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Endlich Sommerferien! Wie sehr hatte sich Melody auf diese Ferien gefreut – bei ihrer geliebten Tante wohnen und jeden Tag mit Riley und ihren beiden Freunden Ashley und Dan verbringen. Doch der Schein trügt. Ein kurzer Anruf und schon bricht eine Welt für sie zusammen: Lilly soll wieder in den Krieg ziehen ... So ist Melody auf sich alleine gestellt, doch ahnen sie und ihre Freunde nicht, was im neuen Jahr auf sie zu kommt. Eine spannende Reise voller Abenteuer und Zauberei liegt vor ihnen ... Wahre Freundschaft kommt am schönsten zur Geltung, wenn es ringsumher dunkel wird!
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Seitenzahl: 672
Veröffentlichungsjahr: 2013
Titelseite
Impressum
Widmung
MASAO
DER LETZTE SOMMER
BIS WIR UNS WIEDERSEHEN!
LEX STILLMAN
DER BRIEF
FROSTIGE WEIHNACHTEN
PHILADELPHIA; PENNSYLVANIA
Das Nordlicht und der alte Mann
UM LEBEN UND TOD
WUNDER GESCHEHEN IMMER WIEDER!
G OLDENE FLÜGEL
WAIKIKI SPRINGS
TARNUK
VERSCHOLLENE SCHRIFTEN
TROLLE
A NNA UND BERNADETTE
E S WAR EINMAL …
JUSTINS GESCHICHTE
DER ANFANG VOM ENDE
DER ZAUBER DER NORDLICHTER
RILEYS GEHEIMNIS
NUR DER GLAUBE ZÄHLT
LEXIKON
Zaubersprüche
Süßigkeiten
MagicSweets
Wolfssprache
Wesen
Gattung der Drachen
Der Ältestenrat
Deutsche Übersetzung (Lied)
Jessica Vonthin
Der Zauber der Nordlichter
Engelsdorfer Verlag 2010
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
eISBN: 978-3-86901-990-1
Copyright (2010) Engelsdorfer Verlag
Coverfoto © LEX - Fotolia.com
Alle Rechte bei der Autorin
www.engelsdorfer-verlag.de
Für meine Eltern
In der Tiefe eurer Hoffnungen und Wünsche liegt euer stilles Wissen um das Jenseits; Und wie ein Samen, der unter dem Schnee träumt, träumt euer Herz vom Frühling. Traut den Träumen, denn in ihnen ist das Tor zur Ewigkeit verborgen.
Khalil Gibran, Der Prophet
Ein neuer Morgen in den Sommerferien hatte begonnen. Die frische Sommerluft trat vorsichtig durch das gekippte Fenster in Melodys Zimmer. Dieses war zwar recht klein, aber dafür sehr stilvoll dekoriert:
Gegenüber einem langgezogenen Fenster stand ein kleiner Schreibtisch aus einer Mooreiche. Rechts davon stand eine Yuckapalme und links zierte eine große Holzgiraffe das Zimmer. Neben dem Fenster stand zudem noch ein Kleiderschrank, ebenfalls aus Mooreiche. Gegenüber von alldem, stand ein kleines Bett, auf das die Sonnenstrahlen schienen. In der Ecke standen eine Couch sowie ein kleiner Tisch mit zwei kleinen Sesseln. Das alles stand auf einem runden Teppich, der in einem Afrikamuster marmoriert war.
Melody war gerade aufgestanden, als Cora für sie die Hausschuhe zurechtlegte.
„Danke.“ Sie fuhr ihr mit der Hand durch das glatte Fell. Munter ging sie die kleine Treppe hinunter. In der Küche angekommen, sah sie ihre Tante, die Zeitung las und dazu ihren morgendlichen Kaffe trank. „Guten Morgen“, gähnte sie.
Ohne aufzuschauen erwiderte Lilly: „Nah, auch schon wach.“ Melody nickte und machte sich eine Schüssel Müsli. Während sie ihr Müsli aß, schaute sie hin und wieder zu ihrer Tante, die einen ernsten Blick in die Zeitung machte.
„Das gibt es doch nicht! So ’ne Schweinerei“, fluchte sie.
„Irgendwas nicht in Ordnung?“
„Ach ne, nichts. Sag mal, was hast du eigentlich heute vor zu machen?“
Für einen kurzen Augenblick herrschte Stille, bis sie von Melodys Stimme unterbrochen wurde.
„Hmm, ja ich treff’ mich mit Riley.“
„Was wollt ihr denn machen?“
Melody legte die Stirn in Falten. „Nichts Besonderes.“
„Aber macht bloß keine Dummheiten.“
Mit einem Nicken ging sie davon, stellte die leere Schüssel in die Spülmaschine und schaute auf die Uhr.
„Oh! Ich muss gleich.“ Mit einem Satz hechtete sie los in ihr Zimmer und versuchte was Passendes zum Anziehen zu finden. Aber nichts wollte so richtig gut aussehen.
Schließlich entschied sie sich für ihre weiße Capri Jeans und ein schwarzes Neckholder Top.
Schnell trug sie noch etwas Wimperntusche und Kajal auf, bevor sie wieder nach unten ging.
Bereits auf der Treppe hörte sie ihre Tante am Telefon sprechen.
„Und sie sind sich da ganz sicher…? Muss das wirklich sein …? Okay, ich hab verstanden. Und wann …? Ich versuch’s. Danke für ihren Anruf.“
„Wer war das?“
Lilly hatte sie nicht bemerkt und schien etwas unvorbereitet auf diese Frage zu sein.
„Jemand, den du nicht kennst.“
„Was wollte er?“ Melody merkte, dass Lilly ziemlich beunruhig war: „Wolltest du nicht wohin?“
„Ja, Riley holt mich ab. Eigentlich müsste er schon da sein.“
Sie hatte den Satz gerade zu Ende gesprochen, da klingelte es auch schon an der Tür.
Riley stand in kakifarbenen Bermudas vor ihr. In seinen Händen hielt er einen kleinen Blumenstrauß. „Hier, für dich.“
Mit einem Lächeln nahm Melody den Strauß an sich und roch daran. „Danke, die sind schön.“ Melody warf noch einen letzten Blick auf ihre besorgte Tante. „Wir geh’n dann Lil.“ Die Tür fiel ins Schloss, die frische Sommerluft hüllte sie ein wie ein wohl duftender Schleier. Riley nahm aus seiner Hosentasche ein Halstuch und verband damit Melodys Augen.
„Was wird das?“
„Wirst schon sehen, ich führe dich.“
Auch wenn Melody nichts sehen konnte, merkte sie, dass sie einen Berg oder Hügel oder etwas Ähnliches hinaufliefen.
„Sind wir bald da?“, fragte sie.
„Ja, noch ein paar Schritte.“
Kurze Zeit später blieben sie stehen, und Riley nahm ihr das Halstuch von den Augen.
„Tadda!“
Melody’s Augen weiteten sich wie Hefe. „Wahnsinn!“
Sie standen auf einer Waldlichtung eines Felsvorsprungs. Der Abhang war beträchtlich hoch, an ihm schnitten sich große spitze Felsen. Jedoch war die Aussicht von dort oben atemberaubend. Von dort aus konnte man fast über ganz Nebula schauen. Man sah Morrighan sowie Morville. Aus dieser luftigen Höhe war es sogar möglich, zwar nur ganz schwach, das Haus von Melody’s Tante in dem kleinen Dorf Chiyo zu erkennen.
Ihr Blick schweifte über den Boden. Dort im frischen Gras lag eine karierte Decke und neben dieser stand ein vollgepackter Picknickkorb. Ein breites Lächeln zog sich durch ihr Gesicht.
„Das hast du schön vorbereitet.“
Sie umarmte ihn zärtlich und spendierte Riley auch zugleich noch einen Kuss.
Derzeit lief es zu Hause bei Lilly gar nicht so rosig. Sie saß immer noch auf dem Stuhl und dachte nach.
„Was mach ich nur?“
Sanft streichelte sie Cora den Kopf. „Ich werde dann mal losgehen. Pass du schön aufs Haus auf.“ Gleich darauf stand sie auf und zog sich die Schuhe an.
„Ich muss ja noch eine Nachricht hinterlassen.“ Lilly griff nach einem Zettel und einem Stift und schrieb darauf:
An Melody,
bin mal kurz weg. Es ist dringend. Werde aber bis zum Abendessen wieder zu Hause sein.
Deine Lilly
Den kleinen Zettel legte sie auf den Küchentisch. Sorgfältig schloss sie die Tür und holte ihren Besen aus der Garage. Sie saß auf und mit einem gewaltigen Satz stieß sie in die Luft.
Hoch oben in den Wolken wehte eine herrlich frische Prise, die Lilly das von der Sonne gewärmte Gesicht abkühlte.
Der lange Flug zog sich wie Kaugummi. Sie flog in Richtung Südosten, es war eine leicht hügelige Landschaft, Berge ragten empor, Nadelwälder streckten sich über ganze Landstriche und hier und da gab es gelegentlich ein paar Seen mit türkisblauem Wasser, sodass man hätte meinen können, es wäre Kanada.
Nach nicht allzu langer Zeit konnte man ein recht großes und rundes Haus mitten in der Landschaft wahrnehmen. Es bestand aus Messing und hatte eine runde Kuppel, die aus Glas war, sodass man den Himmel über einem erkennen konnte. Lilly machte sich für die Landung bereit. Schon nach kurzer Zeit hatte sie wieder festen Boden unter den Füßen. Mit einem Seufzen ging sie, ihren Besen in der rechten Hand haltend, den schmalen Steinweg entlang, der zur Eingangstür führte.
Die große, versilberte Tür wies an manchen Stellen kleine Verschnörkelungen von erhobenen Kriegern auf. Ein Türklopfer in Form eines Löwenkopfes ermöglichte es ihr, anzuklopfen. Schon nach wenigen Sekunden ging eine Klappe in der Tür auf und zwei große Augen schauten durch den Schlitz.
„Wer ist da?“, es war eine quiekende aber zugleich liebe Stimme.
„Hier ist Lillyanne Rush. General Masao bat mich, zu ihm zu kommen.“
„Ah, Mrs. Rush, wir haben sie schon erwartet.“
Die große Tür ging mit einem leisen Quietschen auf. Es war eine kleine Elfe, die ihr die Tür öffnete. Sie hatte große voluminöse Ohren und ein bisschen Haarwuchs auf dem Kopf. Der Körper war recht klein, allerdings war der Kopf dreimal so groß wie der Rest. Die Hautfarbe der kleinen Elfe war leicht türkis, nur das Gesicht war weiß.
„Schön, Sie wiederzusehen.“
„Ja, danke Miu. Hier hat sich aber in den letzten Jahren einiges verändert.“
„Das ist ja auch kein Wunder Miss, es ist über zehn Jahre her, dass Sie das letzte Mal hier waren.“
Die kleine Elfe namens Miu führte sie durch einen langen Korridor. An den Wänden hingen Bilder von Verstorbenen oder verehrten Personen, Personen die mit dazu beigetragen hatten Ray zu stoppen, zum Teil aber mit ihrem Leben dafür bezahlen mussten.
Sie gingen immer weiter und am Ende dieses Korridors hing je ein Bild von Melodys Eltern.
Lilly blieb davor stehen und schaute sie an.
„Die Bilder sind auch schon einige Jahre alt. Wie glücklich Alice da aussah.“
„Ja, die beiden wahren wirklich wahre Helden.“
„Schade, dass Melody diese Bilder nicht sehen kann.“ Lilly hatte diesen Satz gerade erst zu Ende gesprochen, da öffnete Miu auch schon die Tür am Ende des Korridors.
Helles Licht, das durch die Glaskuppel schien, überraschte sie.
Lilly trat durch die Tür und stand soeben in einem gewaltig großen Raum. Überall standen Säulen, Teppiche waren ausgelegt und an manchen Ecken standen auch große Aquarien mit großen Fischen.
Ganz hinten im Raum, zwischen mehreren Soldaten und weiteren Türen, stand ein großer Thron, auf dem ein großer muskulöser Mann saß. Er hatte schokobraune Haut und sein Gesicht war eher rundlich, die Augen waren rehbraun und die Stimme majestätisch.
Lilly machte ein paar Schritte zu ihm. Als sie genau vor ihm stand, verbeugte sie sich höflich.
„Euer General.“
„Lillyanne, es freut mich, Sie nach all den Jahren wiederzusehen. Ich weiß, mein Anruf hat ihnen sicherlich viele Fragen aufgeworfen.“
„So ist es, Masao. Es ist mir ein Rätsel, warum ich nach all den Jahren wieder hier erwartet werde.“
Masao schaute sie sehr ernst an. Nach wenigen Sekunden des Schweigens kam er zu Wort. „Nun, wie Sie wissen, Lillyanne, tun unsere Truppen alles Erdenkliche, um die Kriege zu beenden. Vor wenigen Wochen noch waren wir an der Nordgrenze des Eislandes. Rays Truppen jedoch überraschten uns im Nachtlager, es war uns also schier unmöglich sein Heer zu bezwingen. Die meisten seiner Gefolgsleute besaßen überaus mächtige Zauber, denen die meisten von uns weit unterlegen waren. In dieser Nacht wurden viele unserer Männer getötet, es gab keinen, der nicht ohne eine Verletzungheimkehrte. Es war ein Blutbad, in dem die Überlebenden kämpften. Nach einigen Stunden waren wir zum Rückzug gezwungen.
Seine Heere sind uns überlegen, die Zauber, die seine Gefolgsleute besitzen, sind unberechenbar. Den meisten schmorten sie Gliedmaßen ab, manche aber töteten sie gleich. Mein jüngerer Bruder Topa wurde Opfer eines Feuerzaubers. Sein ganzer Körper wurde entstellt. Nun befindet er sich im psychiatrischen Krankenhaus, im Süden des Sonnentals. Nie wieder wird er ein normales Leben führen können.“ Seufzend brach er ab.
Lilly senkte ihr Haupt. Sie konnte dem General nachfühlen, wie es war, wenn man seine Liebsten verlor.
„Aber Topa ist nicht der einzige große Verlust …“, begann der General wieder, „von ungefähr 200 Männern, die in die Schlacht gezogen waren, sind grade mal 70 verletzt zurückgekehrt.“ Wieder stoppte er. Doch jetzt war es Lilly, die nachhakte.
„Das tut mir leid. Aber –, ich verstehe immer noch nicht, was das alles mit mir zu tun hat.“
Masao holte Luft.
„Unter den 130 gefallenen Kriegern befindet sich auch Ryo.“
Lillys Augen weiteten sich.
„Ryo? Aber das war doch der Kommandant. Er war doch immer viel zu lebhaft und kampfbereit, um sterben zu können. Wie konnte das passieren?“
„Auch wenn Ryo mit zu den Besten gehört hatte, war er trotzdem nur ein Krieger. Zwar war er derjenige, der mit die meisten Zauber kannte, doch diesmal versagten seine Kenntnisse.“
„Wie ist er gestorben?“
„Ryo wurde Opfer eines Ork, mit einem Dolch stach er ihm von hinten in den Rücken.“
„Aber die meisten Orks benutzen Zauber, um ihre Gegner zu besiegen.“
„Dieser nicht. Bei Rays Truppen muss man auf alles gefasst sein.“
Eine lange Minute schwiegen sie, während Lilly über all das nachdachte. Doch noch immer wusste sie nicht, was sie mit all dem zu tun hatte.
Der General holte erneut tief Luft und sagte in einem Satz: „Unser Kommandant ist tot, es gibt niemanden, der ihn besser ersetzen könnte als Sie!“
Lilly stand der Mund offen. Es dauerte eine Weile, bis sie realisiert hatte, was Masao gesagt hatte.
„Ich weiß, ich verlange Großes von dir, aber du bist die Einzige, die würdig ist seinen Platz einzunehmen. Du hast uns früher gezeigt, dass du es kannst. Mit dir hatten wir nie eine Schlacht verloren. Steh uns bei, werde die neue Kommandantin des Wolkenlandes! Unsere Truppen brauchen dich.“
Der General hatte seine Stimme gesenkt, sie klang nun nicht mehr majestätisch, sondern eher wie ein Vater, der zu seiner Tochter fürsorglich spricht.
„Ich kann nicht. Es tut mir leid Masao, aber ich hatte mich damals schon entschieden, von all den Kriegen fernzubleiben. Ich bin Lehrerin in Morrighan.“
„Amarna würde das verstehen.“
„Sie vielleicht, aber nicht Melody.“
„Ist sie wieder da?“
„Allerdings und ich kann sie nicht wieder alleine lassen. Sie ist ein Teil von mir. Was soll sie tun, wenn ich mit euch in die Schlachten ziehe? Die Ferien, wo soll sie die verbringen, was ist, wenn ich auch in einem Kampf mein Leben verliere? Ich hab eine Verantwortung für sie.“
Lange sahen sich beide in die Augen.
„Es tut mir Leid.“
Lilly wollte sich gerade abwenden, als sie von Masao zurückgerufen wurde.
„Lillyanne, warten Sie!“
Zum ersten Mal während dieses Gesprächs stand Masao auf. Er ging zu ihr.
„Ich will deine Entscheidung nicht beeinflussen, aber eines will ich dir noch mitteilen. Wenn wir keinen neuen Kommandanten oder eine neue Kommandantin finden, werden unsere Truppen denen von Ray noch unterlegener sein als jetzt. Er wird dann irgendwann das gesamte Land beherrschen und dann auch Melody. Sie wird wie alle anderen sterben. Es liegt an dir, was aus ihr wird. Sprich mit deiner Nichte. Ich bitte dich, noch mal über das, was ich gesagt habe, nachzudenken. Aber sag mir am Ende des Sommers Bescheid, bitte.“
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, wandte sie sich ab und ging.
Mittlerweile war es schon später Nachmittag, langsam zog sich die Dämmerung über das Land. Lilly setze sich wieder auf ihren Besen und stieg in die Luft auf, in Gedanken bei Melody und dem Krieg.
Während Lilly weit weg von zu Hause war, kamen Melody und Riley heim.
„So was sollten wir öfter machen“, meinte Melody, als sie die Klingel berührte.
„Die Ferien sind ja noch lang.“
Melody wartete bis jemand die Tür aufmachte, doch Lilly kam nicht. Das Einzige, was sie hören konnte, war Coras Bellen.
„Wieso macht keiner auf?“
Durch die Scheiben in der Tür konnte sie Cora sehen, und so versuchte sie ihr zu sagen, dass sie die Tür aufmachen sollte. Mit einem Satz sprang der Hund an die Türklinke, doch diese ging nicht auf, da sie verschlossen war.
„Die ist verschlossen“, teilte ihr Cora mit.
„Na toll, und jetzt?“
Riley holte seinen Zauberstab heraus: „Nur nicht verzagen, Riley fragen.“ Er richtete den Stab auf das Türschloss und sagte: „Ianu era!“ Und schon ging die Tür auf. Freudig sprang ihr Cora entgegen. „Na du. Wo ist denn Lilly?“
„Schau auf den Küchentisch“, meinte sie mit einem Bellen. Melody ging in die Küche und nahm den Zettel in die Hand. „Sag mal, kannst du mit deinem Hundreden?“
„Was? Ne, nicht, dass ich wüsste“, log sie.
Verwirrt las sie die kleine Nachricht ihrer Tante. Gleich darauf wandte sie sich an Riley.
„Wann sollst du denn zu Hause sein?“
„Wieso?“
„Ach, nur so. Meine Tante wird gleich kommen, ich denke du gehst vielleicht jetzt besser.“
„Willst du mich loswerden?“
„Nein, nur ich hab was mit ihr zu bereden und na ja-“
„Schon gut“, meinte Riley ernst.
„Dann mach’s gut.“ Ohne einen Abschiedskuss ging er aus dem Haus. Doch Melody dachte nicht weiter über ihn nach, sondern wandte sich zu Cora.
„Weißt du wo sie hingegangen ist?“
„Leider nein.“
„Hat sie irgendwas gesagt bevor sie gegangen ist?“
„Nur, dass sie ratlos ist und so, aber sie sah sehr besorgt aus.“
„Das hat bestimmt was mit diesem Anruf zu tun.“ Die Zeit verging recht schnell. Die Dämmerung war inzwischen in Dunkelheit übergegangen. Es war bereits neun Uhr, als Melody sich was zu Essen machte und sich vor den Fernseher setzte.
„Es ist schon neun, wollte sie nicht zum Abendessen wieder da sein?“
Cora legte sich zu ihr auf die Couch. „Wer weiß wo sie steckt.“
Plötzlich aber hörten sie, wie jemand durch die Haustürtrat. Cora sprang sofort auf und ging in den Flur, um nachzusehen, wer es war. Melody, die sich denken konnte, wer es war, stellte ihren Teller unbekümmert in die Spülmaschine und setzte sich dann wieder vor den Fernseher.
Lilly kam nun ins Wohnzimmer.
„Na? Ist Riley denn schon gegangen?“
Sie drehte sich zu ihr um. „Ja.“
„Was habt ihr denn so gemacht.“
„Och, wir waren irgendwo in der Weltgeschichte und haben uns die Bäuche voll geschlagen.“
„Hört sich ja gut an“, grinste sie.
Noch recht guter Laune, fragte Melody: „Und wo warst du so lange?“
Lilly schien auf die Frage vorbereitet und setzte sich zu ihrer Nichte auf die Couch.
„Melody, ich muss mit dir reden.“
„Klar, schieß los.“
Lilly bis sich auf die Unterlippe. „Mach am besten mal den Fernseher aus, bitte.“
Jetzt spürte Melody, dass es doch etwas Ernstes sein musste, über was ihre Tante mit ihr reden wollte.
„Du erinnerst dich doch bestimmt an den Anruf, den ich heute Morgen bekommen hatte, nicht wahr?“
Melody nickte.
„Das war Masao, der General von den Truppen unseres Wolkenlandes. Wie du weißt, gibt es ja viele Kriege bei uns und diese Kriege werden immer mehr und immer brutaler. Nun, was mir Masao mitgeteilt hatte war, dass der Kommandant Ryo, sowie 129 andere Krieger auch, in der letzten Schlacht gefallen sind.“
Lilly machte eine kleine Pause, die Melody ausnutze. „Und was hast du damit zu tun?“
Ihre Tante schluckte. „Weißt du, ich war nicht immer eine Lehrerin. Früher, als ich noch wesentlich jünger war, war ich die Kommandantin dieser Truppen. Ich habe früher mit Masao zusammengearbeitet und bin in den Kampf gezogen. Nachdem aber Ray mir aber meine beiden Kinder weggenommen hatte, wollte ich nicht mehr zusehen, wie Menschen ihr Leben verlieren. Also gab ich mein Amt auf und wurde Lehrerin in Morrighan.“
„Ich wusste gar nicht, dass du noch zwei Kinder hattest.“
„Sie hießen Bella und Justin.“ Lilly stiegen leichte Tränen in die Augen.
„Du hättest sie bestimmt gemocht.“ Melody schaute sie mitfühlend an.
Nach einem kurzen Schniefen, fuhr sie fort. „Warum Masao mich nun zu sich gerufen hatte, ist, weil er möchte, dass ich Ryo’s Platz einnehme.“
Das Gesicht von Melody veränderte sich ruckartig. Eine ganze Weile lang sagte sie nichts. Sie richtete ihren Blick auf den Boden.
„Aber du wirst doch nicht zusagen, oder?“
Lange überlegte ihre Tante nach den richtigen Worten, doch sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
Melodys Blick wanderte wieder zu ihrer Tante. Die sie jedoch nur verschwommen sehen konnte, da ihre Augen mit Tränen gefüllt waren.
„Ich hab schon verstanden. Du willst lieber wieder dort sein als hier. Aber geh ruhig, ich komm schon alleine zurecht!“
Wütend stand sie auf. „Ich hatte mich die ganze Zeit so gefreut, endlich bei jemandem zu sein, der meine Eltern kannte, der MICH kannte und jetzt willst du einfach so gehen und mich zurücklassen. Das ist nicht fair!“
Am Boden zerstört rannte sie auf ihr Zimmer, schlug die Tür hinter sich lautstark zu und schmiss sich auf ihr Bett. Leise wimmerte sie in ihr Kopfkissen hinein.
„Was hab ich nur getan? Wieso kann alles nicht so bleiben wie es ist.“
Ein unwohles Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus. Wie ein Kloß, der in ihrem Hals steckte. Es war das gleiche Bauchgefühl wie damals, als sie ihre Eltern verloren hatte. Sie fühlte sich als würde sie in der Zeit stecken bleiben und nie mehr rauskommen. Melody wollte nicht verstehen, was ihr mitgeteilt wurde. Für sie war ihre Tante ihr ein und Alles. Denn auch wenn sie Freunde hatte, die ihr immer zuhörten, manchmal brauchte man auch einen Erwachsenen als Seelentröster. Denn ihre Eltern waren tot und sie würden nie mehr zurückkehren. Es war keiner da, der sie mal in den Arm nahm und sie tröstete. In ihren Tränen, die das Kissen schon ganz nass gemacht hatten, saßen Angst und Verzweiflung. Angst und Verzweiflung, von einem Mädchen, das sich nichts sehnlicher wünschte, als Geborgenheit …
Ein leichter Luftzug zog durch das gekippte Fenster in ihrem Zimmer. Langsam rappelte sie sich auf und machte es zu. Dabei kam ihr allerdings eine Idee. Behutsam schaute sie sich in ihrem Zimmer um, bis sie das Bettlacken auf ihrem Bett sah. Es dauerte keine Minute, da hielt sie das ganze Laken in der Hand und bemühte sich, daraus ein Seil zu binden.
Das eine Ende band sie an ihr Bett, während das andere Ende schlaff aus dem Fenster hing.
Melody schaute zögernd hinunter. „Gott sei Dank ist mein Zimmer nicht so weit oben.“
Ein letztes Mal schaute sie hinter sich. „Es tut mir Leid Lilly, aber es geht nicht anders“, dachte sie sich insgeheim. Während Melody an der Wand des Hauses hinunterkletterte, war es schon dunkel. Es waren ungefähr drei Meter, die sie sich an dem „Seil“ aus Bettlacken hinunterhangeln musste. Mit einem Satz landete sie auf dem leicht feuchten Gras. Ein letztes Mal schaute sie hinter sich, bevor sie geradewegs in den Wald rannte…
Zu derselben Zeit saß Lilly noch immer mit Cora im Wohnzimmer. Von dem Ausriss ihrer Nichte hatte sie nichts mitbekommen … noch nicht.
„Hach Cora, was soll ich denn machen?“ Die Hündin schaute sie mit ihren großen Kulleraugen an. Es verging keine Minute, da setzte sich die Tante auf und ging die Treppe hinauf, schnurstracks zu Melodys Zimmer. Cora stand neben ihr, als sie gegen die Tür klopfte.
„Melody, mach bitte die Tür auf!“
Keine Antwort.
„Melody! Es tut mir Leid. Sei nicht sauer.“
Als immer noch keine Antwort kam, machte sie einfach die unverschlossene Tür auf. Doch als sie ins Zimmer trat, sah sie nicht das, was sie gedacht hatte zu sehen. Das Fenster stand noch immer sperrangelweit offen. Der kühle Wind ließ die Gardinen durch den Raum wehen.
Lilly blieb die Stimme im Hals stecken. Eilig trat sie ans Fenster und schaute hinunter. Das Einzige, was sie sehen konnte, war das Bettlaken und die Fußspuren, die Melody in dem feuchten Grass hinterlassen hatte.
„Melody!“, schrie sie in die Ferne, „Melody!“
Ohne auch nur noch eine weitere Sekunde zu zögern, rannte sie aus dem Zimmer und die Wendeltreppe hinunter. „Cora, du suchst mit nach ihr. Der Himmel verdunkelt sich immer mehr. Wir müssen sie gefunden haben bevor es gewittert. Mit Regenjacke und Taschenlampe bewaffnet ging sie mit Cora aus dem Haus. Draußen war es angenehm schwül. Zu schwül. Die Wolken zogen sich immer mehr zu und der Himmel färbte sich immer schwärzer. So schnell es ihre Beine erlaubten liefen sie und Cora Melodys Fußspuren hinterher.
Zur gleichen Zeit bemühte sich Melody an einem matschigen Hang hoch. Während sie immer wieder auf der nassen Erde ausrutschte, fluchte sie laut herum: „So ein Mist! Wie konntest du mir das antun. Da lernt man sich mal richtig kennen und schon muss man sich trennen.“
Nach jedem weiteren Schritt, den sie ging, fiel sie in den Dreck. Die Hosen waren schon braun und auch ihr Gesicht färbte sich langsam. Warme, salzige Tränen rannten ihr das Kinn hinunter. Der Hang war zwar nicht sehr steil, aber dadurch, dass es so rutschig war, fiel es ihr schwer, voranzukommen.
„Endlich.“ Melody keuchte, doch hatte sie es schließlich geschafft, hinaufzukommen. Vorsichtig stellte sie sich an den Rand des Hanges um hinunterzuschauen.
„Ziemlich hoch.“ Kraftlos drehte sie sich wieder um und schaute in jegliche Richtungen. Sie stand auf einer kleinen Lichtung. Ringsherum standen Laubbäume und der kleine Hang. Sonst nichts.
Leise hörte sie, wie es anfing zu tröpfeln. Doch noch immer stand sie wie angewurzelt an derselben Stelle und schaute in den Himmel, während weitere Tränen kullerten.
„Das ist nicht fair. Ich brauche dich doch.“ Bedächtig ließ sie sich auf die Knie fallen und vergrub ihr Gesicht in den schlotterigen Händen. Während sie so dasaß und ihren ganzen Frust hinausweinte, bemerkte sie nicht, wie es immer mehr regnete und schließlich Donner widerhallte.
Der Himmel war pechschwarz. Der Donner krachte und Blitze ließen den Horizont erhellen.
Melody aber saß noch immer auf den Knien und weinte. Bis sie eine bedeutende Stimme aus ihrer Trance riss. Hastig schnellte sie herum. Das was sie sah, war ihre Tante sowie Cora, die um den Hang gelaufen waren und jetzt auf sie zutraten. Melody trat mehrere Schritte zurück, als die beiden vor ihr erschienen.
„Warum bist du mir gefolgt?“
„Warum bist du weggelaufen?“, erwiderte Lilly.
„Du willst mich alleine lassen!“
„Das habe ich nie gesagt!“
„Aber du wirst fortgehen. Und dann habe ich, wie schon die ganze Zeit, niemanden. Verstehst du denn nicht, meine Eltern starben als ich noch ein Kind war, danach ist meine Oma gestorben. Zwischendurch bin ich zwischen zwei Welten hin und hergereist. Weißt du, wie ich mich fühle? Ich hab mich so danach gesehnt, die Wahrheit über meine Familie zu erfahren und jetzt, wo ich so nah dran bin, willst du fort. Ich habe zwar meine Freunde, aber das ersetzt keine Mutter! Meine Mutter ist tot! Genauso wie der Rest meiner Familie…“Melody machte keine Pause. Es sprudelte alles aus ihr heraus, wie eine geschüttelte Limoflasche. Jetzt musste sie das loswerden, was sie schon die ganze Zeit mit sich herumgeschleppt hatte. All die Sorgen und Ängste. Das Einzige, was lauter als ihre sensible Stimme war, war der Klang des Donners.
„Verstehst du mich? Verstehst du mich jetzt?“
Lilly schaute ihre Nichte entschuldigend an, doch diese ignorierte es. „Es tut mir Leid.“
„Das ist alles? Es tut dir Leid! Das ändert nichts daran, dass du früher oder später wieder in den Krieg ziehst und dann bin ich wieder alleine.“
Die Tante versuchte, näher an Melody heranzukommen. Doch bei jedem Schritt, den sie auf sie zuging, wich Melody einen zurück, bis sie genau am Rand des Hanges stand, doch das merkte sie nicht.
„Melody! Ich flehe dich an, bitte, komm zu mir!“
Doch Melody dachte keine Sekunde daran. Sie wollte einen weiteren Schritt nach hinten machen, aber dann merkte sie, dass sie keinen Boden unter den Füßen mehr hatte. Mit einem Mal rutschte sie aus und fiel den matschigen Hang polternd herunter.
„Melody!“
Lilly rannte auf sie zu und lehnte sich über den Rand. Zum Glück hatte sich Melody an einem heraushängenden Ast festhalten können, denn am Grund des Hanges bildete fester Steinboden den Weg. Besorgt reichte Lilly ihr die Hand.
„Na los, nimm schon.“
„Versprich mir, dass du nicht fortgehst!“
„Das kann ich dir nicht versprechen.“
„Versprich es!“, schrie das Mädchen aus voller Kehle.
Der Ast hatte sich weiter gelöst und Melody kam ihrem Unglück immer näher.
„Melody! Du fällst.“
Obwohl sie die Gefahr kannte, weigerte sie sich, ihrer Tante die Hand zu reichen.
Der Donner zischte immer mehr und Blitze strahlten heller als die Sonne. Das Gewitter war genau über ihnen.
Melodys matschnasse Hände fanden keinen Halt mehr an dem raushängenden Ast. Die Blitze fauchten am Horizont. Plötzlich verlor Melody den Halt und fiel schreiend den Hang hinunter. „Mama!“
Im Bruchteil einer Sekunde leuchtete alles hell auf und Melody sah, während sie fiel, nur den Kopf eines weiß schimmernden Pferdes. Dann wurde es schwarz um sie herum …
Als sie die Augen wieder öffnen konnte, sah sie den Umriss eines Gesichtes, das sie kannte. Die blonden Haare, das makellose Gesicht, die blauen Augen. Melody sah ihre Tante, wie sie von oben auf sie schaute. Benommen schaute sie sich um. Sie lag im Wohnzimmer ihrer Tante. Lilly saß auf der Couch und hatte ein Kissen auf dem Schoss liegen, auf dem Melodys Kopf lag. Langsam fuhr sie mit der Hand über ihren Rücken, um sie zu beruhigen. Dabei bekam Melody eine Gänsehaut über den ganzen Körper verteilt. Das war es, was sie wollte. Einfach bei jemandem zu sein, der einen lieb hatte …
„Was ist passiert?“, fragte sie.
„Du bist den Hang hinuntergefallen.“
„Und was war das für ein Pferd?“
Lilly zögerte: „Das war ich.“
Nun richtet sich Melody langsam auf, „Du?“
„Ja ich. Weißt du nicht mehr, dass ich euch letztes Jahr in einer meiner Unterrichtsstunden erzählt hatte, dass ich mich in einen Pegasus verwandeln kann?“
Sie lächelten sich an. Melody ließ ihren Kopf auf Lillys Schulter sinken.
„Du hattest Mama zu mir gesagt.“
Das Herz blieb ihr fast stehen. Dadurch, dass Melody kein gutes Argument einfiel, wartete sie, bis ihre Tante das Gespräch fortsetzte.
„Keiner kann deine Mutter ersetzen. Auch ich nicht.“ Mittlerweile bekam sie das Gefühl, als ob ihre Tante sie nicht verstehen wollte, doch dann sagte sie etwas, das ihre Sorgen wie Zuckerwatte auflöste.
„Ich hab dich wirklich sehr lieb mein Schatz. Und es tut mir alles so unendlich Leid. Ich werde versuchen, für dich eine gute Mutter zu sein. Und wenn ich wieder in den Krieg ziehen sollte, dann nur mit dir. Es sei denn, du möchtest nicht.“
Es vergingen Sekunden, die Melody wie Stunden vorkamen. Beide schauten sie sich an. Eigentlich hatte Lilly alles gesagt, was Melody wollte. So ging sie weiter darauf ein.
„Darf – darf ich dich trotzdem Mum nennen?“
Lilly gab ihr einen kleinen Kuss auf die Wange. „Nenn mich wie du willst.“
Warme Sonnenstrahlen erhellten den nächsten Tag. Dieser Sommertag war wolkenlos und wärmer als sonst. Es war mittlerweile 13 Uhr, als Melody vom Gesang der Vögel geweckt wurde. Eine lange und aufregende Nacht war zu Ende. Gemeinsam mit ihrer Tante hatte sie auf der Couch geschlafen. Jedoch war Lilly keineswegs noch am Schlafen. Sie nutze den Tag und mähte Rasen, während Melody sich langsam aufrappelte. Die warme Luft kroch durch das gekippte Fenster in der Küche, während man zugleich den Motor des Rasenmähers hören konnte. Ausgeschlafen schaute das Mädchen durch das Fenster. Auch Cora war draußen und ließ sich von der Sonne das Fell wärmen. Es brauchte nur eine einzige kleine Handbewegung und schon hatte Melody das Fenster mit einem kleinen Quietschen ganz aufgemacht und lehnte sich nach draußen.
„Du bist ja schon sehr fleißig!“, rief sie ihrer Tante entgegen, die gerade den vollen Kübel Gras in die Tonne leerte. Grinsend drehte sie sich zu Melody.
„Wenigstens schlaf ich nicht bis zum Mittag.“
Melody zog eine Grimasse: „Na und.“
„Woll’ n wir heute gegen Abend grillen? Du kannst ja Ashley und so einladen.“
„Klar, warum nicht.“ Nach diesen Worten machte Melody auch schon wieder das Fenster zu und zugleich ertönte auch wieder der Motor des Rasenmähers.
Obwohl es schon Mittagszeit war, machte sie sich ihr übliches Essen nach dem Aufstehen: Müsli.
Während sie die Milch ins Müsli kippte klingelte das Telefon. In diesem Moment schreckte sie auf und die Hälfte der weißen Flüssigkeit landete neben der Schüssel.
„Na toll“, meckerte sie und hob den Hörer ab. Zugleich wischte sie mit einem Lappen die Milch weg.
Am Telefon bemerkte sie, dass es Ashley war. Sie wollte wissen, ob Melody nicht vielleicht Lust hätte, mit ihr und Dan an den See zu gehen. Sie könne natürlich Riley auch mitnehmen.
Melody bejahte dies, während sie den nassen Lappen über der Spüle auswrang. Sie verabredeten sich für drei Uhr am See, in der Nähe des Waldes. Der rote Knopf am Telefon war mittlerweile gedrückt worden und zugleich widmete sie sich ihrem Müsli sowie der Milch. Während sie sich löffelweise das Essen in den Mund schob, dachte sie nach.
„Ob Riley mitkommt? Gestern Abend schien er etwas beleidigt. Ich kann ihn ja mal fragen.“
Und schon hing sie wieder am Telefon. Nach ein paar Tönen meldete sich eine bekannte, männliche Stimme.
„Ja?“
„Hey, ich bin’s.
„Na, wie geht’s?“, Riley schien gelassen.
„Ganz gut und dir?“
„Ja, passt schon.“
„Hast du Lust, mit mir, Ashley und Dan an den See zu gehen?“
Riley überlegte einen Moment. „Ne, tut mir echt Leid, heute ist schlecht. Ein andermal okay?“
Melody verdrehte die Augen. „Na gut. Dann ein andermal.“
„Ja wirklich, aber geht nicht. Bis dann. Tschau.“
„Tschau.“
Mit trauriger Miene legte sie auf. „Schade, dass er nicht mitkommt“, dachte sie.
Die Tür ging auf. Lilly sowie Cora kamen ins Haus. Die Gartenarbeit war für diesen Tag getan.
„Na, und für heute schon was vor?“, fragte ihre Tante.
Melody nickte.
„Ja, ich treffe mich gleich mit Ashley und Dan am See.“
„Ah, okay. Habt’ ja Recht, das Wetter ist ideal dafür.“
Zwei Stunden später sah Melody schon ihre Freunde von weitem, wie sie eine große Decke am Rand des Sees ausbreiteten. Die beiden allerdings bemerkten sie nicht, so schlich sie sich von hinten an sie ran. Doch ein trockener, am Boden liegender Ast machte ihr einen Strich durch die Rechnung. Als sie drauftrat, machte er ein kleinlautes Geräusch, was für Ashleys empfindliches Gehör laut genug war. Schon hatten sie sich herumgedreht und begrüßten ihre Freundin.
„Hey!“
Melody tat es ihnen gleich: „Hey. Ihr seid ja schon fleißig.“
Der Wasserfall rauschte in den großen See hinein. So bildeten sich kleine Wellen, die leicht über die grünen Wiesen schwappten. „Hast du was zu essen dabei?“, fragte Dan, der für gewöhnlich jede Sekunde was im Mund hatte.
„Ja, aber nur so Kleinigkeiten, weil Lilly und ich nachher grillen wollten. Ihr könnt ja auch kommen.“ Damit waren beide einverstanden.
Für einen Moment kam sich Melody vor wie im Paradies: Die Bäume rings um sie herum leuchteten herrlich grün im Licht der Sonne. Der herrlich blaue Wasserfall brauste einen Hang hinunter und Vögel zwitscherten in der frischen Sommerluft.
Eine weibliche Stimme riss sie aus den Gedanken.
„Woll’n wir erst was essen oder erst schwimmen gehen?“
Melody schaute auf. „Ich hab erst gegessen, ich geh ins Wasser.“
Ashley und Dan schauten sich seufzend an.
„Ich will aber erst essen.“
„Dann iss doch“, kicherte sie.
Dann setze sich auf die Decke und holte aus Melodys Tasche verschiedene Obstsorten heraus, während es sich Ashley im dichten Gras gemütlich machte.
„Sagt mal, warum fragt ihr eigentlich, wenn ihr doch wisst, was ihr als Erstes machen wollt.“
Ashley zuckte mit den Schultern.
„Wisst ihr, an wen ihr mich erinnert? Damals in Grömitz. Mein Gott, ist das schon lange her, da hatte ich auch zwei Freunde. Immer wenn wir am Strand waren, war ich die Einzige, die auch ins Wasser gegangen war.“
Dan schaute auf. „Ach ja?“
„Ja.“
Ashley setzte sich für einen Moment auf. „Wir kommen auch gleich.“
Daraufhin grinste Melody ihre Freundin verschmitzt an. Ohne noch mehr Zeit zu verlieren, zog sie ihre Flipflops aus und fühlte mit der Hand, wie kalt das Wasser war. Angenehm, dachte sie. Überlegend schaute sie sich um. Da sah sie eine lange stramme Liane von einem Baum herunterhängen. Und schon kam ihr eine Idee. Sie fasste die Liane so weit oben es ging und stellte sich mit ihr zwischen den Händen, auf einen kleinen Felsen.
Ashley, die sie beobachtete, fragte: „Dir ist aber schon klar, dass du deine Sachen noch anhast.“
„Ich weiß.“
„Ich sag ja nur.“ Und schon machte sie wieder die Augen zu und ließ sich von der Sonne bräunen. Mit einem obstverschmierten Gesicht schaute Dan zu Melody. „Wenn das Ding reißt, lach ich dich aus.“
Daraufhin schenkte sie ihm ein schelmisches Grinsen.
„Keine Angst, soweit wirds nicht kommen.“ Und mit einem Mal stieß sie sich ab und schwebte in der Luft über dem See herum. Bis sie ihren Griff lockerte und mit einem Platsch ins kühle Wasser fiel. Ein Schrei folgte dem Platschen.
„Aahh! Melody!“, meckerte Ashley, die klatschnass gespritzt war.
Schnell stand sie auf, während Dan sich einen Spaß daraus machte. „Was gibt’s da zu lachen.“
Melody tauchte wieder auf und sah ihre Freundin, wie sie nass auf der Wiese stand und schimpfte. Auch sie musste beim Anblick ihrer Freundin kichern.
„Boah, das hast du bestimmt extra gemacht.“
„Nein, ich schwör dir.“ Derzeit kicherte Dan weiter vor sich hin.
„Na warte.“ Ashley rannte zu ihm, und mit einem Mal lag auch er im Wasser.
„Ashley!“
Alle drei lachten sie vor sich hin. „Achtung!“, mit einer Wasserbombe sprang zuletzt auch Ashley in den See. Es gab einen riesen Platscher. Die drei Freunde machten aus dem ruhigen See eine wütende Wellenpracht. Auch das Rauschen des Wasserfalls wurde von ihrem Lachen übertönt. Während sie im Wasser schwammen fiel Ashley plötzlich eine Frage ein.
„Was ist eigentlich mit Riley?“
Melody musste erst mal einen Batzen Wasser ausspucken, der ihr in den Mund gekommen war, um antworten zu können.
„Keine Ahnung. Ich glaube, er ist sauer.“
„Sauer? Wieso das denn?“ Ashley schien verwundert, mittlerweile standen alle ruhig im Wasser.
„Ich weiß nicht, gestern schien er ziemlich sauer auf mich zu sein, weil …“ Sie konnte ihren Satz noch nicht einmal beenden, denn sie hörten Schritte aus dem Wald zu ihnen kommen.
„Psst“, machte Dan, der zum ersten Mal wieder den Mund aufbekam. „Hört ihr das auch? Da kommt wer.“ Sie lauschten gespannt wer oder was sich ihnen näherte.
„Hallo? Melody?“ Nun hörten sie auch eine Stimme. Melody erschrak. Aber irgendwie war ihr diese männliche, grolle Stimme bekannt. Aber natürlich, dachte sie, das kann nur einer sein …
Wie aus dem Nichts stand plötzlich Riley vor ihnen.
„Ach hier seid ihr, ich hab euch überall gesucht“, lachend kam er auf die drei zu.
„Nehmt’s mir nicht übel, aber ich verzichte auf ein Bad im Freien.“ Verwundert schaute ihn Melody an. „Aber, du hier? Ich meine, du hast doch gesagt, dass du heute keine Zeit hast.“
Wie immer schaute er sie lächelnd an. Diesen leuchtend braunen Augen konnte sie nicht widerstehen. Lächelnd reichte er ihr die Hand.
„Kann ich mal mit dir reden.“ Melody nickte. Mit seiner Hilfe stieg sie aus dem Wasser. Als sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte, drehte sie sich noch mal zu den andern beiden um. „Wir gehen mal ein Stück spazieren. Bleibt ihr hier?“ Sie nickten.
Hand in Hand entfernten sie sich immer weiter vom See, bis sie komplett im Wald verschwunden waren. Genauso wie alles in der Traumwelt, war auch das Land Nebula nicht gerade klein. Die Mittagssonne knallte förmlich auf den trockenen Boden. Rein nach Gefühl kam es Melody vor wie geschätzte 35°C im Schatten. Während sie gemeinsam durch die Gegend schlenderten, konnte sie nicht aufhören Riley anzuschauen. Er war einfach zu perfekt, um den Blick auf etwas anderes zu verschwenden.
„Wo gehen wir hin?“
„Wirst du bald sehen“, gab er zu bekennen, ohne dabei seine gelassene Miene zu verändern. „Ein Glück, dass es hier mehr Wald als alles andere gibt. Bei der Hitze schmilzt man ja. Ich glaube, das letzte Mal, als es an die 40° ging, war vor vier bis fünf Jahren“, sagte er, während seine Augen den Standpunkt der Sonne begutachteten.
„Echt? Ich dachte hier wäre die Hitze gang und gäbe.“
„Schon, aber eher 30 – 35. Glaub mir, im Sonnental – in Basil um genauer zu sein – puhh, wir hatten knapp 52°. Für meinen Geschmack zu warm.“
„Jetzt weißt du ja wenigstens, wo du definitiv nicht mehr hinfliegst“, gab Melody beschwichtigend bei, „Ich, für meinen Teil, lieg lieber auf einer Insel. Mit Palmen, Meer, Sonne …“ Melody legte ein Lächeln auf. „Und Eis.“
Auch Riley verzog grienend das Gesicht. „Du solltest mal nach Paraiso.“ Melody legte die Stirn in Falten. „Paraiso? Klingt schön. Wo und wa…“ Noch bevor sie fertig fragen konnte, standen sie auf einer Lichtung- mit Blick aufs unberechenbare Meer.
„Wow!“. Mehr bekam sie nicht aus ihrem trockenen Mund.
„Nebula liegt am Ende des Wolkenlandes. Ab hier beginnt der Atlantik.“ Riley machte einen Schritt nach vorne. „Atlantik? Heißen die Meere hier genauso wie auf der Erde?“ Riley nickte und zeigte in die Ferne. „Siehst du den kleinen Steg?“
Mit flüchtigem Blick streifte sie die Umgebung, bis sie den Steg sah, den Riley ihr zeigte.
„Ja, da vorne.“ Die ruhigen Wellen prallten an den Holzpfosten des Steges ab. Lauter Möwen umkreisten das Wasser, um ab und zu sich mit einem Sturzflug eine Krabbe zu erhaschen. Der salzige Meergeruch wurde mit einem Hauch über die Brandung geweht.
„Komm, lass uns nach unten gehen.“ Behutsam zog er sie mit sich. Ein kleiner, steiler Schotterweg brachte die beiden zum warmen Sand. Hier an der Küste war der Wind stärker- Melodys Kleider waren längst nicht mehr so nass. Doch knallte die Sonne noch immer auf die Umgebung. Jeder einzelne Strahl war auf der Haut zu spüren. Auf dem warmen – eher gesagt heißen Sand – spürte Melody, wie ihre Füße anfingen zu brennen. Verdrießlich sprang sie von einem Fuß auf den anderen. „Aua! Der Strand ist ja kochend heiß.“ Auch Riley spürte die Hitze unter seinen Füßen, doch war er – im Gegensatz zu seiner Freundin – an die Hitze gewöhnt. „In Deutschland hat man wohl nicht viel Strand, was?“
„Haha! Natürlich haben wir den. Nur mit dem Unterschied, dass man sich bei uns nicht die Füße verkohlt.“ Aus Melodys Stimme kam ein melancholischer Unterton, den Riley ebenso bemerkte. „Ja“, gab er zu, „nur noch ein paar Schritte, dann kannst du deine Füße im Meer abkühlen.“
Melody schaute auf. Tatsächlich, der Strand war gar nicht so groß. Nur noch wenige Meter trennten sie vom kühlen Blau.
Mit einem letzten Schritt stellte sie ihre brennenden Füße ins Wasser. Normalerweise hätte das Meer eisig kalt sein müssen, doch durch die Hitze, hatte es sich von Tag zu Tag immer mehr aufgewärmt. Sodass es jetzt eine angenehme Temperatur von 25° hatte.
„Aber immerhin kühler als der Boden.“ Während Melody das sagte, schloss sie die Augen und ließ sich das Haar vom Wind verwehen und genoss die kleine Abkühlung. So musste es wohl auf Hawaii sein dachte sie sich. Dank des offenen Meeres strömte der Wind kühl übers Land. Auch Riley hatte sich neben sie gestellt und auch er genoss die kühle Brise.
„Ich wusste gar nicht, dass es hier so etwas Schönes gibt.“ Sie öffnete wieder die Augen. Mit einem typischen „Riley- Lächeln“ schaute er sie an. „Du weißt gar nicht, wie schön es an manchen Orten hier sein kann, wenn man nur mal die Augen öffnet.“ Behaglich drehte Melody ihren Kopf schräg zu ihm und schüttelte leicht den Kopf. „Nur dank dir kann ich dass hier mit eigenen Augen sehen, ohne dich wäre ich blind.“ Dankend legte er ihr den Arm um die Schulter. Geschmeidig legte sie ihren Kopf auf seine Schulter.
Sorglos gingen sie an der Küste entlang zum Steg, während die ausklingenden Wellen an ihren Knien brachen. Sie gingen über den hölzernen Steg, währenddessen wurde sie immer noch von Riley fest umklammert. In Gedanken durchforstete sie noch einmal alles, was sie bis jetzt erlebt hatte. Es musste irgendetwas geben, was ihr den Beweis brachte, dass sie nur träumte. Doch da war nichts. Einmal, es war gerade mal ein Jahr her, da hatte sie sich schon mal den Kopf darüber zerbrochen was Traum und Wirklichkeit war. Damals kam sie zu dem Entschluss, dass man in einem Traum keine Schmerzen fühlen konnte…
Aber was war letztes Jahr eigentlich passiert? Ich wurde gefoltert. Daran gab es keinen Zweifel. Ich hatte Schmerzen. Das konnte kein Traum gewesen sein. Wie kann man in einem Traum um sein Leben weinen. Wie ist es möglich, vor Schmerzen fast zu ersticken, wenn man doch schläft? Nein, das war kein Traum. Alles was ich erlebt habe ist tatsächlich wahr. Diese verblüffend schöne Welt, meine Tante, all meine neue Freunde und vor allem Riley. Als sie an ihn dachte, kam ihr zugleich auch das Negative an der ganzen Sache in den Kopf. Aber auch Ray. Der Krieg. Wie kann es selbst in so einer märchenhaften Welt etwas so …so Hässliches und Grauenvolles geben? Wieso kann es nicht mal einen Planeten geben, ohne diesen ganzen Kriegsquatsch. Wenn es auf der Erde schon in manchen Ländern um Leben und Tot geht, wieso ausgerechnet auch hier. Wenn doch alles perfekt sein könnte. Warum machen wir uns das Leben so schwer, wenn es doch so schön sein kann. Es muss aufhören. Das kann nicht angehen, dass die Hälfte von Menschen glücklich und reich ist, während die andere Hälfte ohne Hoffnung und ohne ein Dach über dem Kopf lebt. Doch was kann man nur dagegen tun …kämpfen?
Melody seufzte, was für Riley nicht zu überhören war. Noch fester drückte er sie an sich.
„An was denkst du grad?“ Wieder stöhnte sie. Was sollte sie sagen, die Wahrheit? Gedankenverloren versuchte sie ihr Pokerface aufzusetzen. „Dass die Zeit stehen bleiben soll.“ Sanft küsste er sie auf das noch nasse Haar und zog sie weiter an sich.
Die Holzdielen unter ihren Füßen knarrten, sodass es sich anhörte, als würden sie sogleich entzweibrechen. Unter dem Steg war das Wasser so klar, dass man jeden einzelnen Stein, jede Alge und jedes noch so kleine Tierchen sehen konnte. Die abflauenden Wellen prallten unter ihnen an die vielen Steine.
Zwar war es kein langer Steg, doch zog sich die gerade Strecke wie Kaugummi. Und wie jedes Mal, wenn Melody mit ihrem Freund zusammen war, gab es nichts Schöneres als dass Hier und Jetzt. Bei ihm konnte sie so sein wie sie war. In seinen Armen brauchte sie keine Hemmungen zu haben. Wie immer, wenn sie bei ihm war, schien die Außenwelt, sowie alles um sie herum, verschwommen zu sein. Sodass nur noch er und sie scharf zu sehen waren.
Am Ende des Steges setzen sie sich auf den harten Holzboden, die Füße baumelnd herunterhängend. Die Sonne stand immer noch an ihrem Punkt und wärmte die Wiesen und Wälder. Das Gezwitscher der Vögel wurde durch Melodys Stimme unterbrochen.
„Wie viel Uhr ist es eigentlich?“ Ohne auch nur mit der Wimper zu zucken gab Riley ihr die Antwort: „Gleich vier.“ Zunächst schaute Melody auf Rileys Gesicht, dann auf seine beiden Arme. Bis ihr auffiel, dass er gar keine Uhr trug.
„Du hast keine Uhr an. Wie kannst du dann wissen, wie spät es ist?“
Riley schmunzelte. „Ich brauche keine Uhr, um die Zeit zu wissen. Nur wenn es bewölkt ist bekomme ich so meine Probleme.“ Jetzt verstand auch Melody, was er ihr damit sagen wollte.
„Heißt das, du kannst durch den Stand der Sonne die Zeit ablesen?“
„Ja, ich bin zwar kein Astronom, aber mit den Himmelsrichtungen kenne ich mich aus. Du musst dir einfach immer das Bild einer Sonnenuhr vor Augen halten. Eigentlich braucht man einen Stock, aber bei mir geht das auch so.“ Wieder schaute er sie mit seinem ästhetischen Lächeln eines Gottes an. Um auch wirklich jede Sekunde auszukosten, umklammerte Melody seinen linken Arm und lehnte sich mit ihrem Kopf an seine Schulter an. Federartig strich er ihr wieder übers Haar. „Bist du müde?“ Sogleich schüttelte sie den Kopf. Während sie so in das blaue, offene Meer schaute, erinnerte sie sich an ihr Gespräch mit Riley, als sie noch auf dem Hang standen.
„Sag mal, wo liegt dieses „Paraiso“ eigentlich?“ Riley atmete einmal tief durch und legte sogleich auch seinen Kopf sanft auf ihren.
„Das ist dir wohl nicht aus dem Kopf gegangen, was?“
„Es klingt einfach so…so unglaublich schön.
Paraiso.“ „Paraiso ist philippinisch und bedeutet Paradies. Paraiso ist eine kleine Insel, die zum Staat Lunaria gehört. Ich glaube, sie liegt ganz am Ende der Welt.“ Riley wollte gerade weiter erzählen, da kam ihm Melody dazwischen. „Warst du schon mal dort?“ Er schüttelte leicht den Kopf.
„Nein, leider nicht. Aber ich weiß, dass meine Mutter schon einmal dagewesen ist. Damals war sie mit meinem V-Vater da.“ Als er das Wort Vater aussprechen wollte, hörte es sich so an, als graue es ihm vor diesem Wort. „Später hatte mir meine Mutter davon erzählt. Es hieße, dort, wo das Meer blauer ist als Saphire, klarer ist als die Luft, reiner ist als Blut. Wo Bäume grüner sind als Smaragde, wo der Himmel strahlt wie mit tausenden Diamanten bedeckt, dort liegt das Paradies. Dort findet man Paraiso. Mutter erzählte mir von den zahlreichen Tierarten. Papageie mit grünen Federn und blau und rot gepunkteten Köpfen. Nilpferde, Kiwis, Kolibris, Orkas, Delfine. Einmal sagte sie auch was von Glückshunden.“ Riley hob die Schultern. „Aber von denen hab ich noch nie gehört. Glückhunde? Komischer Name.“ Bei seiner gespielten Betonung auf das Wort zuckte Melody leicht zusammen. Glückshunde? Irgendetwas sagte ihr dieser Name, aber sie wusste nicht was. Wann hatte sie ihn mal gehört? Abwesend versuchte sie die Lösung zu finden und kramte durch ihr Gedächtnis.
„Dan hatte mir mal von ihnen erzählt.“ Plötzlich durchfuhr sie ein Gedankenblitz. „Ja, letztes Jahr, als ich hier neu angereist war. Er hatte von irgendwelchen Glückshunden erzählt, die aber eigentlich nur im Eisland leben. Es hieß, dass diejenigen, die einen solchen Hund besitzen, in ihrem Leben fast nur Glück haben, doch haben diese Hunde selbst sehr viel Pech.“ Riley dachte einen kurzen Augenblick darüber nach, bevor er was dazu sagte.
„Ach ja?“, er hob eine Augenbraue. „Komische Hunde.“
Ein weiterer Windstoß kam, den Melody nicht ungenutzt ließ. Tief atmete sie den frischen Wind ein. In weiter, sehr weiter Ferne sah sie zwei Delfine, die im Licht der Sonne hoch und runter sprangen. Sie wollte soeben etwas sagen, da schaute sie ihn abermals an und musste sich ein Lachen verkneifen.
„Was?“ Peinlich berührt über ihre mangelnde Selbstbeherrschung, versuchte Melody den Charme zu überspielen.
„Warum hast du gelacht?“ Riley wurde misstrauisch.
„Ich hab doch gar nicht gelacht?“ Eine dümmere Ausrede hätte sie gar nicht sagen können, doch das fiel ihr erst hinterher ein.
„Mel, du weißt genauso gut wie ich, dass du nicht lügen kannst. Komm. Ich werd bestimmt auch nicht lachen.“ Sein Ton war äußerst ruhig und keineswegs gespielt, was Melody wenigstens ein bisschen beruhigte.
„Ich dachte nur, dass“, sie schluckte und zog dann ein breites Lächeln auf. „Dass ich in meinem Leben noch nie etwas so Schönes wie hier gesehen habe.“ Riley wollte sie unterbrechen, da fuhr sie in einem Flüsterton fort. „Bis mir einfiel, dass du das Beste in meinem Leben bist.“ Ihr Gesicht wurde ganz warm und als Riley ihre Wange tätschelte, bekamen ihre Arme eine leichte Gänsehaut. Ohne auch nur ein weiteres Wort zu verlieren beugte er sich vor, sodass ihre Lippen mit seinen verschmolzen. Sein Gesicht war kälter als ihres. Seine Gesichtszüge hart und markant, dass Haar wuschelig und die Augen goldbraun. Seine Hand streichelte immer und immer wieder ihr warmes Gesicht. Flimmernd öffnete sie die Augen. Das goldene Schimmern in seinen Augen spiegelte sich in ihrer Pupille wider. Er lächelte sie an. Dieses einzigartige Lächeln, was sie zum Dahinschmelzen brachte. Wenn der Himmel durch die untergehende Sonne nicht schon rosa gefärbt wäre, hätte man meinen können, die Zeit wäre stehen geblieben. Es fühlte sich so an, als wären sie erst zwei Minuten dort gewesen und doch waren es Stunden. Melody lag in Rileys Armen auf dem Steg. Sie hatten es sich auf dem hölzernen Untergrund gemütlich gemacht und betrachteten nun gemeinsam den magentafarbenen Himmel, dessen Wolken allmählich in ein Purpurrot übergingen.
„Es sieht aus, als würde der Himmel brennen.“ Melodys Augen schweiften über den roten Himmel. „Ja, riesig nicht wahr? So sieht der Sonnenuntergang hier immer aus. Außer eben in Paraiso.“ „Wieso? Ist dort der Himmel lila?“ Sie konnte sich ein Glucksen nicht verkneifen.
Riley aber verzog keine Miene. „Nein, dort könnte man meinen, der Himmel sei mit tausenden und abertausenden von cyan- und magentafarbenen Diamanten bedeckt. Jedenfalls meinte das meine Mutter.“ Melody schnaufte, was ihrem Freund natürlich nicht entging. „Was hast du?“ Ohne auch nur mit der Wimper zu zucken sprach sie in den Himmel. „Ich wünschte, wir könnten auch mal an diesen Ort.“ Jetzt erst schaute sie in Rileys vollkommenes Gesicht. Dieser warf ihr ein Lächeln zu und küsste sie auf die zierliche Nase. „Irgendwann, dass verspreche ich dir, werden wir dort sein. Zusammen. Für immer.“ Für einen Moment musste Melody die Augen schließen, um noch einmal den Klang seiner Worte zu hören. Für immer hatte er gesagt. Nie hatte sie über die Zukunft gedacht. Doch in einer Sache war sie sich immer sicher gewesen: Sie würde bis zum Tode mit ihm zusammen sein. Das wusste sie, aber hatte sie nicht damit gerechnet, dass Riley dasselbe dachte. War das überhaupt möglich? Für immer mit Riley zusammen sein. Für immer. Das Wort gefiel Melody immer mehr. Für immer.
Ihr Blick haftete weiter an dem seinen. Keine Sekunde verging, in der sie nicht in seine leuchtenden Augen blickte. „Ich liebe dich.“ Das war womöglich das erste Mal, dass sie es ihm so offen sagte, was sie für ihn empfand. Das Glitzern in Melodys Augen war nicht zu übersehen. Sachte strich er ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Vorsichtig hob er ihr Kinn an. „Ich liebe dich auch“, gestand er ihr. Wieder küssten sie sich. Doch diesmal war es Melody, die sich nicht zügeln konnte. Unkontrolliert gab sie sich ihm hin und küsste ihn. Erst auf die Lippen und schließlich auf den Hals.
Nach geraumer Zeit verdunkelte sich der Himmel immer mehr. Die vielen kleinen Sterne erschienen. Jeder strahlte auf seine eigene Art und Weise. Man hätte fast meinen können, sie machen einen Wettkampf, welcher Stern am schönsten und hellsten leuchtet. Die beiden Jugendlichen, die es sich noch immer auf dem Steg bequem gemacht hatten, schauten abermals in den Sternen übersäten Horizont. „Siehst du den da, dass ist der Große Bär. Und da.“ Riley zeigte mit dem Finger auf einen Sternenbild über ihnen. „Das ist der Kleine Bär.“ Er ließ den Arm senken. „Ja, ich sehe die beiden.“ Der Große und Kleine Bär waren deutlich zu unterscheiden. „Siehst du diesen einen Stern da, der letzte am Kleinen Bär.“ Melody schaute in den Himmel. Dort war tatsächlich ein Stern, der mit seinem Glitzern alle anderen übertrumpfte. „Das ist der Polarstern.“ Während sie den einen Stern beobachtete, dachte sie über noch weitere Sternenbilder nach. Um mit Rileys Wissen mithalten zu können, überlegte sie, was sie noch so sehen konnte. „Dort, in der Milchstraße. Der Schwan.“ Riley nickte. „Kannst du auch die nördliche Krone sehen? Sie ist sehr klein.“ Ihr Blick durchschweifte den ganzen Horizont. Wie die nördliche Krone aussah, wusste sie, doch wo sie sie fand, das blieb ihr ein Rätsel. „Ich kann sie nicht sehen. Aber sie müsste eigentlich in der Nähe des Herkules’ sein.“ „Genau. Schau mal.“ Wieder streckte Riley seinen Arm aus. „Dort dieses große Fünfeck mit den vier Auslegern. Das ist der Herkules. Und rechts daneben die nördliche Krone.“ Jetzt konnte sie das Sternenbild erkennen. Die kleine, zierliche Krone in Form eines Halbmondes. „Die Sterne sind so klar und unantastbar. Einfach wunderschön“, gab sie leise zu bekennen. Ein kleines Lachen ertönte an ihrem Ohr. „Darf ich den Witz auch erfahren?“
„Kann es sein, dass du alles wunderschön findest?“ Er schaute zu ihr. Melody indessen setzte sich schräg auf und stützte sich auf ihrem rechten Ellbogen ab. „Ach ja, findest du?“ Sie zog ein Lächeln auf. „Aber nichts ist so wunderschön wie du.“ Noch bevor ihre Stimme versagen konnte, küsste er sie. Es war ein Augenblick, der nie vergehen dürfte: Jeder einzelne Stern leuchtete auf seine Art und Weise und versuchte die anderen zu übertrumpfen. Unter dem klaren, dunkelblauen Himmel lagen zwei 19-Jährige. Sie lagen nebeneinander und küssten sich leidenschaftlich, während das Mondlicht ihre Schatten auf das offene Meer warf…
Ein kleiner Vogel saß auf Melody und zwitscherte ihr fröhlich ins Ohr. Die Luft war frisch und wehte leicht über sie. Vorsichtig schlug sie die Augen auf- das Sonnenlicht blendete sie. Behutsam schaute sie sich um. Sie schaute in den weiten Ozean. Ihr Kopf ruhte auf etwas, das weicher war als der Steg. Die Füße schaukelten über dem Wasser und eine zärtliche Hand schlief auf ihrem Rücken.
„Guten Morgen Dornröschen.“ Er fuhr ihr durch das golden leuchtende Haar. Melody drehte sich langsam um und schaute in das makellose Gesicht einer Götterstatue. Sie lächelte. „Falls du Hunger hast, kann ich dir frische Pfirsiche anbieten. Zuckersüß.“ Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „So wie du.“ Für einen kurzen Moment schauten sie sich an, als Melody sich träge aufrichtete. „Haben wir die ganze Nacht hier draußen verbracht?“ Riley nickte und spuckte seinen Pfirsichkern ins Wasser. Es dauerte nicht lange, da hatte eine Möwe den „Biomüll“ im Schnabel. „Ich fass es nicht. Wir haben auf einem Steg übernachtet.“ Bei dieser Vorstellung musste sie sich ein Lachen verkneifen. Dann schaute sie zu Riley und ließ ihren Kopf auf seine Schulter gleiten. „Schade, dass die Nacht schon vorbei ist.“ Sorgsam durchstreifte er ihr Haar. „Diese Nacht ist vorbei. Aber es war mit Sicherheit auch nicht die letzte“, sagte er zuversichtlich. Bei diesem Gedanken ging es Melody schon viel besser – mit Sicherheit nicht die letzte. Diese Worte aus seinem Mund zu hören, bedeutete mehr als alles andere für sie. Der Sommer war bald zu Ende. Und diese letzte Zeit mussten sie nutzen. Während die Vögel himmlisch durch die Lüfte sangen, fiel Melody auch wieder ihre Tante ein. Lilly. Hatten sie nicht vorgehabt zu grillen? Gestern.
„Oh mein Gott! Ich hab Mum – äh Lilly ganz vergessen.“
… das Haus sah aus wie immer- was ja auch kein Wunder war, sie war ja nur einen Tag weg gewesen. Es war knapp zehn und durch das offen stehende Fenster schlich der Duft von frisch gebrühtem Kaffee. Ein Schäferhund sprang an dem kleinen Hoftor hoch und bellte vor Freude. „Mel! Dan und Ashley haben uns schon Bescheid gesagt. Glaub mir, Lilly hatte schon Theorien aufgestellt, was du und Riley mitten in der Nacht draußen macht. Ich sag dir, puh … sei froh, dass du sie nicht hast reden hören müssen.“ Cora redete wie am Fließband. Melody, die sie verstehen konnte, lachte nur in sich hinein, um sich vor Riley nichts anmerken zu lassen. Kichernd fuhr sie ihr mit der Hand durch das Fell. Beim Hineingehen knarrte das Tor. Während Melody und Riley hindurchgingen, war auch Lilly von dem Geräusch gewarnt worden. Es dauerte keine Minute, da ging die Haustür auf und ihre Tante stand vor ihnen – mit einem weißen Morgenmantel und der Hand auf der Hüfte stand da und schüttelte lächelnd den Kopf. „Na. Ich kann ja verstehen, wenn eine Nacht mit einem Jungen schöner ist als das Grillen mit deiner Tante, aber du hättest mir auch mal Bescheid sagen können.“ Als sie auf ihre Tante zuging, fasste Riley ihre Hand. „Tja, weißt du. Ich wollte dir ja sagen, dass – aber dann war – und ich dachte – also es war so –.“ Melody fehlten die Worte. „Du hast’s vergessen“, sagte Lilly schließlich. Melody wollte soeben Luft holen, um diese Aussage zu bestreiten, doch bei dem durchdringendemBlick ihrer Tante, konnte sie nicht lügen. „Äh… Ich… Ja. Hab’s vergessen.“ Sie senkte ihren Kopf und starrte auf ihre nackten Füße- jetzt erst merkte sie, dass sie ihre Schuhe noch am See liegen hatte.
Ein schallendes Lachen war zu hören, was sie wieder aufblicken ließ. Lilly schüttelte den Kopf und nahm ihren Kopf in beide Hände. „Ihr beide hattet aber ordentlich Spaß.“ Sie ließ ihre Hände sinken und schüttelte weiter lachend den Kopf. Sogleich fasste sich Melody an den Hals. „Wieso? Was ist da?“ Lilly zog eine Augenbraue hoch. „Sagen wir’ s mal so. Ein dicker, großer Fleck. Leicht blau, rot gefärbt. Auch bekannt als Knutschfleck.“ Die Wangen in Melodys Gesicht färbten sich leicht rosa. Sie zuckte mit den Schultern. „Passiert.“ Indessen versuchte Riley- der immer noch neben ihr stand- ein Lachen zu unterdrücken.
„Ihr habt wahrscheinlich noch nicht gefrühstückt. Der Kaffee ist gerade fertig geworden.“ Mit einer einzigen Handbewegung zeigte sie den beiden, dass sie eintreten sollten. Aber Riley zögerte. „Du kannst ruhig mit reinkommen“, meinte Lilly.
„Ähm. Ja, okay.“ Etwas unbehaglich folgte er ihnen. Die Tür schnappte ins Schloss. Melody zeigte Riley einen leeren Stuhl am Küchentisch, auf dem er Platz nehmen sollte. Sie selbst setzte sich neben ihn.
„Trinkst du Kaffee?“
„Ja, aber schwarz.“ Melody zog eine Augenbraue hoch. „Schwarz? Schmeckt das denn?“ Mit einer vollen Kanne kam Lilly zu ihnen und schenkte etwas von dem dunklen Getränk in die Tassen ein. „Riley, du musst wissen, Mel trinkt ihren Kaffee immer zur Hälfte mit Milch. Halbfettmilch wohl bemerkt. Und zweimal Süßstoff.“ Als Lilly das sagte, schaute sie galant zu ihrer Nichte. „Und das soll schmecken?“ Riley war sichtlich verblüfft.
„Wenigstens hat er dann eine schöne, helle Farbe und nicht wie bei dir so pechschwarz“, gab sie zu bekennen. Alle drei saßen sie am Tisch und tranken ihren Kaffee, während sie dazu frisch aufgebackene Brötchen aßen, sowie je ein Frühstücksei.
„Sind das auch wirklich Freilandeier?“, wollte Melody wissen. Ihre Tante stöhnte.
„Keine Sorge, die Hühner mussten nicht in ihrem eigenen Mist rumlaufen. Bioeier. Kein Grund zur Panik.“
„Dann ist es ja gut.“ Mit ihrem Messer schlug sie das Ei an der Spitze auf und schnitt so den „Kopf“ des Eis ab und löffelte das Innere- selbstverständlich mit genügend Salz- aus.