Streiten? Unbedingt! - Michel Friedman - E-Book

Streiten? Unbedingt! E-Book

Michel Friedman

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Beschreibung

»Der Streit ist wunderbar, herausfordernd, schmerzhaft, anstrengend, hoffnungsvoll, kränkend, sinnlich, leidenschaftlich, still und leise, laut und brüllend, kognitiv und emotional - und hört nie auf.« Sollen wir streiten? Wohin führt das? Und warum streiten wir Deutsche anders als beispielsweise die Franzosen? Michel Friedmans neuestes Buch ist ein starkes Plädoyer für das Streiten mit den anderen über die Dinge, die uns wichtig sind. Denn nur Streiten bringt uns weiter.

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Für S. und O.

Inhalt

KAPITEL I.

KAPITEL II.

KAPITEL III.

KAPITEL IV.

KAPITEL V.

KAPITEL VI.

KAPITEL VII.

KAPITEL VIII.

KAPITEL IX.

KAPITEL X.

KAPITEL XI.

KAPITEL XII.

KAPITEL XIII.

KAPITEL XIV.

KAPITEL XV.

ENDNOTEN

I.

Ein Zweifeln. Eine Irritation. Ein Zögern. Eine Unsicherheit. Eine Frage. Ein Nein. Ein Warum. Und schon ist er da: der Dialog, die Diskussion, die Auseinandersetzung, der Konflikt, der Streit. – Um einen Gedanken, einen Standpunkt, eine Meinung, eine Haltung, eine These, ein Bedürfnis. Das Warum nötigt, zwingt zum Weil. Es schreit danach. Nach dem Argument. Und schon geht es wieder los, mit dem Zweifel, der Unsicherheit, der Dekonstruktion des Arguments und der Herausforderung, ein eigenes Weil zu denken, zu entwickeln, zu formulieren. Der Streit ist wunderbar, herausfordernd, schmerzhaft, anstrengend, hoffnungsvoll, kränkend, sinnlich, leidenschaftlich, still und leise, laut und brüllend, kognitiv und emotional – und hört nie auf. Seit es den Menschen gibt. Der Mensch und der Streit sind existenzielle Zwillingserscheinungen. Wir suchen, wir ringen nach Antworten, finden dabei meist wieder neue Fragen. Solange wir streiten, verzweifeln wir nicht an diesem Prozess. Wer nicht mehr streitet, gibt auf. Die Evolution des Menschen ist gekoppelt an seine Fähigkeit zu zweifeln, zu widersprechen, zu streiten, um sich dynamisch weiterzuentwickeln. Dabei muss berücksichtigt werden, dass der Streit auch Zerstörungspotenzial in sich birgt. Unkontrollierte Aggressionen freisetzen kann. Destruktiv sein kann. Umso mehr ist auf das Wie zu achten. Nichtsdestotrotz ist der Streit ein unverzichtbares Instrument, weil er Weg und Voraussetzung für Veränderung ist. Ohne Streit ist der Entwicklungs- und Reifungs- prozess des Menschen undenkbar. Beobachten kann man das am wachsenden Widerstand des Kindes, den Eltern »zu gehorchen«. Daran, dass das Imitieren, also das Nichthinterfragen, ob das Vorgegebene sinnvoll und richtig ist, reduziert wird. Man erkennt es auch an der Pubertät – der Entwicklung der eigenen Persönlichkeit im Streitmodus mit der Elterngeneration, um dadurch eine eigene Identität zu entwickeln. Aber Vorsicht: Infragestellen und Infragegestelltwerden bleiben eine lebenslange Herausforderung.

Der Psychologe Michael Cöllen formuliert das so: »Streit ist not-wendig [sic] und erfüllt wichtige psychologische Funktionen. Streit dient der Selbstentfaltung, der Positionsbestimmung, der Veränderung und der Sinnfindung. Im Kern geht es um das Ringen menschlicher Potenzialentfaltung.«1 Dieses Ringen ist ein lebenslanges Lernen. Lernen ist ein Suchen, ein Fragezeichen, das von den Lehrenden oft und gerne mit einem insistierenden Ausrufezeichen beantwortet wird. Dieses Ausrufezeichen infrage zu stellen, also streitig zu machen, und damit auch den Lehrenden infrage zu stellen, ist für die meisten schmerzhaft. Alle Emanzipationsprozesse der Menschheitsgeschichte sind Entkopplungsgeschichten von der herrschenden Macht und der herrschenden Meinung. Sie stellen diese infrage, stellen diese streitig und fordern sie damit heraus. Ohne Streit ist Fortschritt undenkbar und Stillstand oder Rückschritt unvermeidlich. Dieser nie endende Prozess, mit sich und anderen Konflikte zu erkennen, sie zu benennen und im streitigen Dialog zu verhandeln, ist ein emanzipa- torischer Prozess. Eine Häutung, die die nächsttiefere Schicht zum Vorschein bringt. Die Frauenbewegungen, die für die Rechte und Gleichstellung der Frau kämpfen, die Bürgerrechtsbewegung in den USA, die friedliche Revolution in der DDR, die Schwulen- und LQBTQI*-Bewegung sind nur durch Konflikte, durch Streit, durch Auseinandersetzung möglich geworden. Emanzipatorische Prozesse, individuell wie kollektiv politisch, sind die Antwort auf Entfremdung und Selbstentfremdung. Sie sind der Ausdruck von verkrusteter Macht. Auch im wirtschaftlichen Bereich. Ohne die Arbeiterbewegungen, die für die Rechte der Arbeitnehmer mit den Arbeitgebern gestritten haben und heute noch streiten müssen, wäre die soziale Marktwirtschaft undenkbar geworden. Wie notwendig dieser Streit, dieser Konflikt ist, umso mehr, wenn man ihn global betrachtet, ist überdeutlich. Diese Emanzipationsprozesse sind der Ausdruck von einer Sehnsucht nach mehr Freiheit und Selbstbestimmung. Sind der Versuch, der Fremdbestimmung etwas entgegenzustellen. Sich dagegen zu wehren, dass andere Macht über das eigene Leben ausüben. Je substanzieller sich dieser Prozess entwickelt, desto sichtbarer werden die Konflikt- und Streitschichten. Der Mensch, der mit anderen Menschen lebt, erfährt zwingend solche Auseinandersetzungen.

Bestenfalls entwickelt der Mensch seine Beziehung zum Anderen durch seine kritische Neugier und die Notwendigkeit, das Gemeinsame zu bestimmen. In Beziehung zu treten, ein soziales Gefüge aufzubauen, ist ein Wagnis zwischen Harmonie und Disharmonie. Auf den ersten Blick erscheint die Harmonie erstrebenswerter. Angenehmer. Beruhigender. Ein Trugschluss? Könnte es nicht genau umgekehrt sein? Harmonie als Ausnahme – warum nicht? Als Regel eher eine Gefahr? Die Welt ist kein Paradies, und so lange sie es nicht ist, gehört die Disharmonie im Verhältnis mit sich selbst und zu den anderen konstitutiv zum Sein. Es fragt sich allerdings, ob eine paradiesische Welt wirklich erstrebenswert und erreichbar ist. Ob sie nicht eine Fantasie, eine Konstruktion ist, die uns tröstet und einen tieferen Sinn anbietet. Schon die Frage, von welchem Paradies die Rede ist, wissend, dass es Millionen und Abermillionen Vorstellungen vom Paradies und paradiesischen Leben gibt, deutet die radikale Schwierigkeit, oder Unmöglichkeit, des Erreichens dieser Glückseligkeit an (dies soll kein Plädoyer gegen das Träumen sein). Diese Unmöglichkeit besteht auch, weil aus einer ungestörten, nicht mehr streitig gestellten Zufriedenheit schnell eine unreflektierte Selbstzufriedenheit wird. Streit, Auseinandersetzung, Konflikte sind nicht die Ausnahme, sondern die Regel in zwischenmenschlichen Beziehungen. Der Soziologe Georg Simmel beschreibt diese Begegnungen mit dem Hinweis: »Wie der Kosmos ›Liebe und Hass‹ attraktive und repulsive Kräfte braucht, um eine Form zu haben, so braucht auch die Gesellschaft irgendein quantitatives Verhältnis von Harmonie und Disharmonie, Assoziation und Konkurrenz, Gunst und Missgunst, um zu einer bestimmten Gestaltung zu gelangen.«2 Im Diskurs mit dem Gegenüber entwickelt der Mensch nicht nur als Kind in seinem Erwachsenwerden, sondern sein ganzes Leben lang die Fähigkeit, in der Welt, in der er ist, sowohl die Veränderungen, also die Dynamik des Seins, zu verhandeln als auch immer wieder eine Identitätsüberprüfung durchzuführen. Bestenfalls.

II.

Meine Mutter hatte Angst. Und Thomapyrin. Sie vermied Streit. Streit machte ihr Angst und vor nichts hatte sie mehr Angst als vor der Angst. Sie war 16 Jahre alt, als die Deutschen Polen im Zweiten Weltkrieg angriffen und besetzten. Kurz danach erlebte sie dort, wie Hitlers Judenhass durch die deutschen Soldaten Realität wurde. Lebensgefährliche Realität. Gettos entstanden, Gewalt wurde zum Alltag, Gehorchen und Unsichtbarkeit zur Überlebenstaktik. Doch wie sollte man mit einem gelben Judenstern unsichtbar sein? Jede Konfrontation, jede Frage, jeder Widerspruch konnte tödlich sein. Leben hieß nur noch: überleben. Das Gefühl der Hilf- und Wertlosigkeit zementierte sich. Juden lebten in einem gewaltbesetzten, rechtsfreien Raum ohne Notausgang. Die Endstation hieß: Auschwitz. Meine Mutter überlebte mit meinem Vater und ihrer Mutter. Alle anderen ermordet. Vernichtet. Ohne Gräber.

Als ich meine Mutter kennenlernte, war diese Lebens- und Existenzangst fühl- und greifbar. Ich konnte sie als kleines Kind nicht einordnen, aber mir fielen ihre zitternden Hände auf. Ich erlebte ihre Harmoniesehnsucht. Oder sollte ich sagen: Sucht? Sie umarmte und küsste mich. Wann und wo immer es ging. Wenn wir Hand in Hand einkaufen gingen, blieb sie, nachdem sie alles eingepackt hatte, im Blumenladen, im Lebensmittelgeschäft, in der Apotheke, beim Fleischer, im Gemüseladen stehen und sprach mit all den Menschen. Sie machte ihnen Komplimente, lobte sie und erklärte regelmäßig, wie dankbar sie ihnen sei. Ich fragte mich damals: Wofür? Immerhin bezahlte sie ihre Einkäufe mit Geld. Wie ein Ritual wiederholte sie jeden Tag diesen Spaziergang durch unser Viertel. Riefen ihr Menschen hinterher: »Guten Tag, Frau Friedman! Wie geht es Ihnen, Frau Friedman?«, strahlte sie und ich spürte, wie die Verkrampfung ihrer großen Hand, die meine kleine Hand festhielt,