Schlaraffenland abgebrannt - Michel Friedman - E-Book
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Schlaraffenland abgebrannt E-Book

Michel Friedman

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Beschreibung

Warum wir unsere Angst überwinden müssen Corona, Klimakrise, Krieg: Die Zeit der Sicherheit ist vorbei, die Wohlfühlgesellschaft, die sich in den letzten 30 Jahren etabliert hat, ist Vergangenheit. Angst, Irrationalität und Abwehr bestimmen einen Teil unserer Debattenkultur. Viele Menschen haben nicht ausreichend gelernt, mit Furcht umzugehen und gesellschaftspolitische Krisen durch eine konstruktive Streitkultur zu bewältigen. Das muss nun nachgeholt werden. Werden wir in diesem Jahrzehnt nicht aktiv, könnten Deutschland und Europa zu Entwicklungsländern werden.  Ein engagiertes politisches Plädoyer, das Mut macht In seiner augenöffnenden Gesellschaftsanalyse wirbt Friedman für überlegtes und couragiertes Handeln. Ein Aufruf, die Krisen, die da kommen werden, mit angemessenem Respekt anzunehmen und die Angst und Panik zu überwinden.  »Wir müssen uns unseren Realitäten stellen. Das haben wir seit Jahrzehnten nicht getan. Klimakatastrophe, Seuchengefahr, sozialpolitische und geostrategische Verwerfungen - all das war uns lange bekannt, doch es war uns lästig. Lieber haben wir die Risse übersehen und übertüncht. So lange, dass wir heute nicht mehr wissen, was man mit Rissen macht. Wir sind planlos. Nicht krisenfest. Unentschlossen. Das ist gefährlich.« Michel Friedman

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Wie immer. In Liebe B. S. O.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Schlaraffenland ist abgebrannt

I

Ruhe, bitte

Abgebrannt

Stillstand

Angriff

Abwehr

Gleichgültigkeit

Blindheit

Angst

II

Brandherde

Was wir nicht sehen wollen

Rechtsextreme

Krieg

Flucht

Klima

Armut

III

Schlafmittel

Was wir tun, um nichts tun zu müssen

Gebratene Tauben

Lügen

Konsum

Normalität

Hoffen

IV

Auswege

Worauf es jetzt ankommt

Aus der Traum

Aufwachen

Zweifeln

Vertrauen

Streiten

Verzichten

Handeln

Dank

Anmerkungen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Schlaraffenland ist abgebrannt

Ich habe nie in einem Schlaraffenland gelebt, auch wenn ich mittlerweile Merkmale eines Schlaraffen trage. Ich bin einigermaßen situiert. Ich habe studiert. Obwohl ein älterer Mann, bin ich dank eines guten Gesundheits- und Versicherungssystems noch nicht verfallen. Ich lebe in Frieden. Demokratie ist real, Mitsprache möglich, ohne Angst haben zu müssen. Doch all diese Errungenschaften und Zustände sind durch übergroße Anstrengung entstanden. Und ich habe sie nie als selbstverständlich empfunden und auch nicht als einen ewig währenden Zustand.

Wer wie ich aus einer Flüchtlingsfamilie stammt, wird nie zu einem Schlaraffen, nur weil die äußeren Umstände so wirken, als ob alles gut wäre, und wenn nicht alles, dann doch sehr viel. Ich bin (leider?) nicht naiv. Nicht gleichgültig, nicht bequem. Ich habe mit der Muttermilch aufgesogen: Alles kann zerstört werden, zerbrechen, zerbröseln, zu jeder Zeit. Das Chaos ist unberechenbar, der Mensch erst recht.

Meine Angst zwingt mich zu mehr Zweifeln, Nachdenken, Überprüfen, Neugier, Vorsicht. Meine Lebensgeschichte ist auch die Geschichte der Angst. Sie ist der Antrieb und nicht Stillstand. Dort, wo Angst ist, gilt es, diese zu überprüfen, aus der Lähmung ins Handeln zu kommen. Für mich bedeutet die Verdrängung oder Betäubung von Angst Lebensgefahr.

In den letzten Jahren beobachte ich immer intensiver den Realitätsverlust der europäischen Demokratien, ihrer BürgerInnen und ihrer Eliten, auch der politischen. In vielen privaten Gesprächen wurde mir jedenfalls bis Mitte der 2010er-Jahre vermittelt, dass Wohlstand, Demokratie und Frieden unbegrenzt weitergehen werden. In diesen Jahren dachte ich oft darüber nach, wie die wohlhabenden Demokratien es geschafft haben, den Eindruck zu erwecken, man könne sich die meisten Probleme vom Leib halten. Nirgends wurde diese Methode so eingesetzt wie in Deutschland. Die meisten Gefahren wurden finanziell abgewendet, innen wie außen wurden Konflikte ökonomisch neutralisiert.

Viele Menschen der letzten drei Jahrzehnte erinnern mich an die drei Affen, die nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. Die Menschen wuchsen mit den besten Rahmenbedingungen auf, die dieses Land je zu bieten hatte. Eine Wohlfühlgesellschaft, für breite Teile der Bevölkerung eine Wohlstandsgesellschaft, die immer dekadenter wurde, weil sie nur noch an sich dachte, an das »ich« dachte und Angst hatte, sich zu bewegen, wissend, dass aus der Illusion herauszutreten viel Angst und Arbeit bedeuten würde. Deswegen liegt so viel Ungelöstes herum, so viel ist liegen geblieben und bedroht die Zukunft Deutschlands und anderer Demokratien.

Ich muss immer öfter an meine Eltern denken, die die Shoah überlebt und trotzdem weitergelebt haben. Ich habe sie gefragt, wie sie morgens noch die Kraft hatten, aufzustehen und in den Tag zu gehen, was sie sich vorstellten, was sie antrieb. Sie schauten mich verdutzt an, so als hätten sie schon die Frage nicht verstanden. Mein Vater antwortete mir: »Wer wie wir die Hölle überlebt hat, durch Glück oder durch Zufall, weiß, dass jeder Schritt ins Leben, jeder Millimeter, den wir uns von der Hölle entfernen, nur möglich wurde durch verdammte Anstrengung und viel Vorsicht. Denn die, die uns in die Hölle zurückbringen wollen, haben auch überlebt.«

Ich habe dieses Buch als Gedankenreise angelegt. Ich wollte mich damit beschäftigen, warum Menschen zu allen Zeiten, wenn es ihnen gut ging, zu gut ging, irgendwann ihre Kraft nicht mehr mobilisierten, Alarmsignale nicht mehr beachteten und konstruktiv nutzten, sondern sich nur noch selbstverliebt mit ihrem Glück und ihren Sehnsüchten beschäftigten, und dass früher oder später ihr Untergang begann.

Es wird in diesem Buch vor allem um die vergangenen dreißig Jahre in diesem Land gehen, um die Gründe für die lähmende Angst, die Apathie und die Ignoranz dieser Gesellschaft und ihrer Politik (Teil I). In Teil II rücken die Brandherde in den Fokus, von »A« wie »Armut« über »K« wie »Klimakatastrophe« bis zum »Z« auf den russischen Panzern in der Ukraine. Unangenehme, beängstigende Themen, die wir verstehen und angehen müssen. Trotz der Angst.

Damit das gelingen kann, müssen wir uns darüber im Klaren sein, was uns eigentlich dazu bringt – ich schließe von »Ich« auf »Wir« –, dass wir uns immer wieder mit der inneren Unruhe abfinden und wider besseres Wissen nicht ins Handeln kommen. Deshalb geht es in Teil III um unsere »Schlafmittel«.

Die Lage ist ernst. Ernst heißt nicht, erst mal abwarten, empfindlich sein, die anderen machen lassen zu können. Ernst heißt, so die ursprüngliche Wortbedeutung: »energisch, voll Eifer«.[1] Im letzten Teil IV wird schließlich versucht, Auswege aufzuzeigen, um zu einem neuen, gemeinsamen Streiten und einem sich Engagieren und Handeln zu kommen.

Es ist eine Denkreise, die mich assoziativ zu vielen Gedanken, Gefühlen und Fragen geführt hat, die mich mit diesem Thema verbinden. Denn die Angst ist mein ständiger Begleiter, aber auch die Zuversicht, dass wir uns ihr stellen können.

Frankfurt, Juli 2023

I

Ruhe, bitte

Abgebrannt

Ich bin Angst. Tag und Nacht. Schon immer. Seit ich denken und fühlen, mich erinnern kann. Die Angst war Familienmitglied. Sichtbar und unsichtbar. Laut und leise. Bei meiner Mutter ein stummer Schrei. Bei meinem Vater ein Schatten. Bei mir eine ununterbrochene Alarmbereitschaft. Eine ständige innere Unruhe. Entstanden aus den Wunden des Holocaust; entstanden, weil Deutsche den größten Zivilisationsbruch der Menschheitsgeschichte zu verantworten haben.

Aber auch in der deutschen Mehrheitsgesellschaft herrschte Angst, eine andere als meine. Es war die Angst vor dem Entdecktwerden, vor der Enthüllung der Lebensbiografien der Nazizeit. Es war die Angst, dass die weiß getünchte Tapete der Anständigkeit, die die Unschuld repräsentieren sollte, weggerissen werden könnte. Schweigen. Hilft nicht gegen die Angst. Verdrängen. Hilft nicht gegen die Angst. Sie mag tiefer kriechen, bricht allerdings umso eruptiver auf.

Aber im Gegensatz zu meinen Ängsten, die blieben, weil auch in meiner Lebensgegenwart der Hass auf Juden durch alle Ritzen weiterkroch, beruhigten sich die Ängste der Tätergeneration. Die Täter schenkten sich gegenseitig Fassaden, hinter denen sie sich verstecken konnten. Sie bauten biografische Legenden auf: Ihre imaginierte Geschichte beginnt am 8. Mai 1945, einer irgendwie gearteten, von ihnen gewünschten Stunde null (als ob es in der Geschichte eine Minus-Minute geben und die Kontinuität ausgehebelt werden könnte).

Für die Täter und Täterinnen wurde alles gut und mit jedem Jahrzehnt besser. Man wollte sich in nichts mehr einmischen mit dem Argument, das könne man allein schon deshalb nicht, weil man Auschwitz verantworte. Außenpolitische Verantwortungen wurden delegiert. Der NATO-Doppelbeschluss, an dem Bundeskanzler Helmut Schmidt scheiterte, wurde diskutiert unter der Überschrift: Wir wollen mit der Aufrüstung niemanden – erst recht nicht die Sowjetunion – in irgendeiner Weise provozieren. So eine Art keine Verantwortung für nichts. Hätte der Bundestag mit der SPD-Mehrheit den NATO-Doppelbeschluss abgelehnt, hätte ich Deutschland verlassen. Ein Deutschland, das zwischen allen Stühlen sitzt, ist ein gefährliches Deutschland – bis heute.

Der Begriff der German Angst, über den die Welt ironisch, aber manchmal auch sarkastisch lächelte, ist letztendlich auch so zu verstehen, dass Deutschland mit sich zufrieden war. Das Wirtschaftswunder strahlte, die Mauer des Schweigens hielt, Veränderungen waren suspekt, Veränderer umso mehr. Die Aufteilung in Bundesrepublik Deutschland und Deutsche Demokratische Republik wurde im Westen zwar in Sonntagsreden beklagt, aber nur von wenigen so empfunden. Die Vereinigung war kein Thema, keine Leidenschaft, keine Priorität. Auch hier war das Prinzip »Alles ist doch eigentlich gut« beherrschend. Die Angst vor Veränderung und damit vor der Notwendigkeit, Entscheidungen zu treffen, Verantwortung zu übernehmen, Risiken einzugehen, wurde in den Jahrzehnten auch dadurch größer, weil dies nicht gelernt und geübt war.

Paradoxerweise nahm die Unruhe trotzdem nicht ab. Der Kalte Krieg war Alltag, und es gab Konfliktsituationen, in denen die Gefahr einer Konfrontation sich nicht mehr nur als theoretische darstellte. Aber sie blieb auch nach dem Fall der Mauer 1989. Sie blieb, als Deutschland von der »Blühende Landschaften«-Euphorie gleich mehrfach ins Fußballweltmeisterfieber[2] taumelte und 2008 als stolze »Konjunkturlokomotive für ganz Europa«[3] aus der Finanzkrise dampfte. Sie trieb uns weiter um, als Deutschland Globalisierung, Digitalisierung und die »Flüchtlingskrise« als Aufgaben verstand, die ein Exportweltmeister mit der gewohnten Mischung aus schlaraffenhafter Selbstgefälligkeit und kühlem Stoizismus ganz klar würde bewältigen können: »Wir schaffen das!«[4]

Wirklich? Wenn »wir« diejenigen meint, die in der Politik an entscheidenden Stellen tätig sind, in der Wirtschaft, der Verwaltung, der Bildung, der Medizin, in den Hilfsorganisationen, dann sind »wir« in den vergangenen drei Dekaden mit unserer vermeintlichen Konjunkturlokomotive in die falsche Richtung abgebogen. Wir haben vieles schon in der Vergangenheit nicht geschafft – Aufschwung Ost? Integration? Energiewende? Bildungsoffensive für die digitale Wissensgesellschaft? –, und wir haben unsere Zukunft aufs Spiel gesetzt.

Mehr als dreißig Jahre lang haben wir die Augen davor verschlossen, dass sich unsere Wirtschaft existenziell abhängig gemacht hat von autoritären, antidemokratischen, ja: menschenverachtenden Machthabern; dass unsere Schulen, Krankenhäuser und Bahnschienen marode sind; dass regenerative Energien eben nicht systematisch aufgebaut worden sind; dass unsere Verwaltung in der Zettelwirtschaft des letzten Jahrhunderts stecken geblieben ist. Und dass wir keine schlagkräftigen Strategien haben gegen die Hunderttausende, gegen die Millionen von nationalen und aus dem Ausland gesteuerten Rechtsextremisten, Querdenker, Antisemiten, Frauenverachter, Trolle und Hacker, die mit allen Mitteln versuchen, die Strukturen unseres demokratischen Rechtsstaates zu zerstören. Mit Chaos. Mit Gewalt. Mit Angst.

Mehr als dreißig Jahre lang haben wir uns immer noch in einem Schlaraffenland geglaubt und die Augen fest verschlossen davor, dass es längst brennt. Erst jetzt, nach den Erfahrungen einer globalen Pandemie, mit einem Krieg in Europa und der Aussicht auf furchtbare Dürreperioden, auf Überschwemmungen direkt vor unserer Haustür, wird uns klar: Wenn wir überhaupt noch Zeit haben, irgendetwas zu retten, dann ist es nicht mehr viel.

Stillstand

Erschütterungen sind die Regel, nicht die Ausnahme. Bisher haben wir die Ausbrüche auf Abstand gehalten, sie nicht zu nahe kommen lassen. In unser Land. In unsere Gesellschaft. In unser Leben. Im Verdrängen ist dieses Land gut trainiert. Bis heute.

Unruhen? Anschläge? Kriege? Waren zwar da, in Jugoslawien, in Armenien, Aserbaidschan, Georgien, im Irak und im Kongo, in Afghanistan, Äthiopien, Mali, Nigeria, Somalia, Sudan, im Tschad, an der Elfenbeinküste und in Tigray, Libyen, Syrien, im Jemen und im Kaukasus, in Tschetschenien, Myanmar, im Gazastreifen und jetzt in der Ukraine. Die lange Liste ist nicht einmal vollständig. Trotzdem schienen die Kriege immer weit weg. Sie waren immer bei den anderen.

Und der Klimawandel? Wir tun doch schon unser Bestes. Multikulturalität, Migration? Wir sind doch eine offene Gesellschaft, wenn die, die kommen, so werden wie wir.

Wir und unsere Kinder, zwei Generationen, sind mittlerweile überwiegend vom Wohlstand verwöhnt. (Dies gilt nicht für circa 20 Prozent unserer Bevölkerung, die nach wie vor von ihrem Gehalt gerade mal über den Monat kommen, und auch nicht für Menschen, die aus verschiedenen Gründen davon abhängig sind, Sozialleistungen zu beziehen. Ebenso wenig gilt es für viele Rentner, schon gar nicht für Rentnerinnen. Diese Aufzählung könnte man noch fortsetzen.) Vor allem in den letzten dreißig Jahren blieben die Menschen hierzulande vom Krieg verschont, in Watte gehüllt. Sie haben einen Puffer zwischen sich und die Realität geschoben, haben die vielen gegenwärtigen Brandherde – Rechtsextremismus, Armut, Flucht – nicht beachtet.

Viele von ihnen haben die Terrorakte, selbst 9/11, verdrängt, die endgültige Zäsur für das Ende des 20. Jahrhunderts und den Beginn einer neuen Weltordnung im 21. Jahrhundert. Das Selbstbewusstsein der Weltmacht USA hat damit einen bis heute wirkenden Riss erlitten, der diejenigen, die an der Seite dieser Weltmacht stehen, also auch Deutschland, ebenfalls tangiert.

Diese fundamentale Verschiebung wurde zwar eine gewisse Zeit lang debattiert, aber nie wirklich ins Bewusstsein und in politisches Handeln übersetzt. Was übersetzt wurde, war eine stetig wachsende Islamophobie, eine Misstrauenskultur, die bis heute wirkt. Es kam zu einem Krieg gegen den Irak, der auf einer brutalen Lüge der amerikanischen Administration beruhte; zu einem Eingreifen in Afghanistan, das kläglich scheiterte; zu einer eindimensionalen Fokussierung auf die islamisch-muslimische Welt als Gefahr für die westliche Zivilisation.

Teilweise traf Letzteres auch zu und trifft immer noch zu. Schaut man allerdings genauer hin, stellt sich die Frage, wie man übersehen konnte, dass zur selben Zeit China mit seiner imperialistischen Politik deutliche Spuren hinterließ; dass Putins Russland sich mit der gestutzten Rolle in der Welt nicht zufriedengeben und den Versuch, ein »großes Russland« weiterzuentwickeln, in die Tat umsetzen würde. Stattdessen schnelles Vergessen, business as usual.

Auch nach der Banken- und Finanzkrise 2007/2008 – nun wirklich keine große Überraschung, aber von höchster Gefahr für Hunderte Millionen Menschen, ihren Wohlstand, ihre Ersparnisse zu verlieren – wurde mit dem Versprechen der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel, dass das Geld sicher sei, schnell zur Tagesordnung geschritten und der nächste Urlaub gebucht. Milliarden Schulden wurden sozialisiert, Steuerzahler bezahlten die Zeche, einige Verantwortliche mussten exemplarisch und laut ihre Jobs verlassen, wenige wurden bestraft, Länder, die überschuldet waren und deswegen ihre eigenen Kreditinstitute nicht retten konnten, wurden durch die EU doppelt belohnt und bekamen Geld und wieder Geld. Die Operation schien gelungen, und alle machten weiter.

Die Gier nach Geld wurde nicht geringer, die Regularien etwas verschärft, der Preis für die BürgerInnen war allerdings, dass die Zinsen auf null fielen, historisch einmalig nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa. Sie standen da als die Dummen, während sich die kapitalistischen Gierhälse ihre Taschen mit Krediten zu fast null Prozent, also geschenkt, vollstopfen konnten.

2015 änderte sich der Common Sense in unserer Gesellschaft. Mit den Menschen, die nach Deutschland flüchteten, wuchs die Polarisierung. Der alte Impuls, aus Menschen »Fremde« zu machen, die nur zu uns kommen wollen, um uns unseren Wohlstand zu nehmen, unsere Lebenskultur zu verändern, sich nicht assimilieren oder integrieren wollen, all diese Stereotypisierungen funktionieren wieder bei weitaus mehr Menschen, als wir angenommen haben. Viele Wölfe zogen nun ihren Schafspelz aus, zeigten ihre hässliche Fratze, kamen von ihrem eigenen Rassismus auf die Grundsatzfrage, ob man den Rechtsstaat überhaupt so nennen könne, wenn er das eigene Volk nicht schütze, und ob es die Demokratie überhaupt noch braucht.

Eine im Streiten ungeübte Gesellschaft hat sich polarisiert, in Teilen radikalisiert und entlädt ungebremst ihre Frustration. Dass eine Partei des Hasses, die die Demokratie verachtet, in den Bundestag und in alle Landtage demokratisch gewählt und in den Bundestag wiedergewählt wurde und allen Meinungsumfragen zufolge nun bei fast 20 Prozent steht, bedeutet einen Zivilisationsbruch. Die Tatsache, dass dies viele in diesem Land nicht beängstigt, finde ich wiederum nicht nur beängstigend, sondern hochgefährlich.

Auch die Seuche Covid, die seit Ende 2019 alle Menschen zum ersten Mal in ihrer Biografie erlebten, hat die Gesellschaft fundamental verändert. Nichts ging mehr, alles Gelernte half nicht. Wir erlebten Angst vor dem Tod als individuelles wie kollektives Gefühl. Dass der Todeserreger unsichtbar war, machte den Menschen noch mehr Angst. Die Bilder aus Italien und New York zeigten eine dramatische Hilflosigkeit von hoch industrialisierten Gesellschaften, in denen Krankheit und Tod eigentlich nicht mehr unbesiegbar erschienen (welch ein Größenwahn des Menschen!). Der immer älter werdende Mensch war keine Utopie mehr, sondern eine Realität. Und dann das!

Neben der Angst vor dem Tod war auch Covid eine Provokation, eine Kränkung für all die, die dachten, der Mensch sei in der Lage, alles zu beherrschen. Ähnlich wie bei der Flüchtlingssituation zeigte sich allerdings derselbe Mechanismus an Polarisierung und gesellschaftlicher Hilflosigkeit. Sie konzentrierte sich wütend und irrational auf »die da oben«, die Eliten, die Mächtigen. Antisemitismus machte sich breit, die »jüdische Weltherrschaft« war wieder an allem schuld. Querdenker, Neonazis und Esoteriker waren die extremen Speerspitzen. Ihre Giftpfeile schlugen auch in bürgerlichen Familien ein – und wurden von dort aus weitergeschossen.

Und dann der Krieg. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 herrscht Krieg in Europa. Es ist nicht der erste Krieg unserer Gegenwart. Vergessen und verdrängt der Jugoslawienkrieg, vergessen und verdrängt Georgien 2008, vergessen und verdrängt die völkerrechtswidrige Invasion in die Ukraine im Jahr 2014 und die Besetzung der Krim und des Donbass. Der Krieg der Türkei in Syrien und so viele andere Kriege auf dem Kontinent Europa. Bei all diesen Kriegen, die stattgefunden haben und stattfinden, das deutsche Mantra: Krieg ist kein Mittel der Politik mehr. Ich erspare uns eine Aufzählung der Kriege außerhalb Europas.

Das Leben, die Persönlichkeit der jungen Menschen in diesem Land sind schon jetzt tief geprägt von den Eindrücken der multiplen globalen Krisen. Sie verändern ihr Leben und ihr Bewusstsein. Sie jedenfalls werden nicht mehr so naiv sein zu glauben, man könne alles mit Geld von sich fernhalten und, ob die Welt nun brennt oder nicht, das eigene gute Leben so fortsetzen, wie ihre Eltern das noch getan haben. Ganz so, wie August Heinrich von Fallersleben es einmal formuliert hatte: »Ohne Ruhe geht es nicht,/Ruh ist erste Bürgerpflicht:/Wer sich dieser Pflicht ergeben,/Kann bei uns ganz sorglos leben.«[5]

Für viele war das schöne Leben das Ziel, war wichtiger als alles andere. Der Aufstieg stand im Vordergrund. Es war doch alles gut. Es war doch gemütlich. Es war doch sicher. Und so sollte es bleiben, unser Land. Unser Schlaraffenland. Für immer und ewig.

Hinter unseren Mauern, vermeintlich geschützt, haben wir die zusammenbrechenden Gleichgewichte des 20. Jahrhunderts, die neuen Machtakteure, die ein anderes 21. Jahrhundert konstruieren wollen, zwar zur Kenntnis genommen, vielleicht sogar ernst genommen, ihre Bedrohlichkeit aber weit unterschätzt. Waren die vom letzten Staatspräsidenten der Sowjetunion Michail Gorbatschow gesetzten Schlagworte glasnost (»Transparenz«) und perestroika (»Umbau«) nicht wunderbare Glücksversprechen? Schienen nicht alle weltpolitischen Widersprüche aufgelöst, schien nicht sogar die Geschichte selbst an ein Ende gekommen, so wie Hegel es in seiner Philosophie vorgezeichnet und der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama es 1989 popularisiert hatte?[6]

Alles war gut. Scheinbar. Was da draußen passierte, weit hinter den Grenzen unseres Wattelandes, beunruhigte uns nicht (genug). Sollte, durfte uns nicht beunruhigen. Ruhe, bitte. Ruhe!

Jetzt hat sich die Angst aus der Verdrängung zurück an die Oberfläche gekämpft. Nach drei Jahrzehnten Stabilitätsillusion erlebt die bundesrepublikanische Wohlstands- und Wellness-Gesellschaft die Wiederkehr längst vergessener Schlagworte: Pandemie. Inflation. Krieg. Wirtschaftliche Erschütterungen. Gesellschaftliche Erosionen. Das scheinbar Selbstverständliche funktioniert nicht mehr reibungslos. Nichts scheint mehr selbstverständlich. Nichts mehr »normal«.

Unser Angst- und Furchtmechanismus war wie betäubt – weil ungeübt. Er war ungeübt, weil wir an Deutschlands Türen, an die Türen der gesamten demokratisch-kapitalistischen Welt Verbotsschilder gehängt hatten: Do not disturb!

Wir wollen nicht gestört werden. Wir wollen nicht bedrängt werden. Wir wollen von unseren bequemen Sesseln aus das Elend in der Welt nicht sehen, nicht einmal das eigene. Wir wollen es bequem haben.

Probleme? Natürlich! Ein wenig diskutieren, Themen »anteasern«, daran haben wir uns gewöhnt, der Energieaufwand ist nicht der Rede wert. Aber zu einer Streitkultur, also miteinander, statt gegeneinander zu reden, wirklich zu diskutieren, dazu sind viele Teile unserer Gesellschaft unfähig. Die einen runden ab, kommen schnell zum Ende, die anderen brüllen und haben immer recht, dazwischen ist nicht viel. Selbstverständlich gibt es Ausnahmen. Doch die differenzierten Argumente beherrschen nicht die Diskussion.

Wir – gemeint sind die wohlhabenden, kosmopolitischen, bürgerlichen Milieus – wollen, wenn wir unsere Freizeitgewohnheiten genießen, nicht davon gestört werden, dass nebenan Armut, Gewalt, Obdachlosigkeit und Verzweiflung wohnen. Wir wollen uns unser Club-Robinson-Leben nicht kaputt machen lassen. Wir klammern uns an unser All-inclusive-Leben.

Viele von uns wollen nicht zur Kenntnis nehmen, dass es Menschen gibt, die in tiefer Verzweiflung nichts von dem, was wir als selbstverständlich erleben, überhaupt kennen. Wir wollen nicht verstehen, dass Verzichtserfahrung existenziell zum Leben gehört. Und dass es Menschen gibt, für die Verzicht Alltag ist statt Option, weil ihre ganze Existenz jeden Augenblick bedroht und infrage gestellt ist. Auch mitten in Deutschland.

Wir haben Angst davor, dass all dies uns näher kommt, vielleicht sogar schon vor unserer Tür lauert. Wir haben Angst davor, dass uns etwas weggenommen werden könnte; dass unsere Solidaritätsbekundungen zwar dazu führen, dass wir ein bisschen abgeben, ein bisschen, das uns nicht wehtut, dass wir aber wahrscheinlich mehr weggeben müssen, wenn wir der Menschheit eine Zukunft ermöglichen wollen. Wir haben Angst davor, dass uns das erheblich an unsere Substanz gehen wird; dass wir möglicherweise nicht nur unsere Hoffnungen und Träume eines fortgesetzten Wohlstands aufgeben müssen, sondern auch unsere Illusion, Deutschland könnte eine Insel der Glückseligen bleiben.

Eigentlich wissen wir längst, dass unsere Do not disturb-Schilder keinen Schutz bieten und wir gnadenlos mit den Realitäten konfrontiert werden. Zu Recht haben wir Angst davor, dass unser eigenes Leben in diesen Unsicherheitssog gezogen wird. Dass es unser Schlaraffenland nicht mehr gibt. Abgebrannt.

Angriff

Ich bin Angst, seit ich mich erinnern kann. Oft frage ich mich, ob ich meinen Erinnerungen trauen kann, ob meine Erinnerung identisch ist mit meiner Vor- und Vor-vor-Erinnerung. Und ob sie irgendetwas mit dem zu tun hat, was wirklich geschah. Nichts täuscht so sehr wie unser Gedächtnis. Niemand kann sich so gut belügen und betrügen wie wir uns selbst. Weil wir leben müssen. Überleben müssen. Mit unserem Leben leben müssen. Auch wenn Krieg ist in Europa.

Meine Erinnerung ist nur mittelbar. Doch die Unmittelbarkeit, mit der meine Eltern erlebten, wie zerstörerisch, wie erbarmungslos, wie sinnlos Krieg ist, sie ist mein ganzes Leben präsent. Die Unmenschlichkeit, die Barbarei, mit der Menschen in kürzester Zeit bereit sind zu morden, die entsetzliche Plötzlichkeit, mit der sie zu allem fähig sind, mit der sie jederzeit zur mörderischen und vernichtenden Maschine werden können, kurz, dass Menschen – ich will mich davon gar nicht ausnehmen – unberechenbar sind, immer, das alles gehört zu den erschreckendsten, abschreckendsten Eindrücken dieser vermittelten Erinnerungen.

Dass die berühmte Decke der Zivilisation dünn ist (Fritz Bauer),[7] das ist auch meine eigene Lebenserfahrung. Geistige Brandstiftung und Rassismus, Respektlosigkeit und Hass, die Vorstufen der körperlichen Gewalt sind in unserer Gesellschaft Lebensalltag.

Seit dem Beginn des Ukrainekriegs, seit Russland das internationale Recht wieder brutal mit Füßen tritt und die Verantwortlichen dafür eines Tages vor einem internationalen Gerichtshof zur Verantwortung gezogen werden müssen, spätestens also seit dem russischen Überfall am 24. Februar 2022 können wir nicht mehr die Augen verschließen, sind Kriegsfolgen auch in Deutschland spürbar.

Nicht nur, wenn es um die Frage geht, ob – und wenn ja, wie – Deutschland sich militärisch engagiert. Nicht nur, wenn die Kosten für dieses Engagement zur Debatte stehen; sondern vor allen Dingen, wenn wir den Menschen begegnen – seit Kriegsbeginn sind es mehr als eine Million –, die aus der Ukraine nach Deutschland geflüchtet sind.

Die Kosten für Strom, Gas, Öl explodieren. Die Mietnebenkosten explodieren. Es explodierten die Preise für Butter, Eier, Brot, die immer noch weit über dem Niveau vor dem Krieg liegen.

Bei gut und sehr gut Verdienenden bewirkt das ein flüchtiges Frösteln, einen vorübergehend schnelleren Puls, einen kurz erhöhten Blutdruck, der sich schnell normalisiert, weil letztendlich noch genug da ist, um die bisherige Lebensqualität zwar bewusster, etwas sparsamer, aber doch fortzusetzen.

Ganz anders der Puls und Herzschlag dort, wo es ohnehin schon knapp war. Bei denen, die jetzt schon am Zwanzigsten des Monats jeden Euro dreimal umdrehen oder keinen mehr im Portemonnaie haben.

Zwar hat die Politik wieder einmal mit sehr teuren Entscheidungen eine Subventionierung und damit eine Hilfe und Entlastung eingeführt. Doch die gesellschaftliche Wunde der sozialen Ungerechtigkeit blutet deutlich stärker als zuvor, wird größer und größer. Ihre strukturelle Vertiefung setzt sich fort. Die Notwendigkeit, mittelfristige strukturelle Lösungen zu finden, wird immer dringlicher.

Dabei ist Krieg in unserer Gesellschaft keine neue Erfahrung. An alle kriegerischen Auseinandersetzungen der vergangenen Dekaden, erst recht auf dem Kontinent Europa, erinnere ich mich intensiv. Jedes Mal war es mehr als nur ein Unwohlsein, das sich in mir breitmachte. Auch wenn mein »Alltag« funktionierte – das Bewusstsein, dass Gewalt geschieht, jetzt, irgendwo, verdarb mir die Leichtigkeit und verwandelte sie in Schwere. Auch in Angst.

Was wäre, so fragte ich mich jedes Mal, wenn ein relativ lokal begrenzter Krieg – Balkan, Georgien, Ukraine – zu einem größeren Vernichtungskonflikt führt? Welche ethischen Konsequenzen hätte das für mich und mein Land? Müssten wir helfen? Eingreifen? Mit Partnern oder allein? Geht es an, einfach zuzusehen, gar wegzusehen, wenn wenige Kilometer von Deutschland entfernt Genozide stattfinden?

Ende der Leseprobe