Michael Meyenburg - Paul Schreckenbach - E-Book

Michael Meyenburg E-Book

Paul Schreckenbach

0,0

Beschreibung

Ein historischer Lebensroman aus der Reformation, unter anderem mit Martin Luther selbst als Protagonisten. In seinen Veröffentlichungen setzte sich Schreckenbach mit den ethischen und patriotischen Fragen seiner Zeit auseinander. Als Grundlage dafür nutzte er reale historische Ereignisse, die er jedoch künstlerisch frei umgestaltete.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 423

Veröffentlichungsjahr: 2012

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Michael Meyenburg

Ein Lebensroman aus der Reformationszeit

Paul Schreckenbach

Inhalt:

Paul Schreckenbach – Biografie und Bibliografie

Michael Meyenburg

Erstes Buch.

I.

II.

III.

IV.

V.

VI.

VII.

VIII.

IX.

Zweites Buch.

I.

II.

III.

IV.

V.

VI.

VII.

VIII.

Drittes Buch.

I.

II.

III.

IV.

V.

Viertes Buch.

I.

II.

III.

IV.

Michael Meyenburg, P. Schreckenbach

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

ISBN:9783849635718

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Paul Schreckenbach – Biografie und Bibliografie

Deutscher Pfarrer und Schriftsteller, geboren am 6. November 1866 in Neumark (bei Weimar), verstorben am 27. Juni 1922 in Klitzschen bei Torgau. Sohn eines Pastors, studierte in Halle und Marburg Theologie und Geschichte und promovierte später zum Doktor phil. Ab 1896 arbeitete S. als Pfarrer in Klitzschen in der Nähe von Torgau. Der Autor ist bekannt für seine hervorragenden historischen Romane.

Wichtige Werke:

Bismarck, 1915

Der böse Baron von Krosigk, 1908

Die von Wintzingerode, 1905

Geistliche Lieder von Martin Luther, 1917

Der getreue Kleist, 1909

Der jüngste Tag, 1919

Der König von Rothenburg, 1910

Der Komtur, 1921

Kurfürst Augusts Abenteuer, 1921

Die letzten Rudelsburger, 1913

Markgraf Gero, 1916

Michael Meyenburg, 1920

Die Pfarrfrau von Schönbrunn, 1917

Sühne, 1923

Die Tat des Leonhard Koppe, 1916

Um die Wartburg, 1912

Der Weltbrand, 3 Bände, 1915-20

Die von Wintzingerode, 1905

Der Windmüller von Melpitz, 1914

Der Zusammenbruch Preußens 1806, 1906

Michael Meyenburg

Erstes Buch.

I.

In einem Garten, der sich vor den Mauern der Stadt Erfurt am Ufer der wilden Gera hinzog, saß ein etwa zwanzigjähriges Mädchen und wand Veilchen zu einem Kranze. Die Holzbank, auf der sie sich niedergelassen, stand unter einer hohen Bachweide hart über dem Rande des Flusses. Der machte zurzeit seinem Namen alle Ehre, denn die Regengüsse der Nacht hatten ihn mächtig geschwellt, so daß er schäumend und gurgelnd durch sein enges Bett dahinschoß.

Jenseits des Wassers standen zwei junge Männer und beobachteten die eifrig in ihre Arbeit Vertiefte. Sie hatten sich auf einem schmalen Wiesenpfade herangeschlichen und blickten nun durch die schon halbbelaubten Zweige des Gesträuches, das den Fluß umsäumte, nach dem Mädchen hinüber.

Der Ältere legte dem Jüngeren die Hand auf die Schulter und lachte. »Dein Pürschgang an diesem schönen, Frühlingsmorgen ist dir geglückt, Freund Michael«, sagte er und brauchte dabei wegen des Flußrauschens seine kräftige Stimme nicht allzusehr zu dämpfen. »Die du suchst, die ehrbare und tugendsame Jungfer Ursula Lachensper, dort sitzt sie in dem Garten ihrer Muhme, wie wir richtig vermutet haben. Nun gehe hinüber zu ihr. Der schmale Brückensteig wird nicht unter dir zusammenbrechen, so stark und gewaltig du auch einherschreitest, nicht wie ein Stadtschreiber, eher wie ein Fähnleinsführer des Herrn Jörg Frundsberg. Und nun gehab dich wohl. Zu dem, was nun wohl kommen wird, bin ich überflüssig.«

»Das bist du,« gab der Angeredete mit einem halben Lächeln zurück. »Und es ist löblich von dir gehandelt, Eoban, daß du hier nicht den Lauscher spielen willst, woran ich dich nicht hindern könnte.«

Der andere zuckte die Achseln. »Ich bin nicht neugierig. Schon oft habe ich gesehen, wie einer eine Maid umfängt. Zudem gelüstet mich's nicht, dessen Zeuge zu sein, wie mein bester Freund seines Lebens größte Narretei begeht.« Ohne der Unmutsfalte zu achten, die sich zwischen seines Freundes Brauen eingrub, fuhr er fort: »O Michael Meyenburg, Stadtschreiber der edeln Reichsstadt Nordhausen! Wärest du klug und weise, so flöhest du auf der Stelle mit mir von dannen. Wir setzten uns in das tiefe Kellergewölbe im Wirtshaus zum wilden Mann und tränken edeln Malvasier oder Muskateller, den du freilich bezahlen müßtest, denn meine Taschen sind leer. Dort verweilten wir, wie wir früher so manchmal getan, bis die silberne Luna schon fast den Rand des Himmels berührte. O Michael Meyenburg, so tätest du mit mir, wenn du weise und klug wärest! Aber ein vom Pfeile Kupidos getroffener Mann ist nicht weise und klug.«

Meyenburg lachte ärgerlich und schüttelte des Freundes Hand mit einem Ruck von seiner Schulter ab. »So sprachst du schon gestern abend, als ich dich heimwärts geleitete. Doch da hielt ich's dem Weine zugute. Jetzt aber sage mir ehrlich, was du gegen die Jungfer hast.«

»Nichts. Doch sie ist nicht nach meinem Geschmack.«

»Du bist sehr offen. Doch um so besser, denn dann kommt mir der berühmte Eobanus Hessus, der Poet, den alle Weiber lieben, bei ihr nicht ins Gehege. Aber warum ist sie nicht nach deinem Geschmack? Erscheint sie dir häßlich?«

»Nein. Sie ist nicht eben eine Venus, aber schlank und wohlgebaut, und ihre blonden Zöpfe stehen ihr gut. Sie könnte sich wohl sehen lassen neben den Weibern Nordhausens.«

»Oder weißt du etwas Übles von ihr?«

»Gott behüte! Ich weiß zuviel Gutes von ihr, und sie ist mir, mit einem Worte, viel zu fromm und herbe! Immer sittsam, immer züchtig die Augen geradeaus richtend, niemals nach einem guten Gesellen äugend, der die Straße daherkommt. Fischblut ist in solchen Weibern, und diese Art ist mir zuwider. So eine möchte ich nimmermehr zu meinem Liebchen machen!«

Michael Meyenburg lachte von neuem, diesmal aber keineswegs geärgert. »Ich will sie nicht zu meinem Liebchen machen, sondern zu meiner Ehefrau. Da ist mir's recht, daß sie nach keinem anderen äugt, denn nach mir allein, und sie wird recht als Herrin in ein Haus passen, in dem so lockere Vögel aus und ein gehen, wie du und Hune und die anderen Poeten.«

»Warte, bis du sie hast,« knurrte Eobanus Hessus. »Ich fürchte, bis dahin wird noch viel Wasser die Gera hinunterfließen.«

In Meyenburgs Augen leuchtete es auf. »Ich acht', ihrer bin ich sicher! Eine Maid wie die ist nicht heute so, morgen anders.«

»Darin magst du wohl recht haben. Aber sie hat nicht über sich zu bestimmen, solange ihr Vater lebt. Den hast du noch nicht kennen gelernt, als du vorigen Winter hier warst in deines Rats Geschäften und sie bei ihrer Muhme sahest und mit ihr anbändeltest.«

»Nein, ihn habe ich noch nicht gesehen, denn er lag damals schwer krank,« versetzte Meyenburg.

»Und ich möchte dir wünschen, wenn du nun einmal das Heiligenbild, seine Tochter, heimführen willst, er wäre nimmer wieder aufgestanden. Denk' ich an ihn, so kommt mir's auf die Zunge wie Essig und Galle.«

»Ja, er soll ein sauertöpfischer Mann sein. Aber was tut's? Ich heirate nicht ihn, ich heirate seine Tochter, und zwischen Nordhausen und Erfurt liegt halb Thüringen.«

»Erst mußt du sie haben, lieber Michael, und ich fürchte, er wird sie dir weigern.«

Meyenburg erblaßte, aber dann warf er den Kopf trotzig in den Nacken. »Dann werde ich ihn anderen, Sinnes machen.«

»Das wird dir schwer werden. Denn du weißt es ja: der alte Dotheus Lachensper ist ein böser Narr. Er hängt starr und zäh am Alten, alles Neue ist ihm verhaßt. Mit sonderlichem Hasse aber streitet er gegen das neue Licht, das mit unserem Martinus in die Welt gekommen ist. Wer ihm der Lutherei verdächtig ist, den stößt er von der Schwelle seines Hauses hinweg. Seine erste Frage wird sein, wenn du um seine Tochter freiest: Wie haltet Ihr Euch zu der neuen Ketzerei? Seid Ihr Freund oder Feind des Mannes, der die Christenheit in zwei Lager spaltet? Was willst du darauf sagen, Michael? Willst du Luther verleugnen?« »Verleugnen?« erwiderte Meyenburg finster. »Ein Jünger verleugnet seinen Meister. Ich aber bin sein Jünger nicht, wie du und Crotus und Justus Jonas. Ich lobe an ihm, daß er den Mönchen an die Bäuche greift, und daß er gegen den Ablaß schreibt und gegen die Steuern, die wir über die Alpen schicken müssen, um die Römer zu mästen. Darüber aber erzürnen sich alle, die gute Deutsche sind. Sonst bedünkt mich manches an seiner Lehre hochgefährlich – aber verwünscht! Ich habe über unsern Reden die Zeit versäumt. Sie ist nicht mehr allein!«

Er wies auf ein Kind, ein etwa zehnjähriges Mädchen, das eine Menge bunter Frühlingsblumen in seiner Schürze tragend, über den schmalen Holzsteig in das Gärtlein schritt. Es mochte die Blumen wohl in der Nähe auf einer Wiese gepflückt haben.

»Das ist die kleine Anna Reinecke, des Hüttenherrn aus Mansfeld Tochter,« sagte Eobanus Hessus. »Sie wohnt bei der Muhme deiner Erkorenen, weil in Mansfeld zurzeit eine Seuche ist. Der Reinecke ist Luthers Freund, darum darf das Kind dem alten Lachensper nicht ins Haus und sieht ihre Base hier in der Muhme Garten nur verstohlen. Potz Wetter, was ist das für ein feines Maidlein! Leben in jeder Fiber und Augen wie Sternlein! So denke ich mir die Sylphiden, von denen die Alten erzählen. Wenn die zehn Jahre älter ist, wird sie manchem den Kopf verdrehen! Unser Justus Jonas sagt, ein lieblicher Kind wäre ihm noch nicht vor die Augen gekommen.«

»Ach, wäre sie mir jetzt doch so weit aus den Augen, wie der Himmel blau ist!« erwiderte Meyenburg im Tone des tiefsten Verdrusses. »Nun kann ich nicht mit der Ursula reden, wie ich möchte!«

»Nimm's als Zeichen des Schicksals, Freund!« raunte Eobanus Hessus. »Tue wie die weisen Männer des Altertums, die niemals gegen die Prodigia handelten. Du kriegst die Jungfer doch nicht, denn wenn du auch nur in einigen Punkten mit Martinus zusammenstimmst, gibt sie dir der Alte nicht. Du weißt nicht, welch ein blindwütiger Narr er ist. Schlage sie dir aus dem Sinn, Michael! Kehre mit mir um, so sparst du dir großes Leid und unendlichen Verdruß!«

»Torheit!« erwiderte Meyenburg kurz. »Ich bleibe hier und harre. Wie das Kind gekommen ist, so kann es auch wieder gehen, und ich rede doch noch mit ihr unter vier Augen. Morgen muß ich ja schon weiter auf die Fahrt nach Worms. Heute ist der einzige Tag, der mir bleibt, da ich gestern erst einritt, als es schon dunkelte.«

»So bleibe,« sagte Eobanus ruhig, und ernster, als es sonst in seiner Art lag, setzte er hinzu: »Da du also auf deinem Sinn beharrst, so wünsche ich dir Glück als dein Freund. Möge alles sich zum besten kehren!«

Er schlug ihm noch einmal leicht auf die Schulter, dann wandte er sich rasch ab und schritt über die Wiese, die eben das erste Grün zeigte, der Stadt zu. Das rotwangige Antlitz des weinfrohen Poeten mit den lachenden Augen trug einen Zug unmutigen Ernstes, der ihm sonst fremd war. Denn Michael Meyenburg war ihm ein lieber Freund von der wilden und lustigen Studentenzeit her, die sie beide in Erfurts Mauern verlebt hatten. Auch jetzt noch war er ihm einer der Menschen, die ihm am nächsten standen, und denen er alles Gute gönnte. Nichts störte ihn an dem jüngeren Freunde, als daß er sich noch spröde und kühl verhielt zur Sache Luthers, die ihn, den Leichtbeweglichen, schnell Begeisterten, schon seit Jahr und Tag ganz hingenommen hatte. Welche Dienste hätte Meyenburg ihr leisten können in seiner Stadt, wo er trotz seiner Jugend schon so hohes Ansehen genoß! Nun kam er in Gefahr, ihr ganz entfremdet zu werden, denn der alte Lachensper, das stand fest, würde nie einen Mann als Eidam begrüßen, der sich nicht streng zur alten Lehre hielt. Schon der Vater des Alten hatte Heiligenbilder, Rosenkränze, Kruzifixe, Monstranzen und andere Dinge des kirchlichen Gebrauchs verfertigt. Der Sohn, der – man wußte eigentlich nicht wie – zu Gelde gekommen war, hatte das Geschäft sehr vergrößert, so daß die Erzeugnisse seiner Werkstatt bis nach Pommern und Schlesien, ja bis zu den Ungarn und Polen wanderten. Er war dadurch ein reicher Mann geworden, man munkelte, obwohl er ganz eingezogen und einfach lebte, er sei einer der reichsten Leute im reichen Erfurt. Nun drohte die neue Zeit, die der Augustiner von Wittenberg heraufführte, ihm das ganze Geschäft zu verderben. Die Nachfrage nach Heiligenbildern und Rosenkränzen ward immer geringer, und schon sagten manche Leute, das Geld, das man dafür ausgebe, könne man ebensogut zum Fenster hinauswerfen und solle es lieber den Armen geben. Herr Dotheus Lachensper war sogar schon mit seinem Kram von einigen Heißspornen verhöhnt worden, und das war ihm geschehen in der Trinkstube, wo er seit dreißig Jahren seinen Abendtrunk zu nehmen und das große Wort zu führen pflegte. Die Spötter waren zwar vom Rate um je einen Gulden gestraft worden und hatten eine ernstliche Verwarnung erhalten. Aber Herr Dotheus mied trotzdem seit jenem Tage die Stätte, wo ihm der Schimpf geschehen war, und seit seiner letzten Krankheit war er ganz menschenscheu geworden. Er sollte sich, wie man hörte, kasteien wie ein Mönch, fasten, beten, sogar sich geißeln, und niemand ging mehr bei ihm aus und ein als die Brüder vom Dominikanerorden, besonders der duckmäusrige Magister Ortuinus.

Eoban Hessus blieb stehen, denn ein neuer Gedanke schoß ihm durchs Hirn. Wenn Freund Michael etwa meinte, eine reiche Maid zu freien, so täuschte er sich vielleicht gewaltig. Denn der Alte war wohl imstande, den größten Teil seiner Habe dem Orden des Heiligen Dominikus zu vermachen. Ein sonderlich zärtlicher Vater war er ja nie gewesen, und es war ihm wohl zuzutrauen, daß er in seinem letzten Willen die Kirche als Haupterbin seines Vermögens einsetzte und seine Tochter mit einem geringen Leibgedinge abfand. Solche Fälle waren nicht selten, denn die frommen Väter wußten ihre Beichtkinder mit den Qualen des Fegefeuers und der Hölle weidlich zu ängstigen.

Er überlegte, ob er nicht zurückgehen und seinem Freunde dieses Bedenken mitteilen sollte. Aber er schüttelte den Kopf und kehrte nicht um. Alle seine Worte, so überlegte er, würden ganz in den Wind geredet sein, denn Michael Meyenburg wollte nicht des Alten Geld und Gut, er wollte seine Tochter. Verliebte Leute aber muß man laufen lassen, denn je mehr man ihnen in den Weg legt, um so eigensinniger steuern sie auf ihr Ziel los und sind jeder wohlgemeinten Warnung unzugänglich. Darum setzte Herr Eobanus Hessus seinen Weg nach einigem Zaudern fort und begab sich unter mehrfachen schweren Seufzern in den wilden Mann, wo er seinen Unmut und Kummer in einem Kruge fränkischen Weines zu ertränken gedachte. Die freundliche Wirtin, das wußte er, würde ihm die Zeche liebevoll ankreiden, denn sie war ihm sehr gewogen.

Michael Meyenburg hatte inzwischen seinen Platz verlassen und hatte sich leise und langsam näher geschlichen. Er stand jetzt, gedeckt durch eine hohe Weide, der Jungfrau so nahe, daß nur das sprudelnde Flüßchen zwischen ihm und ihr lag. So konnte er hören, was drüben gesprochen wurde, und was er da vernahm, das erregte ihn aufs höchste.

Das Kind hatte sich vor der Jungfrau niedergekauert und ließ sich von ihr den fertigen Veilchenkranz auf das dunkle Haupt setzen. »Nun mache du dir einen Kranz, Base Ursula!« rief es mit seiner seinen, hellen Stimme. »Dir müssen die Veilchen auf deinem gelben Haar weit besser stehen als mir.«

Ursula bewegte abwehrend das Haupt. »Was soll mir ein Kränzlein!« sagte sie herbe.

»Andere Jungfern tragen doch auch Kränze im Haar!« widersprach das Kind. »Warum du nicht? Und warum ziehst du immer so ein dunkles Kleid an? Du siehst aus, als wärest du ein Nönnchen.«

Ursula antwortete zuerst nicht. Dann sagte sie traurig, aber mit klarer Stimme: »Das soll ich ja auch werden.«

Meyenburg fuhr zusammen, und es fehlte nicht viel, so hätte er aufgeschrien. Das also hatte der Alte mit seiner Tochter vor! Es wurde ihm dunkel vor den Augen, und er krallte die mächtigen Hände so fest in die alte Weide hinein, daß das morsche Holz splitternd zerbrach.

»Du ein Nönnchen?« hörte er wieder des Kindes helle Stimme sagen. »Willst du denn?«

»Nein. Ich soll.«

»Wer will es?«

»Mein Vater.«

Meyenburg knirschte mit den Zähnen. Da stand ihm ja ein harter Kampf bevor.

»Mein Vater hat gesagt,« erklang wieder die Stimme der kleinen Anna, »es gibt bald keine Mönche und Nonnen mehr. Der Doktor Luther will alle Klöster abschaffen.«

Ursula erwiderte etwas darauf, was Meyenburg nicht verstand. Die Kleine aber rief eifrig: »Mein Vater weiß das ganz genau, denn er kennt den Doktor Luther sehr gut. Er ist mit ihm in die Schule gegangen.«

Eine Weile war es still drüben, dann rief das Kind trotzig: »Und du wirst keine Nonne! Und du sollst doch ein Kränzlein tragen! Ich will es! Bleibe hier sitzen, ich hole noch Blumen.«

Damit sprang sie auf und stand gleich darauf über dem Wasser auf dem schmalen Steg. »Ein Buttervogel! Der erste in diesem Jahr!« rief sie jauchzend und streckte ihre Ärmchen nach dem goldgelben Falter aus, der vor ihr in den Lüften gaukelte.

»Um Jesu Willen!« rief Ursula erschrocken. »Komm her zu mir, du fällst!«

Die Kleine hatte in der Tat das Gleichgewicht verloren und schwankte auf dem schmalen Baumstamme hin und her. Sie griff in die Luft, als wolle sie einen Halt suchen.

In demselben Augenblick sprang Meyenburg aus seinem Versteck hervor und rannte in mächtigen Sätzen dem Stege zu. Ursula erkannte ihn, und es war, als ob sie selber wanke. Dann aber schrie sie entsetzt: »Helft, Herr Michael!« Doch ehe er heran war, glitt die Kleine ohne einen Laut hinab in die gurgelnde Flut.

Ursula war in die Knie gesunken. Wie durch einen Nebel sah sie, daß der Mann dem Kinde nachsprang, es an sich riß und sich dann mühsam aus der Flut emporrang. Die Kleine war bewußtlos und hatte in der Todesangst den Hals ihres Retters so fest umkrallt, daß die Händchen nicht zu lösen waren.

Ursula erhob sich langsam von den Knien, als er vor ihr stand. Sie zitterte und war keines Wortes mächtig. Sie sah ihn nur unverwandt mit großen Augen an. Dann stammelte sie: »Wo kommt Ihr her?«

Meyenburg ergriff ihre Hand. »Das sage ich dir nachher, liebe Ursula. Jetzt zu deiner Muhme! Das Kind muß ins Bett, und gebt ihm ein warmes Tränklein. Es kann sonst den Tod davon haben.«

Mit fliegenden Schritten eilten beide nach der Stadt und durch die enge Gasse, die zum Hause der alten Barbara Lachensper führte. Die empfing sie mit einem großen Lamento, wie es sich für eine alte Frau bei einem solchen Abenteuer von selbst verstand, und lud dann mit überschwenglichem Danke den Retter ihrer lieben Großnichte ein, bei ihr zu Abend zu essen. »Und Ursula, du kommst auch,« setzte sie hinzu.

»Das wird der Vater schwerlich erlauben,« erwiderte die Jungfrau bekümmert.

»Ich werde selber zu ihm gehen und ihn bitten,« sagte die tatkräftige, bewegliche Greisin, die längst wußte, was sich in ihrem Hause angesponnen und wie es um beide stand. Sie kannte den Michael Meyenburg von seiner Studentenzeit her und war ihm sehr wohlgeneigt. »Jetzt aber schnell nach Hause, Stadtschreiber, und trockene Kleider angelegt! Sonst verlieren die Nordhäuser ihren zukünftigen Bürgermeister,« mahnte sie.

Eine Stunde später saß sie mit Ursula an dem Bett des fieberglühenden Kindes, das immerfort davon erzählte, der Erzengel Michael habe es aus dem Wasser gezogen, und nicht davon zu überzeugen war, daß ihr Retter ein Mensch von Fleisch und Blut gewesen sei. »Er hatte so glänzende Haare und so lichte Augen!« phantasierte sie, »und Ursula hat ihn ja auch so gerufen!« Dabei blieb sie, und mit einem strahlenden Lächeln schlief sie endlich ein.

II.

Mit ziemlich trübseliger Miene saß am Abend Michael Meyenburg seiner Gastgeberin gegenüber, obwohl sie alles getan hatte, ihn trefflich zu bewirten. Fleisch stand nicht auf dem Tische, denn es war Freitag, und Frau Barbara hielt die Fasten inne. Aber der gebackene Fisch, den sie ihm vorgesetzt hatte, war groß genug, sechs hungrige Landsknechte zu sättigen, und der Wein, den ihm die treffliche Frau aus bauchigem Kruge in sein Kelchglas goß, war mehr als gut. Aber Ursula war nicht erschienen.

»Es war mit dem alten Dickkopf nichts zu machen!« rief Frau Barbara zornig. »Seine Tochter, sagte er, solle am Abend zu Hause bleiben, es gäbe genug für sie zu spinnen und zu nähen. Und als ich ihn dringlich bat, wurde er fast grob und hätte mir beinahe die Tür gewiesen.«

Meyenburg antwortete nur mit einem tiefen Seufzer.

»Nun, Ihr braucht deshalb noch nicht ein Gesicht zu machen, als wäret Ihr ein Leichenbitter,« sagte sie. Dann schlug sie mit ihrer runden, fleischigen Hand auf den Tisch und rief entschlossen: »Wir wollen offen miteinander reden, Herr Michael. Ich bin Euch gewogen, und die Ursula ist mir fast so lieb wie mein eigen Kind. Ihr wollt sie, und sie will Euch, und ihr beide paßt auch zusammen. Helfe ich euch dazu, so tue ich nur ein gutes Werk, und daß ich dabei dem alten Esel, meinem Vetter, ein Schnippchen schlage, ist mir ein absonderliches Vergnügen. Es ist mit dem Menschen nicht mehr auszuhalten. Ich bin auch fromm und gehe in der Woche dreimal zur Messe und jeden Monat einmal zur Beichte. Aber wie er es jetzt treibt, das ist zu arg. Und möcht' er's meinetwegen treiben, wie er wollte, wenn er nur der Ursula nicht alle Lust und Freude nähme! Nichts darf das arme Mädchen haben, was die Jugend erfreut. So kann und darf es nicht weitergehen. Die Ursel muß aus dem Hause, und sie ist ja auch gut und gerne so alt, daß sie heiraten kann. Ich war noch ein Jahr jünger. Und so helf' ich Euch, wahrlich, ich helfe Euch!«

Meyenburg faßte ihre Hand mit festem Drucke. »Ich danke Euch, liebe Frau Barbara. Ich werde Eure Hilfe gar sehr brauchen können. Denn Euer Vetter geht ja wohl gar mit dem Gedanken um, seine Tochter ins Kloster zu bringen.«

Frau Barbara blickte ihn betroffen an. »Das wißt Ihr? Woher könnt Ihr das wissen? Redet man darüber in der Stadt? Haben's Eure Freunde Euch geschrieben?«

»Ich habe es aus Ursulas eigenem Munde. Als ich mich heute früh dem Garten näherte, wo ich sie suchte, hörte ich, wie sie es der Kleinen erzählte, die ich nachher aus dem Wasser zog. Und ich muß Euch sagen: auch wenn ich nicht an das denke, was mir geschähe, so finde ich's abscheulich, wenn ein Vater seine Tochter wider ihren Willen ins Kloster zwingt.«

»Nun, nun!« erwiderte Frau Barbara beruhigend. »So weit ist's noch nicht, und da ist noch nicht aller Tage Abend. Er hat davon gesprochen, und die Ursel ängstigt sich damit. Sie hat einen Schauder davor, und sie paßt auch gar nicht hin, denn sie hat ein Herz voller Liebe. Wenn die Schwestern im Kloster kleine Kinder warten und pflegen täten, so paßte sie vielleicht hin. Aber bei dem Beten und Singen und Nichtstun – was sollte sie da mit ihrem liebevollen Gemüte? Sie müßte verkümmern.«

»Recht habt Ihr!« rief Meyenburg mit starker Stimme und ballte die Fäuste. »Und deshalb, nehmt mir's nicht für ungut – Ihr seid ihm ja auch nicht hold – habe ich einen Zorn auf ihren Vater, den ich gar noch nimmer gesehen habe. Denn früher, als ich hier Schüler war, habe ich nicht auf ihn geachtet.«

»Ich kann's Euch nicht verdenken. Aber klüger wär's schon. Ihr suchtet ihn für Euch zu gewinnen. Und ich meine, das müßte Euch gelingen. Denn ich will Euch nicht schmeicheln, Herr Michael, aber Ihr wißt die Leute für Euch einzunehmen wie kein anderer. Alle Leute haben Euch gern. Der Himmel mag wissen, wie das zugeht, denn Ihr tragt keinen Honig auf den Lippen, seid vielmehr manchmal recht kurz und geradezu. Es mag wohl an Eurer äußeren Gestalt liegen. Wißt Ihr, daß Ihr heute auch noch ein Weiberherz erobert habt?«

Meyenburg blickte sie verwundert an. »Die kleine Anna ist's, die bei mir wohnt,« fuhr Frau Barbara fort, »sie hielt Euch für einen Engel. Sie meint, der Engel Michael habe sie aus dem Wasser gerettet.«

Meyenburg lachte laut auf. »Mit dem habe ich leider nichts als den Namen gemein! Bin kein Engel, will auch keiner werden, stehe fest in meinen Schuhen auf der Erde.«

»Das Kind ist ganz vernarrt in Euch. Hat den ganzen Tag geplappert von Euren Haaren, die wie Gold schimmerten, wo hingegen sie mir nur braun erscheinen, und von Euren Augen, die wie Sterne leuchten sollen. Die Ursel konnte ihr nicht einreden, Ihr wäret ein Mensch von Fleisch und Blut. Wüßte sie, daß Ihr hier seid, sie käme im Hemdlein heruntergelaufen, Euch zu bestaunen. Aber sie schläft jetzt fest, das wunderliche, schwärmerische Kind. Doch wohin bin ich geraten? Was wollt' ich sagen? Ja so – Ihr solltet den alten Dotheus besuchen. Ich wette. Ihr gefallt ihm. Setzt Euch in seine Gunst; wenn Ihr zurückkehrt vom Reichstage, so sucht Ihr ihn wieder auf!«

»Ich bin morgen von früh an auf dem Rathause in Geschäften und wohl den ganzen Tag über nicht mein eigner Herr,« erwiderte Meyenburg. »übermorgen aber fahren wir von dannen. Sonst würde ich Eurem Rate folgen. Er ist nicht schlecht.«

»So geht gleich zu ihm hin. Noch ist es nicht zu spät. Bleibt ein Stündlein dort, und dann kommt wieder zu mir und erzählt mir, was Ihr ausgerichtet habt. Kauft ihm einen Rosenkranz ab, so führt Ihr Euch bei ihm aufs beste ein.«

Meyenburg erhob sich lachend. »Ihr seid ein listig Weiblein, Frau Barbara, und ich folge Euch. Ein Bild meines Schutzpatrons bestell' ich bei ihm. Das mag er mir aus Holz schnitzen. Komm ich dann zurück aus Worms, so nehme ich's mit mir und dringe so zum anderen Male in sein Haus. Die paar Gulden sollen mich nicht gereuen.«

Er bot ihr die Hand. »In einem Stündlein bin ich wieder bei Euch!«

Als er schon die Klinke der Tür in der Hand hielt, trippelte die Alte ihm nach und faßte ihn beim Arm. »Noch eins!« rief sie eifrig. »Bald hätt' ich's Euch zu sagen vergessen. Im Winter waret Ihr noch kein Freund des Mönches, der jetzt das Volk allüberall aufregt und fast toll macht. Seid Ihr's etwa seitdem geworden?«

Über Meyenburgs Antlitz flog ein Schatten, und seine Brauen zogen sich finster zusammen. »Ich bin es nicht. Aber Frau, das leugne ich nicht: er hat in manchen Stücken recht.«

»Ja, ja! Die Mönche und Pfaffen leben zu ärgerlich. Strafte er nur das, so hätte er recht. Aber er geht zu weit, viel zu weit!«

»Das eben scheint mir auch!« versetzte Meyenburg.

»Das ist gut! Das ist gut!« sagte Frau Barbara eifrig.

»Denn merkt es wohl: ein Wort zu seinen Gunsten, und Ursulas Vater ist Euch gram. Er haßt keinen Menschen so wie den Martin Luther.«

»Ich werde mich vorsehen, ihn darauf zu bringen,« erwiderte Meyenburg, verließ das Zimmer und gleich darauf das Haus.

Auf der Straße pfiff ihm ein scharfer Wind entgegen, so daß er sich fest in seinen Mantel hüllte. Es war fast dunkel, denn eigentlich sollte der Mond scheinen, und deshalb hatte der Rat der Stadt die Laternen nicht anzünden lassen, die sonst bis in die zehnte Stunde die Gassen notdürftig erhellten. Nur ganz undeutlich hoben sich rechter Hand die spitzen Türme der Severinkirche vom nächtlichen Himmel ab. Michael Meyenburg aber kannte in Erfurt, wo er drei Jahre lang Student gewesen war, jeden Winkel und schritt sicheren Ganges durch die menschenleeren Gassen dahin. Beim Dom herüber hallten acht dumpfe Klänge durch die Nacht.

»Schon so spät?« murmelte Meyenburg. »Es sollt' mich nicht wundern, wenn der Alte um diese Stunde keinen mehr in sein Haus einließe!«

Hinter ihm kam ein Trupp Studenten die Gasse herauf. Sie sangen mit gedämpfter Stimme ein lateinisches Trinklied, das ihm wohlbekannt war. Jeder trug ein Windlicht in der Hand, denn ein Bursche, der ohne Licht nach Einbruch der Dunkelheit auf der Straße angetroffen wurde, war einer Pön von fünf Groschen verfallen, wenn ihn des gebietenden Rates Stockknechte faßten.

Die Schar strebte dem Hause zum Heiligen Georg zu. Das war ein großes massives Steingebäude, dessen rote Sandsteinmauern die Gera bespülte. Das Haus, über dessen Tür das Bild des streitbaren Erzengels in Stein gehauen stand, war eine der »Bursen«, der Massenquartiere, in denen die Hochschüler nach einer fast klösterlichen Regel zu leben gezwungen waren. Freilich wurden die Regeln in den Bursen ebensowenig oder noch weniger streng innegehalten wie in den meisten Klöstern, und Meyenburg erinnerte sich manch fröhlicher Stunden, die er mit seinen Freunden in dieser Burse erlebt hatte. Nur zum Besuch hatte er zuweilen in ihren Mauern geweilt, denn seine Mittellosigkeit zwang ihn, in einer bescheideneren Burse zu leben. In Sankt Georg wohnten nur solche junge Leute, die nicht auf Benefizien angewiesen waren. Auch der Mann, von dem jetzt die ganze Welt sprach, hatte als Erfurter Student in der Georgenburse gewohnt, dieweil ihn sein Vater, der Mansfelder Hüttenherr und Viertelsmeister, auf der Universität allezeit stattlich und löblich gehalten.

Wunderlich! dachte Meyenburg, während er langsam weiterschritt. Wie man doch immer und überall an ihn erinnert wird, zumal in dieser Stadt! In den Bürgerhäusern, auf den Straßen, in den Trinkstuben reden die Leute von nichts anderem als von ihm. Allenthalben erhitzen sich die Köpfe darüber, ob er nach Worms fahren werde oder nicht. Er wird's wohl bleiben lassen, meine ich. Denn täte er's, so wäre er doch allzu kühn. Der Scheiterhaufen des Johannes Huß wird ihn wohl abschrecken, sich in des Löwen Höhle zu wagen. Hatte nicht auch der Böhme vom Kaiser freies Geleit gehabt, als er vor mehr denn hundert Jahren gen Kostnitz gezogen war? Und doch hatte es ihn nicht geschützt. Den neuen Huß würde es auch nicht schützen.

Plötzlich blieb er stehen und blickte erschrocken um sich. Der Name des Mannes, mit dem sich seine Gedanken beschäftigten, klang laut und deutlich an sein Ohr. Hatte er selbst ihn ausgesprochen? Nein, jetzt hörte er ihn zum zweiten Male. Er kam aus dem Munde eines der Burschen, die jetzt vor ihrer Burse angelangt waren und nun in dichtem Knäuel vor ihrer Tür standen. An deren braunem Getäfel war in Manneshöhe ein Zettel angeheftet, und der Jüngste der Schar las, seine Laterne hoch emporhebend, den anderen vor, was auf ihm geschrieben stand. Bei einigen Stellen erhob er seine Stimme, so daß der auf der Brücke der Gera Stehende halbe Sätze verstehen konnte. Als er geendet hatte, erhob sich ein drohendes Murren unter seinen Zuhörern, und einige Kraftworte erklangen, die an Derbheit nichts zu wünschen übrig ließen.

Meyenburg kehrte sich um und trat an die aufgeregte Gruppe heran. »Was habt ihr da, gute Gesellen?«

Die Burschen lachten und schrien durcheinander. Der älteste unter ihnen aber, ein Mann in einem pelzverbrämten Talar, wahrscheinlich ein Baccalaureus, wandte sich zu dem Fragenden langsam um, öffnete einen großen Mund und sprach mit Würde und Salbung: »Ein kaiserlich Mandatum haben wir hier, lieber Herr, ein kaiserlich Mandatum, Martinum Lutherum betreffend. Nun wissen wir, weshalb uns der Erzpfaffe Ortuinus vorhin mit etlichen Knechten begegnete. Sie haben dieses Papier hier angeheftet und werden das noch an vielen Orten tun. Am Tage hätten sie's schwerlich gewagt, aber haec est vestra hora et potestas tenebrarum, sprach unser Herr Christus zu denen, die mit Schwertern und Stangen in der Dunkelheit kamen, ihn zu fangen. Dies ist eure Stunde und die Gewalt der Finsternis, so heißt das, lieber Herr, so Ihr etwa des Lateinischen nicht kundig sein solltet. Und wisset, dieses Papier gebietet, daß männiglich die Bücher und Schriften des Wittenberger Doktors ausliefern soll bei schwerer Strafe.«

Der Sprecher schien bei seinen Gefährten in großem Ansehen zu stehen, denn während seiner Rede waren sie verstummt. Jetzt aber erhob sich das wilde Murren von neuem, und eine Stimme schrie: »Reißt das Ding in Fetzen! Werft es in die Gera!«

Laute Beifallsrufe folgten diesen Worten, und ein kleiner kugelrunder Scholar sprang an der Türe in die Höhe und suchte den Zettel zu erfassen, konnte ihn aber nicht erreichen. Die anderen lachten und johlten, und einige gellende Pfiffe wurden laut.

»Laßt das lieber unterwegs, gute Gesellen!« ermahnte Meyenburg. »Der Rat würde dem heftig zürnen, der ein Mandatum des Kaisers zerreißt und verhöhnt.« Aber seine Rede fand bei den erhitzten Köpfen keinen Anklang. »Der Rat?« schrie die vorige Stimme. »Dem ergeht es, wie weiland dem von Nürnberg: er hängt keinen, er hätte ihn denn. Und hätt' er ihn, so hängt er ihn noch lange nicht. Haben wir nicht auch die Bulle mit dem Banne gegen Martin Luther, die Doktor Eck –« »Dreck! Dreck! Dreck!« fiel auf einmal der ganze Chor ein, als habe er auf ein Stichwort gewartet, und dann folgte ein brausendes Gelächter.

Michael Meyenburg wickelte sich fester in seinen Mantel und trat in das Dunkel zurück. Schon wurden hier und da in der Nachbarschaft die Türen der Häuser geöffnet, und neugierige Bürger traten auf die Schwellen, um zu sehen, was es gebe. Auch wurde die Tür der Burse von innen aufgetan, und andere Scholare, angelockt von dem Lärm, strömten heraus. Er sah ein, daß hier alles Warnen vergeblich sei, und daß des Kaisers Mandat das Geschick der päpstlichen Bulle teilen werde, die von den Erfurter Studenten in die Gera geworfen worden war. Das zu verhindern stand nicht in seiner Macht, auch ging ihn die ganze Sache eigentlich nichts an. Aber unmutig murmelte er vor sich hin: »Ein unordentlich Wesen überall! Wie soll das enden!«

Eine halbe Minute später stand er vor dem Hause, das der Vater seiner Liebsten sein eigen nannte. Es war nach dem letzten großen Brande, der die Stadt verheert hatte, neu aufgebaut worden, nicht von Holz und Lehm, wie die meisten anderen in der Straße, sondern von Stein, auch war es nicht, wie alle seine Nachbarhäuser, mit Schindeln oder Stroh, sondern mit roten Ziegeln gedeckt. Sein ganzes Aussehen zeugte von Wohlstand, ja vom Reichtum seines Besitzers.

Eine ganze Weile stand Meyenburg nachdenklich vor dem Hause, ehe er den Türklopfer ergriff, der an einer eisernen Kette herabhing. Dann tat er drei kräftige Schläge gegen das Metallschild, das in der Mitte der Tür befestigt war. Er brauchte nicht lange zu warten. Leichte Schritte auf den Steinfließen der Hausdiele wurden hörbar, der Riegel ward zurückgeschoben, und gleich darauf stand Ursula in der Tür, mit der Linken ein Licht hoch über ihrem Haupte haltend.

Als sie ihn sah, ward sie weiß wie ein Linnen und begann heftig zu zittern. »Woher kommst du?« stammelte sie. »Was willst du? Um Gotteswillen! Ich bin nicht allein zu Haus! Wenn dich der Vater sieht!«

Meyenburg antwortete dadurch, daß er sie umfing und küßte. »Sei ruhig,« flüsterte er. »Eben zu deinem Vater will ich.«

Sie wich erschrocken zurück. »Was willst du bei ihm?«

Meyenburg blies das Licht aus, das sie in der Hand trug. Dann umfaßte er sie aufs neue und raunte ihr zu: »Ich will ihn kennen lernen, vor der Hand weiter nichts. Aber ich will den Mann sehen, dessen Eidam ich werden will, und ein Vorwand ist ja leicht gefunden.«

»Ach Michael, laß mich los! Wenn du wüßtest« – rang es sich von ihren Lippen.

»Ich weiß alles! Die Muhme hat mir's gesagt. Wenn ich heimkehre von Worms, bleibe ich etliche Tage hier, und dann werde ich schon deinen Vater zum Guten bekehren. In drei oder vier Wochen bin ich zurück.«

»Derweilen kann viel geschehen,« sagte sie und entwand sich seinen Armen. Auch er trat von ihr abseits, denn hinter ihm im Dunkel öffnete sich eine Tür, aus der ein heller Lichtschein drang, und eine scharfe Stimme fragte: »Wer ist da? Warum ist kein Licht?«

»Ein Windstoß löschte es aus, Herr. Erlaubt, daß ich zu Euch eintrete, trotz der späten Stunde. Aber mein Anliegen hat Eile, da ich morgen weiterreise,« erwiderte Meyenburg.

»So kommt herein, wer Ihr auch seid!« klang es unwirsch zurück.

Meyenburg folgte ungesäumt der Einladung und stand gleich darauf einem Greise gegenüber, dessen Aussehen ihn überraschte. Er hatte sich kein freundliches Bild von Ursulas Vater entworfen, hatte sich einen grämlichen, verkniffenen alten Mann unter ihm vorgestellt und sah statt dessen vor sich einen würdevollen Greis mit schneeweißem Haar und Bart, fast so hochgewachsen wie er selber, mit dunkelblauen Augen von solchem Glanze, wie er selten gesehen.

Fast verwirrt neigte er sich vor ihm wie vor einem regierenden Bürgermeister, nannte seinen Namen und brachte dann sein Anliegen vor. Daß er so spät komme, entschuldigte er mit seinen Geschäften und seiner bevorstehenden Reise nach Worms. Das düstre Antlitz Lachenspers erhellte sich, während er zuhörte, immer mehr, und als Meyenburg geendet hatte, bot er ihm sogar die Hand, drückte die seine kräftig und forderte ihn zum Niedersitzen auf.

Meyenburg nahm vor einem Tische Platz, der mit Bildern aller Art, Holz- und Kupferstichen bedeckt war.

»Von dem großen Meister Albrecht Dürer in Nürnberg,« sagte der Greis mit einer Handbewegung nach einem großen Bilde des gekreuzigtem Christus. »Solches hat noch niemals ein Deutscher fertig gebracht, er übertrifft alle Meister im Lande Italien.« Mit größer Behendigkeit schob er sich einen Stuhl herbei und ließ sich seinem Gaste gegenüber nieder. »Ist dieser Dürer ein Landsmann von Euch?« fragte er. »Eure Zunge verrät Euch als einen Franken.«

Meyenburg nickte. »Ihr habt recht. Ich bin ein Franke, unweit des Mains gebürtig.«

»Ihr seid adeligen Standes?«

»Nein, ich bin armer, aber freier Leute Kind, heiße eigentlich Leyser, nenne mich nach dem Orte meiner Geburt Meyenburg, wie so viele tun, wenn sie zu Ehren kommen.«

»Keine gute Sitte!« tadelte der Greis und zog die Brauen zusammen. »Aber immer noch besser, als wenn die Leute ihren Namen lateinisch machen und aus jedem Schmied ein Fabricius, aus jedem Müller ein Mylius wird.« Dann schwieg er und blickte Meyenburg nachdenklich und aufmerksam mit seinen feurigen Augen an. Endlich sagte er: »Ich war vor dreißig und mehr Jahren in Wien. Da sah ich oft den Kaiser Max, der nun des Todes verblichen ist. Ihr gemahnt mich an ihn. Nur die große Unterlippe fehlt Euch.«

»Das haben mir schon mehr Leute gesagt, erwiderte Meyenburg. »Es ist wohl ein wunderlich Spiel der Natur.«

Lachensper neigte das Haupt. »Dergleichen kommt vor. Kommt Ihr nach Worms, so wird's Euch noch mancher sagen, der den Kaiser gekannt hat. Wie kommt's, daß Eure Stadt einen so jungen Mann dorthin entsendet? Ihr könnt doch wenig über dreißig sein.«

»Ich bin gerade dreißig. Daß der Rat mich sendet, hat seinen sonderlichen Grund, den ich Euch nicht kann zu wissen tun. Doch möget Ihr wissen, daß ich auch mit einem Mandatum des Grafen Ernst von Hohnstein zum Reichstage fahre.«

»Steht Ihr bei dem in Gunst?«

»Er ist mir wohlgeneigt und vertraut mir sehr. Er und sein Bruder wollten mich jüngst zu ihrem Kanzler machen.«

»Und das habt Ihr ausgeschlagen? Wolltet lieber in Nordhausen Stadtschreiber bleiben?« fragte der Greis verwundert.

»Das Amt nährt seinen Mann, und fünfmal soviel als es einbringt, verdiene ich als Notarius aus päpstlicher Gewalt. Der beiden Brüder Kanzler möcht' ich nicht sein. Mich dünkt es nicht rätlich, zwei Herren zu dienen, von denen jeder etwas anderes will. Heinrich ist für die eingenommen, die alles neu machen wollen in der Kirche, Ernst hält am Alten fest.«

Lachensper blickte ihm scharf ins Gesicht. »Und Ihr? Wie denkt Ihr darüber?«

»Das will ich Euch ehrlich sagen, Herr. Ich acht', es sind viele Mißbräuche in der Kirche. Sie müssen abgestellt werden. Es führen auch viele Mönche ein lästerliches Leben. Die müssen gestraft werden. Aber daß die Sprüche des Heiligen Vaters nicht mehr gelten sollen, und daß die Konzilien geirrt haben sollen und anderes, was sich gegen die Lehre richtet, das gefällt mir übel und muß dazu führen, daß die heilige katholische Kirche ein Ende gewinnt. Und dann steht keines Fürsten Thron und keines Herrn Stuhl mehr fest, denn alle weltliche Ordnung und Obrigkeit auf Erden nimmt ihr Recht allein von der heiligen Kirche.«

Der Alte faßte schnell nach seiner Hand und drückte sie heftig. »Ihr redet wie ein Weiser! Wenige von der Jugend hört man so reden, die meisten beten zu dem Wittenberger wie zu einem Gotte. In dieser Stadt sind ihm fast alle geneigt, wer gegen ihn redet, kann Böses erleben. Ich könnt' Euch ein Liedlein davon singen. Aber meine Hoffnung steht darauf, daß schnell auflohende Feuer gemeinhin schnell wieder zusammensinken. Ich denke, der Gipfel des schändlichen Unfuges ist schon überschritten. Es geht abwärts mit dem ketzerischen Mönche, und bald wird er aus einem Gott zu einem Spott werden.«

Meyenburg blickte ihn verwundert an. »Woraus schließt Ihr das? Mich dünkt, es hebt eben erst recht an und wird ein großes Spektakulum, denn der Luther zieht gen Worms und will sich verantworten vor des Kaisers Majestät –«

»Und findet dabei sein Grab,« fiel Lachensper ein. »So oder so. Entweder er bringt den Mut nicht auf, hinzufahren, dann wird er zum Gelächter, und alle Welt, die ihm jetzt zujauchzt, verhöhnt ihn als einen eiteln Prahlhans. Oder aber, er zieht hin, was ich nicht glaube, dann kehrt er schwerlich wieder heim.«

»Ihr meint, der Kaiser werde ihm sein freies Geleit nicht halten?« fragte Meyenburg finster.

»Das meine ich. Hielt er's, so täte er eine schwere Sünde, denn er träte den Feuerbrand nicht aus, der das ganze Reich, ja die gesamte Christenheit in Flammen setzen wird. Meint Ihr das nicht auch?«

Meyenburg schüttelte den Kopf und erwiderte nach einigem Nachdenken: »Ich meine, der Kaiser hätte ihm das Geleit nicht geben sollen, weil er im Banne des Papstes ist. Hat er's ihm aber gegeben, so muß er's auch halten, denn ein deutscher Kaiser darf sein Wort nicht brechen, und hätt' er's dem Teufel selber gegeben.«

»Nein!« rief der Greis, und seine Ruhe und Würde verließen ihn für ein paar Augenblicke ganz und gar. Ein Strahl des Hasses brach aus seinen Augen, der den jungen Mann geradezu erschreckte. »Nein! Ihr redet wie ein rechter Tor! Soll der Kaiser eine geringe Sünde meiden, um an ihrer Statt die schlimmste zu begehen? Gäbe Gott den Sohn der Hölle in seine Hand, so sollte er ihn laufen lassen? Davor bewahre ihn die heilige Mutter Gottes! Ins Feuer mit ihm, auf daß nicht Tausende ewig brennen müssen um seinetwillen!«

Er war in seinen Stuhl zurückgesunken und hielt seine düstren Augen unausgesetzt starr auf Meyenburg gerichtet, während er langsamer und leise redend fortfuhr: »Ihr wißt ja gar nicht recht, was dieser Bube Martin dem armen Christenvolke nehmen will. Ihr könnt es wohl auch schwerlich wissen, denn Ihr seid noch jung und Eure Sünden werden Euch noch wenig ängstigen, habet vielleicht auch noch keine allzu schwere auf Euch geladen. Aber, junger Mann, im Laufe eines langen Lebens tut jeder Mensch viele und schwere Sünde, er mag wollen oder nicht.« Er hielt inne und seufzte tief auf. »Wollen oder nicht!« wiederholte er düster. »Und wenn dann das Alter kommt, und wenn die Genossen der Jugend und der Sünde von hinnen gefahren sind, dann kommt die Angst und krallt sich ein ins Herz und will es nimmer loslassen. Wie sucht da der Christ seine Ruhe? Er büßt und tut die guten Werke, die notwendig sind zur Seligkeit, und läßt sich in der heiligen Beichte freisprechen von aller Schuld. Und werden wir nicht Herr über unsere Sünde und kommt die Angst immer wieder, so wird doch jeden Tag die Seele wieder reingewaschen von aller Schuld und die Angst verjagt. Der Schandmönch aber leugnet, daß die Kirche freisprechen kann durch des Papstes und seiner Priester Mund von der Strafe des Fegefeuers und der Hölle. Er leugnet den Schatz der guten Werke, den die lieben Heiligen uns erworben haben durch ihre Martern und Leiden. Er nimmt den geängstigten Gewissen das Beste, was sie haben. Er sei verflucht!«

Die letzten Worte sprach der Alte mit heiserer, pfeifender Stimme und schloß dann die Augen, als wäre er tief erschöpft. Es entstand eine Stille. Meyenburg wußte nichts zu erwidern, denn es war ihm wunderlich zu Sinne geworden. Aus den Worten des Greises klang deutlich ein Selbstbekenntnis heraus, und es ging ihm dabei eigentlich zum ersten Male die volle Erkenntnis dafür auf, wie erschrecklich tief die Fragen, auf die Martin Luther den Leuten eine neue Antwort geben wollte, in das innerste Leben zahlloser Menschen eingriffen. Ihn hatten seine Sünden bisher in der Tat wenig beunruhigt. Was hatte er sich auch weiter vorzuwerfen? Eine Reihe lustiger Gelage bei Bier oder Wein, in deren Verlaufe die lockeren Schönen, die daran teilgenommen, nicht immer in geziemender Entfernung von ihm geblieben waren. Das hatte er gebeichtet und dann vergessen. Nur eine Verirrung seiner Jugendzeit hatte er nicht ganz und gar vergessen können. Nicht häufig, aber doch immer wieder von Zeit zu Zeit tauchten in seiner Erinnerung die anklagenden Augen eines Mädchens auf, dem er vor zehn Jahren als Zwanzigjähriger Treue geschworen und dann gebrochen hatte. Er hätte ihrer vielleicht überhaupt nicht mehr gedacht, wenn ihm nicht erzählt worden wäre, sie lebe mit ihrem Manne unglücklich und habe ihre erste Liebe noch nicht vergessen. Jetzt stand mit einem Male ihr Bild vor seiner Seele, ein frühgealtertes Antlitz mit gramvollen dunkeln Augen, und eine Ahnung beschlich ihn, daß die Bilder begangenen Unrechtes sich doch nicht immer durch Arbeit oder Wein oder die Gesellschaft guter Freunde verscheuchen ließen, besonders wenn man im Schrein seines Gedächtnisses noch häßlichere und dunklere aufbewahren mußte als er. Sie mochten vielleicht für den alternden Menschen eine furchtbare Qual werden, und der mochte sich glücklich preisen, der ein Mittel besaß, ihnen das Drohende, Peinigende zu nehmen. Solche Mittel gab die Kirche ihren gehorsamen Söhnen und Töchtern, sonst niemand in der weiten Welt. Im Glauben an ihre Gnadenmittel waren Unzählige getröstet gestorben, die sonst in Verzweiflung abgefahren wären. Nun kam einer daher, der schrie in alle Welt hinein, die Gebete und Verheißungen und Zusagen der Kirche hätten keine Kraft und Wirksamkeit! Hatte er sicherlich recht, wenn er gegen das weltliche Leben der Pfaffen donnerte – wie durfte er sich erkühnen, den Gewissen ihren Halt und Trost zu nehmen? War sein Unterfangen nicht ein ungeheuer Frevel an allen denen, die sich um ihrer Sünden willen ängstigten?

»Ihr habt recht!« sagte Meyenburg nach einer Weile und erhob sich. »Auch ich will wünschen, daß die Lutherei ein Ende nimmt, und hoffe, er macht sich selbst zum Narren und zieht nicht gen Worms. Jetzt aber, Herr, wird es für mich Zeit, meine Herberge aufzusuchen. In vier oder fünf Wochen komme ich wieder durch Erfurt, da kann ich wohl abholen, was ich bei Euch bestellt habe?«

»Das könnt Ihr gewiß,« erwiderte der Greis und stand gleichfalls auf. »Ich werde Euch gern wiedersehen und wünsche Euch gute Reise.« Er hinkte zur Tür und rief ins Dunkel hinaus: »Ursel, bringe ein Licht und leuchte! Ihr entschuldigt, Herr, daß ich Euch nicht geleite, aber ich bin vom Zipperlein übel geplagt.«

Meyenburg ermahnte ihn liebevoll, seines kranken Fußes ja recht zu schonen, denn er freute sich darauf, seine Liebste noch einmal zu umfangen. Aber diese Freude wurde ihm vereitelt, denn eben als sie mit dem brennenden Lichte aus einem Nebengemache trat, polterten draußen auf der Straße schnelle Schritte heran, es wurde heftig gegen die Haustür geschlagen, und eine ängstliche Stimme rief: »Macht auf! Schnell, macht auf!« Gleich darauf stand auf der Schwelle des Hauses ein Predigermönch, dessen braune Kutte zerzaust und zerrissen und dessen eine Auge blutunterlaufen war. Herr Dotheus Lachensper, der durch den Lärm bewogen, auch auf die Diele herausgetreten war, stieß einen Schreckensruf aus. »Was ist mit Euch, Herr Pater? Wer hat gewagt, euch anzugreifen?« rief er.

Michael Meyenburg drückte sich in den Schatten. Pater Ortuinus hatte ihn heute früh Arm in Arm wandeln sehen mit Eobanus Hessus, seinem Freunde. Es wäre ihm nicht lieb gewesen, jetzt von ihm erkannt zu werden. Aber der Mönch sah gar nicht nach ihm hin. Er zitterte und bebte am ganzen Leibe.

»Die Burschen waren hinter mir her,« brachte er endlich hervor, »die Weinschläuche von der Universität. Die Schelme kamen über mich, da ich die kaiserlichen Briefe anschlagen ließ gegen den Erzketzer von Wittenberg, der morgen hierher kommt auf seinem Zuge nach Worms.«

Der alte Lachensper stieß einen Schrei aus. »Er kommt? Er wagt's?«

»Es wird so sein! Die Hunde schreien es überall aus. Und die ganze Stadt glaubt es und erregt sich darob. Allenthalben rennen die Leute auf die Straße.« Er schwankte nach der Tür des Zimmers. »Gebt mir einen Trunk, lieber Mann, daß ich mich erhole.«

Lachensper nahm ihn unter den Arm und zog ihn ins Gemach. Seines Zipperleins schien er ebenso vergessen zu haben wie seines Gastes aus Nordhausen. Das hätte den nicht weiter bekümmert, wäre er mit Ursula allein gewesen. Aber die beiden Mägde standen und hielten die Mäuler weit offen vor Verwunderung und Schrecken. So konnte er's nicht einmal wagen, ihr die Hand zu drücken, und mußte sich beim Abschiednehmen mit einem geflüsterten Worte und einem heißen Blicke begnügen.

Auf der Straße verwunderte er sich höchlich über das Leben, das allenthalben erwacht war. Um diese Stunde pflegten sonst die guten Bürger von Erfurt zu erwägen, ob es nicht Zeit wäre, sich in die Kissen ihrer dicken Federbetten zu versenken. Jetzt standen sie im Lichte des Mondes, der nun auch hinter dem Gewölk hervorgekommen war, vor ihren Häusern, und ihre Eheliebsten, Kinder, Knechte und Mägde standen daneben, und alle schwatzten laut und redeten aufgeregt durcheinander.

»Die ganze Stadt ist verrückt geworden,« dachte Meyenburg, während er weitausgreifenden Schrittes dahinwandelte. »Es ist wie eine Seuche der Geister. Gott bewahre mich!«

Gerade als er vor dem Hause der Frau Barbara angelangt war, kam ein großer Trupp Studenten vorüber, die Fackeln in den Händen trugen. In ihrer Mitte schritt weingeröteten Antlitzes sein Freund Eobanus Hessus. Der erkannte ihn und schwenkte sein Barett gegen ihn. »Luther kommt. Unser Martinus naht sich,« rief er ihm laut zu. »Jetzt auf zu Crotus, unserm Rektor! Noch diese Nacht dichte ich ein Carmen, Martinus zum Preise. Die ganze Schule holt ihn morgen ein in feierlichem Zuge. Du reitest mit, Freund Michael?«

Meyenburg erwiderte nichts. Er blickte ihn nur lange und ernst an, verzog dann spöttisch den Mund, schüttelte den Kopf und verschwand im Hause.

III.

»Ihr seid alle Narren,« sagte am Morgen des übernächsten Tages Michael Meyenburg zu seinem Freunde Justus Jonas, der ihn auf seiner Herberge besuchte. »Wie einen Triumphator habt ihr gestern den Martin Luther empfangen. Wäre der große Erasmus Rotterdamus eingezogen, ihr hättet ihn nicht herrlicher und prächtiger begrüßen können.«

Der junge Kanonikus nickte mit ernstem Gesicht. »Mit Fug und Recht. Denn hier ist viel mehr als Erasmus!«

Meyenburg zog die Brauen hoch und sah ihn an, als zweifle er an seinem Verstande. »Sage ich's nicht? Ihr narret. Und leider narret mit euch die ganze Stadt. Deshalben bin ich ja auch noch hier, anstatt auf dem Wege nach Worms. Aber meinst du, ich hätte gestern verhandeln können mit den Herren auf der Ratsstube? Kein Mensch war da, alle waren hinausgelaufen, zu sehen, wie der Wittenberger von euch eingeholt wurde. Es sollen ja unter der Reiterschar, die sein Wäglein geleiteten, auch etwelche Herren vom Rate gewesen sein. Ist dem so?«

Wieder neigte Justus Jonas bestätigend das Haupt. »Nicht nur etliche. Viele!«