchweg liebevoll. Als er die starke Anziehungskraft menschlicher Beziehungen beschreibt, kommt er auf seine eigene Erfahrung als Sohn zu sprechen: »Warum ist mir mein Vater lieber als ein anderer Mann? Darum, weil er mein Vater und mein Omne [also mein ein und Alles] ist.«17 Für eine Predigt jener Zeit ist das eine ungewöhnliche und unerwartete – obgleich offensichtlich aufrichtige – Zurschaustellung familiärer Liebe. Wenn Eckhart seine eigene Hingabe als Sohn schildert, so geht es ihm allerdings darum, die noch größere Treue zu seinem himmlischen Vater zu unterstreichen. »[Mein] leiblicher Vater«, anders gesagt, derjenige, den Eckhart mehr als jeden anderen Mann liebt, »ist nicht eigentlich mein Vater, sondern nur mit einem kleinen Stückchen seiner Natur, und ich bin getrennt von ihm; er kann tot sein und ich leben.« Aber Eckehard der Vater und Eckhart der Sohn waren wahre Nachkommen desselben göttlichen Vaters, einander verbunden durch ihr Wesen und ihre Zuneigung, aber gleichermaßen von ihrem gemeinsamen Schöpfer abhängig.18

Eckhart hinterließ zudem keinen Bericht über seine Erfahrungen als adliger Jugendlicher in Tambach und Gotha, doch die Konturen eines solchen Lebens sind uns heutzutage bekannt. Wenn der Ritter Eckehard von Hochheim die an königlichen und fürstlichen Höfen eingeführte Adelskultur pflegte, dürfte er einen oder mehrere Hauslehrer eingestellt haben, um seinen Sohn in den Bräuchen und bezüglich der Anforderungen seines gesellschaftlichen Rangs zu unterrichten. Für den Sohn Eckhart gehörten dazu unweigerlich auch das Reiten und die Jagd mit Falken und Hunden, was gelegentlich auf Kosten der elementaren lateinischen Grammatik und anderer Gelehrsamkeit ging. Vielleicht lernte er auch Backgammon und Schach zu spielen. Eine gewisse musikalische Bildung wurde vorausgesetzt, und im Idealfall entwickelte der Jugendliche eine gewisse Fertigkeit im Musizieren mit einem oder mehreren Instrumenten (auch wenn der erwachsene Eckhart keinerlei musikalisches Motiv oder einen musikalischen Begriff erwähnt). Sitten und Manieren, oder die Hofetikette, waren ein weiteres Unterrichtsfeld, insbesondere unter den »neuen Adligen«, die um ihren prekären Status fürchteten. Ein Geschick für gesellschaftliche Umgangsformen war dem erwachsenen Eckhart bei seiner Tätigkeit als Administrator und gelegentlicher Diplomat sicher sehr von Nutzen.

Und natürlich kam Eckhart als typischer Sohn eines Adligen schon früh mit den verschiedenen höfischen Ritualen eines auffälligen Konsums in Berührung. Mit den Augen eines Kindes beobachtete er, wie viel Zeit und Geld adlige Herren und Damen in den Erwerb bunter, wertvoller Stoffe investierten, die hauptsächlich aus Seide und feiner Wolle bestanden und häufig mit kostspieligen Gold- oder Silberbesätzen oder mit Knöpfen verziert waren. Die aristokratische Identität selbst hing von einer derart ausgefallenen Selbstinszenierung ab, wobei stets der letzte Schrei gefragt war. In Eckharts Jugend bevorzugte man in der Adelsmode eng anliegende Kleidung, die den Körper des Trägers betonte – ein auffälliger Gegensatz zu den derben und schweren Wollgewändern, die er später als dominikanischer Mönch tragen sollte.

Zusätzlich zu den hohen Ausgaben für Kleidung, Ausstattung und Pferde verpflichtete der gesellschaftliche Rang seinen Vater dazu, beträchtliche Summen für verschiedene Anlässe auszugeben, die reichlich Lebensmittel und Getränke erforderten: Hochzeiten, Ritterschlag-Zeremonien, Turniere und natürlich eine große Zahl an kirchlichen Feiertagen. Veranstaltete Ritter Eckehard derartige Zusammenkünfte, die gelegentlich mehrere Tage dauerten, erwartete man von ihm, dass er verschiedene Formen der Vergnügung arrangierte und bezahlte. Darunter womöglich das Vortragen von Gedichten, musikalische Beiträge mit Flöten und Fiedeln, Gesang, Vorführungen von Akrobaten oder Narren sowie Spiele oder Sportwettkämpfe wie Speerwurf, Steine schleudern, Schwertkampf, Ringen, Laufen oder Springen. Und wie seine eigenen Lehnsherren zeigte auch ein Adliger niederen Ranges wie Eckehard zu guter Letzt regelmäßig seine Großzügigkeit, indem er Freunden und Untergebenen edle Kleidung, kostbare Gegenstände oder andere Geschenke zukommen ließ. Das Leben eines Adligen war, das lernte Sohn Eckhart schon bald, teuer, geprägt vom Konkurrenzkampf und unerbittlich in seiner Beanspruchung von Geld und Zeit.19

Ein adliges Bankett aus dem mittelalterlichen Frankreich. Solche kostspieligen Zusammenkünfte zu verschiedenen Anlässen markierten den Status und das Ansehen des Gastgebers unter seinesgleichen.