Merles Suche - Verena Rabe - E-Book
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Verena Rabe

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Beschreibung

Der längste Tag in unserem Leben … Der bewegende Roman »Merles Suche« von Verena Rabe jetzt als eBook bei dotbooks. Wie ein Licht in dunkler Nacht … Die junge Merle steht im Juli 2005 vor der schwersten Entscheidung ihres Lebens: Sie liebt ihre Heimat in Norwegen, die vollkommene Stille inmitten der malerischen Fjordlandschaften – doch sie liebt auch Leo, der in der schillernden Metropole London zu Hause ist. Leo, den sie vor einigen Monaten verlassen hat, weil ihre beiden Welten nicht vereinbar scheinen. Seitdem haben die Tage für Merle an Farbe verloren … und sie beginnt zu begreifen, dass ein Leben ohne Leo nur ein halbes ist. Aber gerade, als Merle ihren ganzen Mut zusammennimmt, erschüttert ein Schicksalsschlag alles, was sie zu wissen glaubt … Bestsellerautorin Verena Rabe fesselt mit einem Roman voll leiser Schönheit – und eindringlicher Wucht. Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der berührende Liebesroman »Merles Suche« von Verena Rabe – auch bekannt unter dem Titel »Der längste Tag in unserem Leben«. Leser, die bereits Verena Rabes Roman »Thereses Geheimnis« kennen, dürfen sich hier auf ein Wiedersehen mit Marie und Ralph freuen. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 409

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Über dieses Buch:

Wie ein Licht in dunkler Nacht … Die junge Merle steht im Juli 2005 vor der schwersten Entscheidung ihres Lebens: Sie liebt ihre Heimat in Norwegen, die vollkommene Stille inmitten der malerischen Fjordlandschaften – doch sie liebt auch Leo, der in der schillernden Metropole London zu Hause ist. Leo, den sie vor einigen Monaten verlassen hat, weil ihre beiden Welten nicht vereinbar scheinen. Seitdem haben die Tage für Merle an Farbe verloren … und sie beginnt zu begreifen, dass ein Leben ohne Leo nur ein halbes ist. Aber gerade, als Merle ihren ganzen Mut zusammennimmt, erschüttert ein Schicksalsschlag alles, was sie zu wissen glaubt …

Bestsellerautorin Verena Rabe fesselt mit einem Roman voll leiser Schönheit – und eindringlicher Wucht.

Über die Autorin:

Verena Rabe, geboren und aufgewachsen in Hamburg, liebt es zu reisen. Besonders europäische Küsten haben es der Seglerin angetan. Für ihre Geschichten unternimmt sie lange Recherchereisen und lässt die Orte, die sie beschreibt, intensiv auf sich wirken. Sie hat Geschichte studiert und als Journalistin gearbeitet, bevor sie Schriftstellerin wurde. Bisher hat sie acht Romane veröffentlicht. Verena Rabe lebt mit ihrem Mann in Hamburg, hat zwei erwachsene Kinder und verbringt viel Zeit in Berlin, ihrer zweiten Heimat.

Bei dotbooks veröffentlichte Verena Rabe ihre Romane »Und über uns das Blau des Himmels«, »Die Melodie eines Sommers«, »Ein Lied für die Ewigkeit«, »Charlottes Rückkehr«, »Thereses Geheimnis«. Die letzten beiden Romane sind auch im Doppelband erhältlich.

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Dieser Roman ist auch bekannt unter dem Titel DER LÄNGSTE TAG IN UNSEREM LEBEN.

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Überarbeitete eBook-Neuausgabe Oktober 2020

Dieses Buch erschien bereits 2011 unter dem Titel »Der längste Tag in unserem Leben« bei Knaur.

Copyright © der Originalausgabe 2011 Knaur Taschenbuch. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Copyright © der überarbeiteten Neuausgabe 2020 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock / Bin-Break / maziarz / Saranya33 / JungleOutThere / ilolab

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-96655-413-8

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Verena Rabe

Merles Suche

Roman

dotbooks.

Anstatt einer Widmung:

Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe,diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.

Aus: Hohelied der Liebe, 1. Korintherbrief, 13

Kapitel 1

7. Juli 2005, Spangereid, Norwegen

Merle lief am Strand entlang, den Blick auf das Meer gerichtet, wie sie das bisher fast jeden Morgen getan hatte, seit sie nach Spangereid zurückgekehrt war. Sie spürte den Widerstand des an manchen Stellen harten, an manchen Stellen jedoch weichen Sandes unter ihren Füßen und war froh, dass es eine Laufstrecke direkt am Strand gab. Es war zu mühsam, über die Felsen zu joggen. Sie stimmte ihre Schritte auf ihre Atmung ab. Das morgendliche Laufen entspannte sie und machte sie bereit für ihre Arbeit im Hotel.

Als sie noch in London lebte, war sie oft nach der Arbeit durch Kensington Gardens gejoggt. Einerlei, wie anstrengend ihre Schicht an der Rezeption des Fünf-Sterne-Hotels gewesen war, sobald sie zehn Minuten gelaufen war, fiel aller Stress von ihr ab. Es war zwar nicht dasselbe, wie mit dem Boot über einen norwegischen Fjord zu fahren, aber es war eben das, was in einer Riesenstadt wie London möglich gewesen war.

An der Innenseite ihrer Spindtür im Hotel klebte ein Foto von der Spangereider Bucht. Am Tag der Aufnahme war das Meer nur mäßig bewegt gewesen, der Himmel grau verhangen, und es hatte nach Regen ausgesehen. Sie liebte dieses Foto und ahnte von Woche zu Woche mehr, dass sie auf die Dauer nicht in London bleiben, sondern nach Norwegen zurückkehren wollte.

Merle blieb stehen und wartete, bis ihr Puls langsamer wurde. Sie sah auf das Meer hinaus. Manchmal tobten die Wellen dort draußen, als ob sie ein alter Troll in den steilen und tiefen Fjorden hinterm Kap Lindesnes entfesselt und hier herübergeschickt hätte. Bis nach Schottland war offene See.

Was hatte Leo gesagt, als sie ihm auf der Karte zeigte, woher sie kam? »O Gott, das ist ja ungefähr so nördlich wie Inverness in Nordschottland. Wie konntest du dort überhaupt leben? Da gibt es doch nur Sturm und Kälte, und es regnet die ganze Zeit.« Sie hatte ihm nicht widersprechen können. Es stimmte ja: Die Wetterlage an der westlichsten Spitze Südnorwegens war sehr instabil und das raue Klima nicht jedermanns Sache. Man konnte die Naturgewalten nicht bezähmen, man musste mit ihnen leben und sich mit ihnen arrangieren, und das konnten die Norweger, die hier lebten. Jeder hatte eine Schaufel im Kofferraum, falls man im Matsch oder Schnee stecken blieb, und besaß einen Overall, der vor Wind, Regen und Kälte schützte.

Leo hatte noch nicht einmal versucht, ihre Liebe zu ihrer Heimat zu verstehen. Er hatte sogar gesagt, dass er diese gar nicht kennenlernen wollte. Und ihre Sehnsucht nach Norwegen war so unbändig geworden, dass sie Leo eines Morgens aus heiterem Himmel verlassen hatte, um nach Norwegen zurückzukehren. Er hatte sich gegen sie entschieden, als er sie gehen ließ und ihr auch nicht nach Norwegen hinterherreiste. Wochenlang hatte sie gehofft, dass er käme. Aber die Hoffnung war irgendwann so unerträglich geworden, dass sie damit aufgehört hatte.

Leo mochte den Süden. Er liebte Italien und Südfrankreich. Sie hatten einmal in der Toskana gemeinsam Urlaub gemacht. Es hatte ihr gefallen, in einem knappen Bikini neben ihm am Strand zu liegen und jeden Moment damit rechnen zu können, dass er seine Hand ausstreckte und sie streichelte. Sie hatten sich im Hotelzimmer bei geöffnetem Fenster geliebt. Der Sand kratzte auf ihrer Haut, und Gesprächsfetzen drangen von der Straße zu ihnen ins Zimmer herauf. Später nahmen sie einen Drink auf der Promenade. Der Wind strich unter ihr dünnes Kleid. Ihre Haut wurde schnell braun, und ihr kupferfarbenes Haar leuchtete in der Sonne. Sie fühlte sich sexy. Dieses Sommergefühl kannte sie aus Norwegen nicht. Jeden Nachmittag gingen sie in dieselbe Bar, tranken Aperol und später Gin Tonic.

Heute war das Meer nicht durch den Wind aufgewühlt, sondern glatt und blau. Die Sonne glitzerte auf dem Wasser, und es war fast windstill. Das richtige Wetter zur richtigen Jahreszeit, dachte Merle. Jetzt wäre sie gerne mit ihrem offenen Holzboot mit Außenbordmotor zu einer der winzigen Felseninseln gefahren, um sich dort einen einsamen Platz zum Lesen und zum Baden zu suchen. In Spangereid füllte sich langsam der Strand. Windschirme wurden aufgestellt. Drei Jungen hatten den Fußballplatz lautstark in Beschlag genommen. Merle blieb stehen und beobachtete die kickenden Jungen. Sie würde keine gemeinsamen Kinder mit Leo haben, die hier irgendwann spielen würden, wie sie es sich in London so oft ausgemalt hatte. Vielleicht hatte ihre Liebe einfach zu nicht mehr gereicht als zu 16 intensiven und wunderschönen Monaten in London. Es war entschieden. Sie wollte nicht zurückkehren, und er war nicht zu ihr gekommen. Sie konnte nicht in London leben. Ihr war dieser Moloch von Großstadt zu viel, die Abgase, der Schein und vor allem der Lärm. An den Lärm hatte sie sich nie gewöhnen können. Egal, wo sie war, es war immer laut, außer in der Mitte des Hyde Parks oder in einer Kirche. Dorthin hatte sie sich oft geflüchtet und die Stille genossen. Leo schien gar nicht zu registrieren, dass es überall laut war. Dieses hohe Piepen des Aufzugs in der U-Bahn-Station Gloucester Road, das Kreischen der Bremsen beim Einfahren der Züge, die lauten elektronischen Ansagen: »Mind the gap, mind the gap.« Das nervtötende Rattern der Waggons, die Musik in den U-Bahnhöfen der Piccadilly Line. Man musste minutenlang auf diesen uralten Rolltreppen, die einen in die Tiefe oder an die Oberfläche beförderten, verharren und war der Musik ausgeliefert. Am Anfang hatte Merle den Musikern Geld gegeben. Da wusste sie noch nicht, dass das Repertoire einiger Künstler ausgesprochen klein war und sie wochenlang mit denselben Liedern genervt werden würde.

Auch in den Geschäften dudelte andauernd Musik, und wenn die U-Bahnen nicht kreischten, brummten draußen die Busse. Und dann die immerwährend in ihre Handys sprechenden Londoner. Merle wollte zuerst nicht glauben, dass die eigentlich für ihre Zurückhaltung bekannten Briten ihre Privatgespräche so öffentlich führten. Jeder konnte mithören, wenn er wollte, aber das tat niemand auf der Straße oder im Bus, denn das widersprach der englischen Diskretion – oder war es einfach nur Gleichgültigkeit gegenüber anderen? Auch Leo setzte diese gleichgültige Miene auf, wenn sie gemeinsam unterwegs waren. Er, der sonst so interessiert an Menschen war, saß mit leerem Blick in der U-Bahn, sah sein Gegenüber nicht an und versuchte niemanden zu berühren, selbst wenn in dem U-Bahn-Abteil drangvolle Enge herrschte.

Leo schien nicht begreifen zu wollen, dass sie Schwierigkeiten hatte, sich den Londoner Gepflogenheiten anzupassen, obwohl er sie doch auch deshalb liebte, weil sie anders war als die Frauen, mit denen er vor ihr zusammen gewesen war. Sie schimpfte nicht sofort, wenn es regnete, und war nicht um ihre Frisur besorgt. Sie machte sich über den Londoner Regen sogar lustig, weil er fast immer gerade vom Himmel fiel und nicht schräg von der Seite auf einen einpeitschte. Sie hatte versucht, ihm zu erklären, dass das Wetter und die Natur viel mehr waren als Staffage für sein großstädtisches Leben, aber er hatte sie nicht verstanden.

Sie musste sich damit abfinden, dass sie sich niemals mit Leo bei Sturm in einem ächzenden und knarrenden Holzhaus lieben würde. Sie war für ihn sicher schon Vergangenheit. Passé.

Das hatte sie zumindest bis gestern angenommen.

Aber gestern hatte er angerufen. Es war in London zehn Uhr abends gewesen, bei ihnen schon elf, aber das war Leo sicher nicht klar gewesen.

»Hallo, Merle«, hatte er gesagt. Er war sehr schwer zu verstehen gewesen. Im Hintergrund hatte sie Barmusik und Lachen gehört.

»Ich bin im Balans in der Kensington High und habe gerade ein paar Gin Tonic getrunken. Muss die ganze Zeit an dich denken«, hatte er ihr ins Ohr gebrüllt.

Sie war gerade nach der Spätschicht auf dem Weg zu ihrem Auto und hatte sich darüber gefreut, dass es jetzt erst dämmerte. Leos Stimme klang rauer als sonst – hatte er wieder mit dem Rauchen begonnen? –, und er hatte die Konsonanten mit schwerer Zunge geformt. Trank er allein? Das war gar nicht sein Stil. War er mit einer Frau unterwegs? Hörte sie nicht im Hintergrund jemanden lachen? Dieses aufreizende hohe englische Lachen, das sie nie hatte kopieren können.

Er und alle anderen in der Bar feierten, dass London den Zuschlag für die Olympiade 2012 bekommen hatte. Als Merle es auf dem Weg zur Arbeit erfuhr, hatte sie sich so sehr darüber gefreut, als ob sie immer noch in London lebte und ihren Wohnsitz nicht vor einem halben Jahr zurück nach Norwegen verlegt hätte.

Vor zweieinhalb Jahren war sie nach London gegangen, weil sie einmal etwas anderes kennenlernen wollte als das Meer, Felsen, weiße norwegische Häuser und Sturm und weil sie darunter litt, dass sie fast alle Einwohner der Gegend kannte. Zuerst war sie in ihrer freien Zeit mit ihren Kollegen durch die Bars, Clubs und Pubs gezogen. Es war eine nicht endende Party gewesen, aber nach einigen Monaten war ihr das ewige Feiern auf die Nerven gegangen. Aber sie faszinierte die Internationalität Londons. Auf der Straße konnte sie innerhalb von wenigen Minuten Menschen im Sari sehen, junge Leute in schriller Kleidung oder Geschäftsleute in akkuraten, aber sehr schicken Anzügen oder Kostümen. Am Anfang war sie mit der U-Bahn kreuz und quer durch London gefahren. Sie hatte es aufregend gefunden, wenn sich die Waggons in die Kurve legten und sie durchgeschüttelt wurde, selbst das Quietschen und Kreischen der Bremsen hatte sie nicht gestört.

Sie war in ihrem Leben vor London nur selten U-Bahn gefahren. Eigentlich war sie vorher überhaupt noch nicht viel herumgekommen. Sie war gerade 23 geworden, als sie den Entschluss fasste, Norwegen zu verlassen. Ein weiteres halbes Jahr verging, bis sie alles geplant hatte. Ihre Eltern waren am Anfang gar nicht begeistert, zumal sie vorhatte, im Frühjahr wegzugehen, obwohl die Saison mit den Ferienhäusern, die ihre Familie in Spangereid und Umgebung vermietete, begann und auch auf dem Hof ihrer Eltern mehr getan werden musste.

Nach neun Monaten in London, als sie schon nicht mehr so begeistert von der Stadt war, lernte sie Leo im Londoner Zoo kennen. Sie vermisste ihre langjährigen Freunde in Norwegen und wusste mittlerweile, dass sie doch nicht so kosmopolitisch dachte, wie sie angenommen hatte. Sie vermisste es, Norwegisch zu sprechen, obwohl sie Englisch mittlerweile fließend beherrschte. Sie vermisste ihre Familie. Sie vermisste die Abende mit ihren Freunden in einer der Sommerhütten, von denen fast jeder, den sie kannte, eine besaß. Sie hatten oft lange draußen gesessen, auf das Meer geschaut, auch wenn es manchmal ziemlich kalt wurde. Sie hatten norwegischen Jazz und Blues gehört und Wein getrunken, den irgendjemand immer günstiger als im Laden hatte besorgen können. Sie hatten über alles Mögliche geredet, viel gelacht, im Laufe des Abends waren sie dann meist alle angetrunken gewesen und hatten gemeinsam auf der Helms in der Hütte übernachtet.

Kurz bevor sie Leo kennenlernte, war sie besonders schlechter Laune gewesen. Sie hatte eigentlich ans Meer fahren wollen, um endlich einmal wieder durchzuatmen, aber dann hatte sie erfahren, dass sie ab sechs Uhr abends arbeiten musste. Sie hatte nicht gewusst, was sie tun sollte, und so war sie im Zoo gelandet, weil sie dort zumindest Tiere beobachten konnte.

Sie trafen sich vor dem Gehege des Sumatratigers. Merle hatte sich gerade darüber aufgeregt, wie klein der Londoner Zoo war und dass sie dafür siebzehn Pfund zahlen musste, als sie bei dem Tiger vorbeikam und sah, wie ein ungefähr siebenjähriger Junge versuchte, über die Absperrung zu steigen, und ein Mann mit schwarzen Locken ihn gerade noch am Jackenzipfel erwischte und ihn zurückzog. Der Tiger lief unruhig hin und her. Sie blieb stehen und sah dem Jungen und dem Mann zu.

»Timmy, der Tiger erschreckt sich, wenn du so dicht an ihn herankommst. Das ist sein Revier. Da will er keine Menschen haben«, versuchte er es auf die vernünftige Tour.

»Aber der Wärter geht doch auch in das Gehege«, maulte Timmy.

»An den Wärter sind die Tiere gewöhnt, an dich nicht«, sagte der Mann, der sich als Leo herausstellen sollte, mit ungeduldigerem, aber immer noch beherrschtem Tonfall und hielt den Jungen, der vehement versuchte sich zu befreien, jetzt mit beiden Armen umklammert.

»Hör auf, du tust mir weh, du bist doof«, schrie Timmy. »Das sage ich meiner Mum.«

»Deine Mum ist bestimmt nicht begeistert, wenn sie erfährt, wie nervig du warst«, keuchte Leo. »Jetzt komm da endlich runter.«

Normalerweise mischte sich Merle nicht schnell irgendwo ein, aber ihr tat der Mann, der ungefähr in ihrem Alter sein musste und offensichtlich mit der Situation überfordert war, leid. Und sie nervte die Ungezogenheit des Kindes, für die dieser gut aussehende Mann Gott sei Dank nichts konnte, weil er ja nur die Position eines Onkels einnahm.

»Wenn du den Tiger noch weiter reizt und näher rangehst, wird er dich mit seiner Pranke auch durch die Gitterstäbe erwischen. Das ist dem Sohn einer Freundin von mir passiert. Er musste genäht werden, sechs Stiche ohne Betäubung, und er bekam eine Tetanusspritze in den Hintern«, sagte sie ruhig. Der Junge drehte sich zu ihr um.

»Wirklich?«, fragte er. Merle nickte nachdrücklich. »Sechs Stiche und eine riesige Spritze in den Po.«

Der Junge nahm das Bein vom Geländer und sprang zurück auf den Gehweg.

»Komm, Leo, ich will jetzt zu den Affen«, sagte er barsch und stürmte an seinem Onkel vorbei, ohne auf ihn zu warten.

»Danke noch mal«, sagte Leo mit einem Lächeln und einem Augenzwinkern. »Ich muss jetzt leider weiter. Schade«, und er verschwand auf der Suche nach seinem Neffen, der schon nicht mehr zu sehen war.

Eine Stunde später fand sie den Jungen ohne Leo bei den Kröten und Schlangen. Er wirkte gar nicht mehr selbstbewusst, sondern wie ein Häufchen Elend. Er weinte.

»Was ist los?«, fragte Merle. »Hast du dich verlaufen? Wo ist dein Onkel?«

»Weiß ich nicht«, schluchzte der Junge. »Wir waren eben im Aquarium, und dann hat er gesagt, warte hier auf mich, ich komme gleich wieder. Aber das hat mir zu lange gedauert, und dann bin ich schon mal los, und jetzt weiß ich nicht, wo er ist.«

»Timmy, so heißt du doch, oder?«, fragte Merle.

»Ja«, antwortete der Junge. »Wenn meine Mum erfährt, dass ich wieder abgehauen bin, wird sie böse«, fügte Timmy mit jetzt kleinlauter Stimme hinzu.

»Hat dein Onkel ein Handy?«, fragte Merle.

»Ja«, sagte Timmy. »Und ich weiß Leos Nummer auswendig«, gab er gleich wieder an.

Merle wählte die Nummer, die Timmy ihr vorsagte, und hoffte, dass er nicht die Ziffern durcheinanderbrachte.

Am anderen Ende meldete sich ein sichtlich hektischer Leo.

»Hallo«, sagte sie. »Ich bin die Frau vom Tiger vorhin. Ich habe Timmy gefunden, er ist bei den Schlangen und Kröten.«

»Da passt er auch hin«, gab Leo zurück. »Vielen Dank, dass Sie mich angerufen haben.«

»Timmy hat mir Ihre Nummer gegeben. Ziemlich clever, der Junge«, fügte sie hinzu.

»Ja, aber so anstrengend. Ich weiß nicht, wie meine Schwester das aushält. Doch, ich weiß es, sie versucht einfach gar nicht mehr, ihn zu erziehen.«

»Auch eine Möglichkeit«, sagte Merle, »wenn auch nicht die beste.«

»Können Sie mit Timmy dort warten?«

»Ja, ich habe Zeit. Ich glaube nicht, dass er jetzt noch einmal weglaufen wird«, vermutete Merle.

»Ich bin gleich da, wenn ich auf diesem blöden Plan die Kröten und Schlangen finde«, sagte er. »Nächstes Mal gehe ich mit ihm ins Kino. Da kann er mir nicht so schnell entkommen.«

Er ging mit Timmy fest an der Hand neben ihr Richtung Ausgang und lud sie ein, mit ihm einen Kaffee zu trinken, sobald er seinen Neffen bei seiner Mutter abgegeben hätte. Merle hatte noch Zeit bis zum Schichtbeginn, außerdem gefiel ihr Leo, der zwar wie ein Engländer sprach, aber nicht wie einer aussah. Sein Teint war dunkler als der der meisten Engländer und seine Augen dunkelbraun. Sie gaben Timmy bei Leos Schwester ab, die Merle interessiert musterte, aber nicht direkt ansprach.

»War alles in Ordnung?«, fragte sie, und Leo antwortete: »Ja, alles bestens. Dein Sohn hat sich sehr gut benommen.« Seiner Schwester schien sein ironischer Tonfall zu entgehen, Timmy aber zuckte zusammen.

»Danke, Lieber, ich rufe dich an«, antwortete Leos Schwester und zog mit Timmy ab.

»Es hat keinen Sinn, sich mit Betty auf Diskussionen über Kindererziehung einzulassen«, sagte Leo zu Merle. »Sie versteht sowieso nicht, was ich sagen möchte, und ihr Killerargument ist immer, dass ich ja schließlich keine Kinder habe.«

»Das kenn ich auch von meiner großen Schwester«, antwortete Merle.

»Geschwister sind manchmal anstrengend, oder?«, seufzte Leo, und Merle nickte. Sie wanderten durch den Regent's Park und redeten über ihre Geschwister, Tiger, das Wetter, die wahnsinnig hohen Mieten in London. Sie fachsimpelten darüber, wo es die besten Sandwichs gab, und tranken Cappuccino im Nero-Café in der Camden Road. Leo fand ihren Akzent offensichtlich süß. Jedes Mal, wenn sie das R etwas zu hart anschlug, schmunzelte er.

Stopp, dachte Merle, während sie am Strand von Spangereid Dehnübungen machte. Sie durfte sich jetzt nicht weiter erinnern, denn dann wäre sie schnell bei ihrer ersten Berührung und dem Gefühl angelangt, als ob sie ab jenem Zeitpunkt wie ferngesteuert gehandelt hätte. Ihre Fingerspitzen hatten sich berührt, als er ihr den Zucker für ihren Kaffee reichte, und es war dieser elektrisierende Moment gewesen, der alles Weitere entschied und von dem sie geglaubt hatte, dass er eine Erfindung Hollywoods sei. Sie hatte sich wie besoffen gefühlt, zwar ihre Hand schnell weggezogen, aber da war es schon zu spät gewesen. Sie hatte sich in Leo verliebt.

Wie sehr hatte sie in den vergangenen Monaten gegen die Erinnerung an seine Berührungen kämpfen müssen. Wie oft hatte sie nachts wach gelegen, hatte versucht, sich auf die Geräusche von draußen zu konzentrieren, die über den Platz des Hofes ihrer Eltern wehten: auf das Säuseln des Baches hinterm Haus, auf den Lärm eines gelegentlich vorbeifahrenden Autos, das Rauschen des Windes in den Kiefern und Birken, die hinter dem Haus auf felsigem Grund standen. Aber sie hatte es trotz dieser vertrauten und in London so sehr vermissten Geräusche nicht geschafft, die Sehnsucht nach Leo zu verdrängen und wieder einzuschlafen. Sie hatte die Arme um ihren Körper geschlungen, um die Einsamkeit zu lindern, sie hatte sich gestreichelt und dabei an ihn gedacht, aber es hatte nichts genützt. Sie vermisste Leo über alle Maßen, nachts noch viel mehr als tagsüber. Sie hatte gar nicht erst versucht, einen Ersatz für ihn zu finden, auch wenn es nur für eine Nacht gewesen wäre. Es hätte bestimmt Gelegenheit dazu gegeben, seit die Angler wieder in der Region waren und mit ihren Booten hinausfuhren. Von den Einheimischen kannte sie fast jeden Mann in den Zwanzigern. Die meisten waren schon verheiratet und hatten Kinder. Einige wenige waren nach einem Auslandsaufenthalt oder einem Studium in Oslo oder Bergen in die Region zurückgekehrt und auf der Suche nach einer passenden Frau. Aber mit denen trank sie nur gelegentlich in der Mandal-Bar ein Bier. Mehr wollte sie nicht, es hätte wohl auch nichts gebracht. Sie hätte Leo sicher noch mehr vermisst, wenn sie mit jemand anderem ins Bett gegangen wäre. In ihren schlaflosen Nächten war Merle oft kurz davor gewesen, ihn anzurufen. Manchmal war sie dann sogar bereit gewesen, nach London zurückzukehren und in diesem Moloch von Stadt mit ihm zu leben, obwohl ihr bei Tagesanbruch jedes Mal bewusst wurde, dass dies für sie keine Alternative war. Auf die Dauer hätte sie in London die Nerven verloren. Ihr hatte die Rückzugsmöglichkeit in die Natur gefehlt, und ein Ausflug an die Küste alle vier Wochen oder die Aussicht auf Urlaub in Südeuropa hatten ihr nicht ausgereicht. Sie brauchte ihr Boot am Steg im Hafen, den sie in kurzer Zeit nach der Arbeit erreichen konnte. Es gab ihr die Freiheit zu verschwinden, wann immer sie wollte. Während der Arbeit war sie ständig mit Menschen zusammen, daher brauchte sie die Möglichkeit, sich in ihrer Freizeit jederzeit in die Natur zurückziehen zu können.

Wie gern hätte sie Leo die Fjorde gezeigt, hätte ihn davon überzeugt, dass auch der norwegische Sommer strahlend und warm sein konnte, aber Leo hatte nichts von einer Reise nach Norwegen wissen wollen. Seine Mutter war Brasilianerin und lebte seit einigen Jahren wieder in Rio de Janeiro, weil sie es auf die Dauer in England nicht hatte ertragen können. Sie hatte Leos Schulabschluss abgewartet und ihn dazu gedrängt, gleich eine Ausbildung zu beginnen. Und als sie sah, dass er seine Wahl, Physiotherapeut zu werden, getroffen hatte, verließ sie ihn, seine Schwester und seinen Vater, der sich weigerte, mit ihr nach Brasilien zu gehen.

Leo hatte ihr diese Geschichte am frühen Morgen nach einer leidenschaftlichen Nacht erzählt. Sie hatte den Kopf an seine Brust geschmiegt, und er hatte mit ihren Haaren gespielt, während er ihr erzählte, wie verstört und traurig er gewesen war, als er erfuhr, dass seine Mutter England verlassen würde.

»Komm doch nach«, hatte sie gesagt. »Du wirst in Brasilien mit Sicherheit Arbeit finden.«

Bei einem Besuch in Brasilien merkte er schnell, dass er dort nicht leben wollte. Es war zu heiß, zu exotisch. Die Menschen waren ihm zu direkt. Er mochte es nicht, wenn jemand ihn im Gespräch am Arm packte oder die Hand auf seine Schulter legte.

»Meine Mutter war ganz anders in Brasilien. Sie redete viel lebhafter. Ihre Stimme war heller und jugendlicher, wenn sie portugiesisch sprach. Sie war plötzlich nicht mehr die zurückhaltende Frau, die ich kannte. Sie musste sich nicht mehr krampfhaft bemühen, ihren Akzent zu überspielen, den sie auch noch nach 20 Jahren in London besaß. In Brasilien war sie eine sehr begehrenswerte Frau. Sie versteckte sich nicht mehr, flirtete, sprach rasend schnell und lachte laut«, erzählte Leo.

Nach diesem Gespräch war Merle nachdenklich geworden. Würde sie nach 20 Jahren in London auch so verbittert und frustriert sein, dass ihr allein die Rückkehr nach Norwegen und damit die Trennung von Leo würde helfen können?

Was würde geschehen, wenn die Verliebtheit vorüber wäre und sie ihren ersten großen Streit hätten? Würde sie Leo nicht hassen, weil seine Liebe zu ihr sie daran gehindert hatte, in ihre Heimat zurückzukehren, die sie von Tag zu Tag mehr vermisste?

Er würde ihr nicht nach Norwegen folgen, das hatte er klargemacht. Brasilien war ihm zu warm und Norwegen zu kalt. Es liege zu weit nördlich für einen Halb-Brasilianer, hatte er behauptet. Das war typisch Leo. Er nutzte die Argumente immer so, dass sie für ihn arbeiteten. Aber sie hatte ihn selbst dann noch geliebt, als er mit dieser leicht dahingesagten Bemerkung den Traum von einem gemeinsamen Lebensweg zerstörte.

Warum hatte er gestern Nacht angerufen? Selbst wenn er »In London regnet es. Ich gehe gleich zur Arbeit« gesagt hätte, wäre die Wirkung auf sie genauso elektrisierend gewesen wie eine Liebeserklärung. Seine Stimme zog sie sofort wieder in ihren Bann. Die Wut darüber, dass er so kompromisslos war, und die Enttäuschung darüber, dass er ihr nicht gefolgt war, die sie normalerweise durch den Tag begleitete und durch die sie die Sehnsucht im Zaum hielt, waren sekundenschnell verflogen. Es reichte ein Wort, und sie war wieder genauso hingerissen von ihm wie an jedem einzelnen Tag, den sie gemeinsam verbracht hatten.

Da war es egal, dass sie vor einigen Tagen beschlossen hatte, in Mandal eine Wohnung zu suchen, um noch mehr Tatsachen zu schaffen, die sie an Norwegen banden. Auch noch jetzt, einige Stunden nach seinem Anruf, wollte sie nichts lieber als eine Tasche packen, das nächste Flugzeug nehmen und ihm in die Arme fallen. Aber lebte er denn noch in ihrer gemeinsamen Wohnung? Während der ersten Wochen in Norwegen, als ihr bewusst wurde, dass dieses raue Land im Februar selbst ihr wenig von seinem Zauber preisgab, hatte sie manchmal ihre alte Telefonnummer in London gewählt und ihrer eigenen Stimme auf dem Anrufbeantworter zugehört, aber keine Nachricht hinterlassen. Und dann war nur noch die Ansage gekommen, dass es keinen Anschluss unter dieser Telefonnummer gäbe.

Also musste Leo umgezogen sein. Aber wohin? Sie hatte keine Adresse. Sie hatte zwar übers Internet recherchiert, war aber auch dort nicht erfolgreich gewesen. Es gab keinen Eintrag zu ihm im aktuellen Londoner Telefonbuch, und ihren gemeinsamen Eintrag hatte er löschen lassen.

Bevor sie überhaupt noch eine Entscheidung treffen konnte, hatte sie schon ihr Handy in der Hand und wählte Leos Handynummer, die sie nicht gelöscht hatte. Sie wusste, dass ihr dieses Telefonat erneut Schmerzen bereiten würde, denn der Ausgang war jetzt schon klar. Er würde sicher nicht sagen, dass er zu ihr kommen und ihrem Heimatland eine Chance geben wollte. Es wäre jedenfalls fatal, das zu hoffen. Wenn sie seine Stimme wieder gehört hätte, würde die Sehnsucht sie erneut im Griff haben und dieses Mal sicher nicht nur für eine Nacht. Aber sie liebte diesen Mann eben noch. Und er hatte ihr gestern gesagt, dass er an sie denken musste. Ihr Herz klopfte hart und zu schnell. Sie schwitzte und hatte keine Ahnung, was sie ihm sagen sollte. Vielleicht nur Hey, ich denke auch an dich. Gestern war sie zu verwirrt gewesen, um irgendetwas zu sagen.

»Hallo«, hörte sie Leos Stimme. Im Hintergrund nahm sie das altbekannte Quietschen der U-Bahn wahr. Leo war sicher auf dem Weg zur Arbeit. Merle sah auf die Uhr. Es war bei ihnen 9.47, also bei Leo 8.47 Uhr. Er ist mal wieder spät dran, schmunzelte sie. Wie oft hatte er morgens zur U-Bahn laufen müssen, weil er sich nicht von ihr losreißen wollte. Heute Morgen waren hoffentlich nur der Alkohol und die durchfeierte Nacht in der Bar schuld. Oder hatte ihn eine andere Frau davon abgehalten, pünktlich zu sein? Bloß nicht so etwas denken, rief sie sich zur Ordnung. Sie schloss die Augen, um ihre verrückt spielende Vorstellung in den Griff zu bekommen.

»Hey, Leo«, sagte Merle. Es fiel ihr plötzlich schwer, sich an ihr Englisch zu erinnern. Weil Englisch ihre gemeinsame Sprache war, hatte sie Leo viel von dem, was sie ausmachte, gar nicht vermitteln können. Selbst ihre Stimmlage veränderte sich, wenn sie Englisch sprach.

»Merle, schön, deine Stimme zu hören«, sagte Leo etwas betreten. Er wusste im nüchternen Zustand wohl nicht mehr, was er sagen sollte.

»Ich habe gerade am Meer gejoggt, gleich muss ich ins Hotel. Ich arbeite wieder in Mandal«, erzählte Merle.

»Aha, ich bin gerade auf der Circle Line«, sagte Leo und fragte nach einigem Zögern: »Und, geht es dir gut?«

»Manchmal, aber ich vermisse dich sehr«, sagte sie. Leo räusperte sich und schwieg.

Merle schwieg auch, aber sie legte nicht auf. Plötzlich hörte sie einen lauten Knall und Bremsen kreischen, Schreien und Stöhnen und dann nichts mehr. Die Verbindung war unterbrochen.

Was war in der U-Bahn los? Wie laut musste der Knall gewesen sein, wenn man ihn schon so deutlich durchs Handy hatte hören können? Und vor allem: Was hatte diesen Knall ausgelöst? Und warum war die Verbindung sofort abgebrochen? War ihm das Handy aus der Hand gefallen? Und warum hatte Leo geschrien? War es überhaupt Leo gewesen, der geschrien hatte? Oder jemand anderes?

Merles Herz raste. Sie konnte sich nicht mehr konzentrieren. Irgendetwas war mit Leo geschehen. Er war in Gefahr. Aber was für eine Gefahr? War der Zug mit einem anderen zusammengestoßen? Merles Hände zitterten, und ihr wurde abwechselnd heiß und kalt.

Was sollte sie jetzt tun? Sie wählte Leos Handynummer, aber bekam keine Verbindung. Sie musste doch irgendetwas tun, konnte nicht einfach hier stehen bleiben und warten oder arbeiten gehen. Sie musste Gewissheit haben, was geschehen war.

Und wenn es so etwas war wie ...?

Merle wagte den Gedanken gar nicht zu Ende zu formulieren. Sie musste sich im Griff behalten. Bloß jetzt nicht den Kopf verlieren.

Die Tankstelle gegenüber vom Strand auf der anderen Seite der Straße fiel ihr ein. In der Tankstelle war auch ein Imbiss. Und dort gab es einen Fernseher, links oben an die Wand geschraubt, der die ganze Zeit lief. Die Tankstelle war einige hundert Meter entfernt. Dort würde sie vielleicht erfahren, was in London vorgefallen war. Wenn es das war, was sie vermutete ... wenn es das war ... würden sie ziemlich schnell darüber berichten. Wie damals ...

Man war sogar live dabei gewesen. Das ging jetzt nicht – die U-Bahn steckte im Tunnel fest, dachte Merle.

Sie musste rüber zur Tankstelle laufen. Aber sie hatte keine Luft zum Laufen. Sie konnte nur gehen, musste sich gleichzeitig in die Seiten greifen, weil sie dort Stiche spürte. Ihr kam es vor, als würde sie schleichen, sich kaum von der Stelle bewegen. Sie wollte unbedingt wissen, was in London geschehen war. Sie ahnte, dass es etwas war, was außerhalb ihrer Vorstellungskraft lag. Sie musste Bescheid wissen, aber scheute gleichzeitig davor zurück. Sie hatte große Angst um Leo. Irgendetwas Schlimmes war geschehen. Und sie würde es bald wissen; wenn es das war, was sie vermutete, würde sie es bald wissen. Wenn sie London nicht verlassen hätte, wäre sie vielleicht jetzt mit ihm in der U-Bahn?

Merle erreichte die Tankstelle mit dem angeschlossenen Supermarkt. Touristen fuhren mit ihren Vans vor und gingen in den Supermarkt. Die Sonne ließ das Weiß der Holzhäuser noch stärker erstrahlen. Es war so idyllisch, dass es wehtat, und in diesem Moment hasste Merle das alles.

Sie stürmte in das Tankstellenhäuschen, das auch gleichzeitig ein Laden für Angelbedarf war, und stieß fast mit einem Touristen zusammen.

Frida stand hinter der Theke und brühte gerade neuen Kaffee auf.

»Hey, Merle, irgendwas passiert?«, rief Frida ihr zu. Sie war die jüngere Schwester einer ihrer Schulfreundinnen, die während der Sommermonate mit dem Job an der Tankstelle ihr Konto aufbesserte.

Im Fernseher lief MTV, noch keine Meldung im Nachrichtenticker.

»Frida, schalt um auf CNN«, sagte Merle.

»Warum denn, da gibt es doch nur öde Nachrichten.«

»Genau deshalb.«

»Das wollen die Gäste nicht sehen.«

»Aber es ist doch gar niemand hier.«

Merle und Frida waren allein in dem Laden mit den Zeitungen und Zeitschriften, Süßigkeiten, Getränken auf der einen und den Ködern, Gummistiefeln, Angelumhängen, Blinkern, Fischmessern auf der anderen Seite des Gangs.

»Bitte schalt um«, flehte Merle.

Frida fragte nicht weiter, sondern schaltete auf CNN. Dort gab es nichts außer einer langweiligen Nachtshow. Keine Eilmeldungen als Spruchband. Gott sei Dank. Aber konnten sie es überhaupt schon wissen?

»Kriegen wir hier BBC rein?«, fragte Merle.

»Nein, warum denn?«

»Irgendwas ist passiert in London. Ich habe gerade mit jemandem telefoniert. Der war in der U-Bahn. Und dann brach die Verbindung ab. Vorher gab es einen Knall.«

»Du zitterst ja. Setz dich. Beruhig dich. Willst du einen Kaffee, eine Zimtschnecke? Ich habe noch welche von heute Morgen. Sie sind köstlich.«

Merle ließ es zu, dass Frida sie sanft auf einen Plastiksessel drückte, der vor einem wackeligen weißen Campingplastiktisch zwischen dem Angelbedarf stand. Sie stellte ihr eine Zimtschnecke und einen Kaffee hin. Automatisch führte Merle die Tasse an die Lippen und verbrannte sich die Zunge, aber sie bemerkte es kaum. Sie biss von der Zimtschnecke ab, ohne auf den Geschmack zu achten. Bei CNN lief immer noch nichts.

»Es ist bestimmt gar nichts passiert«, beruhigte Frida sie.

»Aber die Verbindung brach ab, und vorher knallte es so laut, dass ich mich erschreckt habe.«

»Versuch doch noch einmal, in London anzurufen. Vielleicht erreichst du jetzt jemanden«, riet ihr Frida.

Merle wählte mit klammen Fingern Leos Handynummer. Kein Freizeichen, kein Ton. Nichts.

Kunden kamen in den Laden, um die sich Frida kümmern musste. Sie verkündeten lautstark auf Schwedisch, dass sie ein paar Köder kaufen wollten. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie sich entschieden hatten und endlich wieder verschwanden. Zum Glück wollten sie nichts essen und auch keinen Kaffee trinken. Dann hätte Merle ihren Sessel räumen müssen – es gab nur zwei –, an dem sie sich verzweifelt festklammerte. Sie wusste nicht, wie lange sie dort sitzen blieb. Auf CNN leuchtete eine Uhr auf. Es war 4.45 East Coast Time. Das hieß 10.45 in Norwegen – 9.45 in London. Ich warte hier schon fast eine Stunde, dachte Merle erstaunt. Ich sollte lieber gehen. Vielleicht war Leo einfach das Handy heruntergefallen. Zuzutrauen war es ihm auf jeden Fall. In einer Viertelstunde begann ihre Schicht im Hotel. Sie musste dort anrufen. Die Nummer hatte sie doch im Handy gespeichert. Sie drückte die Ziffern und merkte, dass sie immer noch zitterte.

Sie landete an der Rezeption bei ihrem Kollegen Lars. »Entschuldige, Lars, ich komme eine halbe Stunde später«, sagte sie.

Ihre Stimme klang anscheinend so alarmierend, dass Lars gar nicht weiter fragte.

»Nimm dir die Zeit, die du brauchst. Ich erkläre es dem Chef, wenn nötig«, sagte Lars.

Merle starrte weiter auf den Bildschirm: Jetzt erschien etwas im Nachrichtenband.

Explosionen erschüttern Londoner U-Bahn, zerstören Bus, las sie.

Mein Gott, es war also doch ...

»Frida, dreh lauter«, krächzte Merle. Ihre Stimme schien auf einmal zu versagen.

»Ich kann nichts hören, dreh lauter.«

Mittlerweile hatte sich auch die deutsche Familie mit den kleinen Kindern, die in den Shop gekommen war, zum Fernseher umgedreht.

Es herrschte Stille. Man hörte nur die Stimme von Ralitsa Vassileva, der CNN-Nachrichtensprecherin.

»Ich bin Ralitsa Vassileva im CNN Center mit den neuesten Nachrichten. Gerade sehen wir Live-Aufnahmen von King's Cross, einer Station der Londoner U-Bahn.«

Merle versuchte der Journalistin zu folgen. Was für ein Beamtenenglisch, dachte sie. Im gesamten U-Bahn-Netz ist der Strom ausgefallen, sagen die verantwortlichen Stellen?

»King's Cross Station«, murmelte Merle. »Da kann er nicht gewesen sein, oder doch?« Sie wusste doch gar nicht, wo er jetzt wohnte.

Frida schüttelte den Kopf und zuckte mit den Achseln.

Sie versuchte, sich den U-Bahnplan von London vorzustellen, aber es gelang ihr nicht. Hatte sie nicht im Hintergrund eine Ansage gehört, als sie mit Leo telefonierte? Was war es gewesen? Paddington, Edgware Road. Hatte er nicht, kurz bevor der Knall kam, gesagt, dass er auf der Circle Line sei? Also nicht an King's Cross. Bildete sie sich nur ein, dass er das gesagt hatte? Sie versuchte, sich auf die Bilder und den Text zu konzentrieren. Sie sah den Reporter in London und hinter ihm Menschen, die mit rußverschmierten Gesichtern und Händen aus der King's Cross Station herauskamen.

»Es war ein Zusammenstoß«, sagte der Reporter.

Ein Zusammenstoß, ein Zugunglück?

»Es ist jetzt zehn vor zehn hier in London. Sehr wahrscheinlich passierte es vor dreißig Minuten oder vielleicht etwas früher.«

Mehr als dreißig Minuten, dachte Merle. Sie kaute an ihren Fingernägeln. Sie war sich sicher, dass Leo etwas passiert war, sie spürte es.

»Es war also in der Rushhour«, sagte Vassileva.

Rushhour, dachte Merle. Übervolle Züge. Kein Platz mehr, um eine Zeitung aufzuschlagen, wenig Luft zum Atmen. Drangvolle Enge.

Lass es ein Zusammenstoß zweier Züge gewesen sein, hoffte Merle.

Jetzt sprach der Reporter in London wieder, O'Reilly. Merle konzentrierte sich, um alles, was er sagte, mitzubekommen. Fünf Explosionen um zehn vor neun erwähnte er und dann sagte er die Namen der Stationen: Edgware Road, King's Cross, Aldgate.

Fünf Explosionen. Edgware Road war eine Station auf der Circle Line, nicht weit von der Kensington High Street, wo Leo arbeitete. Merle erschrak. Sie griff noch einmal nach ihrem Handy, das vor ihr auf dem Tisch lag. Sie wählte Leos Nummer. Wieder hörte sie nichts. Die Leitung blieb tot.

Leo war etwas geschehen, das wusste sie einfach. Er war in dieser U-Bahn gewesen, in der irgendetwas explodiert war.

Sie schloss die Augen, um sie gleich wieder aufzureißen, denn statt der Dunkelheit ihrer Augendeckel sah sie Leos schmerzverzerrtes Gesicht vor sich, Blut rann ihm den Hals hinunter.

Aber auch mit geöffneten Augen sah sie die Bilder weiter. Sie glichen den Bildern, die sie damals in London überfallen hatten, als sie nach Tagen in ihrer Wohnung, die sie mit Schlafen, Lieben, Lesen, Musikhören und Reden verbracht hatten, wieder nach draußen kamen, nur um an der Ecke in dem kleinen Laden etwas zu essen zu kaufen. Sie hatte sich bei Leo eingehakt, sie sprachen nicht, sahen sich nicht an. Merle schmiegte sich an ihn und sog seinen Geruch ein. In diesen ersten Tagen in der gemeinsamen Wohnung hatte sie sich glücklich gefühlt und fast vergessen, dass sie sonst um diese Jahreszeit in ihrer freien Zeit in Norwegen zum Langlaufen ging.

Sie schlenderten gemächlich dahin und ignorierten die Hast der anderen Passanten. Plötzlich blieb Leo stehen und wies stumm auf Schlagzeilen und Fotos mit den aufgerissenen Zugabteilen und den verletzten, blutüberströmten Menschen in den Tageszeitungen. Es war in Madrid geschehen.

»Kennst du dort jemanden?«, fragte Merle gedankenverloren. Sie wollte sich jetzt mit Sicherheit nicht mit fremdem Unglück beschäftigen.

»Nein«, sagte Leo, »muss ich denn dort jemanden kennen, um schockiert zu sein?«

»Natürlich nicht.«

»Ist dir eigentlich klar, was dort geschehen ist? Ein Terrorangriff.«

»Die ETA?«, fragte Merle, eigentlich nur, um etwas Kluges zu sagen. Sie interessierte momentan nichts anderes, als mit Leo schnell wieder nach Hause und ins Bett zu kommen.

»Nein, ich glaube, nicht die ETA. Das sieht nach Al Kaida aus«, murmelte Leo. Er schüttelte den Kopf und vergaß, warum sie in den Laden gekommen waren.

Merle holte Kuchen und Sandwichs aus dem Kühlfach und griff im Vorbeigehen nach einer Flasche Gin. Wenn das mit dem Sex heute noch weitergehen soll, muss Leo sich erst mal entspannen, dachte sie.

Damals hatte sie sich nicht klargemacht, wie viele Menschen in Madrid betroffen waren, nicht nur die in den Abteilen, sondern auch die, die auf ein Lebenszeichen ihrer Angehörigen warteten. Nicht mehr als 16 Monate später wartete jetzt sie in Norwegen vor einem Fernseher, weil sie annahm, dass der Mensch, den sie am meisten liebte, Opfer eines solchen Terroranschlages geworden sein könnte. Sie konnte nicht weinen. Dies hier war zu schlimm.

Einige Zeit später hatte sie Gewissheit. Es waren Explosionen, die durch Bomben verursacht worden waren, Terroranschläge. Mittlerweile hatte sie bestimmt zwanzig Mal versucht, Leo auf dem Handy zu erreichen. Erst nach längerer Zeit kam sie auf die Idee, in der Praxis, in der Leo damals gearbeitet hatte, anzurufen. Die Leitung war nicht tot.

»Nein, Leo ist bisher nicht gekommen«, sagte Lucy am Empfang, die Merle noch von früher kannte. »Aber er wollte heute sowieso später anfangen, er hat erst ab dreizehn Uhr Patienten«, fügte sie hinzu. »Also muss er auch noch gar nicht hier sein. Er ist bestimmt zu Hause.«

»Nein, ich habe gerade vorhin mit ihm telefoniert. Er war in der U-Bahn auf der Circle Line. Und dann gab es einen Knall. Wohnt er noch in Camden? Früher ist er immer bis King's Cross auf der Northern gefahren und hat dann die Circle Line bis Kensington High Street genommen«, sagte Merle.

»Ja, er wohnt noch in Camden«, bestätigte Lucy, »und soviel ich weiß, fährt er immer noch so«, fügte sie leiser hinzu. »Aber warum sollte er jetzt schon dort unterwegs sein? Du kennst ihn doch, er steht nicht gern früh auf.«

»Ich weiß, aber vielleicht wollte er vor der Arbeit noch etwas erledigen?«

Lucys Stimme wurde noch leiser und war jetzt kaum zu verstehen.

»Mach dir keine Sorgen, dear. Er kommt sicher gleich. Und dann ruf ich dich sofort an, okay?«

»Gut«, antwortete Merle, jetzt etwas beruhigter. »Du hast sicher recht. Ich mache mir bestimmt zu viele Sorgen.«

»Sicher, Honey, ich melde mich sofort bei dir, wenn er hier ist – und schön, deine Stimme wieder zu hören«, fügte sie rasch hinzu.

Als Merle noch in London gelebt hatte, waren sie manchmal mit Lucy essen gegangen. Sie war zwar schon um die 50, aber nett und lustig.

»Weißt du, Leo ist bestimmt nichts passiert. Das habe ich im Gefühl. Er vermisst dich immer noch sehr«, setzte Lucy schnell und leiser hinzu. »Wie ist es in Norwegen?«

Jetzt klang ihre Stimme etwas spitz. Lucy konnte offensichtlich nicht verstehen, dass man so einen fantastischen Mann wie Leo einfach hatte verlassen und nach Norwegen zurückkehren können.

»Ich muss jetzt aufhören. Bitte melde dich, wenn du mehr erfährst. Ich lasse mein Handy an«, sagte Merle und legte auf.

Lucy hatte sie nicht sehr beruhigen können. Immer noch griff die Angst nach ihr und drückte ihr die Kehle zu. Sie war sich sicher, dass Leo in der Nähe der Bombe gewesen war.

Sie legte auf und starrte weiter auf den Bildschirm. Immer mehr erschreckende Bilder sah sie jetzt. Menschen, die mit blutverschmierten Gesichtern, notdürftig verbunden und überall mit Ruß bedeckt, gestützt auf Helfer aus den U-Bahn-Stationen kamen. Menschen mit Panik in den Gesichtern. Überall Krankenwagen. Dieses Kreischen der Sirenen, das einem den Gehörgang malträtierte. Frida hatte den Fernseher mittlerweile laut gestellt, als ob sie vergessen hätte, dass es die Touristen stören könnte, während ihres Urlaubes mit solch schrecklichen Nachrichten konfrontiert zu werden.

Die meisten blieben stehen und sahen auf den Bildschirm, diejenigen, die kein Englisch konnten, fragten, was geschehen war. Sie schüttelten den Kopf, aber blieben nicht lange. Sie unterhielten sich darüber, ob jemand in London war, den sie kannten, und atmeten erleichtert auf, weil sie das verneinen konnten. »Was für eine schreckliche Sache«, sagten sie dann noch, versuchten, ihre Kinder abzulenken, und verließen die Tankstelle, um ihren Tag in der norwegischen Idylle zu genießen, die sie sich ja ausgesucht hatten, um dem Alltag und den Abgründen der Zivilisation zu entfliehen.

Nur Merle blieb an dem weißen Campingtisch sitzen und trank mechanisch die Cola, die Frida ihr hingestellt hatte.

Was soll ich bloß tun? Ich werde verrückt, wenn ich hier den ganzen Tag sitzen bleibe und auf diesen Bildschirm starre, dachte sie. Was ist, wenn Leo sie brauchte, wenn er mit Verletzungen in ein Krankenhaus eingeliefert worden war? Wer würde sich um ihn kümmern? Seine anstrengende Schwester sicher, aber ihre hektische, ichbezogene Art würde nicht unbedingt zu seiner Genesung beitragen. Seine Mutter war zu weit weg, und sie würde auch bestimmt nicht seinetwegen aus Südamerika kommen. Sein Vater würde sicher kurz vorbeischneien, hätte aber nur wenig Zeit. Natürlich hatte Leo Freunde, die sich um ihn kümmern würden, aber ob das reichte? Was, wenn er allein dort liegen müsste und sich niemand um ihn kümmerte? Was, wenn sie irgendwann erfahren müsste, dass er vielleicht in so einem Krankenbett gestorben war? Was, wenn er jetzt schon tot war und verbrannt irgendwo unten im U-Bahn-Tunnel lag? Sie durfte so etwas nicht denken, sonst würde sie die Nerven verlieren. Er war nicht tot, nein, er lebte, das hatte Lucy doch auch gesagt. Sie konnte es spüren. Also musste es stimmen, Leo lebte.

Es war nicht anders möglich. Er gehörte nicht zu den Toten; sie wussten nicht, wie viele es überhaupt waren. Sie hatten noch keine genauen Zahlen. Warum konnte man in diesem Saftladen keine BBC rein bekommen?

Sie konnte nicht hier sitzen bleiben und warten. Sie musste etwas tun. Egal, wie sinnlos es hinterher auch erscheinen mochte.

Sie würde hinfliegen. Nach Kristiansand fahren und nach London fliegen. Einfach die erste Maschine nehmen.

»Ich fliege nach London«, sagte Merle.

»Wie, sofort?«

»Ja, ich fahre sofort zu meinen Eltern, ruf meine Mutter an. Ich muss meinen Ausweis holen und meine Kreditkarte. Meine Mutter soll am Flughafen in Kristiansand anrufen. Frida, mach das für mich«, sagte Merle mit schriller, atemloser Stimme.

»Gut«, sagte Frida. Wenn sie das Unterfangen für absurd hielt, ließ sie es sich zumindest nicht anmerken.

Merle erhob sich ruckartig. Jetzt, wo sie wusste, was sie tun musste, ging es ihr besser.

»Sag meiner Mutter, dass ich in zehn Minuten da bin, sie soll mir bitte schon eine Tasche packen, Waschzeug, Schuhe, Zeug zum Wechseln«, rief sie Frida noch zu.

Sie joggte zu ihrem Auto, das auf dem Parkplatz hinter der Schule stand. Beim Anlassen sprang die CD an, die sie zuletzt gehört hatte. Die Stimme von Silje Nergaard füllte den Innenraum ihres alten Kombis, den sie von ihrer Mutter übernommen hatte, kurz nachdem sie den Führerschein gemacht hatte, und der während ihrer Zeit in London in der Scheune gestanden hatte und regelmäßig von ihrem jüngeren Bruder Sondre inspiziert worden war, weil er hoffte, ihn zu bekommen, sobald er 18 wäre, falls Merle in London bliebe, wovon ja alle ausgegangen waren.

Es gab da ein Lied, das hieß Be still my heart. Darin ging es darum, dass jemand vorgibt, nichts mehr für seine große Liebe zu empfinden, die er vor kurzem wieder getroffen hat. Sie hatte das ganze Lied mitgesungen – inzwischen kannte sie es auswendig –, war die engen Kurven der Fjordstraße nach Spangereid so schnell gefahren, wie es nur Einheimische tun, und hatte von Leo geträumt und gehofft, dass er noch einmal anrufen und ihr dann sagen würde:

»Ich komme dich besuchen, in zwei Tagen bin ich da.«

Und jetzt flog sie mit der brennenden Hoffnung nach London, ihn dort unversehrt vorzufinden. Und was, wenn nicht? Sie wagte nicht, daran zu denken.

Sollte sie ihre große Schwester Malin anrufen und ihr erzählen, was sie vorhatte? Sie wohnte mit ihrem Mann in Mandal, vielleicht könnte sie es übernehmen, mit Merles Chef zu sprechen. Aber Malin war mit ihrem zweiten Kind im siebten Monat schwanger und hatte schon mehrmals Wehen gehabt. Sie musste sich schonen. Merle beschloss, es ihrer Mutter zu überlassen, Vater, Malin, Sondre und auch ihren älteren Bruder Kristoffer, der in Stavanger arbeitete, zu informieren. Sie würde sich sicher nicht zurückhalten können und nachher einen Familienrundruf starten und allen Bescheid sagen. Und dann würden sie anfangen, darüber zu diskutieren, ob es richtig oder falsch war, was Merle vorhatte.

Ihre Familie entsprach überhaupt nicht dem Klischee der schweigsamen Skandinavier. Sobald zwei Leute ihrer Familie zusammentrafen, wurde es laut mit viel Lachen, Schimpfen, Geschichtenerzählen, Klatschen. Die Frauen ihrer Familie konnten das noch besser als die Männer. Ihre Mutter wusste alles über die Leute aus Spangereid und den umliegenden Dörfern bis nach Vigeland, aber die Männer palaverten auch gerne, vielleicht nicht darüber, wer mit wem zusammen war und Kinder bekam, sondern wer welches Boot gekauft hatte, ob es etwas taugte und wer auf der Jagd was geschossen hatte.

Merle wusste, dass ihre Mutter sich in den vergangenen Monaten mehr als einmal gewünscht hatte, ihre Tochter würde diesen Leo, der ihr so offensichtlich das Herz gebrochen hatte, vergessen und sich den Junggesellen zuwenden, die in der Umgebung noch zu haben waren. Aber als ihrer Mutter klarwurde, dass sie Leo auch nach mehreren Monaten des Schweigens immer noch liebte, hörte sie auf, über verfügbare und nicht so komplizierte Männer Bemerkungen zu machen.