Mensch! - Michel Friedman - E-Book

Mensch! E-Book

Michel Friedman

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Beschreibung

»Verzweifelt, weil ich sehe, wie wir aus der Geschichte nicht substanziell lernen. Verzweifelt, weil die Demokratie, die mir als Mensch das Leben garantiert, zerfällt.« Demokratie ist nie statisch, sondern dynamisch. Sie lebt durch die Menschen, die ununterbrochen an ihr arbeiten. Wer wüsste das besser als Michel Friedman. In einer Zeit, in der Demokratie und Menschenrechte von Extremisten und Autokraten täglich angegriffen werden und Demokratien in Teilen von "illiberalen Demokraten" als autoritären und totalitären Führungen übernommen wurden, ruft er dazu auf, nicht nur mutig zu diskutieren, sondern auch endlich zu handeln – zugunsten von Freiheit und Menschenrechten. Mit klaren Analysen entlarvt er die Gefahren von Resignation, mediengetriebener Sensationslust und unerfüllten Versprechen. Dieses Buch fordert heraus, irritiert und inspiriert zugleich. Es ist eine leidenschaftliche Liebeserklärung an die Demokratie. Ein drängender Appell, für Würde, Rechte, Vielfalt und Freiheit zu kämpfen, bevor es zu spät ist.  

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem Buch (etwa durch Links) hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen. Eine Haftung dafür übernimmt der Verlag nicht.

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Anfang vor dem Anfang

Der Anfang

Mensch, wo bist du?

Ungeschütztsein

Vertrauenskrise

Verlustangst

Verantwortungsverweigerung

Demokratiemüdigkeit

Streit-Unkultur

Politik-Performance

TikTok-Tick

Ich bin. Auch ich.

»Das Recht, Rechte zu haben«

Aufklärung, die dritte

Demokratieverteidigung

Vertrauensvorschuss

Realitätstüchtigkeit

Es geht doch

Meschugge? Und wennschon

Weiterdenken, weitermachen

Dank

Anmerkungen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Anfang vor dem Anfang

Mensch

Wo

bist du

Wo

warst du

als ich dich suchte

brauchte

Mensch

die Freiheit

der Frieden

schwinden

verschwinden

Tu was

Wo bist du?

Der Anfang

Ich bin ein Verzweifelter. Verzweifelt, weil ich sehe, wie ein großer Teil der Menschen aus der Geschichte nicht lernt. Verzweifelt, wenn ich sehe, wie den Rechtspopulisten, den Islamisten, wie allen »-ismen« zu viele Menschen in die Arme laufen, während zu viele Demokratinnen und Demokraten in Gleichgültigkeit und Apathie versinken. Verzweifelt, weil ich mich auf die Garantie der Menschenwürde, die mir das Leben in diesem Land ermöglicht hat, möglicherweise nicht mehr verlassen kann.

Wir leben in einer gefährlichen Übergangszeit. Der Angriff auf unsere freiheitliche Demokratie ist brutal, ist gewalttätig. Er ist so ernst wie seit den 1930er-Jahren nicht. Das freie Europa könnte in wenigen Jahren Geschichte sein.

Mein Vater wäre darüber nicht erstaunt gewesen. Er, der die Shoah überlebt hat, hatte mich immer wieder gewarnt: »Sei vorsichtig!«

Vorsichtig sollte ich mit meinem Optimismus sein. Mit meiner Hoffnung. Mit meiner Annahme, dass der Mensch lernen will und kann, dass er nach Antworten sucht. Vorsichtig sollte ich sein mit dem, was ich sage. Mit dem, was ich laut denke. Aber erst recht mit dem, was ich nicht sage.

»Denke!«, sagte er. »Denk, bis dir der Kopf raucht. Übergieß deinen Schädel mit kaltem Wasser, und fang wieder an. Bei null. Immer wieder bei null.«

Ich schwieg.

»Schau genau hin, wie die ›vielen‹ denken – und auch, warum die ›wenigen‹ anderen anders denken. Hör genau zu, wie sie die Worte wählen, wie sie die Worte aussprechen, und vor allem, was sie nicht sagen. Du musst lernen, das wahrzunehmen, was geflüstert wird, was hinter vorgehaltener Hand gesagt wird, was unter dem Radar bleibt.«

»Lebensführerschein« nannte das mein Vater – einen Führerschein für Verstehen und Vorbereitetsein. »Alles ist möglich. Zu jeder Zeit. Du siehst die Sonne. Denkst, alles ist gut. Und unter deinen Füßen bebt die Erde. Nichts ist gut. Und wohin du schaust, in diesem Moment, ist reiner Zufall.«

Ich habe ihn damals nicht verstanden. Oder nicht verstehen wollen.

***

Leben wir nicht in einer freien, emanzipierten, aufgeklärten Welt? Leben wir nicht in einer Welt, in der die Menschenrechte gelten? In der Demokratie, zumindest in Deutschland, herrscht? Im freien Europa?

Es steht doch schwarz auf weiß im Grundgesetz, so wird es uns doch beigebracht: dass wir in einer Staatsform leben, in der Meinungsfreiheit, Gedankenfreiheit, Kunstfreiheit, Minderheitenschutz, Gleichberechtigung unverzichtbare Prinzipien sind. In der Menschen keine Angst vor der Vielfalt anderer Menschen haben sollen. Ich hatte nie Angst vor der Vielfalt der Menschen. Wenn Angst, dann vor ihrer Einfalt.

Es ist doch die Vielfalt, die es uns ermöglicht hat, über das Denken nachzudenken. Unsere eigene Widersprüchlichkeit nicht mehr als Bedrohung, sondern als Ansporn zu verstehen. Sie hat uns Wissen, Wissenschaft gebracht. Sie hat uns gezeigt, dass Suchen und Weitersuchen die Kraft des Fortschritts sind und dass Wissen nicht ewig gilt. Sondern durch ewiges Weiterfragen zum nächsten Wissen führt. Denn Wahrheit ist ein unglaubliches Versprechen, das man hinterfragen muss.

Vorsicht: Lebensgefahr! Wahrheit, die nicht hinterfragt wird, wird zum Dogma. Zur Ideologie. Diese sind starr, unmenschlich, gefährlich. Sie rechtfertigen Gewalt gegen die Menschen, die sie infrage stellen, die weitersuchen.

Mein ganzes Leben habe ich gesucht. Ich suche noch immer. Ich suche nach Spuren, nach Hinweisen, die mir helfen zu verstehen, warum der Mensch zu allem fähig ist. Zum Aufbauen und zum Zerstören. Zu Liebe und zu Hass. Zu Frieden und zu Gewalt. Zu Kooperation und zu Konfrontation. Zum Grenzenbauen und sie wieder zu zerstören. Zu Musik, Literatur, bildender Kunst. Und zu Mord, Barbarei, Blutrausch.

Ich versuche zu verstehen, warum Menschen sind, wie sie sind. Und ob das, was Menschen sind, endgültig ist. Oder ob Veränderung möglich ist, wenn sich die Umstände verändern. Wenn wir die Umstände verändern. Dazu suche ich den Dialog. Auch den Streit.

Menschen begegnen. Sie spüren und verstehen und annehmen. Sie auch ablehnen – und begreifen, warum. Um sie dann vielleicht nicht mehr abzulehnen. Aus den Fragmenten dieser Begegnungen setze ich ein Bild zusammen, eine Erkenntnis: Was ist der Mensch? Wer bin ich? Und wer bist du?

***

Der Lehrer rief meine Eltern an: »Michel stört den Unterricht. Er stellt zu viele Fragen. Kaum hat er eine Antwort, stellt er schon die nächste.«

Ich wartete darauf, dass meine Mutter und mein Vater sagen würden: »Michel, muss das immer sein? Du störst! Hör auf damit.«

Aber nein. Sie sagten: »Frag weiter, Michel. Immer weiter!« Fragen waren für sie keine Störung, sondern ein Lebensprinzip. Kein System, keine Autorität, kein Gesetz ist es wert, nicht infrage gestellt zu werden. Wer fragt, begreift. Wer fragt, bleibt frei.

***

Suchen. Fragen. Weitersuchen. Mit der Vernunft allein? Das reicht nicht aus. Erkenntnis erfordert nicht nur Denken, sondern auch Fühlen. Dies wurde viel zu lange vernachlässigt. Auch in der Wissenschaft. Denn Erkenntnis hat auch mit Gefühl zu tun: mit einem Unbehagen, mit Skepsis, mit Zweifel. Auch: mit Verzweiflung.

Die innere Spannung zwischen Emotionen und Ratio ist nicht etwas, das der Mensch auflösen kann. Vielmehr entsteht erst aus dieser Spannung – aus dem ständigen Ringen zwischen dem, was wir fühlen, und dem, was wir denken – das, was uns als Menschen ausmacht. Was geschieht, wenn der Mensch diese Spannung nicht aufrechterhält, haben Max Horkheimer und Theodor W. Adorno schon während des Zweiten Weltkriegs analysiert. In ihrer Dialektik der Aufklärung stellen sie die Diagnose, dass der Rückfall »in eine neue Art der Barbarei«[1] gerade nicht durch ein Defizit an Rationalität begünstigt worden war, sondern durch die Reduktion auf eine rein »instrumentelle Vernunft«. So versuchten sie die Frage zu beantworten, wie aus dem Volk der Dichter und Denker ein Volk von Mördern und Henkern werden konnte.

Mich hat diese Frage fasziniert. Immer wieder. Als schütze die Tatsache, dass jemand Goethe rezitieren kann, ihn davor, ein Triebtäter zu sein. Oder ein Mörder. Oder ein Betrüger. Oder ein Hochstapler. Als ob kognitive Bildung allein uns zu besseren Menschen machen könnte.

Ja: Vernunft ist unverzichtbar. Wir brauchen sehr viel mehr davon. Doch ohne Emotion fehlt ihr der Zugang zu den wichtigen Fragen, die überhaupt zu Verständnis, zu Lösungen führen. Verstehen geschieht in einer dialektischen Bewegung zwischen Vernunft und Emotion. Die emotionale Intelligenz zu vernachlässigen und nur die kognitive zu fördern, ist ein elementarer Fehler. Menschen sind keine Roboter. Andererseits: Sich nur auf die Emotionen zu verlassen, bedeutet, sich den Urgefühlen der Menschheit zu unterwerfen. Und damit jede Form von Zivilisiertheit zu verhindern.

Die Vernunft allein kann uns nicht retten. Aber sie kann uns helfen, unsere Gefühle in Worte zu fassen und eine Reflexionsreise zu beginnen.

Mensch, wo bist du?

Ungeschütztsein

Meine Mutter, mein Vater, meine Großmutter haben die Hölle, die Shoah erlebt. Sie haben überlebt. Und sind doch zerbrochen. Was sie gebrochen hat: dass man sie nicht mehr als Menschen sah, sondern als Unmenschen. Als Nicht-Menschen. Nicht einmal mehr Nicht-Menschen; dass man sie zu Geziefer umdeutete, dann zu Ungeziefer. Schließlich zu bloßen Nummern. Diese Demütigung, diese Entmenschlichung, diese tiefste Kränkung, die ein Mensch erleben kann, hat sie bis zu ihrem Tod nicht mehr losgelassen. Haben sie sich jemals wieder als Menschen gefühlt? Das frage ich mich mein Leben lang.

Können Sie nachvollziehen, was es für einen Menschen bedeutet, sein Menschsein aberkannt zu bekommen? Wie es sich anfühlt, wenn man nicht als Mensch angesprochen, als Individuum, sondern auf »Schwarzer«, »Schwuler«, als »Muslim« oder »Jude« reduziert wird? Die Summe der Kränkungen hinterlässt Wunden, die kaum jemals vollständig heilen können.

Seit ich ein Kind war, habe ich Kränkungen erlebt. Ein Kind versteht nicht, warum es ausgelacht wird. Angepöbelt wird. Geschubst wird. Angegriffen wird. Die Worte, die es hört – »Drecksjude«, »Judensau« –, sind für das Kind unbegreiflich. Was meinen sie damit? Warum dürfen sie mir das antun? Was kann ich dafür, dass ich jüdisch bin? Was soll daran so schlimm sein? Warum ist es überhaupt erwähnenswert? Bin nicht ich genauso selbstverständlich – wie du?

Ich habe in meinem Leben unzählige Hassbriefe bekommen. Faxe, E-Mails, in denen mir Menschen den Tod wünschen. Mich aufhängen wollen. Mich vergasen wollen. Mich vierteilen wollen. Mich ins Meer werfen wollen. Mich anspucken wollen. Mir Schmerz antun wollen. Vernichtungsfantasien. Ich frage mich, woher ihr Hass kommt. Manchmal frage ich mich sogar, wie es den Menschen geht, die mich so hassen. Nicht dass ich Mitleid mit ihnen hätte. Aber ganz kurz, sehr kurz, manchmal doch.

Im Netz tobt der Hass. Auf so viele. Auch auf mich. Ganz persönlich. Ich werde beleidigt. Bedroht. Angegriffen. Zigtausendfach. Auch in der realen Welt pöbeln Menschenhasser. Sie bedrohen so viele. Ihre geistige Brandstiftung ist hörbar. Sichtbar. In Veranstaltungen schlummern sie entweder demonstrativ dahin oder machen sich groß und breit und spucken ihr Gift aus. Zwei Attentatsversuchen bin ich entgangen.

Das erste Mal kam ein Mann mit einem Brotkorb in meine Fernsehsendung. Und nur dank der Aufmerksamkeit meiner Personenschützer erkannte man, dass in dem Brotkorb eine Pistole lag.

Beim zweiten Mal sollte ich bei einer Veranstaltung in einer großen Universitätsstadt auf dem Balkon des Rathauses eine Rede halten. Es ging um den Kampf gegen Rechtsextremismus. Wieder einmal. Ein paar Tage zuvor meldete sich jemand bei der regionalen Zeitung. Er sagte: »Ich bin ein Neonazi. Aber kein Mörder.« Es seien Waffendepots angelegt worden, um mich zu töten. Die Polizei suchte nach den Depots: Seine Angaben stimmten. Die Veranstaltung wurde dennoch nicht abgesagt. Hunderte Polizeibeamte sicherten die Kundgebung.

Als wir mit dem Wagen – ich saß auf der Rückbank – vor Ort ankamen, fragte mich der Chef des Personenschutzes, ob ich meine Rede wirklich halten wolle.

Ich sagte: »Ja.«

Er antwortete: »Wenn Sie da draußen stehen, können wir für Ihren Schutz nicht mehr garantieren. Wollen Sie trotzdem reden?«

Ich sagte: »Ja.«

Daraufhin ging er zum Kofferraum und holte eine schusssichere Weste heraus. Er bat mich, sie anzuziehen. Ich wartete noch ein paar Minuten im Wagen. Dann, plötzlich, fing ich an zu weinen.

Ich schluchzte wie schon seit Langem nicht mehr. Ich fror. Ich schrie mich selbst lautlos an: Bist du verrückt? Willst du wirklich dein Leben riskieren? Wofür denn? Für dieses Land? Willst du wirklich den Nazis die Gelegenheit geben, dich zu töten? Ist es überhaupt dein Land? Ist es wirklich deine Aufgabe, dich auf diesen Balkon zu stellen und diesen wunderbaren Menschen, die gekommen sind, um sich gegen die Demokratiefeinde zu versammeln, Kraft und Mut zu geben? Ist es die Aufgabe eines Kindes von Eltern, die den Holocaust überlebt haben, das zu tun?

Sekunden vergingen. Ich musste entscheiden, ob ich die Wagentür öffnen, ob ich heraustreten, ob ich auf dem Balkon stehen wollte, ob ich die richtigen Worte finden konnte. Als ich die Menschenmenge sah und wusste, dass unter diesen Menschen auch mein potenzieller Mörder stehen konnte, war ich tief erschüttert. Und plötzlich wusste ich, warum ich reden wollte. Ja, reden musste. Würde ich jetzt aus Angst meine Rede nicht halten, würde ich für immer verstummen. Sie hätten mich zum Schweigen gebracht.