Zeitenwende - Der Angriff auf Demokratie und Menschenwürde - Michel Friedman - E-Book

Zeitenwende - Der Angriff auf Demokratie und Menschenwürde E-Book

Michel Friedman

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Beschreibung

Erleben wir einen Epochenbruch? Die Coronakrise hat nicht nur virologische Fragen aufgeworfen, sondern auch soziale, politische und kulturelle, die zuvor allzu leicht übersehen wurden. Insofern kann man die Krise auch als eine Lerngeschichte lesen, die für die Zukunft der Demokratie und die Lösung ihrer Zukunftsprobleme von Rassismus bis Ungleichheit äußerst wichtig ist. Michel Friedman und Harald Welzer untersuchen die Frage, ob wir einen Epochenbruch erleben, und skizzieren, wie unsere Gesellschaft modernisiert werden kann. Wir leben in einer Zeitenwende. Die demokratischen Gesellschaften stehen unter Druck durch die machtvolle Rückkehr der Autokraten, durch die Wiederkehr der Rechtsextremen, Nationalisten, Rassisten und Antisemiten, die Wellen von Hass, Hetze und Terrorismus erzeugen. Dazu kommen soziale Ungleichheit, Klimawandel und Pandemie. Die Welt ist erheblich in Unordnung geraten und der Politik fehlt es an politischen Konzepten und Lösungen. Michel Friedman und Harald Welzer, die zu den streitbarsten und profiliertesten Intellektuellen des Landes zählen, suchen im intensiven Gespräch nicht nur nach den Ursachen der Erosionskrise, sondern auch nach Strategien für eine verantwortungsvolle, historisch aufgeklärte und proaktive Politik. Dabei greifen sie nicht nur auf ihr profundes historisches und gesellschaftspolitisches Wissen zurück, sondern schauen auch in ihre eigenen Biografien, um den Widersprüchen einer schwierigen Zeit nachzuspüren. Eine Lerngeschichte des Politischen in Echtzeit.

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Michel Friedman / Harald Welzer

Zeitenwende

Der Angriff auf Demokratie und Menschenwürd

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Über Michel Friedman / Harald Welzer

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

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Über Michel Friedman / Harald Welzer

Michel Friedman, Prof. Dr. Dr., Philosoph und Jurist, ist Direktor des Center for Applied European Studies (CAES) an der Frankfurt University of Applied Sciences, Moderator verschiedener Talkshows für die Deutsche Welle, den SWR und Die Welt. Er ist Autor der Tageszeitung Die Welt und Gastgeber einer politischen Gesprächsreihe im Berliner Ensemble.

 

Harald Welzer, Prof. Dr., Mitbegründer und Direktor von FUTURZWEI. Stiftung Zukunftsfähigkeit. Er lehrt an der Europa-Universität Flensburg und an den Universitäten Sankt Gallen sowie Zürich und ist Herausgeber von taz FUTURZWEI. Magazin für Zukunft und Politik. Seine Bücher (zuletzt »Alles könnte anders sein. Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen«) sind in 22 Sprachen übersetzt worden.

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Über dieses Buch

Wir leben in einer Zeitenwende. Die demokratischen Gesellschaften stehen unter Druck durch die machtvolle Rückkehr der Autokraten, durch die Wiederkehr der Rechtsextremen, Nationalisten, Rassisten und Antisemiten, die Wellen von Hass, Hetze und Terrorismus erzeugen. Dazu kommen soziale Ungleichheit, Klimawandel und Pandemie. Die Welt ist erheblich in Unordnung geraten und der Politik fehlt es an politischen Konzepten und Lösungen. Michel Friedman und Harald Welzer, die zu den streitbarsten und profiliertesten Intellektuellen des Landes zählen, suchen im intensiven Gespräch nicht nur nach den Ursachen der Erosionskrise, sondern auch nach Strategien für eine verantwortungsvolle, historisch aufgeklärte und proaktive Politik. Dabei greifen sie nicht nur auf ihr profundes historisches und gesellschaftspolitisches Wissen zurück, sondern schauen auch in ihre eigenen Biografien, um den Widersprüchen einer schwierigen Zeit nachzuspüren. Eine Lerngeschichte des Politischen in Echtzeit.

Inhaltsverzeichnis

Zeitenwende. Ein Prolog

1 Bildung. Oder: Wie alles anfängt

2 Überall ist Digitalien

3 Was Spargel mit Demokratie zu tun hat

4 A Song for Europe

5 Was ist an Entzivilisierung eigentlich überraschend?

6 Warum der Raum des Sagbaren größer wird. Oder: über das Recht, Rechte zu haben

7 Dann ist das nicht mein Land

8 Deutungselitenversagen. Man nimmt nicht an Spielen teil, die man nicht gewinnen kann

9 Das Ende der Geschichte war der Anfang einer anderen Geschichte

10 Generationen und Gerechtigkeit

11 Das nachgelieferte Gewissen und die schweigende Mitte

12 Welche Bürgerinnen und Bürger braucht die Demokratie?

13 Wir müssen mehr streiten

14 Eine Gebrauchsanweisung für die Demokratie

Epilog: Making of Zeitenwende

Ausgewählte Literatur

Dank

Zeitenwende. Ein Prolog

Es gibt vielleicht kein aussichtsloseres Unterfangen als den Versuch, seine eigene Gegenwart zu verstehen. Wir sind Teilnehmer eines Geschehens, und Teilnehmer sind schlechte Beobachter. Das gilt umso mehr, als ziemlich viel von dem, was im Jahr 2020 geschieht, nach Erosion aussieht – nicht nur von Erwartbarem und Gewohntem, sondern auch von politischen und sozialen Sicherheiten.

Als wir dieses Buch zu schreiben begannen, im März 2020, befanden wir uns gerade am Anfang der Corona-Krise, die uns da noch kaum einschlägig für unsere Beschreibung einer »Zeitenwende« erschien. Uns ging es um Prozesse der Entdemokratisierung, den Antisemitismus, die Umfiguration der geopolitischen Lage, die Rückkehr der scheinbar Wahnsinnigen in die Weltpolitik – und die alles überwölbende Frage, wie unsere Gesellschaft so zu stärken sei, dass sie den neuen Herausforderungen begegnen kann. Und sich als Demokratie, als Offene Gesellschaft modernisieren kann.

Fragen der Demokratie, ihrer Bewahrung und Modernisierung, der Stärkung der Menschenrechte und des Schutzes der Menschenwürde hatten uns beide auf unterschiedliche Weise und auch aus unterschiedlichen Gründen seit vielen Jahrzehnten beschäftigt. Gerade weil wir, wie wir aus unseren vorherigen Gesprächen wussten, keineswegs in jeder Hinsicht übereinstimmten, schien es uns wichtig, gemeinsam über die Gefährdungen der Demokratie nachzudenken, zu streiten und, wenn es gut liefe, zu Gedanken zu kommen, auf die man allein nicht käme. Dialog und Streit sind der Sauerstoff der Demokratie, also trafen wir uns für ein paar Tage im März, um die Grundzüge dieses Buches zu entwickeln.

Knapp zwei Monate später, als wir uns erneut zu Gesprächen trafen, war alles anders. Zu allen Erosionsfaktoren, die wir im Begriff der »Zeitenwende« zusammenzufassen versuchten, kam es mit dem Coronavirus im Frühjahr 2020 zum Ende aller Gewissheiten, die zuvor den selbstverständlichen Hintergrund unserer Existenz bildeten.

Tatsächlich war der ungewöhnlichste Erwartungsbruch für fast alle Menschen, sich plötzlich in einer Situation zu finden, in der man keine Erwartungen ausbilden konnte. Von jetzt auf gleich war komplett unabsehbar geworden, wie nachhaltig sich eine Pandemie ausbreiten würde, wie man sie eindämmen könnte, was die ökonomischen, die sozialen, die psychologischen Folgen sein würden und wie sie sich, je nach Dauer der Krise, ausprägen würden. Die Ereignisse überschlugen sich und verdichteten sich zu einem Nicht-Ereignis, genannt Lockdown. Nicht nur unserer Gesellschaft wurde radikal klar, wie schnell Pläne, die politische Statik, die ökonomische Basis, die alltäglichen Gewohnheiten blitzschnell der Vergangenheit angehören können.

Eine Vollbremsung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Aktivitäten – das kannte man nicht, jedenfalls wenn man das Glück hatte, irgendwann in den letzten Jahrzehnten in Deutschland geboren und aufgewachsen zu sein. Eine vollständige Entleerung des öffentlichen Raumes. Eine physische Kontaktsperre. Und das Ganze unter der Dominanz der Wissenschaft, die unmittelbar das politische Entscheidungshandeln zu bestimmen begann, bis hin zu der Konsequenz, Grundrechte auf eine Weise zu beschränken, wie wir das noch bei unserem ersten Treffen im März für unmöglich gehalten hätten.

Die getroffenen Maßnahmen fruchteten erstaunlich gut – ablesbar an Statistiken zu Infektions-, Genesungs- und Sterberaten. Die Bundesrepublik erwies sich einmal mehr als unglaublich gut funktionierendes Land mit einem – trotz aller Sparexzesse, die auch vor den Krankenhäusern nicht haltmachten – hervorragenden Gesundheitssystem. Allerdings zeigten sich im Verlauf der Krise eine ganze Reihe von Faktoren, die direkt auch für unser gemeinsames Buch wichtig sind:

1.

Wie unglaublich schnell unter Bedingungen des (durch ein eilends reformiertes Infektionsschutzgesetz begründeten) Ausnahmezustands Grundrechte widerspruchslos eingeschränkt und

2.

radikal veränderte Lebens-, Sozial- und Teilhabeverhältnisse etabliert werden können. Das mochte in einer stabilen liberalen Demokratie wie der deutschen noch hingehen, führte

3.

aber in den die demokratischen Standards abbauenden Staaten in der EU, namentlich in Ungarn und in Polen, zur sofortigen Instrumentalisierung der Krise, um autoritäre Systeme zu formen.

4.

Die Europäische Union zeigte sich in der Krise als unfähig zu koordiniertem Handeln – es gab weder orchestrierte Beschlusslagen zu Bewegungseinschränkungen noch zu Aufhebungen derselben. Im Abflauen der Krise gab es nicht einmal den Versuch, den Zeitpunkt der Grenzöffnungen und der Wiederaufnahme des Reiseverkehrs abzustimmen. Der Zerbröselungszustand der Europäischen Union erhielt während der Corona-Krise einen weiteren Schub. Nationale Rassismen bekamen in den Argumentationen der Politik einen deutlich größeren Raum.

5.

Es wurde schlagend deutlich, wie sich unter Krisenbedingungen soziale Ungleichheiten verschärften – vom sofortigen Stopp der Flüchtlingsaufnahme über die Bildungsungleichheit bis hin zur Geschlechterungleichheit inklusive Steigerung häuslicher Gewalt.

6.

Das Systemvertrauen hingegen nahm in ganz erstaunlichem Umfang zu, ablesbar an den Zustimmungswerten für die Maßnahmen, besonders aber auch für die Regierungspartei CDU und die Kanzlerin. Die AfD sackte auf einen einstelligen Wert. Trotz ganz erheblicher wirtschaftlicher Belastungen und Freiheitsbeschränkungen kam es zu keinerlei Aufständen oder Revolten, nicht einmal zu Protest in relevanten Größenordnungen.

7.

Die gesellschaftlichen Interessengruppen begannen nach kürzester Zeit, sich zu artikulieren, wobei sich die Autoindustrie und der Bundesverband der Deutschen Industrie mit Forderungen nach Kaufprämien für ihre Produkte hervortaten. Schon zuvor hatten sich viele Unternehmen als Krisenprofiteure versucht, etwa durch Stopp von Mietzahlungen, nachdem die Bundesregierung ein eigentlich für den privaten Mieterschutz gedachtes Kündigungsschutzgesetz verabschiedet hatte. Wie stark das Lobbysystem in Deutschland funktioniert, konnte man an dem eher überraschenden Beschluss erkennen, dass die Fußball-Bundesliga ihre Spiele – wenn auch ohne Zuschauer – wieder aufnehmen durfte.

8.

Während sich hier Akteure schnell zur Gewinnung von Vorteilen aufstellten, versuchte man aufseiten der ökologisch und klimapolitisch orientierten Interessengruppen in Richtung einer green recovery zu argumentieren, also den Post-Corona-Reset der Wirtschaft als Schub für eine postfossile Restrukturierung der Wirtschaft zu nutzen. Der Erfolg war begrenzt.

9.

Die Digitalisierung lässt sich als eindeutiger Gewinner der Krise identifizieren, da viele Arbeits- und Kommunikationsprozesse ohne digitale Technologien nicht aufrechtzuerhalten gewesen wären. Nichtsdestotrotz entlarvte die Corona-Krise, dass die digitale Infrastruktur in einer der mächtigsten und erfolgreichsten Volkswirtschaften der Welt um mindestens ein Jahrzehnt hinterherhinkt. Für die Unterstützung der Pandemiebekämpfung wurde mit einiger Verzögerung eine »Corona-App« entwickelt und der erstaunliche Begriff der »Datenspende« erfunden.

10.

Insgesamt war eine deutliche Vakuumierung des politischen Raumes zu verzeichnen. Das Monothema war über viele Wochen hinweg die Bekämpfung der Pandemie. Da diese unter virologischen und epidemiologischen Auspizien stattfand, machte das Politische buchstäblich Pause. Und mit ihm die Demokratie. Trotzdem: Sechs Wochen nach dem Beginn des Einfrierens der Normalität zeigte sich, wie unverzichtbar gerade in solchen extremen politischen Situationen ein funktionierender demokratischer Rechtsstaat ist. Die ersten Gerichte korrigierten Regierungsbeschlüsse. Der Rechtsstaat funktionierte.

Insgesamt lässt sich die Krise als eine gigantische Versuchsanordnung beschreiben. In der Bundesrepublik wurde eine Demokratie im Ausnahmezustand getestet. Für unser Gespräch bedeutete das eine notwendige Erweiterung unserer Fragestellung. Hatten wir uns zunächst auf Fragen von Demokratie und Menschenrechten, von Rechtsextremismus und -terrorismus, auf die Latenz antisemitischer und rassistischer Einstellungen, die Erinnerungskultur und die politische Bildung in Deutschland konzentriert, öffnete sich uns nun ein viel breiteres Spektrum von Phänomenen, in denen sich eine Zeitenwende abspielt.

Zum Erscheinen des Buches wird längst noch nicht endgültig absehbar sein, wie nachhaltig die Krise die moderne Demokratie verändern wird – dazu ist unser Beobachtungszeitraum zu kurz. Aber immerhin wissen wir, dass Grundrechtseinschränkungen, wenn sie einleuchtend begründet werden, von großen Teilen der Bevölkerung ohne Murren akzeptiert werden. Das Prinzip, dass der Zweck die Mittel heilige, war insofern erfolgreich, als die Bekämpfung eines Virus für die Begründung des Aussetzens demokratischer Grundrechte ausreicht.

Vielleicht muss man darauf hinweisen, dass es ein Glücksfall ist, dass demokratische Parteien dieses Land regieren. Stellen wir uns die Bundesrepublik Deutschland vor, wenn Parteien wie die AfD Exekutivgewalt gehabt hätten und es sich um einen »Zweck« gehandelt hätte, der nicht objektiv die Frage des kurzfristigen Abbaus von Demokratie und Freiheitsrechten ergeben hätte, sondern ein populistisches Thema, das maximal aufgeheizt worden wäre. Deswegen ist die Frage umso dringlicher: Wie steht es um die gesellschaftliche Verankerung der Werte, die dem Grundgesetz zugrunde liegen? Diese Frage ist für uns zentral, geht es doch letztlich um die Stabilität und Verlässlichkeit freiheitlicher und demokratischer Haltungen bei der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger. Und wie steht es um die Stabilität und Verlässlichkeit der Errungenschaften des zivilisatorischen Prozesses – von Institutionen wie der EU bis hin zu Standards der Ächtung von Gewalt und Unantastbarkeit der Menschenwürde? Und weiter: Wie rapide verändern sich Standards der politischen Entscheidungsbildung und welche Wissensformen und Technologien gewinnen dynamisch an Bedeutung? Im Fall der Corona-Krise waren es die medizinischen Teildisziplinen Virologie und Epidemiologie – Fächer, die zuvor keinerlei Bedeutung im alltäglichen Leben der Menschen und im Handeln der Politik hatten. Und es war in überragendem Maße die digitale Technologie, die das social distancing zu kompensieren half, Arbeitsprozesse ermöglichte und, nicht zuletzt, neue Standards gesellschaftlich akzeptierter Überwachung setzte.

Gehen wir mit Herfried und Marina Münkler (Abschied vom Abstieg. Eine Agenda für Deutschland) davon aus, dass eine funktionierende Demokratie der »komplementären Rationalitätsanforderungen von Faktizität und Narrativität« bedarf. Faktizität ist nötig, um die Machbarkeit, Kosten und Folgen von Plänen und Maßnahmen abzuschätzen; Narrativität – also die Fähigkeit, eine Geschichte über sich selbst erzählen zu können – braucht es, um »Möglichkeitsräume zu erkunden, Alternativen zum Bestehenden zu entwerfen und dafür in einem offenen Diskussionsprozess die Bürger des Gemeinwesens zu mobilisieren. Komplementarität beider Rationalitäten heißt: Expertenwissen und Narrative konkurrieren so miteinander, dass sie sich wechselseitig ergänzen und ausbalancieren.« Man sieht schnell, was geschieht, wenn die Balance sich verschiebt: Rechtspopulismus in den unterschiedlichen Versionen von Trump bis Orbán ist fast reine Narrativität mit einem nicht zufälligen Hass auf die Faktizität; Krisenpolitik im Fall von Corona fast reine Faktizität, Expertenherrschaft ohne Berücksichtigung aller jenseits der »Fakten« liegenden Geschichten – etwa solchen über Gerechtigkeit, Gleichheit, Menschenwürde.

Während prä-coronastisch sich die Balance seit der »Flüchtlingskrise« ab 2015 zugunsten der Narrativität verschoben hatte und ungute Folgen für das demokratische Gemeinwesen entfaltete (in den meisten europäischen Gesellschaften noch mehr als in der Bundesrepublik), wirkte die Corona-Krise wie ein Relais, das politische Entscheidungen vom Modus der Aushandlung und Begründung in den Modus der (naturwissenschaftlich legitimierten) Maßnahme schaltete. Das funktionierte erstaunlich reibungslos, obwohl wissenschaftliches Wissen nie als abschließend gesichert gelten kann und sich folgerichtig auch die Angehörigen der neuen Expertokratie gern widersprachen. Unbeschadet dessen erlebte nicht nur die Bundesrepublik, sondern ein Teil der Welt eine Phase der Herrschaft der Faktizität, in der Politik gewissermaßen nur noch ausführend, nicht aber mehr autonom zum Ausdruck kam. Ein anderer Teil der Welt erlebte die gefährliche, zynische Clownerie der Leugnung der Gefährlichkeit von Tatsachen und wissenschaftlichen Erkenntnissen. An der Spitze die amerikanischen und brasilianischen Präsidenten Donald Trump und Jair Bolsonaro. Bis zu seiner eigenen Infektion setzte der britische Premierminister Boris Johnson die schon im Brexit-Verfahren geübte Methodik der erratischen Unberechenbarkeit fort, kaum genesen, nahm er sie wieder auf. Während die autokratische chinesische Führung ihre Überwachung radikalisierte und Leute mit Gewalt einsperrte, erprobte Schweden eine Strategie der beschleunigten Herstellung von »Herdenimmunität« – aber unabhängig von solchen extremen Ausprägungen orientierten fast alle Staaten der Welt ihre Entscheidungskriterien an einer letztlich statistischen Wissenschaft.

Aus Sicht der Demokratie und der Menschenwürde ist das nicht nur überraschend, sondern auch fragwürdig und allenfalls nur für kurze Zeiträume akzeptabel. Auch wenn wir die Rationalität der Grundrechtseinschränkungen für den Beginn der manifesten Krise unterstreichen würden, haben wir es doch mit einem Realexperiment darauf zu tun, wie im Prozess eines Krisengeschehens die Komplementarität der beiden Rationalitäten – also Faktizität und Narrativität – erst mal gar nicht so schnell zurückkehrt. Insofern ist die Corona-Krise für uns und für dieses Buch eine Lerngeschichte mit offenem Ausgang, die wir genau betrachten müssen, wenn wir unsere Gegenwart verstehen wollen, und zwar so, dass wir zum Weiterbau am zivilisatorischen Projekt und zur Verteidigung von Demokratie und Menschenwürde beitragen können.

1Bildung. Oder: Wie alles anfängt

MF: Die Bildungsungerechtigkeit ist für mich die ungerechteste aller Ungerechtigkeiten, weil sie Kinder und junge Menschen für etwas bestraft, wofür sie nichts können: ihre Herkunft. Das Bildungsversprechen hat nicht nur eine ethisch-moralische Komponente, sondern auch eine sozial-ökonomische. Gut ausgebildete Menschen sind eher in der Lage, eine berufliche Existenz aufzubauen, vom Staat unabhängig zu sein und für ihr Leben selbst zu sorgen. Gut ausgebildete Menschen können im Rahmen des Demokratiediskurses die Verführung der politischen Rhetorik besser entlarven und die Argumente der unterschiedlichen politischen Konzepte besser bewerten. Das Versprechen eines humanistisch-liberalen Staates ist es, ungleiche Ausgangsbedingungen, erst recht bei Kindern und Jugendlichen, durch formale Bildung zu kompensieren.

Ich konnte meine Bildungsbiografie dank dieses Versprechens verwirklichen. Meine Mutter und mein Vater konnten die Schule nicht beenden – das Ghetto und Hitler hatten ihre letzten Schuljahre zerstört. Die Muttersprachen meiner Eltern waren Polnisch und Jiddisch. Ich bin in Paris geboren, lernte Französisch und hatte mit dem Ende der Grundschule eine bessere Sprachkompetenz als meine Eltern. Wir zogen dann nach Deutschland, wo ich mit zehn Jahren aufs Gymnasium ging. Wieder musste ich eine Sprache von Grund auf erlernen. Meine Eltern konnten Deutsch nur rudimentär, ein paar Worte, die sie im Ghetto von den Nazis gehört hatten. Ich kann mich sehr gut identifizieren, wenn es um die Sprach- und Integrationsförderung von Kindern und Jugendlichen geht. Ich verstehe die Frustration, wenn einem nicht ausreichend beigestanden wird, weil ich selbst erlebt habe, wie notwendig, ja unverzichtbar der Spracherwerb ist, um ein selbstbewusstes autonomes Leben führen zu können. Ich erinnere mich, wie hilflos ich mich als Zehnjähriger gefühlt habe. Ich erinnere mich, wie schmerzhaft es für meine Eltern war, mir nicht helfen zu können. Dass ich sehr bald sowohl Französisch als auch Deutsch besser sprechen konnte als sie, erfüllte mich mit widersprüchlichen Gefühlen. Einerseits Stolz. Und auch sie waren stolz, wie weit ich es gebracht hatte. Andererseits Überforderung. Den Eltern als »Übersetzer« zu dienen, hat etwas Beschämendes. Für alle Beteiligten. Es war, ist und bleibt in der Zukunft erst recht unverzichtbar, dass Kindern und jungen Menschen die Gesellschaft zur Seite steht, um die Defizite, für die sie nichts können, durch Bildungsangebote auszugleichen. Das Versprechen der sechziger und siebziger Jahre, in denen ich meine Bildungsbiografie erlebt habe, war das Versprechen: »Bildung für alle.« Bis heute wird es nicht erfüllt. Bis heute konnten und können Millionen Menschen ihr Potenzial deshalb nicht ausschöpfen. Kinder und Jugendliche werden immer noch zu oft alleingelassen.Den Eltern als Übersetzer zu dienen, hat etwas Beschämendes.

 

HW: Genau. Dabei prägte der Theologe und Pädagoge Georg Picht schon 1964 den Begriff der »Bildungskatastrophe«, Ralf Dahrendorf folgte ein Jahr später mit seinem Buch Bildung ist Bürgerrecht. Plädoyer für eine aktive Bildungspolitik. Und in der Ära Brandt wurden die Bildungsreformen umgesetzt. Zum Glück für dich und mich.

 

Dieses Versprechen war für mich die Chance, das war das Fenster, das geöffnet wurde, mein Ausweg in eine andere Zukunft, die Chance, sich zu emanzipieren.

Das Bildungsversprechen muss erfüllt werden, unabhängig davon, ob die Eltern bildungsfördernd wirken oder nicht. Deutschland ist ein Einwanderungsland. Seit den fünfziger Jahren wandern Millionen als Arbeitnehmer ein. In der Regel beherrschen weder die Eltern noch ihre Kinder die deutsche Sprache. Obwohl es in unserem Interesse wäre, diese Sprachdefizite, besonders bei den jungen Menschen, durch Nachhilfeunterricht und Zusatzunterricht zu kompensieren, erfüllen wir diese Aufgabe nicht. Wir nehmen diese »Sprachwüste« hin. Ein paar Jahre später beschweren wir uns dann über die misslungene Integration. Was für eine Heuchelei! Wir waren doch diejenigen, die diese Menschen alleingelassen haben. In den Debatten der letzten zwanzig Jahre wird das Sprachdefizit immer wieder als Pseudoargument verwendet, um zu beweisen, dass Einwanderer und Migranten integrationsunwillig sind. Dabei hätten sie bloß ein bisschen mehr Hilfe gebraucht. Doch Bildungsungerechtigkeit zeigt sich auch bei deutschsprachigen Familien, in denen Kinder aufgrund von Vernachlässigung und Gleichgültigkeit oder weil auch die Eltern nicht in der Lage sind, ihre Kinder zu begleiten, mit einem Anfangsrückstand in das System kommen. Wenn das System ihnen nicht mehr Unterstützung anbietet, mehr Förderung, mehr Aufmerksamkeit, können auch sie nicht mehr aufholen. Die Gesellschaft scheitert bei einer nicht mehr unerheblichen Anzahl von Kindern und Jugendlichen, die deswegen in ihren gesamten Lebens- und Berufsbiografien an eine Grenze stoßen. Aber viele der Privilegierten haben gar kein Interesse daran, diese Grenzen abzubauen. Damit würde für ihre Kinder Konkurrenz und Druck entstehen.Viele der Privilegierten haben gar kein Interesse daran, diese Grenzen abzubauen.

 

Ich stimme da jedem einzelnen Aspekt zu und kann das durch meine eigene Bildungsbiografie ergänzen, weil ich unter den Bedingungen von heute auch nicht den Weg hätte gehen können, den ich gegangen bin. Ich bin – generationell ist es ja eh dasselbe – ein absoluter Profiteur der Öffnung des Bildungssystems. Zwei Sachen dazu: Das eine ist – das betrifft unser Thema unmittelbar –, dass eine moderne Demokratie, die sich von der Grundierung her als universalistisch versteht, gar nicht anders kann, als ein egalitäres Bildungssystem zu schaffen oder zu gewährleisten. Doch das tut sie seit der ersten rot-grünen Bundesregierung nicht mehr. Wir kennen alle die Daten, die zeigen, wie die Bildungsgerechtigkeit durch die unterschiedlichsten Faktoren angewachsen ist. Aber auch wenn keine totale soziale Gleichheit herstellbar ist, sollten wir alle den Anspruch auf gleiche Bildungschancen haben. Das ist der entscheidende Punkt. Jetzt den Bogen zurück zur Gegenwart, zur Corona-Krise: Ich finde es so extrem auffällig, wie durch die Notwendigkeit des Homeschoolings unter anderem auf der Ebene der vorhandenen technischen Geräte erst mal vorausgesetzt wird, dass überall Mittelstand herrscht, dass jeder über iPads und sonst was verfügt. Ganz zu schweigen von der Unterstützungsleistung der Eltern. Die Realität ist eine vollkommen andere, denn natürlich hat Schule zum Beispiel auch die Funktion, Kinder vor ihren Familien zu retten, ihnen die Möglichkeit zu geben, da rauskommen zu können – es gibt ja Kinder, die vor ihren Eltern geschützt werden müssen.

Wenn wir die real existierenden Schulen vor Corona betrachteten, dann wussten wir, dass die Ausstattung – sowohl die Gebäude als auch die Lehrmittel – eine Frage des Geldes ist, dass es völlig unterschiedliche Qualitätsstandards gibt.

So ist es nicht überraschend festzustellen, dass, zum Beispiel in weniger privilegierten Wohngegenden, Kinder über ungenügende Ausstattung verfügen oder Lehrer nicht in der Lage sind, Homeschooling adäquat zu begleiten. Und dass die Eltern nicht in der Lage sind, diese Missstände auszugleichen. Manchmal sind sie eben selbst der Missstand.

 

Die Frage, die sich nun stellt, ist: Was bedeutet das soziologisch und gesellschaftspolitisch, wenn bereits mehrere Generationen diese Erfahrung der sozialen Ausgrenzung im Bildungssystem gemacht haben? Wenn Kinder und Jugendliche gelernt haben, dass sie der Gesellschaft nicht so viel bedeuten wie andere Kinder und Jugendliche? Wenn sie gelernt haben, dass der soziale Status ihrer Eltern zu einer Zementierung ihres eigenen sozialen Status werden kann? Dass sie von den Institutionen im Stich gelassen werden? Dass sie aufgrund ihrer Herkunft von anderen Kindern oder auch Lehrern gehänselt und stereotypisiert behandelt werden? Dass sie in ihren Bildungsghettos unweigerlich stecken bleiben? Was bedeutet das für ihr Verhältnis zum Staat, für ihr Verhältnis zur Demokratie? Ihnen wird erzählt: Alle Menschen sind gleich. Und doch bietet der Staat ihnen nicht die Instrumente an, die Ungleichheit, für die sie nichts können, durch Bildungsimpulse zu verändern. Die Würde des Menschen beinhaltet für mich in einer modernen Gesellschaft unverzichtbar die Bildungsgerechtigkeit. Eine Gesellschaft, die von Würde spricht, muss dem Menschen die jeweils beste Bildung ermöglichen. Bildung bedeutet Wissen. Wissen ist die Voraussetzung für Verstehen. Wissen und Verstehen sind die Voraussetzungen für ein Mehr an Autonomie. Meinen Eltern war es sehr wichtig, dass ich ein gebildeter Mensch werde. Mein Vater wollte, dass ich lerne. Nicht nur für die Schule. Er sagte zu mir: »Wenn du eines Tages – und ich erwarte, dass dir das eines Tages passieren wird, weil so die Welt ist – flüchten musst, wegziehen musst, Armut erleben musst, in einer Diktatur leben musst, können dir andere Menschen alles wegnehmen, nur nicht das, was du in deinem Kopf hast. Das kann dir keiner wegnehmen.« Meine Eltern wollten, dass es mir eines Tages besser geht als ihnen. Das war nicht nur materiell gemeint. Sie waren davon überzeugt, dass Menschen mit Bildung eine bessere Lebensperspektive haben.

 

Jetzt muss ich noch zwei Bemerkungen machen: Die eine Bemerkung ist kurz und bezieht sich auf diesen wirklich infamen Begriff »bildungsferne Schichten«. In dem steckt schon das ganze Problem. Er unterstellt, dass Leute, die kein Abitur haben, vielleicht nicht mal einen Hauptschulabschluss, bildungsfern seien. Die Geschichte deines Vaters erzählt das exakte Gegenteil.

 

»Bildungsferne Schichten« ist eine zynische Metapher.

 

Das ist einfach infam, weil das die Perspektive der »gehobenen Stände« auf »die da unten« ist. In Wirklichkeit sind sie nur arm und legen großen Wert darauf, dass ihre Kinder tatsächlich Bildung bekommen. Jetzt kommt der zweite Teil der Geschichte. Ich komme auch aus so einer ungebildeten, relativ armen Familie. Mein Vater war das, was man heute einen »unbegleiteten minderjährigen Flüchtling« nennen würde, meine Mutter Waise. Sie haben sich sehr jung kennengelernt und hatten durch den Krieg und ihre Lebensumstände nur rudimentär Bildung abbekommen. Jetzt kommt aber noch ein interessanter Aspekt dazu: die unterschiedlichen Geschlechterrollen. Mein Vater, im Unterschied zu deinem, legte überhaupt keinen Wert darauf, dass seine Söhne irgendeine Form von höherer Bildung genießen. Warum nicht? Weil er, nicht zu Unrecht, vermutet hat: Das bringt Schwierigkeiten, was seine eigene Rolle angeht, das stellt seine Allmacht infrage. In solchen Familien sind es in der Regel die Frauen, die Mütter, die dann sagen: Aber der Junge soll, weil er kann. Dann gibt es auch, nicht zu unterschätzen, in einer bildungsoffenen Kultur entsprechende Lehrerinnen oder auch Lehrer, die das Mandat übernehmen und sagen: Der ist aber gut, der muss auf die weiterführende Schule. Obwohl der Vater sagt: Nee, der bleibt auf der Hauptschule. Da hat man Glück, wenn die Mutter und die Lehrerinnen sich durchsetzen.

 

Wenn du allerdings in dem kritischen Bereich lebst, den wir gerade diskutieren, dann ist das Zufall, ob du Unterstützung bekommst; so eine Lehrerin ist ein Glücksfall. Ein demokratischer Staat darf aber, was die Bildungsfrage angeht, Kinder nicht dem Glücks- und Zufall überlassen. Es muss eine strukturelle Garantie geben. Wenn das System an dieser Stelle versagt, gefährdet es den Frieden in der Gesellschaft. An diesem Punkt bin ich radikal. Bildung ist ein Menschenrecht. Damit kein Missverständnis entsteht: Mir geht es nicht zwangsläufig um akademische Bildung. Jedes Kind, jeder Jugendliche sollte dort gefördert werden, wo seine Talente liegen. Die entscheidenden Grundlagen, die allen in einer freien Gesellschaft zustehen, müssen aber für jeden zugänglich sein. Im 21. Jahrhundert gehört neben den Grundfächern dazu auch die Vermittlung einer digitalen Kompetenz, ein Verständnis der ökonomischen Welt, das Lernen, was Diktatur und was Demokratie ausmacht, die Fähigkeit, eine Streitkultur zu entwickeln, und die Vermittlung von Menschenrechten. Dieses Mindestmaß an Bildung ist die Voraussetzung dafür, dass eine zivilisierte Gesellschaft eine Zukunft entwickelt. Vernachlässigen wir die Bildung, zerstören wir die Demokratie.

 

Es zerstört eigentlich die notwendige Beziehung des künftigen Bürgers oder der künftigen Bürgerin zu ihrer Gesellschaft. Ich möchte dazu noch einen Punkt ergänzen. Man muss sich nur die Schulgebäude, die Klassenräume und die Toiletten ansehen. Ingo Schulze hat mal gesagt: Wenn Sie ein verwahrlostes Gebäude in einer Straße sehen, können Sie sicher sein, dass es die Schule ist. Mich als Sozialpsychologe interessiert dabei der Mitteilungscharakter. Ich habe mir damals noch an der Uni in Hannover einen Wolf gearbeitet, um unser Institut renovieren zu lassen. Denn ich fand es infam, dass Erstsemesterstudierende so ein Gebäude betreten und von der ganzen Situation her erst mal die Mitteilung bekommen: Ihr seid uns scheißegal, deshalb können wir euch so eine Schrottbude offerieren, deshalb können wir euch solche Seminarräume offerieren. Das ist die Mitteilung, genauso wie zum Beispiel abgerockte Toilettenanlagen den Schülern sagen: Ihr seid uns egal. Das ist natürlich etwas, was für eine Gesellschaft unseres Anspruches, auch unseres idealen Anspruches, absolut tödlich ist. Gerade den nachkommenden Gesellschaftsmitgliedern darf man nicht die Mitteilung machen, dass es auf sie nicht ankommt. Es muss ja exakt die gegenteilige Mitteilung sein.Gerade den nachkommenden Gesellschaftsmitgliedern darf man nicht die Mitteilung machen, dass es auf sie nicht ankommt.

 

Noch etwas: Bis Anfang dieses Jahrtausends kamen Gymnasiastinnen und Gymnasiasten aus vielen sozialen Schichten. Bürgertum, Großbürgertum, aber auch junge Menschen aus der Arbeiterschicht bereiteten sich auf das Abitur vor. In den letzten Jahren ist ein starkes Anwachsen von privaten Gymnasien zu beobachten, was die soziale Vielschichtigkeit der staatlichen Gymnasien verändert. Eltern entscheiden sich, ihre Kinder nicht in die staatlichen Bildungsinstitutionen zu schicken, sondern vermehrt, mit der Grundschule beginnend, in private Bildungseinrichtungen. Diese Privilegierung führt dazu, dass die »Übriggebliebenen« irritiert und verunsichert zurückbleiben. Bildung wird immer mehr zu einer ökonomischen Kategorie.

 

Das Thema »Bildung« ist in einem strikt materiellen Sinne essenziell für die Art von Gesellschaft, wie sie uns vorschwebt und wie wir sie verteidigen wollen. Unbedingt. Ich möchte noch eine Beobachtung ergänzen, die ich oft in öffentlichen Diskussionen mache. Sei es, dass es um das Thema Klimawandel geht, um die Digitalisierung oder andere Themen, es melden sich mit naturwissenschaftlicher Gesetzmäßigkeit Leute, die dann sagen: Ja, das ist aber eine Frage der Bildung. Wir müssen dafür sorgen, dass die Kinder etwas anderes lernen. Dann antworte ich immer: Nein, mir reicht es schon, wenn Sie jetzt etwas gelernt haben, wir müssen das nicht delegieren. Das ist nämlich noch ein anderes Entwicklungsdefizit unserer Gegenwartsgesellschaft, dass Probleme gerne nicht bearbeitet werden, weil man sie fiktionalerweise delegiert an eine nachrückende Generation und dann entsprechend an die Lehrer. Und man selbst irgendeinen total nebulösen Begriff von Bildung pflegt, mittels dessen dann Probleme gelöst werden sollen, die von den Erwachsenen nicht gelöst werden. Insofern kriege ich eigentlich immer Pickel, wenn ich das Wort »Bildung« höre.

Für uns ist das Thema »Bildung« von Bedeutung, da wir versuchen, zu verstehen, wie Diskriminierungstatbestände in den jeweils nächsten Generationen wirken.

 

Kinder erleben, dass dieses »Wir«-Versprechen nicht eingelöst wird und dass aufgrund ihrer sozialen Herkunft, auch ihrer Bildungsherkunft, zwischen privilegierten und weniger privilegierten Menschen unterschieden wird. Sie fühlen sich diskriminiert, ausgegrenzt. »Ihr – wir« ist markiert. Aus ihrer Perspektive hatten sie nie wirklich eine Chance. Aus ihrer Perspektive sind sie im Stich gelassen worden. Ihr Bildungsdefizit wird ihnen immer wieder ausgerechnet von denjenigen vorgehalten, die dafür verantwortlich wären, dieses Defizit zu beheben. Segmentierungen und Kränkungsprozesse setzen sich fort. Aus der Perspektive der Privilegierten ergibt sich kein Zweifel daran, dass es ein legitimer Prozess sei, Bildungsinstitutionen zu privatisieren und ihre Kinder damit zu optimieren. Aus ihrer Sicht sind sie nicht mitverantwortlich für Bildungsungerechtigkeit, sondern Opfer, die sich aus den staatlichen Bildungsinstitutionen, die aus ihrer Sicht immer schlechter wurden, entfernt haben.

Populistische Parteien missbrauchen das Thema, indem sie Kindern mit Migrationshintergrund und ihren Eltern vorwerfen, dass sie »zu faul« sind oder den Wert von Bildung gar nicht schätzen. Richtig ist, dass es gerade in Großstädten viele Klassen mit Kindern gibt, deren Muttersprache nicht Deutsch ist. Die Lösung heißt aber nicht, rassistische Narrative gegen diese Kinder aufzubauen, sondern aktive Bildungsnetzwerke zu etablieren, um die Defizite zu kompensieren. Unsere Fähigkeit, die entscheidenden Werte – wie Gleichheit, Gerechtigkeit und die Unantastbarkeit der Würde des Menschen – im eigenen Bildungssystem widerzuspiegeln, ist äußerst verbesserungsfähig.

 

Absolut, das ist mehr als ausbaufähig. Aber das, was wir hier sagen, darf nie Gegenstand von Sonntagsreden werden. Dieses Bildungs-Geseiere kann ich nicht ertragen, besonders dann nicht, wenn es gesellschaftlich nicht eingelöst wird, und das wird es eben seit sehr langer Zeit nicht. Das könnte man auch als eine Verwahrlosung politischer Verantwortung bezeichnen, die können wir uns nicht leisten. Und noch mal eine Ergänzung zu dem, was du vorher gesagt hast, zum Rassismus oder zu der Form, wie Ungleichheiten mitgeteilt und gelernt werden. Mir ist die Ebene unterhalb des Kognitiven immer wichtig, wie sich also etwas durch gelebte Praxis mitteilt. Als eigene autobiografische Erfahrung werde ich niemals vergessen, wie furchtbar es gewesen ist, als in der sechsten Klasse Gymnasium der Klassenlehrer reinkommt und sagt: »Es gibt hier die Möglichkeit, Unterstützung zu beantragen für die Leute, deren Eltern nur ein geringes Einkommen haben.« Das war noch nicht BAfög, sondern es gab irgend so eine, wahrscheinlich spezifisch niedersächsische Maßnahme. »Wer braucht so ein Formular?« Dann sitzt du in dieser Klasse, du bist das einzige arme Schwein, das dieses Formular braucht, und du hast blitzartig das Gefühl, dass du dich outest, wenn du dich meldest, dass du so ein Formular brauchst, weil du …

 

… eine stigmatisierte Minderheit bist.

 

Brutal! Ich kann mich nach Jahrzehnten noch genau an dieses Gefühl erinnern: Du bist in einer doppelten Falle. Du kannst dich gegenüber den bessergestellten Mitschülern nicht outen als die arme Sau, die du bist. Du darfst aber auch deine Eltern nicht verraten, weil die das Geld ja brauchen. Da hängst du in diesem Zwiespalt: Welche Schuldgefühle nimmst du auf dich, wenn du das Formular nicht nimmst? Oder wie stehst du vor den anderen da, wenn du das Formular nimmst? Meine Lösung war, nach dem Unterricht ins Lehrerzimmer zu gehen und dem Lehrer zu sagen: »Ich habe vorhin nicht aufgepasst, ich brauche aber dieses Formular.« Solche Erlebnisse hast du in so einer inferioren Position ohne Ende. Das passiert dauernd. Und das ist etwas, wo du ganz praktisch durch die Verhältnisse deine gesellschaftliche Position lernst und mitgeteilt bekommst – immer auch in einer Dialektik, vielleicht entwickelt sich so auch Stärke? So geht es eben an anderer Stelle auch. Hier ging es um soziale Ungleichheit. Aber es geht bei Rassismus ganz genau auf diese Art und Weise.

 

Besonders schlimm ist es, wenn beides zusammenfällt, was auf Millionen Biografien in unserem Land zutrifft. Diskriminierung auf sozialer Ebene hat ähnliche Phänomenologien wie auf anderen Ebenen. Zwar wissen wir, dass sich viele dieser Umstände verändert, sich verbessert oder sich angepasst haben. Andererseits wissen wir aber auch, dass dies noch lange nicht ausreichend ist. Wenn junge Menschen markiert werden und sich markiert fühlen, wenn Wir-Identitäten aufgrund von Kränkung entwickelt werden, wenn Minderwertigkeitsgefühle durch »Nicht-Kümmern« entstehen, dann sind die gesellschaftspolitischen Konsequenzen weitreichend, langfristig und schmerzhaft. Zwar stimmt es, dass noch nie so viele junge Menschen studiert haben wie heute. Aber was sagt uns das? Das grundsätzliche Thema hat sich nicht verändert und verbessert. Die, die es aus verschiedenen Gründen nicht weiter geschafft haben, haben auch heute kaum Chancen. Sie sind fest zementiert in ihren Bildungsbiografien. Die Frage bleibt: Wer hat sie hängen lassen? Wer hat sie vergessen? Und warum? Ein demokratischer Staat, der der Würde des Menschen verpflichtet ist, muss das Versprechen erfüllen, dass jedes Kind die bestmögliche Chance bekommt. Das hat nichts mit Gönnerhaftigkeit zu tun, sondern es ist ein Grundrecht, es ist konstitutiv für unser demokratisches Selbstverständnis. Es sind immer noch viel zu viele, die aufgrund ihrer Herkunft zurückgelassen werden.Es sind immer noch viel zu viele, die aufgrund ihrer Herkunft zurückgelassen werden.

 

Ich würde es sogar verschärfen. Ich würde sagen, es zählt nicht mehr zu den Kernintentionen der etablierten Parteien, sonst würde es irgendwo vorne auf der Agenda stehen. Da steht es aber nicht, sondern es ist ein irgendwie befriedeter, einverständiger gesellschaftlicher Zustand, dass die Verhältnisse nun mal so sind, wie sie sind, bis hin zu den Toiletten.

 

Allerdings gibt es bei der Bildungspolitik ein Problem, das man nicht unterschätzen darf. Wer ist in bildungspolitischen Fragen als Wähler und Wählerin aktiv? Wer macht Druck auf die Politik? Während die eigenen Kinder in Kita, Kindergarten und Schule sind, interessieren sich die Familien für bildungspolitische Fragen. Kaum verlassen ihre Kinder das System, lässt das Interesse nach. Kinder haben immer noch die schwächste Lobby in Deutschland.

 

Ja, und dann hast du natürlich die Korrelation zur Demografie. Da waren natürlich wir als Babyboomer-Generation unglaublich privilegiert, weil es rein zahlenmäßig ein großes gesellschaftliches Interesse gegeben hat. Als wir Kinder waren, wurden Schule, Bildung, das Bildungssystem an sich zu einem wichtigen Thema. Eine Initialzündung für die Förderung der »bildungsfernen Schichten« war auch der sogenannte Sputnikschock, als es ab den 1960er-Jahren darum ging, die technische Überlegenheit der UdSSR zu stoppen, den Wettlauf ins All zu gewinnen. Hinzu kam, wie gesagt, die Diskussion um den »Bildungsnotstand«, der die Wirtschaftskraft gefährde und Deutschlands Stellung im internationalen Vergleich in Gefahr bringe. Heute gibt es viel weniger Kinder und viel mehr ältere Menschen, damit ist auch die Lobby der Kinder nicht stark genug. Aber trotzdem, glaube ich, ist unser Thema in dieser wirklich knallhart materiellen Dimension essenziell wichtig.

 

Die Pandemie zeigt ein weiteres Mal auf, was schon vorher immer deutlicher sichtbar wurde: Bildung, Wissen und Verstehen sind unverzichtbare Voraussetzungen für gesellschaftliche Diskurse. Die digitale Welt verstärkte in den letzten Jahren den Versuch, Wissen durch Glauben, Fakten durch Fake News, Wissenschaft durch Verachtung zu ersetzen. Demokratischer Diskurs, Streitkultur, Konfliktbewältigung sind aber so nicht umsetzbar. Es braucht die Bildung. Es braucht das Wissen. Ohne diese gemeinsame Basis kann eine kreative, plurale Reflexion nicht stattfinden. Das Netz ist geprägt von anonymisierten Fehlinformationen, emotionalisierter Radikalität, rassistischer, antisemitischer, menschenverachtender geistiger Brandstiftung. Bei den Corona-Demonstrationen erleben wir den Hass-Bürger aus dem Netz zum ersten Mal real und physisch. Seine hässliche digitale Fratze bekommt eine körperliche Wirklichkeit. Es sind also doch Menschen »wie du und ich«, mitten unter uns. Erschreckend ist, wie erfolgreich Verschwörungs-»Theoretiker« sichtbar werden. Sie repräsentieren die ältesten und stereotypisiertesten Formen des Judenhasses. Sichtbar wird aber auch, dass diese physisch gewordenen »Zombie-Wutbürger« aus allen Bildungs- und Einkommensschichten stammen. Die AfD lässt grüßen. Es hat mich immer irritiert, dass gebildete Menschen zu Esoterikern werden, irrationalen und unbegründeten Thesen hinterherlaufen. Auch nach 1945 spiegelte sich dieses Dilemma in der Frage: Wie kommt es, dass das Volk der Dichter und Denker das Volk der Mörder und Henker geworden ist? Kognitive Bildung, so wichtig sie ist, reicht nicht aus. Emotionale Bildung ist genauso unverzichtbar. Davon ist im deutschen Bildungssystem kaum etwas zu finden.

 

Da stimme ich total zu, ergänze nur noch aus meiner eigenen Arbeit deinen letzten Punkt. Es ist ein Missverständnis zu glauben, dass Bildung automatisch vor Gegenmenschlichkeit schützt. Dafür ist der Nationalsozialismus das kardinale Gegenbeispiel; aus dem höchsten Bildungsfundus heraus kannst du die Entscheidung zum Massenmord fällen und Eugenik kann als state of the art an den Universitäten unterrichtet werden. Und sogar ein Gesellschaftssystem kann entwickelt werden, das beansprucht, naturwissenschaftliche Gesetze zu exekutieren – »Nationalsozialismus ist angewandte Biologie«, wie Rudolf Heß gesagt hat. Deshalb nervt mich ja auch immer die Art und Weise, wie dieses sogenannte Dritte Reich im Nachgang betrachtet wird, als seien die alle ungebildet gewesen.Bildung schützt vor gar nichts.

Bildung schützt vor gar nichts. Man muss sich nicht versprechen, dass mit ihr automatisch schon eine humanitäre Grundhaltung oder die Menschenrechte verinnerlicht sind. Aber das ist dann tatsächlich eine Frage der Ausgestaltung nicht nur des Bildungssystems, sondern auch der politischen Kultur einer Gesellschaft. Genau deswegen ist mir dieses Bildungsthema, das mir ansonsten nie wichtig ist, weil es überbewertet ist, in unserem Zusammenhang als Anspruch einer Gesellschaft an sich selbst elementar wichtig.

 

Noch ein anderer Punkt zur Bildung: Wir mussten uns in den letzten Wochen auch mit existenziellen Fragen auseinandersetzen. Es ging um Leben und Tod. Wie viel Wahrheit konnten wir uns zumuten? Wie sehr erschütterte es Menschen, dass sie dem absoluten Kontrollverlust ins Auge schauen mussten? Dass ein unsichtbares Virus die Statik ihres persönlichen wie auch ihres gesellschaftlichen Gemeinwesens gefährdete? Dass ihre Allmachtfantasien, sie seien als Menschen unverwundbar, durch die brutale Wahrheit ihrer Verwundbarkeit und Endlichkeit erschüttert wurden? Autoritäre Politiker in Ungarn, in Amerika, in Brasilien wollten diese Wahrheiten ignorieren und verdrängen. Sie verweigerten das Nachdenken, das Zweifeln, das Sichinfragestellen und gefährdeten damit ihre Bevölkerung. Die Unsicherheit radikalisiert noch mal das Autoritäre und banalisiert ihre Argumentationen und Begründungen. Sie unterschätzen die Menschen und unterstellen, dass die Wahrheit den Menschen nicht zumutbar sei. Sie weigern sich, die Verantwortung auf sich zu nehmen, und projizieren die Schuld auf andere. Für Menschen ist das Vertrauen, dass sie sich nicht anlügen, dass Tatsachen nicht verdreht werden, dass sie sich vertrauen können, elementar. Liberale Gesellschaften basieren auf diesem Vertrauen und setzen sich mit den Herausforderungen auseinander. Sie wissen, dass sie sich diesen früher oder später stellen müssen. Während der Corona-Krise konnten wir in Echtzeit erleben, wie unverzichtbar Bildung und Wissenschaft sind. Die Wissenschaft hat uns demonstriert, dass das Akzeptieren eines Irrtums Voraussetzung für Fortschritt ist und dass das Ausrufezeichen des Wissenden immer durch das Fragezeichen des Noch-mehr-Wissenden ersetzt werden muss.Liberale Gesellschaften basieren auf diesem Vertrauen und setzen sich mit den Herausforderungen auseinander.

 

Ja, sicher. Und es würde ja dann in noch größeren Worten bedeuten, Bildung ist nicht das Erlernen instrumentell nutzbaren Wissens oder von Fähigkeiten, sondern es ist letztlich so etwas wie das Einleben in eine bestimmte Form von Kultur. Das ist, glaube ich, der springende Punkt an der Sache. Die Diskussion müssen wir jetzt nicht führen, in welcher Weise es Entwicklungen gegeben hat in den letzten Jahrzehnten, die immer weiter in die instrumentelle Richtung gegangen sind. Auch da möchte ich nicht in dieses Sonntagsgerede kommen mit der humanistischen Bildung, bla, bla, bla. Aber es ist aus einer gesellschaftstheoretischen Perspektive genau der wichtige Punkt, dass eben ein Bildungssystem sich verpflichtet fühlen muss, diesen Zielen, wie sie im Grundgesetz und in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte formuliert sind, zu folgen. Und nicht zu sagen: »Wir müssen die MINT-Fächer fördern, weil die Industrie das braucht« oder so was in der Art.

2Überall ist Digitalien

HW: Wenn es einen Profiteur der Corona-Krise gibt, dann ist es die Digitalwirtschaft und ihre rasant beschleunigte gesellschaftliche Durchdringung im Lockdown. Das, was wir vor Kurzem noch »die große Transformation« genannt hätten, hat innerhalb weniger Wochen stattgefunden – in den Büros, in den Schulen, in den Universitäten. Eigentlich geschieht gerade eine Bildungsreform, eine Universitätsreform, über die niemand befunden hat. Das ganze Semester findet nur noch virtuell statt. Die Vorlesungen sind virtuell, die Prüfungen sind virtuell. Ich habe in zwei Wochen eine Disputation, virtuell. Aber auch die Homeoffice-Geschichten, Zoom-Konferenzen sind Reformen, die wahrscheinlich die ohnehin hauptsächlich in Deutschland intensiv diskutierten kritischen Fragen der Digitalisierung noch mal ganz weit nach hinten schieben. Es gibt zwei Aspekte, die daran sehr interessant sind: Wie funktionieren überhaupt gesellschaftliche Reformen? Was sind denn die Trigger dafür? Ist die Vorstellung womöglich völlig falsch, dass man sie intentional anstoßen und steuern könnte? Und was macht die digitale Technologie mit der Demokratie, wie beeinflusst sie die Offene Gesellschaft?Wie funktionieren überhaupt gesellschaftliche Reformen?

 

MF: Die digitale Revolution ist in ihren tief greifenden Folgen vergleichbar mit der industriellen Revolution. Nur dass die Veränderungen noch viel schneller und noch viel radikaler sind. Innerhalb von nicht einmal 15 Jahren mussten Menschen ihre Beziehung zu Raum und Zeit neu konfigurieren. Heute können wir in der Istzeit 15000 oder 20000 Kilometer überwinden. Per FaceTime oder per Zoom oder per Skype kommunizieren wir mit Menschen, die sich zeitgleich auf anderen Kontinenten befinden. Wir können innerhalb von Sekunden Unmengen an Informationen weltweit abrufen. Algorithmen und künstliche Intelligenz bieten uns in Höchstgeschwindigkeit Problemlösungen an. Unsere Wahrnehmung des Menschseins verändert sich. Unsere kulturellen Verhaltensweisen ebenfalls. Unser Nachdenken darüber hinkt dieser Geschwindigkeit disproportional hinterher. Unser Denken kann nicht in Echtzeit die Alltags-, Lebens-, Wirtschafts-, sozialen und politischen Veränderungen der digitalen Welt verinnerlichen. Grundsätzliche Vorstellungen des Menschseins wie Privatsphäre und Privatheit, die sich über Jahrhunderte entwickelt haben, werden neu formatiert. Freiheitsräume, die geschützt sind, vor dem Staat und seinen Institutionen abgeschirmt sind, gehören zu den großen Freiheitsprivilegien der Moderne, für die Menschen Hunderte Jahre gekämpft haben. Privatsphäre ist, erst recht in Diktaturen, immer bedroht. Die digitale Welt verändert unsere kulturelle Beziehung zum Intimen. Die kulturelle und philosophische Interpretation der Begriffe Privatheit, Intimität, Privatsphäre dynamisiert sich in Höchstgeschwindigkeit. Das Private wird radikal öffentlich. Die Exhibitionisten und die Voyeure bedienen sich gegenseitig. Alle schauen zu. Alle wissen zu viel voneinander. Auch der Staat. Das Individuum gibt viel zu viel von sich preis, ohne den Empfänger der Informationen wirklich zu kennen. Das Private, eigentlich das Wertvolle, eigentlich der Kern des Menschseins, eigentlich die Identität des Ichs, das Intime, das Besondere, das nur mit anderen, die man für besonders hält, geteilt wurde, vervielfacht sich ins Unendliche und wird dadurch banalisiert.

 

Eine Demokratie in unserem Sinne ist ohne Privatheit nicht denkbar. Das kannst du auch historisch herleiten. Die Differenzierung zwischen privat und öffentlich geht mit der Entstehung der modernen Marktgesellschaften, insbesondere der bürgerlichen Gesellschaft, einher. Warum es viele Gründe gibt, dass es in dieser Form von Gesellschaft Geheimnisse geben muss, brauche ich einem Anwalt nicht erzählen. Schweigepflichten und Geschäftsgeheimnisse gehören zu einer Demokratie genauso wie die Trennung von privat und öffentlich. Ich kann mich nur dann als Bürger für die öffentlichen Angelegenheiten einsetzen, wenn ich einen geschützten, unzugänglichen Raum habe, in dem ich Pläne machen und Strategien entwerfen kann. Inzwischen hat aber eine Entwicklung eingesetzt, die diese Privatheit sukzessive ausgehöhlt hat.

 

Dieser Gedanke ist sehr wichtig. Der geschützte Raum ermöglicht das freie Denken, das unkonventionelle Reflektieren, das Infragestellen von allen und allem und ist auch aus dieser Perspektive für einen demokratischen Meinungsbildungsprozess unverzichtbar. Und deswegen versuchen Diktaturen in den privaten Raum einzudringen.

 

Wenn der private Raum offen ist, wenn die Kategorie der Unzugänglichkeit nicht mehr existiert, hat Demokratie ein fundamentales Problem. Es ist erstaunlich zu sehen, wie gering der Stellenwert dieses fundamentalen Aspektes in der öffentlichen Debatte ist. Er hat sich durch die normative Kraft des Faktischen schon fast verabschiedet. Besonders Fortgeschrittene erklären, dass wir längst in der Post-Privacy-Ära leben – aha!

Der andere Punkt, den hast du auch angesprochen, ist die Veränderung der Selbstverhältnisse. Es sind nicht nur die Fremdverhältnisse, die sich verändern, sondern es sind auch die Selbstverhältnisse. Wenn ich Teil dieser Mediennutzung bin, bin ich eine ganz andere öffentliche Person, als das jemals vorher denkbar gewesen ist. In Berlin gab es vergangenes Jahr den geradezu unheimlichen Fall einer verschwundenen 15-Jährigen, die mit einem Foto gesucht wurde, das stereotyp so aussah, wie alle Teenager glauben, dass man auf Instagram aussehen müsse. Man hat das arme Mädchen bis heute nicht gefunden.

Dritter Punkt, dialektisch wahnsinnig interessant: Fridays for Future und andere Protestbewegungen zeigen, wie diese Medien genutzt werden zu Formen von politischer Organisation und auch politischer Selbstverständigung.

Habermasianisch gesprochen werden wir gerade Zeugen eines Schubs des Strukturwandels von Öffentlichkeit durch die digitalen Medien. Das war genau der Punkt, an dem du am Ende angekommen bist: Was heißt denn das jetzt eigentlich, wenn wir als ersten souverän politischen Nutzer eines sozialen Mediums, nämlich von Twitter, diesen amerikanischen Präsidenten haben? Trump hat genial den Impact dieses Mediums verstanden und damit die globale Außenpolitik radikal verändert. Was heißt das für uns?

 

Diese Nutzung von Twitter-Meldungen ist der Versuch, politische Informationen, die der Journalismus filtert, einordnet und kommentiert, zu umgehen. Umgeht Macht diese Kontrollinstanz, wird sie unmittelbarer und unkritischer erlebt. Sie kann leichter manipulieren. Die Radikalisierung der Sprache, die Banalisierung der Gedanken, das Produzieren von Affekten ist die Sprache von Twitter. Andererseits erleben wir in der digitalen Welt die autonomste, globalste Massen- und Individualkommunikation, die es je gegeben hat, in völliger Unabhängigkeit von Einkommen und Status. Noch nie konnten Menschen so viele Informationen, so viel Wissen, so viele Meinungen abfragen. Wir erleben in China und anderen Diktaturen, wie sehr das Internet eine Gefahr für diejenigen darstellt, die Angst davor haben, dass ihre Bevölkerungen dank des Internets in der Lage sind, ihre Lügen zu durchschauen. Das Erste, was sie also tun, ist, das Internet abzuschalten. Gleichzeitig ist das Internet die größte Manipulationsplattform der Menschheit. Staaten wie Individuen können Lügen in Höchstgeschwindigkeit weltweit verteilen. Was passiert mit politisch diffus orientierten Menschen, wenn ein Informationsaustausch stattfindet ohne Regularien, beeinflusst von jeder Form von Meinungsäußerung, Pseudowissen, Falschwissen? Und welche Schäden entstehen, wenn der Eindruck vermittelt wird, dass alles gleichzeitig richtig und falsch sein kann und man nur den Echoraum betreten muss, der einem vermittelt, der Repräsentant der einzigen Wahrheit zu sein? Dieses anarchische Angebot, dieser scheinbar rechtsfreie Raum, dieser Ort des Irrationalen, der Seite an Seite mit der größten Aufklärungs- und Wissensoffensive, dem globalsten Austausch von Denken, Kunst und Kultur steht, läutet eine Zeitenwende ein, deren Konsequenzen noch nicht annähernd absehbar sind. Besonders bedrohlich erscheint es mir, dass neben Staaten vor allen Dingen eine Handvoll Konzerne dieses Wissen speichern und verwenden können, wie sie wollen. Die Googles, Amazons und Facebooks sind die mächtigsten Institutionen der Welt mit einem globalen Wissen über Milliarden Menschen, wie es bisher noch nicht möglich gewesen ist. Nicht ihre Wirtschaftsmacht allein ist die größte Gefahr, sondern auch die Kontrolle über weltweite Kommunikationsstrukturen und das Speichern von persönlichen Daten.Gleichzeitig ist das Internet die größte Manipulationsplattform der Menschheit.

 

Das ist, was Shoshana Zuboff »Überwachungskapitalismus« nennt (Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus). Fast alle Daten-Infrastrukturen weltweit sind abhängig von diesen Konzernen. Es ist der totale Wahnsinn, übrigens einer, dem die Regierungen der souveränen Staaten nicht gegensteuern. Deshalb ist zum Beispiel – das wäre dann die positive Wendung – die Idee, ein europäisches öffentlich-rechtliches soziales Netzwerk zu haben, eine absolut notwendige und sinnvolle Idee.

 

Wenn es aber nicht besser sein wird und attraktiver als die bisherigen Angebote …

 

… ja, das war der strategische Vorteil von Google oder Facebook. Facebook war besser als StudiVZ und Google war besser als die anderen Suchmaschinen. Die Zerschlagung der Konzerne wäre die conditio sine qua non, um etwas zu verändern. Sie wird nur nicht stattfinden, weil die Entscheidung dazu aus den USA kommen müsste.

 

Noch nie in der Menschheitsgeschichte besaßen so wenige – aus der Wirtschaft, der Politik, Geheimdiensten und sonstigen Machtzentren –