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Clara ahnt es längst: Sie ist nicht normal wie all die anderen. – Doch sollte sie tatsächlich die Hexe Melody sein und in einer Traumwelt leben? Zusammen mit Hündin Cora reist sie in eine Welt, die andere nur in tiefen Träumen erleben. Melody findet neue Freunde und schließlich auch die vermeintlich große Liebe. Alles könnte perfekt sein, wenn da nicht die dunk- le Magie wäre, die ihre Traumwelt zu zerstören versucht. Mutig sind nicht die, die keine Angst haben, sondern jene, die ihre Angst überwinden! Die junge Autorin Jessica Vonthin präsentiert ein fantasiereiches Buch über Liebe und Freundschaft, Gut und Böse.
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Seitenzahl: 347
Veröffentlichungsjahr: 2013
Jessica Vonthin
MELODY
Das Geheimnis des Medaillons
Engelsdorfer Verlag
Impressum eBook:
ISBN 978-3-86901-708-2
Copyright (2009) Engelsdorfer Verlag
Impressum Printausgabe:
Bibliografische Information durch
die Deutsche Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-86901-647-4
Copyright (2009) Engelsdorfer Verlag
Alle Rechte bei der Autorin
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
www.engelsdorfer-verlag.de
16,00 Euro (D)
Für meinen Opa
Die Musik schließt dem Menschen ein unbekanntes Reich auf, eine Welt, die nichts gemein hat mit der äußeren Sinnenwelt, die ihn umgibt und in der er alle bestimmten Gefühle zurücklässt, um sich einer unaussprechlichen Sehnsucht hinzugeben.
Ernst Theodor Amadeus Hoffmann
Leise bedeckte der Schnee die Erde und die ersten Sonnenstrahlen glitzerten auf ihm. Sämtliche Bäume trugen schon längst keine Blätter mehr und der ganze Waldboden war mit Spuren, die die meisten Tiere in dem hohen Schnee hinterlassen hatten, besäht.
Auch Grömitz war mit dem kühlen Weiß bedeckt. Kalter Wind wehte über das Meer hinein in die Stadt. Die Leute, die in Grömitz wohnten, trugen dicke Jacken und Schals, um sich vor dem böigen Wind zu schützen, der ihnen ins Gesicht blies. In der kalten Luft verbarg sich ein herrlicher Duft aus Lebkuchen und Weihnachten. In vielen Häusern der kleinen Stadt wurde zu dieser festlichen Zeit gebacken, und genauso tat es auch Clara.
Sie stand in der Küche und knetete schon ihren zweiten Lebkuchenteig, derweil lag Cora in ihrem Körbchen und schaute ihr interessiert zu. Die Schäferhündin war mittlerweile eine Hundedame geworden, doch mit ihren 13 Jahren war sie immer noch topfit und wich Clara nie von der Seite. „So Cora, jetzt ist der zweite Teig auch fertig, wir müssen nur noch warten, bis der erste fertig ist.“
Clara versuchte nämlich aus verschiedenen Lebkuchenteilen ein Lebkuchenhaus zu bauen. Schon nach kurzer Zeit klingelte der Zeitwecker, der die Form eines Huhnes hatte. Der erste Teig war fertig gebacken und sie öffnete die Backofentür so weit, bis eine Wolke aus warmer Luft herausströmte und mit ihr der köstliche Geruch von frischgebackenen Lebkuchen. Vorsichtig nahm sie das Tablett und stellte es auf den Tisch. Es war ziemlich heiß, doch mit den Backhandschuhen hatte Clara einen festen Griff. Jetzt streckte auch Cora ihren Kopf nach oben, um den Geruch in die Nase zu bekommen.
Clara schenkte ihrer Hündin einen herzlichen Blick, bevor sie ihre Aufmerksamkeit dem zweiten Blech widmete. Mit beiden Händen nahm sie es und stellte es in den schon vorgewärmten Ofen. In der Küche war es jetzt sehr stickig. Bevor sie die Fenster weit aufriss, stellte sie aber noch die Backzeit ein.
„So, scheint ja schon mal nicht schlecht zu riechen, wenn es jetzt auch noch so gut schmeckt wie es riecht, dann schmeckt es gut.“
Cora bejahte dies mit einem „Wuff!“ Mit einem überlegenden Blick berührte Clara vorsichtig die fertig gebackenen Lebkuchen, doch zu ihrem Pech verbrannte sie sich den Zeigefinger. Um den Schmerz zu unterdrücken, steckte sie den Finger in den Mund. „Der muss wohl noch ein bisschen abkühlen. Na ja, wir können ja solange fernsehen.“
Beide setzten sich auf die Couch. Trällernd zappte Clara mit der Fernbedienung durch die ganzen Kanäle, bis sie auf Pro7 hängen blieb und die Fernbedienung auf den Wohnzimmertisch legte.
Als nach geraumer Zeit plötzlich der kleine Wecker klingelte und Clara erschrocken zusammen zuckte – ganz schön laut war der nämlich. Während der Fernseher weiter lief, stand sie auf und ging hinüber in die Küche. Mittlerweile war die kalte Luft von draußen hineingeweht und es war schon beinahe etwas zu kühl. Doch das würde sich ganz schnell ändern, sobald sie die Backofenluke öffnete.
Den Wecker, der immer noch klingelte, stellte sie erstmal aus, um sich dann den Lebkuchen zu widmen. Die dicken Schutzhandschuhe streifte sie sich über die Hände und machte sogleich die Backofentür auf. Wieder kam ihr warmer Dampf entgegen. „Puh“, schnaufte sie, bevor sie gekonnt das heiße Blech mit den Handschuhen packte und auf den Tisch stellte. Es roch wirklich köstlich und wenn die Lebkuchen nicht so warm gewesen wären, dann hätte sich Clara bestimmt den Bauch mit ihnen voll gestopft, bevor das eigentliche Lebkuchenhaus überhaupt fertig war.
Der angenehme Geruch nach frischen Lebkuchen umhüllte das ganze Haus.
„Ich bin wirklich mal gespannt, wie die schmecken.“ Mit diesen Worten stellte sie beide Tabletts zum Abkühlen auf den Fenstersims. Jeder, der jetzt an ihrem Haus vorbeiging, roch nun den köstlichen Geruch. Während die Lebkuchen am Fenster abkühlten, setzte sich Clara wieder zu Cora auf die Couch. Behutsam streichelte sie die Hündin. Und die genoss es, wie kein anderer. Genauso wie Cora hatte sich auch Clara nicht viel verändert. Okay, sie war älter geworden – 19 Jahre hatte sie schon hinter sich – aber ansonsten, war sie ganz die alte: Treuherzig wie eh und je und neigte dazu, immer in irgendwelche Abenteuer hineinzugeraten.
Soeben, als es sich Clara richtig gemütlich gemacht hatte, schepperte es.
Erschrocken zuckte sie zusammen und Cora hob neugierig den Kopf. Schnell stand sie auf und ging hinüber in die Küche, doch was sie da sah, ließ sie stutzen: Beide Tabletts, die sie auf den Fenstersims gestellt hatte, lagen auf ihrem Parkett. Mit offenem Mund stand sie reglos in der Küche. Die Lebkuchen, alle beide, waren verschwunden!
„Was zum ...?“, stotterte sie. Verwirrt hob sie die leeren Tabletts auf, legte sie auf den Küchentisch und spähte aus dem Fenster. Zuerst konnte sie keine Zeichen erkennen, dass jemand ihren Lebkuchen gestohlen hatte. Dann aber blickte sie am Fenster hinunter und sah, dass die Sträucher an der Hauswand zertreten waren. Kopfschüttelnd schnaufte sie: „Na hoffentlich haben sie demjenigen geschmeckt.“ Dann hob sie den Kopf, wobei ihr Blick auf das Nachbarhaus fiel, das vor kurzem noch leer stand. Mittlerweile hatte man wohl schon Interessenten für dieses Haus gefunden, dachte Clara. Denn vor dem Haus stand ein großer Lastwagen, aus dem ein paar Männer Möbel in das Haus transportierten. Ihr Blick ruhte weiter auf dem Nachbarhaus, bis es an der Tür klingelte.
Wer das wohl sein mag, dachte sie, wobei sie in Gedanken immer noch bei den verschwundenen Lebkuchen war. Clara ging durch den Flur zur Haustür und drückte die Klinke hinunter, dabei staunte sie nicht schlecht, als Maggie vor ihr stand.
„Maggie?“, fing Clara an. Sie konnte es nicht fassen: Maggie, ihre Freundin von damals, stand vor ihr. „Was machst du denn hier?“
„Na hier wohnen. Sven und ich haben das Haus hier nebenan gekauft. Allerdings wusste ich zuerst nicht, dass du unsere Nachbarin sein würdest. Bis ich dann auf deiner Klingel Familie Hoffmann gelesen habe.“
Als Maggie „Familie“ sagte, schauderte Clara, denn hier in diesem Haus wohnte schon lange keine „Familie“ mehr. In diesem Haus wohnte nur noch sie und Cora. Mit einem Lächeln reichte sie Sven, der neben Maggie stand, die Hand: „Nett, Sie kennen zu lernen.“
„Ich denke wir können uns ruhig duzen“, gab Sven höflich zurück. Sven war Maggies Freund. Ziemlich groß, denn der Kopf passte gerade so durch die Haustür, sodass die blonden Haarspitzen den Türrahmen leicht berührten.
„Wie wär’s Clara, hast du nicht Lust heute Abend gegen sieben zu uns zu kommen. Wir laden dich zum Abendessen ein.“
Diesem Angebot wollte Clara nicht widerstehen. Es wurde langsam ein bisschen langweilig, Tag für Tag alleine mit Cora im Haus und vor dem Fernseher zu sitzen. Da war es auch schon mal ganz schön, wenn man mal aus dem Haus raus kam.
„Klar, ich komme gern“, sagte sie mit einem Lächeln um die Mundwinkel, bevor sie die Tür wieder ins Schloss schnappen ließ.
Es war kurz vor sieben und Clara durchwühlte überlegend ihren Kleiderschrank nach dem perfekten Outfit. „Was zieht man denn eigentlich an, zu so einer Einladung?“
Auf ihrem Bett lag inzwischen schon ein ganzer Haufen Klamotten, die sie aus ihrem Schrank katapultiert hatte. Abgesehen davon lagen auf dem Fußboden noch zwei blaue Kleider und eine schwarze Jeanshose.
Genervt zog sie eine dunkelblaue Jeans und einen weißblau waagerecht gestreiften Pullover heraus. „Ich glaube, das hier ist genau das Richtige für eine Abendesseneinladung. Nicht das Beste, aber immerhin etwas.“ Genau das fand Cora auch und bellte ihr fröhlich zu, während sie in dem Berg Kleider herumwirbelte.
„Oje, wir haben ja schon fünf vor, dass ich auch immer so spät bin.“
In Windeseile zog sie sich um, und nach zehn weiteren Minuten stolperte sie fertig aus der Haustür hinaus. Gut, dass Maggie gleich nebenan wohnte, denn so kam sie nur eine viertel Stunde zu spät.
„Na, du kommst ja auch früh“, wurde sie von Maggie empfangen. Mit einem schiefen Grinsen, erklärte sie ihr kurz, wieso sie so lange gebraucht hatte, obwohl sie ja direkt nebeneinander wohnten.
Cora war natürlich mitgekommen und schwirrte bereits in allen Räumen herum.
Zum Abendessen gab es panierten Backfisch mit Reiß und Kräutersoße und noch eine ordentliche Portion Vanilleeis mit heißen Kirschen. Während sie am Tisch saßen und es sich schmecken ließen, erzählte Clara, wie es war, als sie in England beim Filmdreh war. Maggie war erstaunt, wie viel ihre Freundin erlebt hatte. Sie freute sich sehr, dass sie geholfen hatte, den größten Wunsch von Clara zu erfüllen.
Sven war ebenfalls sehr erstaunt, sodass ihm der Reis hin und wieder von der Gabel fiel. Die beiden hörten freudetrunken zu, während sie erzählte. Öfter mal machte Clara eine kurze Pause, um sich noch einmal zu erinnern, wie es war, als sie bei dem Dreh dabei war. Vor allem, wie herrlich es war, als sie sich selbst im Fernsehen gesehen hatte. Diese Zeit würde sie nie vergessen. Und obwohl das ganze „Abenteuer“ schon sechs Jahre zurück lag, hatte sie das Gefühl, als wäre es erst gestern gewesen ...
An diesem herrlichen Abend wurde noch eine Menge geredet und gelacht. Bis Clara irgendwann spät in der Nacht nach Hause kam. Als sie um halb zwölf mit einem vollen Bauch über ihre eigene Türschwelle trat, war sie so müde, dass sie sich schnell ins Bett legte und so fest schlief, dass sie nichts, aber auch gar nichts hätte aufwecken können.
Am nächsten Tag war es eisig kalt. Alles, wohin man auch sah, die Straßen, Wiesen und Bürgersteige waren gefroren. Mit dicker Winterjacke machte sich Clara auf den Weg nach draußen. Da ein kalter und auch starker Wind wehte, ging sie nur eine kleine Runde mit Cora. Selbst durch die dicke Daunenjacke kam der eisige Wind durch. Endlich, als sie nach ihrem Spaziergang gegen zehn Uhr morgens wiederkam, spürte sie ihre Zehen nicht mehr – so eingefroren waren diese. Doch wie es kommen musste, ließ der Wind nicht nach. Nein, stattdessen wurde er sogar noch stärker.
Gegen Mittag fing es dann an leicht zu schneien, bis sich zum Abend hin ein gewaltiger Schneesturm auftürmte. Kalte und frostige Wintertage standen ihnen bevor, denn der Sturm wurde immer stärker und es hatte den Anschein, dass er erst jetzt richtig in Fahrt kam. Denn auch in den nächsten paar Stunden wurde das Wetter nicht besser. So wagte es Clara erst gar nicht, mit Cora hinauszugehen. Viel zu gefährlich.
So schneite es drei Tage hintereinander und es wollte einfach nicht aufhören. Doch mit der Zeit hatte es Clara satt, immer nur im Haus herumzusitzen. So kam es, dass sie mit dicker Winterjacke und gestricktem Schal einen Schritt nach draußen wagte, in der Hoffnung, es habe ein wenig nachgelassen. Aber wie es kommen musste, war der Schneesturm noch genauso stark wie zuvor. Nicht einmal mehr die eigene Hand konnte man vor Augen sehen. Es hatte aber alles keinen Sinn, der Hund musste trotzdem raus, da gab es keinen Zweifel. Also musste sie wohl oder übel mit Cora nach draußen, in dieses Unwetter.
Selbst die Mütze, die sie auf dem Kopf trug, nützte nicht viel, denn durch den starken Wind wurde sie immerzu weggeweht. Sie waren nicht mal zehn Minuten an der kalten Luft, da wurde es schon unerträglich.
„Du, ich glaub wir sollten doch wieder umkehren“, meinte Clara zu Cora. Während sie ihre Hand als Abdeckung für die Augen gegen den Wind streckte. In Windeseile machten sie kehrt und gingen zurück zum Haus. Cora lief zum Gartentor und wartete auf ihr Frauchen, denn wie immer brauchte Clara für sie keine Leine. Cora hörte einfach zu gut dafür. Doch was Clara vergaß, war, dass auch Cora bloß ein Hund war und ein bisschen Wolf in ihr steckte. Denn ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt war Cora läufig und als ein streunender Rüde ihnen über den Weg lief, war es auch schon um sie geschehen. Da half auch das verzweifelte Rufen ihres Frauchens nicht mehr. Clara konnte nur noch die Hinterläufe ihrer Hündin sehen, dann war diese im dicken Schnee verschwunden. Für eine Sekunde bleib sie wie versteinert stehen – nicht einmal ein Wimpernzucken war in ihrem Gesicht zu sehen – und ohne groß nachzudenken, rannte sie Cora hinterher- mitten hinein in die dunkle Nacht.
„Cora! Cora! Wo bist du? Cora ...!”
Clara peitschte der Schnee direkt in die Augen. Durch den zunehmenden Wind fiel es ihr schwer, den richtigen Weg beizubehalten.
Immer wieder schrie sie verzweifelt nach Cora, doch immer und immer wieder wurde sie enttäuscht, denn es kam niemals ein Hund mit diesem Namen zu ihr gelaufen. Clara liefen die Tränen an den roten Wangen hinunter, und während sie hoffnungslos nach ihrem Hund suchte, kam ihr nur ein Gedanke. Und zwar der eine und schreckliche Gedanke an Shadow; Shadows Tod!
Die Angst um Cora, dass sie für immer weg sein könnte, beunruhigte sie.
„Cora! Wo bist du!“
Clara gab ein tiefes Schluchzen von sich. Der Schnee-sturm war einfach zu stark, der Schnee zu tief und der Wind zu kalt, als dass sie noch hätte einen Schritt machen können. Ihre Beine spürte sie kaum noch, die Kälte hatte ihr die Muskeln eingefroren, so dass sie sich gerade noch an einen in der Nähe stehenden Baum lehnen konnte. Immer mehr Tränen quollen nun aus ihren Augen hervor. Nun hatte sie auch noch Cora verloren. Und alles war ihre Schuld, weil sie vergessen hatte, dass ihre Hündin läufig war. Je mehr Clara weinte, desto schuldiger fühlte sie sich. Obwohl sie sich immer geschworen hatte, die Hoffnung nie und nimmer aufzugeben, war sie nun an einem Punkt angelangt, wo sie dachte, ihren Schwur brechen zu müssen.
Aber dann, ganz plötzlich, hallte ein bekanntes Bellen durch die Luft. Sofort war Clara wieder hellwach und riss die Augen auf. Da, ein weiteres Bellen war zu hören. Ein Bellen, das nur eine hatte.
Wieder fing sie an zu rufen: „Cora! Cora wo bist du!“ Drei laute Bellen waren zu hören. Jetzt wusste auch Clara, woher sie kamen, nämlich direkt aus dem Wald.
Mit rot angelaufener Nase und halb erfrorenen Beinen, rannte sie durch die Straßen auf den Wald zu. Nun wurde das Bellen immer lauter. Durch die Dunkelheit konnte sie nicht sehen, wo sie hintrat, doch ihr Herz zeigte ihr den richtigen Weg.
Auch wenn es durch den Schneesturm fast unmöglich war, vorwärts zu kommen, rannte sie durch den schneebedeckten Wald.
„Cora! Wo steckst du! Cora!“
Das Bellen wurde nun immer lauter und Clara konnte durch das Mondlicht Hundespuren auf dem Schneeboden sehen. Ein dunkles Etwas kam aus der Dunkelheit auf sie zu gerannt. Clara bekam so einen Schock, als sie Cora auf sich zu rennen sah, dass sie vor Glück auf den Boden sank und Cora mit ihren steif gefrorenen Händen umarmte.
„Oh Cora. Ich hatte so Angst um dich!“ Tränen liefen aus ihren Augen.
„Ich dachte, ich würde dich nie mehr wiedersehen!“
Cora leckte ihr das ganze Gesicht ab, sodass es Clara noch kälter wurde, als der Wind gegen sie peitschte.
Aber lange bleib Cora nicht bei ihrem Frauchen. Aufgeregt tänzelte sie auf der Stelle herum. „Was ist denn?“, wollte Clara wissen. Cora drehte sich um und rannte weiter, als wollte sie Clara irgendetwas zeigen. „Wo führst du mich eigentlich hin?“ Clara rannte ihr nach und nach einer Weile, blieb der Hund stehen und bellte. Jetzt sah auch Clara, weshalb sie hierher geführt wurde. Vor einer alten verfallenen Eiche saß ein kleines Kind. Es hatte goldblonde, grob gelockte Haare. Ihr Körper war so schmal, dass Clara vermutete, dass dieses Kind seit Tagen nichts gegessen haben musste. Ob es ein Junge oder Mädchen war, konnte sie in dem Sturm nicht erkennen, doch was sie sah, machte sie traurig. Das Kind hatte sich zusammengekauert und streichelte mit der linken Hand Coras Kopf.
Clara kniete sich zu dem Kind hin. Angespannt suchte sie nach den richtigen Worten. „Dir ist doch bestimmt kalt.“ Sie zeigte mit ihrem Finger auf die halb zerfetzten Kleider, die das Kind anhatte. Es war nicht mehr und nicht weniger als ein T-Shirt, bei dem der rechte Ärmel fehlte und eine mehrfach geflickte Stoffhose.
Das Kind antwortete nicht. Doch Clara reichte ihr die Hand hin: „Komm, ich bring dich zu mir nach Hause, da ist es wesentlich wärmer als hier.“
Nach einer reichlich langen Pause erhob das Kind zum ersten Mal den Kopf und sprach mit direktem Blickkontakt zu Clara: „Gerne!“
Anhand der Stimme, die das Kind hatte, stellte sie fest, dass es sich um ein Mädchen handelte, mit dem sie redete. Sichtlich erstaunt darüber, dass das Mädchen so schnell einverstanden war, nahm sie ihre Hand und half ihr hoch. Schnee bröselte von ihrem T-Shirt.
Das Mädchen hatte gesehen, dass Clara etwas verdutzt schien, daraufhin meinte sie lächelnd: „Wer einen so lieben Hund hat, der kann einem nur was Gutes tun.“
Als sie bei Clara zu Hause waren, hatte sich der Schneesturm etwas gelegt. Im Haus war es herrlich warm. Im Gegensatz zu draußen, hätte man fast meinen können, sie stünden in einer Sauna.
Im Wohnzimmer setzte sich die Kleine auf die Couch und schaute sich behaglich um.
„Du hast ein schönes Haus“, sagte sie.
„Vielen Dank.“
Clara machte in der Mikrowelle eine Tasse Milch warm, in die sie zwei gehäufte Teelöffel Kakaopulver hineintat. Nervös reichte sie die Tasse dem Mädchen. Noch nie zuvor hatte sie ein Kind im Wald gefunden – wäre ja auch wunderlich gewesen, wenn so etwas ständig passieren würde – und deshalb war es nur selbstverständlich, dass sie nicht recht wusste, was zu tun war. Kurz überlegte sie, dann begann sie ein Gespräch mit der üblichen Frage.
„Sag mal, wie heißt du eigentlich?“
Das Mädchen lächelte und schaute sie an, als hätte sie nur auf diese Frage gewartet. Konzentriert sagte sie: „Ich heiße Melody. Melody Springfield.“
Clara runzelte die Stirn. Der Name kam ihr ziemlich bekannt vor, sie musste nicht einmal lange überlegen, da fiel ihr auch der Grund dafür ein. Denn dieser Name, war der gleiche, den sie sich vor vielen Jahren in ihren Träumen gegeben hatte. Kurios schien das ganze ja schon, aber sie wollte sich eine dumme Nachfrage dazu sparen und fuhr interessiert fort:
„Und wo sind deine Eltern? Wie bist du eigentlich in den Wald gekommen, bei so einem Sturm?“
Melody zögerte, lächelte dann wieder und sagte: „Meine Familie ist noch im Wald, wir hatten uns auf dem Weg hierher im Schneesturm verlaufen.“
„Hierher?“ Clara war verwirrt, irgendwie, so empfand sie, war an der ganzen Sache etwas faul, aber sie wollte ja nicht unhöflich sein.
„Deswegen mache ich mich jetzt auf die Suche nach ihnen.“ Nun verstand sie gar nichts mehr. Wer wollte schon bei dieser Kälte und dem Sturm freiwillig nach draußen und durch den Wald irren? Kein normales Kind würde halb erfroren aus einem wohl beheizten Haus in den Wald gehen, wo noch dazu alles dunkel war.
Clara riet ihr davon ab. „Ich glaube, du bleibst erstmal noch ein bisschen. Im Dunkeln findest du sie nie im Leben. Und außerdem kannst du doch nicht allein auf die Suche nach deinen Eltern gehen, was ist, wenn du dich wieder verläufst?“
Melody lächelte ein drittes Mal. „Du kommst also mit“, sagte sie bewusst.
Clara stotterte: „Äh, J-ja. Aber erst morgen früh, wenn es hell ist. Im Dunkeln haben wir selbst mit Taschenlampe keine Chance.“
Mit einem Nicken nahm sich Melody die Decke, die auf der Couch lag, stellte den Kakao auf den Tisch und deckte sich zu. Ein zaghaftes Lächeln brachte Clara über die Lippen, bevor sie ihr ein „Gute Nacht“ zuflüsterte. Dann ging sie mit leisen Schritten die Treppe mit Cora hinauf, als sie von unten etwas hörte.
„Schlaf gut, Clara!“
Und schon wieder war sie verwundert und grübelte noch lange Zeit in ihrem Bett darüber nach, woher Melody ihren Namen wusste. Sie war sich nämlich zu hundert Prozent sicher, dass sie die ganze Zeit über nicht ihren Namen in Melodys Gegenwart erwähnt hatte. Die ganze Sache war ihr aus irgendeinem Grund unheimlich. Denn kein Kind auf dieser Welt könnte in so einer Kälte draußen im Wald überleben und schon gar nicht, wenn es nur ein paar Lumpen anhatte. Und wieso sagte sie, dass sie sich auf dem Weg hierher verlaufen hatten? Und die größte aller Fragen war, wieso Melody wusste, wie sie hieß, ohne das Clara es je erwähnt hatte.
Dass Clara die ganze Nacht kein Auge zugemacht hatte, zeigte sich am nächsten Morgen, da sie nach dem Essen statt Zahnpasta Seife auf ihre Zahnbürste schmierte. Stattdessen war Melody fit wie ein Turnschuh und war schon ganz erpicht darauf, nach ihrer Familie zu suchen, sodass sie Clara drängelte, als diese den rechten mit dem linken Stiefel verwechselte.
„Du hast heute aber auch nicht deinen besten Tag erwischt.“
Clara verzog keine Miene, stattdessen nahm sie Coras Leine und ihren Haustürschlüssel in die Hand.
„Na dann lass uns mal auf die Suche gehen.“
Leichtfüßig trotteten sie durch den tiefen Pappschnee und hinterließen lauter Fußabdrücke. Endlich, nach drei Tagen Schneesturm, war es wieder friedlich in der kleinen Stadt. Nur ein kleines Lüftchen wehte hier und da. Jetzt schien auch die Sonne wieder in voller Pracht, sodass der Schnee in ihrem Licht wunderbar funkelte. Auch die Bäume leuchteten. Der Schnee, der auf ihren Zweigen lag schimmerte unnachahmlich schön. Schwer atmend stapften sie durch den Wald, wobei Melody immerzu die Ohren spitzte und nach einem- irgendeinem Geräusch horchte.
Leise Stimmen waren zu hören, je tiefer sie in den Wald hineingingen. Clara hatte zwar keinen blassen Schimmer, wo Melody hinging, doch sie folgte ihr stumm.
Ein erbärmliches Geräusch, ähnlich wie das von einem angeschossenen Hirsch, schallte durch den Wald. Clara bekam eine Gänsehaut, als sie es ein zweites Mal zu hören bekam. Melody hingegen kniff angespannt die Augen zusammen und lauschte angespannt dem Geräusch. Als sie dieses Rufen mit einem piepsenden Vogelschrei hinterher hörte, riss sie die Augen so weit auf, dass Clara dachte, sie würden gleich darauf platzen.
„Zoey!“
Melody rannte los. Das Rufen, das sie gehört hatten, wurde immer lauter und erbärmlicher. Clara rannte Melody so schnell sie konnte hinterher, doch sie konnte nur gerade so hinter ihr bleiben.
Auf einmal hörte sie zwei männlich klingende Stimmen, die ihr unheimlich vorkamen. Auch Melody hatte die Stimmen gehört und beschleunigte nun ihre Schritte. Es war zwar nicht besonders leicht, in dem tiefen Schnee schnell voranzukommen, aber schließlich kamen sie doch noch rechtzeitig zu der kleinen Lichtung, wo sich das Geschehen abspielte.
Clara sah erschöpft zu, wie ein wehrloses kleines Reh in einer Falle feststeckte. Zwei Jäger zielten aus sicherer Entfernung auf es. Jetzt begriff sie, dass das Reh die ganze Zeit um Hilfe geschrien hatte.
Keuchend beobachtete sie, wie Melody sich vor das Tier warf und drohend zu den zwei Jägern hinsah.
„Sie wollen Zoey töten, dann müssen sie zuerst mich töten.“
Clara gefror der Atem und sie verspürte einen Zorn, der in ihr aufloderte, als einer der beiden Jäger lachend aber ernst sagte: „Ach komm Kleine, verzieh dich.“
Melody aber dachte erst gar nicht daran. Sie blieb vor dem ängstlichen Reh stehen und schaut die Männer zornig an.
Einer der Jäger, dessen kleiner Ziegenbart eingefroren war, zielte auf die beiden, in der Hoffnung, Melody würde zur Seite gehen. Doch darauf konnte er lange warten.
Jetzt konnte auch Clara nicht mehr länger zusehen. Nervös griff sie ein und schlich sich von hinten an den Jäger mit dem Ziegenbart an. Als sie hinter ihm stand, nahm sie allen Mut zusammen und sprang ihm gegen die Schulter, sodass dieser vor Schreck das Gewehr fallen ließ.
Der andere Jäger sah, was geschehen war und ergriff Claras Oberarm. Die wiederum schrie laut auf.
Melody aber wirkte keineswegs beunruhigt. Sie ließ einen lauten Pfiff von sich, indem sie beide Finger in den Mund steckte.
Aus dem Wald kamen nun zwei Hasen angehoppelt und ein aufgeplusterter Vogel.
Der Vogel pickte an der Hand des einen Jägers herum, damit er Clara losließ, was daraufhin auch geschah. Clara nutzte den Moment und griff nach dem Gewehr, das der Jäger mit dem Ziegenbart hatte fallen lassen. Drohend richtete sie es auf die beiden. Während die zwei Hasen mit ihren scharfen Nagezähnen sich in die Beine der beiden Jäger rein bissen, befreite Melody das Reh aus der Falle.
Clara wirkte noch ernster, als sie das Gewehr auf die Brust des einen Jägers hielt und zischte: „In diesem Wald werden keine Tiere getötet! Verzieht euch!“
Zornig schauten sie in ihr Gesicht, doch dann entschlossen sie sich doch zu gehen, zumal ihre Beine Blutflecken hatten, da die zwei Hasen sichtlich Spaß hatten, an ihnen herumzunagen.
Als die Jäger geflohen waren, schrie einer der beiden: „Das werdet ihr noch bereuen!“ Ohne den beiden auch nur die geringste Aufmerksamkeit zu schenken, drehte sie sich um zu Melody, die das Reh in ihre Arme geschlossen hatte. Es hatte eine tiefe Schnittwunde, die durch den Druck der Falle entstanden war. Clara schaute nicht schlecht, als nun auch die beiden Hasen und der Vogel zu ihr kamen und Melody sie umarmte.
Cora, die das ganze Ritual aus einem sicheren Versteck beobachtet hatte, schlich hinüber zu Clara.
„Ach meine Lieben, gut, dass ich euch noch rechtzeitig gefunden habe.“
Clara runzelte die Stirn und räusperte sich. Melody blickte auf. „Ach so, ’tschuldigung Clara, dich hätte ich beinahe vergessen. Das hier ist, wie du siehst, meine Familie. Darf ich vorstellen, das hier ist Nugget.“ Sie zeigte auf die kleine Blaumeise links neben ihr.
„Das hier ist Ashley und der Rabauke hier heißt Bubbles.“ Nun deutete sie auf einen Hasen mit einem hochstehenden und einem hängenden Ohr, der Ashley hieß und auf einen Hasen, der wild zerzaustes Fell hatte, mit dem Namen Bubbles.
„Und das Tierchen, dem wir gerade das Leben gerettet haben, ist Zoey.“ Und sie drückte das Reh noch fester.
Clara war sprachlos. Nun wurde ihr die Sache noch unheimlicher. Wie konnte es möglich sein, dass diese Tiere Melody hören konnten und noch dazu war sie, wie es aussah, fest davon überzeugt, dass dies ihre Familie sei.
Melody wusste, dass Clara etwas verdattert war, doch sie ignorierte es. Clara spürte aber, dass sie irgendetwas sagen wollte, es aber nicht tat – aus welchem Grund auch immer. Von dem ganzen Tumult hatte sie Kopfschmerzen bekommen. Das Ganze grenzte schon nicht mehr an Realität. Alles was sie jetzt brauchte, war eine ordentliche Dosis Aspirin. Allein schon deswegen, da es wieder anfing zu schneien. Es wäre auch zu schön gewesen, wenn es so ruhig geblieben wäre. Das Wetter wendete sich und eine gewaltige Windhose ließ sie erschaudern.
„Ich glaube, es ist besser, wenn wir erst einmal zu mir nach Hause gehen und uns aufwärmen.“
Auch wenn Clara es nicht gewohnt war, vier wilde Tiere mit zu sich ins Haus zu nehmen, fügte sie grinsend hinzu: „Mit wir meine ich natürlich auch euch vier.“
Melody zwinkerte den Vieren zu und flüsterte zu ihnen, sodass Clara es nicht hören konnte:
„Wann soll ich es ihr denn sagen?“
Doch das Reh stupste sie mit der Nase an die Wange, um ihr zu zeigen, dass sie Clara erst einmal mit nach Hause folgen sollte.
So ging Clara mit Cora, einem merkwürdigem Mädchen, einem Vogel, zwei Hasen und einem Reh, dem sie soeben das Leben gerettet hatten, nach Hause.
Auf dem Weg zerbrach sie sich den Kopf, was das wohl alles zu bedeuten hatte. Doch vor allem wollte sie wissen, was Melody mit den Tieren zu tun hatte. Und weshalb sie aus heiterem Himmel ihren Namen wusste. Nebenbei fragte sie sich, ob es Zufall war oder nicht, dass das Reh um Hilfe gerufen hatte und Melody es verstehen konnte. Was auch immer hinter diesen geheimnisvollen Sachen stecken mochte, Clara glaubte – und da war sie sich sicher – dass das alles einfach nur purer Zufall war, und sich alles mit der Zeit auf natürlichem Wege klären würde.
Wenn sie sich da mal nicht irrte ...
Mit der Zeit flogen nur noch hier und da ein paar Schneeflocken auf die Erde. Gemeinsam erreichten sie das Gartentor. Clara und Cora gingen voran. Melody und ihre „Familie“ trottete hinter ihnen her. „Du kannst dir schon mal die Schuhe ausziehen. Ich will nur noch mal schnell raus und ein bisschen Schnee schippen.“ Melody nickte und ließ die Tür ins Schloss fallen.
Währenddessen holte Clara einen großen Schneeschieber aus dem Schuppen und schippte den Weg vom Gartentor zur Haustür frei. Cora spielte in der Zeit mit den fusseligen Schneeflocken, die einen weißen Mantel auf ihrem dunklen Fell bildeten.
Den vielen Schnee wegzubekommen fiel Clara nicht sehr leicht, denn es brauchte ein gewissen Maß an Muskelkraft, um zehn Kilo Schnee zur Seite zuschieben. Als sie den Weg frei geschippt hatte, türmten sich an den Rändern hohe Schneeberge empor.
„So, das hätten wir.“ Clara stellte den Schneeschieber wieder in den Schuppen und klopfte sich den Schnee von der Hose.
„Kommst du mit rein?“, fragte sie Cora, die immer noch mit dem Schnee spielte. Cora gab ein Schnaufen von sich und stöberte dann weiter in dem kalten Weiß. Derweil war ihre schwarze Nase ganz weiß.
„Na gut“, meinte Clara, „wenn du dich doch entschlossen hast mit reinzukommen, dann komm durch die Hundeklappe.“ Und dann ging sie wieder ins Haus. Im Flur zog sie ihre nassen Schuhe, sowie die dicke Jacke aus. Dann ging sie in die Küche, wo sie schon sehnsüchtig erwartet wurde.
„Also.“ Clara schloss die Tür und widmete sich wieder ihrem ungewöhnlichen Besuch.
„Also, ich will ja nicht unhöflich sein, aber ... nun ja, wer seid ihr?“ Melody holte Luft um darauf zu antworten, doch dann kam ihr das Klingeln des Telefons in die Quere. Clara hob den Hörer ab: „Hoffmann.“
„Hallo Clara, ich bin’s.“ Es war Maggie.
„Hallo Maggie! Wie geht’s?“
„Ganz gut, danke. Und dir?“
„Kann mich nicht beschweren.“
„Also der Grund, weshalb ich anrufe, ich wollte dich fragen, ob du nicht vielleicht Lust hättest, mit mir und Sven Silvester in London bei meinen Eltern zu feiern.“
„In London? Na klar! Wann wollt ihr denn los?“, fragte Clara, ihre Augen auf Nugget, der kleinen Blaumeise gerichtet, die es sich auf der Lampe im Wohnzimmer bequem gemacht hatte.
„Am zweiten Weihnachtsfeiertag geht unser Flieger los. Wir haben dich auch schon für den Flug angemeldet. Ich konnte mir ja denken, dass du diese Reise nicht verpassen wolltest.“ Damit hatte Maggie Recht, doch Clara wollte sichergehen. „Und Cora? Ich meine, ich fliege nicht ohne sie.“
„Was denkst du denn von mir? Natürlich kommt sie auch mit. Also was ist, kommst du dann am zweiten Feiertag um acht Uhr zu uns? Wir wohnen solange bei meinen Eltern, bis zum zweiten Januar. An meinen Vater kannst du dich ja bestimmt erinnern.“
„Allerdings.“
An Ronald, Maggies Vater, konnte sich Clara noch sehr gut erinnern, denn er hatte sie ja schließlich nach England gebracht und die Regisseure davon überzeugt, dass sie die Filmrolle genauso gut spielen könnte wie jeder andere richtige Engländer auch.
„Also kann ich mich auf dich verlassen?“
„Ja klar, bis zum 26. dann. Und frohe Weihnachten schon mal und bestell auch einen schönen Gruß an Sven.“
„Ja mach ich, frohe Weihnachten. Bis dann.“ Clara legte den Hörer wieder auf.
„Wer war das?“, wollte Melody wissen. Clara war auf diese Frage nicht vorbereitet, sie hatte schon längst wieder vergessen, dass sie überhaupt Besuch hatte. „Ach das, das war nur meine Nachbarin, sie wollte fragen, ob ich nicht Lust hätte, mit ihr und ihrem Freund Silvester zu feiern.“
Nachdenkend schaute sie in die Runde, alle schwiegen, dann hakte Clara von neuem mit ihrer Frage nach.
„Also, um noch mal drauf zurückzukommen, wer seid ihr und warum seid ihr hier? Ich mein’, ich hab’ noch nie jemanden gesehen, der so gut mit wilden Tieren kommunizieren kann. Und überhaupt, warum warst du in so einer eisigen Nacht im Wald?“
Melody schaute fragend zu Zoey, dem Reh. Zoey nickte und stupste Melody dann mit ihrer feuchten Nase an die Wange.
„Nun ja“, begann Melody, „am besten du setzt dich erst einmal.“ Clara tat wie ihr befohlen.
„Ich weiß zwar nicht, wie ich es dir sagen soll, aber ... na ja, du bist eine Hexe.“ Melody presste ihre Lippen zusammen und schaute tief in Claras Augen. Clara wiederum wurde vollkommen blass. Sie fing an zu kichern.
„Eine Hexe? Ja klar und am Ende wollt ihr mir noch erzählen, dass mein Vater ein Zauberer war.“
„Nun ja, das war er auch.“ Clara verzog das Gesicht. Ihr Magen verkrampfte, sodass sie kaum einen Ton raus bekam.
„Ach er war ... ein Zauberer. W-wie bitte? D-das soll jetzt ein Scherz sein, nicht war? So etwas wie Hexen oder Zauberer gibt es nicht. Wir leben hier in einer realen Welt, da gibt es so was wie Zaubersprüche nicht.“
„Tja, das denkst du, aber was glaubst du, was es noch alles hinter dieser uns bekannten Welt gibt.“
Melody klang ziemlich überzeugend, sodass Clara ihr leicht Glauben schenkte. „Moment! Und das ist jetzt nicht so was wie ein Scherz? Ihr meint also wirklich ich ... ich ... ich bin eine Hexe? So eine Hexe mit Zauberstab und Besen?“ Melody nickte.
„Ach du meine Güte!“, flüsterte Clara schnell vor sich hin. „Gut, dass ich sitze.“
Sie schloss für kurze Zeit die Augen, um zu begreifen, was man ihr weismachen wollte.
„Und was bist du? Du bist dann doch auch so was wie eine Hexe? Oder wie?“ Melody schmunzelte ein wenig bei den vielen Fragen, die Clara da anhäufte.
„Hä? Also jetzt versteh’ ich überhaupt nichts mehr!“ Clara stand auf, fasste sich an die Stirn und machte die Augen zu. Im Flüsterton sprach sie: „Das ist alles nur ein Traum...das spielt sich alles nur in deiner Fantasie ab ...“
„Ich glaube, es ist besser, wenn du ihr erst mal erzählst was los ist“, plötzlich fing Zoey an zu sprechen. Clara öffnete erstaunt ihre Augen.
„Du kannst sprechen?“
„Ja allerdings, ich kann sprechen. Genauso wie Ashley, Bubbles und Nugget.“ Das war nun endgültig zu viel für Clara, mit einem heftigen Plumps ließ sie sich wieder in den Sessel fallen.
„Ich glaub’ es ist wirklich besser, wenn du ihr erst mal alles von uns und der Traumwelt erzählst“, meinte Ashley, die Häsin mit dem Hängeohr. „Traumwelt?“, wiederholte Clara skeptisch.
Melody fing nun an zu erzählen: „Ja, die Traumwelt, wir alle hier kommen aus dieser einzigartigen Welt, einer Welt jenseits der Wolken. Diese Welt ist das Zuhause von den Träumen und Hoffnungen der Menschen auf Erden. Natürlich leben in unserer Welt auch Elfen, Feen, Fabelwesen, Zauberer und Hexen, so wie du eine davon bist. Es gibt noch vielerlei andere Lebewesen in dieser Welt, aber dazu kommen wir später. Nun, weißt du, es ist ähnlich wie bei euch in der Menschenwelt, dort gibt es Bundeskanzler und Bundespräsidenten und so was. Bei uns gibt es so was nicht. Dafür herrscht bei uns eine Wolkenkönigin, Amarna. Sie sorgt dafür, dass es in unserer Welt ruhig zugeht und dass die Träume und Hoffnungen der Menschen auf Erden sicher bei uns im Schloss aufbewahrt werden. Natürlich hat Sie auch einen Bruder, Ray.“
„Lass mich raten, und der ist böse“, unterbrach sie Clara scherzend, woraufhin Melody kurz lächelte.
„Ja, so ist es. Es ist viele Jahre her, du warst noch nicht geboren. Zu dieser Zeit entschied Amarna und Rays Mutter am Sterbebett, wer von den beiden von nun an das Land regieren sollte. Da Ray schon früher nur Unsinn im Kopf hatte, entschied ihre Mutter, dass Amarna die neue Wolkenkönigin von der Traumwelt sein sollte.“
„Also, das ist ja alles schön und gut. Aber was hat das mit mir zu tun. Ich mein’, warum erfahre ich jetzt erst, dass ich eine Hexe bin, wenn doch mein Vater auch ein Zauberer war. Das hätte er mir dann doch gesagt. Warum hab’ ich all die Jahre bei den Menschen gelebt, wenn ich doch eine Hexe bin und in eine andere Welt gehöre?“
Melody lächelte ein zweites Mal und schaute wartend hinüber zu Zoey. Dass sie auf diese Fragen nicht antworten wollte, sah Clara deutlich. Insofern wollte sie von neuem ihre Fragen stellen. Doch, als hätte es Melody geahnt, meinte sie: „Ich glaube, es ist an der Zeit, dass du deine wahre Welt kennen lernst.“
Auf einmal vergaß sie völlig, was sie fragen wollte. Stattdessen klappte ihr Mund auf und hinaus strömten verblüffte und verdatterte Worte.
„Wie jetzt? Ich kann mit zu euch in diese Traumwelt? Jetzt sofort?“
„Ja aber natürlich, du bist ein Teil von ihr.“
Clara war fassungslos. Nie hätte sie daran gedacht, dass es irgendwo auf der Welt oder irgendwo sonst noch eine andere Welt geben würde. Für sie gab es immer nur den Planeten Erde. Dass es so etwas wie Feen, Elfen, Hexen und Fabelwesen gab, war ihr völlig fremd. Und dass sie selbst eine Hexe sein sollte, eine richtige Hexe, daran hätte Clara im Traum nicht gedacht. Umso schöner war es für sie jedoch, als sie es erfahren durfte.
„Kommst du dann?“, fragte Ashley.
„Äh, ja, ja. Aber kann Cora auch mitkommen?“
„Ja natürlich!“, zwitscherte Nugget. Clara machte die Tür auf und rief nach Cora, die natürlich sofort angerannt kam. „Komm Cora.“ Die Hündin legte den Kopf schräg und ging mit ins Haus hinein.
„Und wie kommen wir in diese Traumwelt?“, wollte Clara wissen, die es kaum noch erwarten konnte. Melody plante zu antworten, doch Bubbles flüsterte ihr etwas ins Ohr.
„Ach so! Fast hätte ich’ s vergessen. Du hast doch so ein Medaillon. Es wäre besser, wenn du es mitnehmen würdest.“ Clara runzelte die Stirn. Aber an das Medaillon konnte sie sich noch gut erinnern. Wie eine Trophäe hing es im Wohnzimmer neben dem Kamin.
„Wieso? Moment mal, woher wisst ihr von meinem Medaillon?“
„Das ist eine andere Geschichte.“ Ohne weiter nachzuhaken holte sie ihr Medaillon, das aussah wie eine vergoldete Muschel und hängte es sich um den Hals. Melody warf noch einen letzten Blick auf es, bis sie dann einen himmelblau leuchtenden Stab aus ihrer Tasche holte, der mit dunkelblauen Schnüren verkleidet war. Das Mädchen sprach etwas, was sich wie ein Zauberspruch anhörte. Mit einem leuchtenden Strahl, der aus dem Stab kam, verschwand alles um sie herum. Clara wurde ganz schwindelig, um sie herum drehte sich alles. Und sie fühlte sich, als säße sie in einem von diesen Free Fall Towern. Es war das gleiche mulmige Bauchgefühl, wie wenn man 20 Meter in die Tiefe fällt.
Plötzlich fühlte sie wieder Boden unter ihren Füßen. Nein, eigentlich fühlte sie den Boden unter ihrem Bauch. Der eigenartige „Free Fall Tower“ war zu Ende. Schwindelig stand sie von dem Gras auf und schaute sich um. Und was sie dort sah, war nicht ihr Wohnzimmer oder Vorgarten, dass, was vor ihr lag, war eine andere Welt. Eine Welt, nicht von dieser Erde. Es war – die Traumwelt. Clara musste mehrmals blinzeln, doch konnte sie trotzdem nicht glauben, was sie sah.
Vor ihnen lagen unzählige matt-grüne Wiesen. Die Bäume waren alle, bis auf ein paar Tannen, kahl. Zwischen den Wiesen plätscherte ein breiter Bach; sein Wasser war so klar wie der morgendliche Tau. Um diesen Bach zu überqueren, hatte man eine alte, hölzerne Brücke gebaut. Gespannt musterte sie die ganze Umgebung und kam aus dem Staunen gar nicht mehr raus. Die vielen hohen Bäume sahen trotz ihrer Kahlheit aus wie aus Zuckerguss, in der Ferne lag ein kleines Dorf mit vielen kleinen Häuschen. Man fand Wasserfälle, mit so strahlend klarem Wasser, wie man es nur in der Karibik sah. Das Gras war so weich wie Wolle. Wohin man auch sah, es war alles wie gemalt, wie in einem kleinen Bilderbuch, nur viel, viel lebendiger.
Clara machte ein paar Schritte über die Brücke und konnte es kaum fassen. Hier stand sie nun. Leibhaftig und auf eigenen Beinen, mitten in einer Welt jenseits der Wolken und jenseits all ihrer Vorstellungskraft..
„Tja, das ist die Traumwelt. Dein Zuhause“, sagte Melody mit einer lieblichen Stimme.
„Wahnsinn, es ist wunderschön!“ Clara kam wirklich nicht mehr aus dem Staunen heraus und auch Cora gefiel diese Welt. Begeistert sprang sie durch die Wiesen und tobte umher.
Indes breitete Clara die Arme aus, holte tief Luft, schloss die Augen und ließ sich vom Wind treiben.
„Nun, wir wollen keine Zeit verlieren“, meinte Zoey, „Lasst uns zum Schloss gehen.“
„Dem Schloss?“, fragte Clara, die die Augen wieder geöffnet hatte.
„Ja, das Wolkenschloss, auch genannt Morrighan. Dort lebt Amarna zusammen mit vielen Feen und Elfen.“
„Und was ist mit den Hexen und Zauberern? Dürfen die nicht ins Schloss?“
„Ach Clara. Hab Geduld.“ Clara schmunzelte. Das sie auch immer so viele Fragen stellen musste.
Gemeinsam liefen sie über die Brücke, durch die Felder und die Blumenwiesen, bis sie vor einem riesigen Schloss stehen blieben. Clara riss die Augen auf. Erst kürzlich war sie fest davon überzeugt, dass man das, was sie soeben gesehen hatte, nicht mehr toppen konnte, doch da hatte sie sich gewaltig geirrt.