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»Dies ist ein Buch über das Fremdsein, das äußere und das innere. Eine Erfahrung, die exemplarisch für viele Menschenschicksale ist. Es ist allen Menschen gewidmet, die irgendwo im Nirgendwo leben.« Michel Friedman »Die Angst ist mein Lebensgefährte« Ein Kind, voller Furcht, kommt nach Deutschland – ins Land der Mörder, die die Familien seiner Eltern ausgelöscht haben. Hier soll es Wurzeln schlagen, ein Leben aufbauen. Das Kind staatenloser Eltern tut, was es kann. Es will Kind sein. Es will träumen. Es will leben. Doch was es auch erlebt, sind Judenhass, Rassismus und Ausgrenzung – und eine traumatisierte Kleinfamilie, die es mit Angst und Fürsorge zu ersticken droht. Mit großem Gespür für Zwischentöne und einer kunstvoll verdichteten Sprache zeichnet Friedman das verstörende Bild der Adoleszenz in einer als Fremd und gefährlich empfundenen Welt. Das berührende Kaleidoskop eines existenziellen Gefühls, das seziert werden muss, damit es die Seele nicht auffrisst. Ein mutiges Buch »Mit Fremd hat Michel Friedman ein überaus mutiges Buch geschrieben. Es ist so persönlich geworden, dass ich nur bewundern kann, wie tief er hier in seine eigene Geschichte - und die seiner Familie - blicken lässt. Und da gerade das Persönlichste in der Kunst oft von allgemeiner, gesellschaftlicher Bedeutung sein kann, bin ich mir sicher, dass viele Leser von Fremd sehr berührt sein werden.« Oliver Reese, Intendant Berliner Ensemble
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Für B. S. O. in Liebe und Dankbarkeit
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Cover & Impressum
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Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Dies ist ein Buch über das Fremdsein.
Das Fremde – das äußere und das innere.
Wer wie ich bis zum achtzehnten Lebensjahr mit einem Staatenlosen-Pass lebte,
wer wie ich Eltern hatte, die aus Polen stammten und die Shoah überlebt haben, in Paris aufgewachsen ist und als jüdisches Kind nach Deutschland kam, lebt im Nirgendwo. Ist heimatlos.
Eine Erfahrung, die exemplarisch für viele Menschenschicksale sein könnte.
So ist dieses Buch allen Menschen gewidmet, die irgendwo im Nirgendwo leben.
Ich bin auf einem Friedhof geboren.
Schmerz,
der keinen Anfang kennt,
der kein Ende kennt.
Manchmal leise,
manchmal laut.
Manchmal versteckt er sich.
Launisch ist er,
hungrig ist er,
hinterhältig.
Meine Mutter,
mein Vater,
meine Großmutter:
Über-Lebende.
Trauernde.
Traurige.
Lebenstraurige.
Ich war ihr Lächeln.
Lächelnde Traurigkeit.
Wie bringe ich euch zum Lächeln?
Wie bringe ich euch zum Lachen?
Wie bringe ich euch Glück?
Zum Leben?
Gescheitert.
In der Regel:
gescheitert.
Ein Kind sollte das nicht sollen,
sollte das nicht müssen,
sollte das nicht wollen.
Sollte von seinen Eltern
zum Glück getragen werden.
Ging nicht,
Pech gehabt.
Wie so viele,
deren Elternwelt gerissen,
zerrissen,
gestört,
verstört,
zerstört ist.
Verfolgte,
Geflüchtete,
Arme,
Kranke,
die ihre Kinder vergessen,
die ihre Kinder zum Überleben brauchen,
die vergessen,
dass Kinder noch nicht wissen können,
dass die Traurigkeit eines Lebens
eine Ewigkeit andauern kann.
Ich weiß,
dass du schon zu lange
auf meinen Besuch wartest.
Kann nicht.
Will nicht,
dass du siehst,
wie ich weine.
Um dich, Papa.
Um Mama.
Um euer Leben im Ghetto.
Als du kein Gesicht mehr hattest,
Papa,
keinen Namen,
nicht mehr wert warst
als deine eigene Erinnerung an dich selber,
an dein Selbst,
das es nicht mehr gab,
schon lange nicht mehr gab.
Vergessen.
Sie schlugen zu.
Wieder und wieder.
Jagten dich.
Wieder und wieder.
Und Mama gleich mit.
Wieder und wieder.
Sie dachten,
ihr kommt nie mehr zurück.
Ihr beide,
Haut und Knochen.
Wolltet nach Hause.
Ihr Narren.
Habt immer noch nichts verstanden?
Nach Hause.
Eure Heimat war euch mit Nummern eingraviert.
Dort gehörtet ihr hin.
Das war euer neues Zuhause.
Wolltet weg,
abhauen.
Ihr Dummköpfe!
Ihr Jesusmörder!
Ihr Judenschweine!
Jidkis. Jidkis. Jidkis.
Weg …
Ihr armen,
lächerlichen,
bespuckten,
feigen
Judenschweine.
Ihr wolltet weg?
Flüchten.
Wegrennen,
so schnell es geht.
Angst
um das eigene Leben.
Weg.
Nackt.
Das eigene Leben retten.
Wieder einmal.
Wohin?
Wieder einmal
flüchten.
Wieder einmal,
wie seit Jahrtausenden,
flüchten.
Aus Ägypten
flüchten.
So schnell es geht:
raus.
Aber wohin?
Wer wollte euch noch haben?
Ihr, die aus dem Nirgendwo kamt.
Brennmaterial.
Ihr seid
nichts.
Niemand.
Auf der Straße:
Sie grölen.
Der Schleim
ihrer Rotze
bedeckt den Boden.
Pass auf,
dass du nicht ausrutschst.
Du fällst mit deinem Gesicht
auf den nassen Asphalt.
»Typisch Jud!«,
schreien sie.
»Nichts kann er, der Jud!«
»Alles kann er, der Jud!«,
schreien sie.
»Er nimmt uns alles.«
»Er ist nichts.«
»Nicht mal nichts.«
»Bitte nicht treten.
Nicht treten«,
murmelst du.
Du verdeckst dein Gesicht
mit deinen schmutzigen,
blutigen Händen,
das Gesicht,
das den Rotz deiner Peiniger
bereits aufgesogen hat.
Mama schreit.
Sie lachen.
Dann:
Ein Mann stellt seine Aktentasche auf den Boden:
dunkler Anzug,
weißes Hemd,
blaue Krawatte,
Brille mit dicken Augengläsern.
Baut sich vor Mama auf,
richtet sich auf.
Seine Hände sind gepflegt,
manikürte Fingernägel.
Zu spät,
zu leise.
Seine Faust rast in ihr Gesicht.
Du spürst wieder Tritte.
Magen.
Leber.
Lunge.
Weg von hier.
Aber wohin?
Wohin nur?
Wohin?
Ich bin in Paris geboren.
Mein erster Ausweis:
von den UN.
Staatenloser Flüchtlingspass.
Réfugié polonais.
Türkis,
zwei schwarze Querbalken
am rechten
oberen Rand.
Unsicherheits-Pass.
An jeder Grenze:
besonders lange Kontrolle.
Lange Befragungen.
Abwehrende Blicke.
Angst der Eltern.
Angst des Kindes.
Warum haben die anderen so viel Angst
vor mir?
Ich bin ein Kind.
Warum haben die anderen so viel Angst
vor diesem Dokument?
Es macht meine Eltern sichtbar,
verletzbar,
angreifbar,
macht sie traurig.
Das macht mich traurig.
Ich bin ihr Dolmetscher.
Ihr Übersetzer.
Grenzbeamte
befragen sie auf Französisch.
Sie können nur schwer antworten.
Das Kind kann für sie antworten.
Sie, die aus Polen gekommen sind,
haben nur wenige Worte gelernt.
Das Kind, das in Paris geboren wurde,
spricht in seiner Muttersprache.
Kindheitsberuf:
Lebensübersetzer.
Es war nicht mein erstes Ausländeramt.
Es fing in Paris an.
Préfecture de Paris.
Klassizistischer Bau,
Innenhof.
Schwere,
drei Meter hohe
Eingangstüren.
Meine Mutter und ich,
ihr fünfjähriger Sohn.
Hand in Hand.
Ihre zitterte,
meine schwitzte.
Ein Mann,
neben meiner Mutter.
Der Mann,
neben meiner Mutter.
Er, der seine Aktentasche in der Hand hielt.
Er, der hier immer elegant gekleidet war:
Anzug,
weißes Hemd,
Krawatte,
Einstecktuch.
Er, »der Macher«,
wie man ihn nannte.
Er, der kein Anwalt war,
aber jeden und jede in den Behörden kannte.
Er lächelte,
war fröhlich,
entspannt.
Wir waren ängstlich,
verunsichert,
unsichtbar.
Schon Wochen vor dem Termin.
Zu Hause wuchs die Anspannung.
Zu Hause wuchs die Nervosität.
Das Kind spürte die Veränderung mit jedem Tag,
an dem die Schicksalsfrage näher kam:
Stempel
oder
kein Stempel.
Leben mit
oder
ohne Papiere.
Legal
oder
illegal.
Er, dieser Mann,
der eine verpackte Schachtel in der Hand hielt.
Silbernes Papier,
mit Schleife.
»Pralinen«,
sagte er dem Kind,
»für die Damen.«
Die »Damen«,
Sachbearbeiterinnen auf dem Amt.
Die mit dem Stempel.
Er zwinkerte:
»Manchmal Parfum, manchmal Pralinen.«
Er, dieser Mann,
war so anders als mein Vater.
So fröhlich,
so selbstbewusst.
Er sprach Französisch.
Er beherrschte leichtfüßig
diesen Raum der Angst,
bewegte sich unbeschwert
in diesem Raum,
in dem so viele
verschüchterte Menschen waren.
Ende der Leseprobe