Middlesex - Jeffrey Eugenides - E-Book

Middlesex E-Book

Jeffrey Eugenides

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Beschreibung

«Middlesex ist ein unerhörter, wunderbarer Roman.» (Jonathan Franzen) In einem griechischen Bergdorf am Hang des kleinasiatischen Olymp fängt alles an. Ein junger Mann und eine junge Frau, die Geschwister Eleutherios und Desdemona Stephanides, fliehen vor den Türken nach Smyrna und, als die Stadt brennt, weiter nach Amerika. Es ist das Jahr 1922. Auf dem Schiff, weit weg von allem, heiraten sie, verbringen ihre erste Nacht in einem Rettungsboot. In Detroit, der Stadt der Autos und Hotdogs, lassen sie sich nieder. Der Sohn Milton wird geboren und, Jahrzehnte später, die Enkeltochter Calliope. Für Desdemona erfüllt sich, was sie als Folge ihres Geheimnisses längst befürchtet hat: Etwas Unfassliches geschieht. Das Mädchen Calliope entpuppt sich als Junge, heißt von nun an Cal, und eine neue Odyssee beginnt. Dieser Cal Stephanides ist es, der uns von der mehr als siebzig Jahre umspannenden Lebens- und Liebesgeschichte seiner griechischen Einwandererfamilie erzählt. Er berichtet von Seidenraupen und Rumschmuggel und einer Klarinette, die auf der Haut eines Mädchens schmachtende Töne erzeugt. Er erzählt vom heiligen Christophorus, der Miltons Leben rettet, und von der Niederlage des Nebenbuhlers Father Mike. Vor allem aber erzählt er von dem, was sich die griechischen Götter nicht haben träumen lassen: von Vererbung und der Achterbahnfahrt eines Gens, von den Verworrenheiten des Geschlechts. Mit überbordender Phantasie schöpft Jeffrey Eugenides aus einem Reichtum an Geschichten, bündelt sie zu einer virtuosen Mischung aus modernem Gesellschafts- und pikareskem Abenteuerroman. Sein als literarisches Ereignis gefeiertes Buch ist «ein zutiefst berührendes Porträt einer leidenschaftlich ins 20. Jahrhundert Amerikas verstrickten Familie», schrieb die New York Times, «ein Roman von turmhoher Kraft». «Locker, vielschichtig, tiefgründig, genial.» (Die Welt) «Eugenides ist ein Erzähler, der seine Leser schamlos in seinen Bann zu schlagen versteht. Und sein Buch ein Geschenk an die literarische Welt.» (Frankfurter Allgemeine Zeitung) «Ein spannender, origineller und sehr witziger Roman.» (Der Spiegel) «Ein wunderbares Buch, reich an Geschichte und Geschichten, an Liebe, Glück Leid, Trauer und Tiefsinn, an Witz und an Fabulier- und Erinnerungslust.» (Bernhard Schlink)

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Seitenzahl: 970

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Jeffrey Eugenides

Middlesex

Roman

Deutsch von Eike Schönfeld

Inhaltsverzeichnis

Widmung

ERSTES BUCH

Der Silberlöffel

Ehestiften

Ein unanständiger Antrag

Die Seidenstraße

ZWEITES BUCH

Henry Fords englischsprachiger Schmelztiegel

Minotauren

Ehe auf Eis

Tricknologie

Klarinettenständchen

Weltnachrichten

Ex ovo omnia

DRITTES BUCH

Heimkino

Óppa!

Middlesex

Die Mittelmeerkost

Die Wolverette

Wachsfiguren

Das obskure Objekt

Teiresias ist verliebt

Fleisch und Blut

Die Waffe an der Wand

VIERTES BUCH

Das Orakel der Vulva

Ich schlage mich im Webster’s nach

Auf nach Westen, junger Mann

Geschlechter-Dysphorie in San Francisco

Hermaphroditos

Air-Ride

Die letzte Station

Dank

Für Yama,

die aus einem völlig anderen Genpool stammt

ERSTES BUCH

Der Silberlöffel

Ich wurde zweimal geboren: zuerst, als kleines Mädchen, an einem bemerkenswert smogfreien Januartag 1960 in Detroit und dann, als halbwüchsiger Junge, in einer Notfallambulanz in der Nähe von Petoskey, Michigan, im August 1974.Fachleute unter den Lesern könnten mir in der Studie «Geschlechtliche Identität bei 5-alpha-Reduktase-Pseudohermaphroditen» von Dr.Peter Luce, 1975 erschienen im Journal of Pediatric Endocrinology, schon einmal begegnet sein. Oder vielleicht haben Sie mein Foto im sechzehnten Kapitel des heute arg veralteten Standardwerks Genetik und Vererbung gesehen. Ich bin das Kind auf Seite 578, das nackt, mit einem schwarzen Balken vor den Augen, neben einer Messlatte steht.

Auf meiner Geburtsurkunde lautet mein Name Calliope Helen Stephanides. Mein neuester Führerschein (ausgestellt von der Bundesrepublik Deutschland) nennt als meinen Vornamen schlicht Cal. Ich bin ehemaliger Feldhockeykeeper, langjähriges Mitglied der Rettet-die-Manatis-Stiftung, seltener Besucher der griechisch-orthodoxen Messe und, den Großteil meines Erwachsenenlebens, in Diensten des US-amerikanischen Außenministeriums. Wie Teiresias war ich erst das eine und dann das andere. Ich wurde von Mitschülerinnen gehänselt, von Ärzten als Versuchskaninchen benutzt, von Spezialisten abgetastet und von wissenschaftlichen Institutionen erforscht. Ein rothaariges Mädchen aus Grosse Pointe verliebte sich in mich, ohne zu wissen, was ich war. (Auch ihr Bruder mochte mich.) Einmal führte mich ein Armeepanzer in eine Straßenschlacht; ein Swimmingpool machte aus mir einen Mythos; ich habe meinen Körper verlassen, um andere zu bewohnen – und das alles geschah, bevor ich sechzehn wurde.

Nun aber, mit einundvierzig, spüre ich, dass mir noch eine weitere Geburt bevorsteht. Nachdem ich sie jahrzehntelang vernachlässigt habe, denke ich auf einmal an verstorbene Großtanten und -onkel, verloren geglaubte Großväter, unbekannte Cousinen fünften Grades oder, im Falle einer aus Inzucht hervorgegangenen Familie wie der meinen, an all das zugleich. Und daher möchte ich, bevor es zu spät ist, etwas endgültig niederschreiben: die Achterbahnfahrt eines Gens durch die Zeit. Singe jetzt, o Muse, die Geschichte der rezessiven Mutation auf meinem Chromosom fünf! Singe, wie es sich vor zweieinhalb Jahrhunderten auf den Hängen des Olymp ausbildete, während die Ziegen meckerten und die Oliven zu Boden plumpsten. Singe, wie es über neun Generationen hinweg weitergegeben wurde und sich unsichtbar in dem verseuchten Pool der Familie Stephanides einnistete. Und singe, wie die Vorsehung in Gestalt eines Massakers das Gen wieder weiterfliegen ließ, wie es einem Samen gleich über den Atlantik nach Amerika wehte, wo es durch sauren Regen trieb, bis es zur Erde fiel, auf den fruchtbaren Boden des mittelwestlichen Schoßes meiner Mutter.

Tut mir Leid, wenn ich manchmal ein wenig homerisch werde. Aber auch das steckt mir in den Genen.

Drei Monate vor meiner Geburt, es war nach einem unserer aufwendigen Sonntagsessen, wies meine Großmutter Desdemona Stephanides meinen Bruder an, ihr die Seidenraupenkiste zu holen. Pleitegeier war gerade auf dem Weg zur Küche, um sich einen Nachschlag Milchreis zu holen, als sie sich ihm in den Weg stellte. Mit ihren siebenundfünfzig Jahren, ihrer kleinen, gedrungenen Figur und dem einschüchternden Haarnetz war meine Großmutter in idealer Weise dazu befähigt, sich Leuten in den Weg zu stellen. Hinter ihr, in der Küche, hatte sich lachend und flüsternd das große weibliche Kontingent jenes Tages versammelt. Fasziniert reckte Pleitegeier sich zur Seite, um zu sehen, was da vor sich ging, doch Desdemona kniff ihn fest in die Wange. Nachdem sie so seine Aufmerksamkeit wiedergewonnen hatte, zeichnete sie ein Rechteck in die Luft und deutete auf die Decke. Dann sagte sie durch ihr schlecht sitzendes Gebiss: «Geh für jiajia holen, Püppchen-mou.»

Pleitegeier wusste, was er zu tun hatte. Er rannte über den Flur in den Wohnraum. Auf allen vieren krabbelte er die schlichte Treppe in den ersten Stock hinauf. An den Schlafzimmern vorbei sauste er den oberen Flur entlang. An dessen Ende war eine nahezu unsichtbare Tür, tapeziert wie der Einstieg zu einem Geheimgang. Pleitegeier ortete den winzigen Türknopf auf Höhe seines Kopfes und zog mit aller Kraft die Tür auf. Dahinter lag eine weitere Treppe. Einen langen Augenblick starrte mein Bruder zögernd in das Dunkel über ihm, bis er, nun ganz langsam, in die Mansarde hochstieg, in das Reich meiner Großeltern.

Auf Turnschuhen lief er unter den zwölf feuchten, mit Zeitungspapier ausgeschlagenen Vogelkäfigen hindurch, die von den Dachbalken herabhingen. Unerschrocken tauchte er in das beißende Aroma meiner Großeltern, einer Mischung aus Mottenkugeln und Haschisch. Er umkurvte den mit Büchern voll gestapelten Schreibtisch meines Großvaters und seine Sammlung Rembetika-Schallplatten. Schließlich, nachdem er noch gegen die Lederottomane und den kreisrunden Messingcouchtisch gestoßen war, gelangte er zum Bett meiner Großeltern und, darunter, zu der Seidenraupenkiste.

Aus Olivenholz geschnitzt, ein wenig größer als ein Schuhkarton, hatte sie einen Blechdeckel, in den winzige Luftlöcher gestanzt und das Bild eines unkenntlichen Heiligen eingeprägt waren. Das Gesicht des Heiligen war abgewetzt, doch die Finger seiner rechten Hand hatte er zur Segnung eines kleinen, purpurroten, ungeheuer selbstbewusst wirkenden Maulbeerbaums erhoben. Pleitegeier betrachtete diese lebendige botanische Erscheinung eine Weile, dann zog er die Kiste ganz unterm Bett hervor und öffnete sie. Im Innern waren zwei Hochzeitskronen aus Schnur und, wie Schlangen aufgerollt, zwei lange Haarzöpfe, jeder mit einem bröckelnden schwarzen Band zusammengebunden. Er berührte einen der Zöpfe mit dem Zeigefinger. Da kreischte ein Sittich auf. Mein Bruder fuhr zusammen und schloss die Kiste, klemmte sie sich unter den Arm und brachte sie Desdemona.

Sie wartete noch immer an der Tür. Kaum hatte sie ihm die Seidenraupenkiste aus den Händen genommen, ging sie damit zurück in die Küche. Pleitegeier erhaschte einen Blick in den Raum, in dem alle Frauen nun verstummten. Sie wichen zur Seite, um Desdemona durchzulassen, und dort, mitten auf dem Linoleum, war meine Mutter. Tessie Stephanides saß zurückgelehnt auf einem Küchenstuhl, hingedrückt von der gewaltigen, trommelharten Kugel ihres schwangeren Bauchs. Auf ihrem Gesicht, das gerötet und erhitzt war, lag ein seliger, hilfloser Ausdruck. Desdemona stellte die Seidenraupenkiste auf den Küchentisch und klappte den Deckel auf. Sie langte unter die Hochzeitskronen und die Haarzöpfe und förderte etwas zutage, was Pleitegeier übersehen hatte: einen Silberlöffel. An den Griff des Löffels band sie ein Stück Bindfaden. Dann beugte sie sich vor und ließ den Löffel über dem angeschwollenen Bauch meiner Mutter baumeln. Und, somit, über mir.

Bis dahin war Desdemonas Bilanz ohne Makel gewesen: dreiundzwanzig richtige Voraussagen. Sie hatte gewusst, dass Tessie Tessie werden würde. Sie hatte das Geschlecht meines Bruders und aller Kinder ihrer Kirchenfreundinnen vorausgesagt. Die einzigen Kinder, deren Geschlecht sie nicht geweissagt hatte, waren ihre eigenen, weil es einer Mutter Unglück brachte, wenn sie die Mysterien des eigenen Schoßes ergründete. Furchtlos hingegen ergründete sie den meiner Mutter. Nach anfänglichem Zögern schwenkte der Löffel auf Nord-Süd, was bedeutete, dass ich ein Junge werden würde.

Breitbeinig auf dem Stuhl sitzend, versuchte meine Mutter zu lächeln. Sie wollte keinen Jungen. Sie hatte schon einen. Ja, sie war so sicher, dass ich ein Mädchen werden würde, dass sie nur einen Namen für mich ausgesucht hatte: Calliope. Doch als meine Großmutter auf Griechisch «Ein Junge!» brüllte, flog der Schrei in der Küche umher und hinaus auf den Flur und über den Flur ins Wohnzimmer, wo die Männer politisierten. Und meine Mutter, die ihn wieder und wieder hörte, glaubte schließlich, dass das, was sie hörte, wahr sein könnte.

Als der Schrei meinen Vater erreichte, marschierte der sogleich in die Küche, um seiner Mutter zu sagen, dass ihr Löffel ausnahmsweise Unrecht habe. «Und wie willst du wissen?», fragte Desdemona ihn. Worauf er antwortete, was viele Amerikaner seiner Generation geantwortet hätten:

«Das ist Wissenschaft, Ma.»

Seit sie beschlossen hatten, ein zweites Kind zu bekommen – das Diner lief gut, und Pleitegeier war den Windeln lange schon entwachsen–, waren sich Milton und Tessie einig, dass sie eine Tochter haben wollten. Pleitegeier war gerade fünf geworden. Unlängst hatte er im Garten einen toten Vogel gefunden und ins Haus gebracht, um ihn seiner Mutter zu zeigen. Er schoss gern auf Sachen, hämmerte gern auf Sachen, zerdepperte gern Sachen und rangelte gern mit seinem Vater. In einem so männlichen Haushalt kam sie sich allmählich ein wenig überflüssig vor und sah sich, zehn Jahre später, schon in einer Welt aus Lenkrädern und Leistenbrüchen gefangen. Eine Tochter als Widerstandskämpferin musste her: eine, die wie sie Schoßhündchen liebte, die ihren Vorschlag unterstützte, zur «Ice Capades»-Revue zu gehen. Im Frühjahr 1959, als die Diskussionen über meine Zeugung schon im Gange waren, konnte meine Mutter nicht voraussehen, dass die Frauen bald tausendfach ihre Büstenhalter verbrennen würden. Ihre waren wattiert, steif, feuerfest. Sosehr Tessie ihren Sohn auch liebte, wusste sie doch, dass es gewisse Dinge gab, die sie nur mit einer Tochter würde teilen können.

Morgens auf der Fahrt zur Arbeit hatte mein Vater Visionen von einem unwiderstehlich süßen, dunkeläugigen kleinen Mädchen gehabt. Es saß auf dem Sitz neben ihm – meistens bei Rot – und richtete Fragen an sein geduldiges, allwissendes Ohr. «Wie nennt man das da, Daddy?» – «Das? Das ist das Cadillac-Emblem.» – «Was ist das Cadillac-Emblem?» – «Also, vor langer Zeit gab es mal einen französischen Forscher namens Cadillac, und der hat dann Detroit entdeckt. Und das Emblem war sein Familienwappen, aus Frankreich.» – «Was ist Frankreich?» – «Frankreich ist ein Land in Europa.» – «Was ist Europa?» – «Das ist ein Kontinent, und der ist wie ein großes Stück Land, viel, viel größer als ein Staat. Aber Cadillacs kommen nicht mehr aus Europa, koukla. Sie kommen von hier, aus den guten alten USA.» Die Ampel sprang auf Grün, und er fuhr weiter. Doch mein Prototyp blieb. Das Mädchen war auch noch an der nächsten und der übernächsten Ampel da. So angenehm war es mit ihr, dass mein Vater, ein Mann voller Tatendrang, beschloss zu überlegen, was er tun könnte, um diese Vision Wirklichkeit werden zu lassen.

So kam es: Seit einiger Zeit erörterten die Männer im Wohnzimmer, wo sonst politisiert wurde, nun auch die Geschwindigkeit von Sperma. Peter Tatakis, «Onkel Pete», wie wir ihn nannten, war ein führendes Mitglied des Debattierclubs, der sich wöchentlich auf unseren schwarzen Zweiersofas zusammenfand. Als ewiger Junggeselle hatte er in Amerika keine Familie und sich deshalb der unseren angeschlossen. Jeden Sonntag kam er, ein hoch gewachsener, backpflaumengesichtiger, traurig wirkender Mann mit gewelltem Haar, dessen Vitalität überhaupt nicht zu ihm passen wollte, in seinem rotweinfarbenen Buick bei uns vorbei. Kinder interessierten ihn nicht. Der Freund der Great Books-Reihe – die er gleich zweimal gelesen hatte – beschäftigte sich mit ernsthaftem Denken und der italienischen Oper. In der Geschichte galt seine Leidenschaft Edward Gibbon und in der Literatur den Aufzeichnungen der Madame de Staël. Gern zitierte er, was jene geistreiche Dame über die deutsche Sprache gesagt hatte, nämlich dass sich das Deutsche nicht für eine Unterhaltung eigne, da man immer bis zum Satzende auf das Verb warten müsse und darum niemandem ins Wort fallen könne. Onkel Pete hatte Arzt werden wollen, doch die «Katastrophe» hatte diesen Traum beendet. In den Vereinigten Staaten angekommen, hatte er sich zwei Jahre lang an einer Chiropraktikerschule gequält, und seitdem besaß er eine kleine Praxis im Detroiter Vorort Birmingham mit einem menschlichen Skelett, dessen Raten er noch immer abbezahlte. In jener Zeit hatten Chiropraktiker noch einen etwas zweifelhaften Ruf. Zu Onkel Pete ging man nicht, um sich die Kundalini erwecken zu lassen. Er ließ Hälse knacken, richtete Wirbelsäulen ein und machte maßgefertigte Senkfußeinlagen aus Schaumgummi. Gleichwohl war er Sonntag nachmittags derjenige bei uns im Haus, der einem Arzt am nächsten kam. Als junger Mann hatte er sich den halben Magen entfernen lassen, und nun trank er nach dem Essen immer eine Pepsi-Cola, um der Verdauung seines Mahls auf die Sprünge zu helfen. Diese Limonade sei nach dem Verdauungsenzym Pepsin benannt, klärte er uns weise auf, und daher für diese Aufgabe genau das Richtige.

Diese Art von Wissen flößte meinem Vater Vertrauen ein in das, was Pete über die Fortpflanzungszyklen sagte. Den Kopf auf einem Zierkissen, die Schuhe abgestreift, die Anlage meiner Eltern spielte leise Madame Butterfly, erklärte Onkel Pete, man habe unterm Mikroskop beobachtet, dass Spermien mit männlichen Chromosomen schneller schwömmen als die mit weiblichen. Diese Behauptung löste unter den in unserem Wohnzimmer versammelten Restaurantbesitzern und Pelzappreteuren Heiterkeit aus. Mein Vater allerdings nahm die Haltung seiner Lieblingsskulptur ein, Der Denker, von der auf dem Telefontischchen an der gegenüberliegenden Wand eine Miniaturausführung stand. Obwohl das Thema in der freimütigen Verdauungsatmosphäre jener Sonntage aufgekommen war, gab es keinen Zweifel daran, dass das Sperma, über das geredet wurde, ungeachtet des unpersönlichen Tons der Diskussion dasjenige meines Vaters war. Onkel Pete stellte klar: Um ein Mädchen zu bekommen, solle ein Paar «vierundzwanzig Stunden vor dem Eisprung geschlechtlich verkehren». Die schnellen männlichen Spermien würden losflitzen und absterben. Die weiblichen dagegen, die lahmer, aber verlässlicher seien, würden genau dann eintreffen, wenn das Ei springe.

Mein Vater hatte Mühe, meine Mutter zu überreden, es nach dieser Methode zu versuchen. Tessie Zizmo war noch Jungfrau, als sie mit zweiundzwanzig Jahren Milton Stephanides geheiratet hatte. Ihre Verlobung, die mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zusammenfiel, war eine keusche Angelegenheit gewesen. Meine Mutter machte es stolz, wie sie es geschafft hatte, das Feuer meines Vaters gleichzeitig zu entfachen und zu ersticken, wodurch sie ihn für die Dauer eines Weltenbrandes auf kleiner Flamme hielt. Das stellte allerdings keine allzu große Schwierigkeit dar, da sie in Detroit und Milton in Annapolis an der amerikanischen Marineakademie war. Über ein Jahr lang entzündete Tessie in der griechischen Kirche Kerzen für ihren Verlobten, während Milton ihre Fotos betrachtete, die er über seiner Koje angepinnt hatte. Er fotografierte sie am liebsten nach Art der Filmzeitschriften, von der Seite, einen Stöckel auf einer Stufe, sodass eine große Fläche schwarzer Strumpf zu sehen war. Meine Mutter sieht auf diesen alten Schnappschüssen verblüffend geschmeidig aus, als hätte sie nichts lieber gehabt, als auf Geheiß ihres uniformierten Verlobten vor den Veranden und Lampenmasten des bescheidenen Viertels zu posieren.

Ihre Kapitulation erfolgte erst nach der Japans. Dann, von der Hochzeitsnacht an (soweit es stimmte, was mein Bruder meinen zugehaltenen Ohren erzählte), schliefen meine Eltern regelmäßig und gern miteinander. Als es ans Kinderkriegen ging, hatte meine Mutter jedoch ihre eigenen Vorstellungen. Sie glaubte fest daran, dass ein Embryo das Ausmaß der Liebe spürte, mit der er erschaffen worden war. Aus diesem Grund kam der Vorschlag meines Vaters bei ihr nicht besonders gut an.

«Was glaubst du denn, was das ist, Milt, die Olympiade?»

«Ich meine doch bloß theoretisch», sagte mein Vater.

«Was weiß Onkel Pete schon vom Kinderkriegen?»

«Er hat so einen Artikel im Scientific American gelesen», sagte Milton. Und um seinem Anliegen Nachdruck zu verleihen: «Die Zeitschrift hat er abonniert.»

«Also, wenn mein Rücken im Eimer ist, dann würde ich zu Onkel Pete gehen. Oder wenn ich Plattfüße hätte wie du. Aber sonst nicht.»

«Das ist aber alles bewiesen. Unterm Mikroskop. Die männlichen Spermien sind schneller.»

«Bestimmt auch dümmer.»

«Nur zu. Lästere über die männlichen Spermien, so viel du willst. Jederzeit. Wir brauchen kein männliches Sperma. Wir brauchen ein gutes altes, langsames, verlässliches weibliches Sperma.»

«Und selbst wenn es wahr wäre, ist es trotzdem lächerlich. Ich kann das nicht wie ein Uhrwerk, Milt.»

«Für mich wär’s schwieriger als für dich.»

«Ich will nichts davon hören.»

«Ich dachte, du willst eine Tochter.»

«Will ich auch.»

«Na bitte», sagte mein Vater. «Und so kriegen wir eine.»

Tessie tat diesen Vorschlag mit einem Lachen ab. Doch hinter ihrem Sarkasmus steckte ein ernster moralischer Vorbehalt. Die Einmischung in etwas derart Mysteriöses und Wunderbares wie die Geburt eines Kindes war ein Akt der Hybris. Ohnehin glaubte Tessie gar nicht, dass das ging. Und selbst wenn es ging, so fand sie, dass man es nicht versuchen sollte.

Natürlich kann sich ein Erzähler in meiner Position (zu jener Zeit noch präfetal) all dessen nicht ganz sicher sein. Den wissenschaftlichen Wahn, der meinen Vater in jenem Frühjahr 59 überfiel, kann ich nur als ein Symptom des Fortschrittsglaubens erklären, der damals jeden infizierte. Wir erinnern uns, erst zwei Jahre zuvor war der Sputnik ins All geschossen worden. Die Kinderlähmung, derentwegen man meine Eltern in den Sommern ihrer Kindheit zu Hause unter Quarantäne gestellt hatte, war mit dem Salk-Impfstoff besiegt worden. Noch hatten die Leute keine Ahnung gehabt, dass Viren schlauer sind als Menschen, und geglaubt, sie gehörten bald der Vergangenheit an. In diesem optimistischen Nachkriegsamerika, dessen Ende ich gerade noch erhaschte, war ein jeder Herr über das eigene Schicksal, also war es nur folgerichtig, dass auch mein Vater versuchte, Herr über seines zu sein.

Einige Tage nachdem er Tessie seinen Plan eröffnet hatte, kam Milton abends mit einem Geschenk nach Hause. Es war ein Schmuckkästchen, das mit einem Zierband verschnürt war.

«Was soll das?», fragte Tessie argwöhnisch.

«Was meinst du, was soll das?»

«Ich habe nicht Geburtstag. Es ist nicht unser Hochzeitstag. Also warum schenkst du mir was?»

«Brauche ich denn einen Anlass, um dir was zu schenken? Los. Mach’s schon auf.»

Wenig überzeugt verzog Tessie einen Mundwinkel. Aber es war schwierig, ein Schmuckkästchen in der Hand zu halten, ohne es zu öffnen. Deshalb streifte sie das Band schließlich ab und klappte das Kästchen auf.

Darin lag auf schwarzem Samt ein Thermometer.

«Ein Thermometer», sagte meine Mutter.

«Das ist nicht irgendein Thermometer», sagte Milton. «Das habe ich erst in der dritten Apotheke gekriegt.»

«Eine Luxusausführung, hm?»

«Genau», sagte Milton. «Das nennt man ein Basalthermometer. Es zeigt die Temperatur bis auf ein Zehntelgrad.» Er hob die Brauen. «Normale Thermometer zeigen nur jedes zweite Zehntel. Das da zeigt jedes Zehntel. Versuch’s mal. Steck’s dir in den Mund.»

«Ich hab aber kein Fieber», sagte Tessie.

«Es geht nicht um Fieber. Damit erfährst du deine Grundtemperatur. Es ist genauer und präziser als ein normales Fieberthermometer.»

«Das nächste Mal aber bitte eine Halskette.»

Doch Milton blieb hartnäckig. «Deine Körpertemperatur ändert sich ständig, Tess. Das merkst du zwar nicht, aber es ist trotzdem so. Du bist unablässig im Fließen, temperaturmäßig. Sagen wir» – ein kleines Hüsteln–, «du hast gerade deinen Eisprung. Dann steigt deine Temperatur. In den meisten Fallstudien um sechs Zehntel eines Grades. Also», fuhr mein Vater fort, der in Fahrt geraten war und nicht merkte, dass seine Frau die Stirn runzelte, «würden wir die Methode anwenden, über die wir neulich gesprochen haben – nur so als Beispiel–, dann würdest du erst deine Grundtemperatur ermitteln. Die muss gar nicht sechsunddreißig-acht sein. Jede ist da ein bisschen anders. Auch das habe ich von Onkel Pete gelernt. Jedenfalls, wenn du erst mal deine Grundtemperatur ermittelt hättest, würdest du auf diesen Sechszehntelgrad-Anstieg warten. Und dann, wenn wir das wirklich durchspielen würden, dann würden wir wissen, wann wir, na ja, den Cocktail mixen müssten.»

Meine Mutter sagte nichts. Sie legte nur das Thermometer in das Kästchen, klappte es zu und gab es ihrem Mann zurück.

«Na gut», sagte er. «Schön. Wie du willst. Dann kriegen wir eben noch einen Jungen. Nummer zwei. Wenn du das willst, meinetwegen.»

«Ich weiß im Augenblick gar nicht, ob wir überhaupt etwas machen», entgegnete meine Mutter.

Unterdessen wartete ich in meiner Garderobe auf meinen Auftritt in der Welt. Im Auge meines Vaters noch nicht einmal ein Funkeln (er starrte düster auf das Thermometerkästchen auf seinem Schoß). Meine Mutter steht jetzt von dem Zweiersofa auf. Sie geht zur Treppe, eine Hand an der Stirn, und die Wahrscheinlichkeit, dass es je etwas mit mir wird, rückt in immer weitere Ferne. Dann steht mein Vater auf und macht sich auf seine Runde, schaltet Lampen aus, sperrt Türen ab. Als er die Treppe hinaufgeht, ist wieder Hoffnung für mich. Das Timing musste ganz präzise sein, damit ich zu der Person werden konnte, die ich bin. Auch nur eine Stunde Verzögerung, und die Zusammensetzung der Gene ist eine andere. Bis zu meiner Empfängnis war es noch Wochen hin, aber meine Eltern hatten mit ihrer langsamen Kollision bereits begonnen. Oben im Gang brennt das Akropolis-Nachtlicht, ein Geschenk von Jackie Halas, die einen Souvenirladen hat. Meine Mutter sitzt an ihrem Toilettentisch, als mein Vater das Schlafzimmer betritt. Mit zwei Fingern reibt sie sich Noxzema ins Gesicht und wischt es mit einem Papiertuch wieder ab. Mein Vater hätte nur ein liebevolles Wort zu sagen brauchen, und sie hätte ihm verziehen. Dann wäre in dieser Nacht nicht ich, sondern jemand mir Ähnliches gezeugt worden. Eine unendliche Zahl möglicher Ichs drängten sich auf der Schwelle, darunter auch ich, aber ohne Ticket-Garantie, die Stunden vergehen langsam, die Planeten am Firmament ziehen im üblichen Tempo ihre Bahn, auch das Wetter spielt mit hinein, weil meine Mutter sich bei Gewittern fürchtete und sich, wäre in jener Nacht Regen gefallen, an meinen Vater geschmiegt hätte. Aber nein, der Himmel blieb klar, ebenso wie meine Eltern stur blieben. Das Schlafzimmerlicht ging aus. Jeder verharrte auf seiner Seite des Bettes. Schließlich kam von meiner Mutter: «Nacht.» Und von meinem Vater: «Dann bis morgen früh.» Die Augenblicke, die nach und nach zu mir hinführten, fügten sich wie vorherbestimmt. Weshalb sie mir, glaube ich, auch nicht aus dem Kopf gehen.

Am Sonntag darauf ging meine Mutter mit Desdemona und meinem Bruder in die Kirche. Mein Vater, der im Alter von acht Jahren wegen des exorbitanten Preises von Votivkerzen zum Apostaten geworden war, begleitete sie nie. Auch nicht mein Großvater, der es vorzog, seine Vormittage mit den «wiederhergestellten» Gedichten Sapphos zu verbringen, die er ins Neugriechische übertrug. Während der folgenden sieben Jahre arbeitete mein Großvater, trotz wiederholter Schlaganfälle, an einem kleinen Schreibtisch, auf dem er die legendenhaften Fragmente zu einem größeren Mosaik zusammensetzte, hier eine Strophe, da eine Coda ergänzte, einen Anapäst oder einen Jambus lötend mit ihm verband. An den Abenden spielte er seine Bordellmusik und rauchte eine Wasserpfeife.

1959 war die griechisch-orthodoxe Himmelfahrtskirche in der Charlevoix Avenue. Dort sollte ich weniger als ein Jahr später getauft und im orthodoxen Glauben erzogen werden. Die Himmelfahrtskirche mit ihrem Priesterkarussell: jeder einzelne vom Patriarchat in Konstantinopel eigens zugewiesen, jeder einzelne bei seiner Ankunft im Vollbart seiner Autorität, in den bestickten Gewändern seiner Heiligkeit, und doch wurde nach einer gewissen Zeit, ein halbes Jahr war die Regel, jeder der Sache überdrüssig – wegen der Kabbeleien in der Gemeinde, wegen der Kritik an der Art, wie er sang, wegen der beständigen Notwendigkeit, die Gemeindemitglieder, die den Kirchenraum mit der Zuschauertribüne des Tiger-Stadions verwechselten, zum Schweigen zu bringen, und schließlich wegen der Mühe, eine Predigt jede Woche zweimal zu halten, erst auf Griechisch, dann auf Englisch. Die Himmelfahrtskirche mit ihren lebhaften Kaffeekränzchen, ihrem schlechten Fundament und den Lecks im Dach, ihren ermüdenden folkloristischen Kirchenfesten, ihren Katechismusstunden, in denen unser Erbe noch eine Weile in uns wach gehalten wurde, bevor es in der großen Diaspora sterben durfte. Tessie und Begleitung schritten den Mittelgang entlang, vorbei an den sandgefüllten Schalen mit den Votivkerzen. Über ihnen, wuchtig wie ein Festwagen bei Macy’s Thanksgiving Day Parade, war der Christus Pantokrator. Er schwang sich durch das Gewölbe wie der Weltraum selbst. Anders als die leidenden, erdgebundenen, auf Augenhöhe an die Kirchenwände gemalten Christus-Figuren war unser Christus Pantokrator eindeutig transzendent, allmächtig, himmelumspannend. Er beugte sich zu den Aposteln über dem Altar hinab, um ihnen die vier aufgerollten Pergamente mit den Evangelien zu überreichen. Und meine Mutter, die sich ihr ganzes Leben lang bemühte, an Gott zu glauben, ohne dass ihr das so recht gelingen wollte, blickte, damit ihr der Weg gewiesen werde, zu ihm hoch.

Die Augen des Christus Pantokrator flackerten im trüben Licht. Sie schienen Tessie nach oben zu saugen. Durch den wabernden Weihrauch schimmerten die Augen des Erlösers wie Fernseher, die Bilder jüngster Ereignisse sendeten…

Erst war es Desdemona, die, in der Woche davor, ihrer Schwiegertochter Ratschläge gegeben hatte. «Warum du willst noch mehr Kinder, Tessie?», hatte sie mit bemühter Nonchalance gefragt. Dabei hatte sie sich gebückt, um in den Herd zu schauen und die Bestürzung auf ihrem Gesicht zu verbergen (eine Bestürzung, die weitere sechzehn Jahre ungeklärt bleiben sollte), und diesen Gedanken beiseite gewedelt. «Mehr Kinder, mehr Ärger…»

Dann war es Dr.Philobosian, unser betagter Hausarzt. Uralte Diplome hinter sich, fällte der Doktor sein Urteil. «Unsinn. Das männliche Sperma soll schneller schwimmen? Hören Sie. Der erste Mensch, der Sperma unterm Mikroskop betrachtet hat, war Leeuwenhoek. Wissen Sie, wie das für ihn aussah? Wie Würmer…»

Und schon war wieder Desdemona zur Stelle, diesmal mit einem anderen Aspekt: «Gott entscheidet, was ist Baby. Nicht du…»

Diese Szenen gingen meiner Mutter während der nicht enden wollenden Sonntagsmesse durch den Kopf. Die Gemeinde stand auf und setzte sich. Auf der ersten Bank zappelten meine Cousins Socrates, Platon, Aristoteles und meine Cousine Cleopatra. Father Mike trat hinter der Ikonostase hervor und schwenkte sein Weihrauchgefäß. Meine Mutter versuchte zu beten, doch es war zwecklos. Sie hielt gerade eben so bis zum Kaffeekränzchen durch.

Ab dem zarten Alter von zwölf Jahren war meine Mutter außerstande, den Tag ohne die Hilfe wenigstens zweier Tassen unmäßig starken, pechschwarzen, ungesüßten Kaffees zu beginnen, eine Vorliebe, die sie von den Schlepperkapitänen und schnieken Junggesellen übernommen hatte, die die Pension bevölkerten, in der sie aufgewachsen war. Als Highschool-Mädchen mit ihren eins dreiundfünfzig hatte sie im Diner an der Ecke neben Autos bauenden Fabrikarbeitern gesessen und noch vor der ersten Schulstunde einen Kaffee getrunken. Während die ihre Rennquoten studierten, saß Tessie über ihren Hausaufgaben für Staatsbürgerkunde. Nun, im Kellergeschoss der Kirche, sagte sie Pleitegeier, er solle mit den anderen Kindern spielen, solange sie, um wieder auf die Beine zu kommen, eine Tasse Kaffee trinke.

Sie war bei ihrer zweiten, als eine sanfte, frauliche Stimme ihr ins Ohr seufzte. «Guten Morgen, Tessie.» Es war ihr Schwager, Father Michael Antoniou.

«Hallo, Father Mike. Schöner Gottesdienst heute», sagte Tessie und bedauerte es sofort. Father Mike war an der Himmelfahrtskirche der Hilfspriester. Als der letzte Priester, nach gerade mal drei Monaten nach Athen zurückbeordert, gegangen war, hatte die Familie gehofft, Father Mike würde befördert werden. Aber dann hatte doch wieder ein neuer, im Ausland geborener Priester die Stelle erhalten, Father Gregorios. Tante Zo, die keine Gelegenheit ausließ, über ihre Ehe zu klagen, hatte beim Essen mit ihrer Komikerinnenstimme gesagt: «Mein Mann. Immer die Brautjungfer und nie die Braut.»

Mit ihrem Lob des Gottesdienstes hatte Tessie nicht Father Greg gemeint. Die Situation wurde noch heikler dadurch, dass Tessie und Michael Antoniou Jahre früher einmal verlobt gewesen waren. Jetzt war sie mit Milton verheiratet, und Father Mike mit Miltons Schwester. Tessie hatte da unten im Keller eigentlich den Kopf frei bekommen und ihren Kaffee trinken wollen, und schon geriet ihr der ganze Tag wieder durcheinander.

Doch Father Mike schien die Kränkung nicht wahrzunehmen. Lächelnd stand er da, die Augen sanft über dem rauschenden Wasserfall seines Bartes. Ein gütiger Mann, Father Mike, und beliebt bei den Kirchenwitwen. Sie scharten sich immer gern um ihn, boten ihm Kekse an und sonnten sich in seinem beseligenden Wesen. Ein Teil dieses Wesens rührte daher, dass Father Mike es vollkommen zufrieden war, nur eins sechzig groß zu sein. Seiner Kleinheit haftete etwas Mildtätiges an, so als hätte er seine Größe verschenkt. Er schien Tessie vergeben zu haben, dass sie vor Jahren ihre Verlobung gelöst hatte, aber noch immer hing sie zwischen ihnen in der Luft wie der Talkumpuder, der zuweilen in Wölkchen aus seinem Priesterkragen stob.

Lächelnd, sorgsam Kaffeetasse und Untertasse haltend, fragte Father Mike: «Na, Tessie, wie steht’s zu Hause?»

Natürlich wusste meine Mutter, dass Father Mike als wöchentlicher Gast über das Thermometerprojekt genaustens informiert war. Als sie ihm in die Augen sah, meinte sie, etwas Schalkhaftes darin zu entdecken.

«Du kommst doch heute», sagte sie beiläufig. «Dann siehst du’s ja selbst.»

«Ich freue mich schon», sagte Father Mike. «Bei euch gibt es immer so interessante Diskussionen.»

Tessie prüfte Father Mikes Augen noch einmal, aber nun schien echte Wärme von ihnen auszugehen. Und dann geschah etwas, was ihre Aufmerksamkeit vollkommen von Father Mike ablenkte.

Am anderen Ende des Raums war Pleitegeier auf einen Stuhl gestiegen, um den Hahn der Kaffeemaschine zu erreichen. Er wollte sich eine Tasse eingießen und kriegte den Hahn auch auf, aber nicht mehr zu. Kochend heißer Kaffee ergoss sich über den Tisch. Die heiße Flüssigkeit bespritzte ein Mädchen, das daneben stand. Das Mädchen sprang zurück. Ihr Mund öffnete sich, aber es kam kein Ton heraus. Im Eiltempo rannte meine Mutter quer durch den Raum und bugsierte das Mädchen in die Damentoilette.

Niemand weiß noch, wie das Mädchen hieß. Sie gehörte zu keinem der regelmäßigen Kirchgänger. Sie war nicht einmal Griechin. Sie kam an dem einen Tag in die Kirche und dann nie wieder und schien nur existiert zu haben, um meine Mutter umzustimmen. Auf der Toilette hielt sich das Mädchen die dampfende Bluse vom Körper, während Tessie feuchte Handtücher holte. «Ist alles in Ordnung, mein Schätzchen? Hast du dich auch nicht verbrannt?»

«Der Junge, der ist sehr ungeschickt», sagte das Mädchen.

«Kommt vor, ja. Immerzu passiert ihm was.»

«Jungen können sehr ungebärdig sein.»

Tessie lächelte. «Du kannst aber schon schwierige Wörter.»

Bei diesem Kompliment strahlte das Mädchen übers ganze Gesicht. «‹Ungebärdig› ist mein Lieblingswort. Mein Bruder ist sehr ungebärdig. Letzten Monat war mein Lieblingswort ‹schwülstig›. Aber ‹schwülstig› kann man nicht so oft anwenden. Schwülstig sind nicht sehr viele Dinge. Wenn man’s bedenkt.»

«Da hast du wohl Recht», sagte Tessie und lachte. «Aber ungebärdig passt immer.»

«Wie Recht Sie haben», sagte das Mädchen.

Zwei Wochen später. Ostersonntag, 1959.Die Treue unserer Religion zum Julianischen Kalender hat uns wieder einmal aus dem Takt mit der Nachbarschaft gebracht. Zwei Sonntage zuvor sah mein Bruder zu, wie die anderen Kinder aus der Straße bunte Eier im Gebüsch suchten. Er beobachtete, wie seine Freunde Schokoladenhasen den Kopf abbissen und sich ganze Hände voll Gummibonbons zwischen die kariösen Zähne warfen. (Während er so am Fenster stand, wollte mein Bruder mehr als alles andere auf der Welt an einen amerikanischen Gott glauben, der am richtigen Tag auferstanden war.) Erst gestern durfte Pleitegeier schließlich seine eigenen Eier färben, wenn auch nur in einer Farbe: Rot. Im ganzen Haus blinken rote Eier in länger werdenden Sonnwendstrahlen. Rote Eier füllen Schalen auf dem Esstisch. Sie hängen in Netzsäckchen über Türen. Sie drängen sich auf dem Kaminsims und werden in kreuzförmige tsoureki-Laibeeingebacken.

Jetzt aber ist es später Nachmittag, das Mittagessen ist vorbei. Und mein Bruder lächelt. Weil nun der Teil des griechischen Osterfestes kommt, den er Eiersuchen und Gummibonbons vorzieht: das Eierstoßspiel. Alle setzen sich um den Esstisch. Pleitegeier beißt sich auf die Lippe, wählt ein Ei aus der Schale aus, begutachtet es, legt es wieder zurück, wählt ein anderes. «Das sieht doch ganz gut aus», sagt Milton und nimmt sich selber eins. «Robust wie ein Brinks-Laster.» Milton hebt sein Ei hoch. Pleitegeier bereitet sich auf den Angriff vor. Da tippt meine Mutter meinem Vater unvermittelt auf den Rücken.

«Augenblick noch, Tessie. Wir machen gerade Eierstoßen.»

Sie tippt fester.

«Was?»

«Meine Temperatur.» Sie macht eine Pause. «Sechs Zehntel gestiegen.»

Sie hatte gemessen. Es ist das Erste, was mein Vater davon hört.

«Jetzt?», flüstert mein Vater. «Herrgott, Tessie, bist du sicher?»

«Nein, bin ich nicht. Du hast gesagt, ich soll auf jede Erhöhung meiner Temperatur achten, und ich sage dir, jetzt ist sie um sechs Zehntel eines Grades höher.» Und, die Stimme senkend: «Außerdem sind es jetzt dreizehn Tage seit meiner letzten du weißt schon.»

«Komm endlich, Dad», drängt Pleitegeier.

«Auszeit», sagt Milton. Er legt sein Ei in den Aschenbecher. «Das ist meins. Keiner rührt es an, bis ich wieder da bin.»

Oben, im Elternschlafzimmer, vollziehen meine Eltern den Akt. Der natürliche Anstand eines Kindes hält mich davon ab, mir die Szene im Detail auszumalen. Nur dies: Sowie die beiden fertig sind, sagt mein Vater, als habe er gerade sein Auto voll getankt: «Das dürfte genügen.» Wie sich herausstellt, hat er Recht. Im Mai erfährt Tessie, dass sie schwanger ist, und das Warten beginnt.

Sechs Wochen später habe ich Augen und Ohren. Nach sieben Wochen Nasenlöcher, sogar Lippen. Meine Genitalien bilden sich aus. Fetale Hormone hemmen auf Weisung der Chromosomen Müller’sche Strukturen, fördern die Entwicklung Wolff’scher Gänge. Meine dreiundzwanzig paarigen Chromosomen haben sich aneinander gekoppelt und verschränkt, drehen ihr Rouletterad, als mein papou meiner Mutter die Hand auf den Bauch legt und «Ihr beiden Glücklichen!» sagt. Zu Regimentern aufgestellt, führen meine Gene die Befehle aus. Alle bis auf zwei, ein Paar Schufte – oder Revolutionäre, je nach Blickwinkel–, die sich auf Chromosom fünf verstecken. Gemeinsam ziehen sie ein Enzym ab, was die Produktion eines bestimmten Hormons stoppt, was mein Leben schwierig macht.

Im Wohnzimmer politisieren die Männer nicht mehr, sondern schließen Wetten ab, ob Milts zweites Kind ein Junge oder ein Mädchen wird. Mein Vater ist guten Mutes. Vierundzwanzig Stunden nach dem Akt stieg die Körpertemperatur meiner Mutter um weitere zwei Zehntel, was den Eisprung bestätigte. Zu diesem Zeitpunkt hatte das männliche Sperma schon erschöpft aufgegeben. Das weibliche gewann das Rennen, wie die Schnecke. (Da gab Tessie Milton das Thermometer zurück und sagte, sie wolle es nie mehr sehen.)

Das alles führte zu dem Tag, an dem Desdemona ein Essgerät über dem Bauch meiner Mutter baumeln ließ. Damals gab es noch keinen Ultraschall; der Löffel tat es auch. Desdemona kauerte sich hin. In der Küche wurde es still. Die anderen Frauen kauten auf der Unterlippe, schauten, warteten. Während der ersten Minute rührte sich der Löffel gar nicht. Desdemonas Hand zitterte, und nachdem lange Sekunden vergangen waren, hielt Tante Lina die Hand fest. Der Löffel drehte sich, ich trat; meine Mutter schrie auf. Und dann, langsam, von einem Wind getrieben, den niemand spürte, begann der Silberlöffel sich auf jene schauerliche paraphysische Weise zu bewegen, zu schwingen, erst in einem kleinen Kreis, doch von Mal zu Mal wurde die Bahn ein wenig elliptischer, bis sie sich zu einer geraden Linie abflachte, die vom Herd zur Küchenbank wies. Mit anderen Worten, von Nord nach Süd. Desdemona rief: «Kouros!» Und im Raum gellten die Schreie «kouros, kouros».

In jener Nacht sagte mein Vater: «Dreiundzwanzig hintereinander bedeutet, sie fordert das Schicksal heraus. Diesmal liegt sie falsch. Vertrau mir.»

«Es macht mir nichts, wenn’s ein Junge wird», sagte meine Mutter. «Wirklich nicht. Solange es gesund ist, zehn Finger, zehn Zehen.»

«Was soll dieses ‹es›. Du redest von meiner Tochter.»

Eine Woche nach Neujahr, am 8.Januar 1960, kam ich zur Welt. Mein Vater, der nur Zigarren mit rosa Bauchbinde dabeihatte, schrie im Warteraum: «Bingo!» Ich war ein Mädchen. Achtundvierzig Zentimeter groß. Dreitausenddreihundertzehn Gramm.

Am selben 8.Januar erlitt mein Großvater den ersten seiner dreizehn Schlaganfälle. Aufgeweckt von meinen Eltern, die ins Krankenhaus eilten, war er aufgestanden und nach unten gegangen, um sich eine Tasse Kaffee zu kochen. Eine Stunde später fand Desdemona ihn auf dem Küchenboden. Zwar blieben an jenem Morgen, als ich in der Frauenklinik meinen ersten Schrei ausstieß, seine Geisteskräfte intakt, doch verlor mein papou sein Sprachvermögen. Desdemona zufolge war mein Großvater zusammengebrochen, kurz nachdem er die Tasse umgestülpt hatte, um im Kaffeesatz seine Zukunft zu lesen.

Als Onkel Pete von meinem Geschlecht erfuhr, wollte er nicht, dass man ihm gratulierte. Zauberei sei nicht im Spiel gewesen, «und außerdem», witzelte er, «hat ja Milt die ganze Arbeit gemacht.» Desdemona verbitterte das. Ihr in Amerika geborener Sohn hatte Recht behalten, und mit dieser Niederlage wich das alte Land, in dem sie noch immer zu leben versuchte, obwohl es siebentausend Kilometer und achtunddreißig Jahre entfernt war, um eine weitere Stufe zurück. Meine Geburt markierte das Ende ihres Babyratens und den Beginn des langwierigen Verfalls ihres Mannes. Auch wenn die Seidenraupenkiste noch ab und zu auftauchte, befand sich der Löffel nicht mehr unter den Schätzen.

Ich wurde herausgezogen, auf den Hintern geklapst und abgespritzt, in dieser Reihenfolge. Man wickelte mich in eine Decke und zeigte mich zusammen mit sechs weiteren Neugeborenen her, vier Jungen und zwei Mädchen, sie alle, anders als ich, zutreffend etikettiert. Es kann nicht stimmen, aber ich erinnere mich daran: Funken, die langsam eine dunkle Leinwand füllen.

Jemand hatte meine Augen angeknipst.

Ehestiften

Wenn diese Geschichte in die Welt hinausgeht, könnte ich zum berühmtesten Hermaphroditen aller Zeiten werden. Vor mir hat es schon andere gegeben. Alexina Barbin besuchte ein Mädcheninternat in Frankreich, bevor sie zu Abel wurde. Sie hinterließ eine Autobiographie, die Michel Foucault im Archiv des französischen Gesundheitsministeriums entdeckte. (Ihre Memoiren, die kurz vor ihrem Selbstmord enden, geben eine unbefriedigende Lektüre ab, und nachdem ich sie vor Jahren durchgelesen hatte, kam ich auf die Idee, selbst eine zu schreiben.) Gottlieb Göttlich, geboren 1798, lebte bis zum Alter von dreiunddreißig Jahren als Marie Rosine. Eines Tages ging Marie mit Unterleibsschmerzen zum Arzt. Der untersuchte sie auf einen Eingeweidebruch und fand stattdessen nicht abgestiegene Hoden. Von da an zog Marie Männersachen an, nannte sich Gottlieb und machte ein Vermögen damit, in Europa herumzureisen und sich Medizinern vorzustellen.

In den Augen der Ärzte bin ich sogar noch besser als Gottlieb. Da fetale Hormone die Gehirnchemie und -histologie beeinflussen, habe ich nämlich ein männliches Gehirn. Aber ich wurde als Mädchen erzogen. Wollte man sich ein Experiment ausdenken, mit dem man die jeweiligen Einflüsse von Angeborenem oder Erworbenem messen kann, hätte man kein besseres Objekt als mein Leben. Während meines Klinikaufenthaltes vor nahezu drei Jahrzehnten unterzog mich Dr.Luce einem wahren Hagel von Tests. Ich machte den Benton Visual Retention Test und den Bender Visual-Motor Gestalt Test. Mein Sprach-IQ wurde getestet und noch vieles andere mehr. Sogar meinen Schreibstil analysierte Luce, um zu sehen, ob ich linear, also männlich, oder zirkulär und mithin weiblich schrieb.

Ich weiß nur eines: Trotz meines androgynisierten Gehirns liegt der Geschichte, die ich zu erzählen habe, eine natürliche weibliche Zirkularität zugrunde. Wie jeder Geschichte, die mit Genen zu tun hat. Ich bin das letzte Glied in einem periodischen Satz, und dieser Satz beginnt vor langer Zeit, in einer anderen Sprache, und man muss ihn vom Anfang lesen, um ans Ende zu gelangen, meiner Geburt.

Und nachdem ich nun also geboren bin, spule ich den Film zurück, sodass meine rosa Decke davonfliegt, mein Bettchen über den Fußboden saust, meine Nabelschnur sich wieder ansetzt und ich aufschreie, während ich zwischen die Beine meiner Mutter gesogen werde. Sie wird wieder richtig dick. Dann noch etwas weiter zurück, wo ein Löffel aufhört zu schwingen und ein Thermometer in sein Samtkästchen gelegt wird. Der Sputnik jagt auf seinem Raketenschweif zurück zu seiner Abschussrampe, und die Kinderlähmung zieht durchs Land. Es folgt eine kurze Sequenz von meinem Vater als zwanzigjährigem Klarinettisten, der gerade ein Stück von Artie Shaw ins Telefon spielt, dann ist er in der Kirche, mit acht, wo er sich über den Preis der Kerzen empört, und als Nächstes nimmt mein Großvater 1931 seinen ersten Dollarschein über einer Registrierkasse von der Wand. Dann sind wir nicht mehr in Amerika; wir sind mitten auf dem Ozean, die Tonspur klingt komisch im Rückwärtslauf. Ein Dampfschiff wird sichtbar, und auf Deck schaukelt ein Rettungsboot ganz seltsam, doch schon dockt das Schiff an, mit dem Heck voraus, und wir sind wieder auf festem Boden, wo die Filmrolle abgespult ist, wir sind am Anfang…

IM SPÄTSOMMER 1922 sagte meine Großmutter Desdemona Stephanides keine Geburten, sondern Todesfälle voraus, in erster Linie ihren eigenen. Sie war bei ihren Seidenraupen hoch oben am Hang des kleinasiatischen Olymp, als ihr Herz ohne Vorwarnung einen Schlag aussetzte. Es war ein eindeutiges Gefühl: Sie spürte, wie ihr Herz stehen blieb und sich zu einer Kugel zusammenpresste. Dann, als sie erstarrte, fing es an zu rasen, hämmerte gegen die Rippen. Sie stieß einen kleinen, erstaunten Schrei aus. Ihre zwanzigtausend Seidenraupen, die auf menschliche Emotionen empfindlich reagierten, stellten ihr Kokonspinnen ein. In dem trüben Licht kniff meine Großmutter die Augen zusammen, blickte an sich hinab und sah die Vorderseite ihres Kasacks merklich flattern; in dem Augenblick erkannte sie den Aufruhr in sich und wurde zu dem, was sie ihr weiteres Leben lang blieb: ein kranker Mensch, der in einem gesunden Körper gefangen ist. Trotzdem trat sie, außerstande, an ihr Fortbestehen zu glauben, und obwohl ihr Herz sich schon wieder beruhigt hatte, hinaus aus der Züchterei, um einen letzten Blick auf die Welt zu werfen, die sie für weitere achtundfünfzig Jahre nicht verlassen sollte.

Der Blick war beeindruckend. Dreihundert Meter unter ihr lag Bursa, die alte Hauptstadt der Osmanen, ausgebreitet wie ein Backgammonbrett auf dem grünen Filz des Tals. Rote Dachziegelrauten fügten sich in Rauten aus weißer Tünche. Hier und da waren die Sultansgräber wie bunte Spielmarken aufgestapelt. Damals, 1922, verstopfte der Automobilverkehr noch nicht die Straßen. Skilifte hatten noch keine Schneisen in die Pinienwälder des Berges geschnitten. Noch säumten keine Hüttenwerke und Textilbetriebe die Stadt, füllten die Luft noch nicht mit Smog. Bursa war – wenigstens aus dreihundert Meter Höhe – ziemlich unverändert das, was es während der vergangenen sechs Jahrhunderte gewesen war, eine heilige Stadt, die Nekropolis der Osmanen und das Zentrum des Seidenhandels, an deren stillen, abschüssigen Straßen Minarette und Zypressen aufragten. Die Ziegel der Grünen Moschee waren mit dem Alter blau geworden, aber das war es dann auch schon. Desdemona Stephanides jedoch, der Kiebitz aus der Ferne, blickte auf das Brett hinab und sah, was den Spielenden entgangen war.

Um das Herzklopfen meiner Großmutter psychologisch zu durchleuchten: Es war der Ausdruck von Kummer. Ihre Eltern waren tot – umgekommen kurz zuvor im jüngsten Krieg mit den Türken. Die griechische Armee war, ermuntert von den Verbündeten, 1919 in die Westtürkei einmarschiert, um sich das alte griechische Territorium in Kleinasien zurückzuholen. Nachdem sie jahrelang abgeschieden auf dem Berg gelebt hatten, waren die Leute von Bithynios, dem Dorf meiner Großmutter, herausgetreten in die Sicherheit der Megali Idea – der Großen Idee, des Traums von einem Großgriechenland. Nun hielten griechische Truppen Bursa besetzt. Über dem ehemaligen Osmanenpalast wehte die griechische Fahne. Die Türken und ihr Anführer, Mustafa Kemal, hatten sich in den Osten nach Angora zurückgezogen. Zum ersten Mal in ihrem Leben standen die Griechen in Kleinasien nicht mehr unter türkischer Herrschaft. Nun war es den Giaurs («den ungläubigen Hunden») nicht mehr untersagt, helle Kleidung zu tragen oder auf einem Pferd zu reiten, erst recht mit Sattel. Nie wieder würden, wie in den Jahrhunderten zuvor, jedes Jahr osmanische Beamte ins Dorf kommen und die kräftigsten Burschen zum Dienst bei den Janitscharen abtransportieren. Wenn die Männer des Dorfs nun mit ihrer Seide auf den Markt von Bursa gingen, waren sie freie Griechen in einer freien griechischen Stadt.

Desdemona jedoch, die um ihre Eltern trauerte, war noch gefangen in der Vergangenheit. Und so stand sie auf dem Berg, blickte hinab auf die befreite Stadt und fühlte sich betrogen von ihrem Unvermögen, wie alle anderen glücklich zu sein. Viel später, als sie längst verwitwet war, ein Jahrzehnt lang das Bett hütete und mit großer Lebenskraft zu sterben versuchte, sollte sie schließlich einräumen, dass jene zwei Zwischenkriegsjahre ein halbes Jahrhundert zuvor die einzige passable Spanne Zeit in ihrem Leben gewesen waren, aber da lagen schon alle, die sie von damals gekannt hatte, unter der Erde, sodass sie es nur dem Fernseher sagen konnte.

Fast eine ganze Stunde hatte sich Desdemona bemüht, ihre Vorahnung zu ignorieren, indem sie sich in der Seidenraupenzucht an die Arbeit machte. Sie war zur Hintertür des Wohnhauses hinausgetreten und durch den Laubengang mit den süß duftenden Trauben und über den terrassierten Garten in die niedrige Strohdachhütte gegangen. Der beißende Larvengeruch störte sie nicht. Die Seidenraupenzucht war ihre ureigene, stinkende Oase. Um sie herum hielten sich, an einem Himmelsgewölbe, Seidenraupen an gebündelte Maulbeerzweige geklammert. Desdemona sah ihnen zu, wie sie Kokons spannen, den Kopf bewegten wie zu Musik. Dabei vergaß sie die Außenwelt, deren Wandel und Erschütterungen, deren schreckliche neue Musik (die gleich gesungen werden wird). Stattdessen hörte sie ihre Mutter, Euphrosyne Stephanides, wie sie Jahre zuvor an ebendiesem Ort gesprochen, Licht in die Mysterien der Seidenraupen gebracht hatte – «um gute Seide zu bekommen, muss man rein sein», hatte sie ihrer Tochter immer gesagt. «Die Seidenraupen wissen alles. An der Beschaffenheit der Seide erkennt man, was die Leute im Sinn haben» – und so weiter, wobei sie Beispiele gab – «Maria Poulos, die für jeden den Rock hebt? Hast du ihre Kokons gesehen? Für jeden Mann ein Fleck. Bei der nächsten Gelegenheit achte mal darauf»–, Desdemona war da erst elf oder zwölf und glaubte jedes Wort, sodass sie nun, als junge Frau von einundzwanzig Jahren, die moralischen Geschichten ihrer Mutter noch immer ein wenig glaubte und die Kokon-Konstellationen nach Zeichen ihrer eigenen Unreinheit absuchte (was sie nicht alles geträumt hatte!). Auch nach anderen Dingen suchte sie, weil ihre Mutter darüber hinaus behauptet hatte, dass Seidenraupen auf historische Gräuel reagierten. Nach jedem Massaker, und wenn es in einem Dorf hundert Kilometer weiter stattgefunden hatte, würden die Fäden der Seidenraupen die Farbe von Blut annehmen – «ich habe sie bluten sehen wie Christos’ Füße», und Euphrosynes Tochter kniff Jahre später, in Erinnerung daran, die Augen in dem schwachen Licht zusammen, um zu prüfen, ob Kokons sich vielleicht rot gefärbt hatten. Sie zog eine Schale heraus und schüttelte sie, sie zog noch eine heraus, und genau da spürte sie, wie ihr Herz stehen blieb, sich zu einer Kugel zusammenpresste und sie von innen boxte. Sie ließ die Schale fallen, sah, wie ihr Kasack, aufgebauscht von einer inneren Kraft, flatterte, und begriff, dass ihr Herz nach seinen eigenen Regeln schlug, dass sie keine Macht darüber hatte, genauso wenig wie über irgendetwas anderes.

Und so stand meine jiajia, während sie das erste ihrer eingebildeten Leiden hatte, da und blickte auf Bursa hinab, als fände sie dort eine sichtbare Bestätigung ihrer unsichtbaren Furcht. Und schon drang es aus dem Haus heraus, mittels Schall: Ihr Bruder, Eleutherios («Lefty») Stephanides, hatte zu singen angefangen. In schlecht ausgesprochenem Englisch ohne jeden Sinn:

«Jed’n Morgen, jed’n Abend ham wir unsern Spaß», sang Lefty, und er stand wie jeden Nachmittag um diese Zeit vor ihrer beider Schlafzimmerspiegel, befestigte den neuen Zelluloidkragen an dem neuen weißen Hemd, quetschte sich einen Klacks Pomade (mit Limonenaroma) auf die Hand und rieb sie in seine neue Valentinofrisur. «Und dazwischen, und dazwischen ham wir unsern Spaß.» Der Text bedeutete ihm nichts, was zählte, war die Melodie. Sie kündete Lefty von der Frivolität des Jazz-Zeitalters, von Gin-Cocktails, Zigarettenmädchen; beschwingt von ihr, striegelte er sich das Haar mit großer Gebärde nach hinten… während draußen im Garten Desdemona den Gesang hörte und auf ganz andere Gedanken kam. Für sie beschwor das Lied nur die anrüchigen Bars, die ihr Bruder unten in der Stadt aufsuchte, die Haschhöhlen, in denen sie Rembetika- und amerikanische Musik spielten und wo es lose Frauen gab, die sangen… und Lefty zog seinen neuen gestreiften Anzug an und faltete das rote Taschentuch, das zu seiner roten Krawatte passte… und ihr war seltsam zumute, besonders im Magen, der von vertrackten Emotionen aufgewühlt war, von Trauer, Ärger und noch etwas anderem, das sie nicht benennen konnte und das am meisten wehtat. «Die Miete nicht bezahlt, mein Schatz, ein Auto ham wir nicht», schnulzte Lefty in dem angenehmen Tenor, den ich später erben sollte, und hinter der Musik hörte Desdemona nun wieder die Stimme ihrer Mutter, Euphrosyne Stephanides’ letzte Worte, kurz bevor sie an der Schusswunde starb: «Gib Acht auf Lefty. Versprich’s mir. Such ihm eine Frau!»… und hörte, wie sie unter Tränen geantwortet hatte: «Ich versprech’s dir. Ich versprech’s!»… diese Stimmen sprachen alle gleichzeitig in Desdemonas Kopf, als sie durch den Garten zum Haus ging. Sie kam durch die kleine Küche, wo das Mittagessen (für einen) köchelte, und marschierte geradewegs ins Schlafzimmer, das sie mit ihrem Bruder teilte. Er sang noch immer – «Nicht viel Geld, ach, aber Liebling»–, brachte die Manschettenknöpfe an, zog sich einen Scheitel, blickte dann jedoch auf und sah seine Schwester – «was ham wir unsern» – nun pianissimo – «Spaß» – und verstummte.

Einen Augenblick lang erfasste der Spiegel ihre beiden Gesichter. Mit einundzwanzig, lange vor dem schlecht sitzenden Gebiss und den selbst auferlegten Gebrechen, war meine Großmutter durchaus eine Schönheit. Sie trug das schwarze Haar in langen Zöpfen, die sie unter ihrem Kopftuch festgesteckt hatte. Diese Zöpfe waren nicht zart wie bei einem kleinen Mädchen, sondern schwer und fraulich, und sie besaßen eine natürliche Kraft wie ein Biberschwanz. Jahre, Jahreszeiten und Witterungen hatten in den Zöpfen Spuren hinterlassen, und wenn sie sie nachts löste, fielen sie ihr bis auf die Taille. Jetzt waren die Zöpfe mit schwarzem Seidenband umwickelt, was sie noch eindrucksvoller machte, vorausgesetzt, man bekam sie zu sehen, was nur wenigen gelang. Für die Öffentlichkeit bestimmt war Desdemonas Gesicht: ihre großen, trauervollen Augen, ihr blasser, kerzenbeschienener Teint. Erwähnen sollte ich, mit dem rudimentären Schmerz eines einstmals flachbrüstigen Mädchens, auch Desdemonas üppige Figur. Ihr Körper war ihr ein stetiger Anlass zu Verlegenheit. Immerzu teilte er sich in einer Weise mit, die sie nicht guthieß. Wenn sie in der Kirche niederkniete, wenn sie im Garten Teppich klopfte, wenn sie unterm Pfirsichbaum die Früchte aufsammelte, entkamen Desdemonas weibliche Rundungen den Zwängen ihrer graubraunen, einschnürenden Kleidung. Oberhalb ihres schlenkernden Körpers blieb ihr kopftuchgerahmtes Gesicht für sich, schien über das, was sich ihre Brüste und Hüften herausnahmen, leicht empört.

Eleutherios war größer und schmaler. Auf Fotografien aus jener Zeit sieht er aus wie eine jener Unterweltgestalten, die er verehrte, die Diebe und Spieler mit dem dünnen Oberlippenbärtchen, die sich in den Hafenspelunken von Athen und Konstantinopel breitmachten. Seine Nase war gebogen, seine Augen scharf, der Gesamteindruck seines Gesichts der eines Falken. Erst wenn er lächelte, sah man die Sanftheit seines Blicks, der klarstellte, dass Lefty in Wahrheit gar kein Gangster war, sondern der gehätschelte, büchernärrische Sohn gut situierter Eltern.

An jenem Sommernachmittag des Jahres 1922 galt Desdemonas Aufmerksamkeit nicht dem Gesicht ihres Bruders. Vielmehr wanderten ihre Blicke über seine Anzugjacke, das schimmernde Haar, die gestreifte Hose, wobei sie zu ergründen suchte, was während der letzten Monate mit ihm geschehen war.

Lefty war ein Jahr jünger als Desdemona, und sie fragte sich häufig, wie sie jene ersten zwölf Monate ohne ihn überstanden hatte. Denn so lange sie sich erinnern konnte, war er immer auf der anderen Seite der Ziegenhaardecke gewesen, die ihre Betten trennte. Hinter dem kelimi führte er Marionettenspiele auf, verwandelte seine Hände in den schlauen, buckligen Karagiozis, der stets die Türken übertölpelte. Da im Dunkeln erfand er Reime und trällerte Lieder, und seine neue amerikanische Musik verabscheute sie nicht zuletzt deshalb, weil er sie ausschließlich für sich selber sang. Desdemona hatte ihren Bruder immer so geliebt, wie nur eine Schwester, die auf einem Berg aufwuchs, ihren Bruder lieben konnte: Er war ihre einzige Zerstreuung, ihr bester Freund und Vertrauter, der Mitentdecker von Abkürzungen und Mönchszellen. Schon sehr früh war die Seelenverwandtschaft, die sie für Lefty empfand, so absolut gewesen, dass sie manchmal vergaß, nicht mit ihm eins zu sein. Als Kinder waren sie den terrassierten Berghang wie ein vierbeiniges, zweiköpfiges Wesen hinuntergetollt. Sie war an ihren siamesischen Schatten, der abends an den weiß getünchten Hauswänden hochsprang, gewöhnt, und wenn sie einmal nur dem ihren begegnete, kam er ihr wie halbiert vor.

Die Friedenszeit schien alles zu verändern. Lefty hatte sich die neuen Freiheiten zunutze gemacht. Im vergangenen Monat war er insgesamt siebzehnmal nach Bursa hinuntergegangen. Dreimal hatte er im Gasthaus zum Kokon gegenüber der Sultan-Orhan-Moschee übernachtet. Einmal war er am Vormittag in Stiefeln, Kniestrümpfen, Kniebundhose, doulamas und Weste losgezogen und am Abend des folgenden Tages in gestreiftem Anzug, ein Seidentuch im Kragen wie ein Opernsänger, und mit einem schwarzen Homburg auf dem Kopf zurückgekommen. Auch anderes veränderte sich. Er hatte angefangen, sich mit Hilfe eines kleinen pflaumenfarbenen Sprachführers Französisch beizubringen. Er hatte affektierte Gebärden angenommen, beispielsweise die Hände in die Hosentaschen zu schieben und mit dem Kleingeld zu klimpern oder die Mütze zu lüften. Wenn Desdemona Wäsche wusch, fand sie Papierschnipsel in Leftys Taschen, überzogen mit mathematischen Zahlen. Seine Kleidung roch nach Moschus, nach Rauch und manchmal süß.

Jetzt, im Spiegel, konnten ihre Gesichter nicht verbergen, dass mehr und mehr sie trennte. Und meine Großmutter, deren naturgegebene Düsternis sich zu einem wahren Herzgewitter ausgewachsen hatte, sah ihren Bruder an wie früher ihren Schatten und spürte, dass etwas fehlte.

«Wo gehst du in dem Anzug hin?»

«Was glaubst du wohl? Zum Koza Han. Kokons verkaufen.»

«Da warst du doch erst gestern.»

«Ist eben Saison.»

Mit einem Schildpattkamm scheitelte sich Lefty rechts die Haare, gab mehr Pomade auf eine widerspenstige Locke, die nicht anliegen wollte.

Desdemona trat näher heran. Sie nahm die Pomade und roch daran. Das war nicht der Geruch seiner Kleidung. «Was machst du da unten noch?»

«Nichts.»

«Manchmal bleibst du über Nacht.»

«Der Weg ist weit. Wenn ich ankomme, ist es schon spät.»

«Was rauchst du in den Bars?»

«Was eben in der Huka ist. Es gehört sich nicht, zu fragen.»

«Wenn Vater und Mutter wüssten, dass du so rauchst und trinkst…» Sie verstummte.

«Sie wissen es aber nicht, ja?», sagte Lefty. «Also, was soll’s.» Sein unbeschwerter Ton überzeugte sie nicht. Lefty benahm sich, als hätte er den Tod der Eltern verwunden, doch Desdemona durchschaute das. Sie lächelte ihren Bruder grimmig an und hielt ihm, ohne etwas dazu zu sagen, die Faust hin. Automatisch machte Lefty, während er sich noch im Spiegel bewunderte, ebenfalls eine Faust. Sie zählten: «Eins, zwei, drei… los!»

«Stein erschlägt Schlange. Ich hab gewonnen», sagte Desdemona. «Also sag’s.»

«Was soll ich dir sagen?»

«Was in Bursa so interessant ist.»

Lefty kämmte sich die Haare wieder nach vorn und zog den Scheitel links. Er warf den Kopf im Spiegel vor und zurück. «Was sieht besser aus: links oder rechts?»

«Lass mal sehen.» Desdemona hob sanft die Hand zu Leftys Haar – und zerwuschelte es.

«He!»

«Was willst du in Bursa?»

«Lass mich in Ruhe.»

«Sag’s mir!»

«Du willst es wissen?», sagte Lefty, nun wütend auf seine Schwester. «Was glaubst du wohl?» Er sprach mit angestauter Heftigkeit. «Ich will eine Frau.»

Desdemona fasste sich an den Bauch, schlug sich aufs Herz. Sie trat zwei Schritte zurück und musterte ihren Bruder von dieser Warte aus erneut. Die Vorstellung, dass Lefty, der ihre Augen und Brauen hatte, der in dem Bett neben ihrem schlief, von einem solchen Begehren ergriffen sein könnte, war ihr nie in den Sinn gekommen. Wenngleich längst ausgewachsen, war Desdemona ihr Körper noch immer fremd. Nachts im Schlafzimmer hatte sie gesehen, wie ihr schlafender Bruder sich auf seine Hanfmatratze presste, als wäre er wütend auf sie. Als Kind hatte sie ihn manchmal in der Seidenraupenzucht überrascht, wie er sich unschuldig an einem Holzpfosten rieb. Doch nichts davon hatte ihr zu denken gegeben. «Was tust du da?», hatte sie Lefty gefragt, der damals acht, neun Jahre alt gewesen war und, den Pfosten umschlungen, sich mit den Knien auf- und abwärts bewegt hatte. Mit fester, entschlossener Stimme hatte er geantwortet: «Ich will das Gefühl kriegen.»

«Was für ein Gefühl?»

«Weißt schon» – grunzend, keuchend, die Knie beugend–, «das Gefühl eben.»

Doch sie hatte es nicht gewusst. Jahre mussten noch vergehen, bevor Desdemona sich beim Gurkenschneiden gegen die Ecke des Küchentischs drückte und, ohne es zu merken, ein wenig fester dagegen drückte und irgendwann feststellte, dass sie diese Haltung täglich einnahm, die Tischecke hübsch zwischen den Beinen. Wenn sie nun ihrem Bruder das Essen machte, erneuerte sie manchmal ihre Bekanntschaft mit dem Esstisch, war sich dessen aber nicht bewusst. Ihr Körper tat das, schlau und stumm wie Körper überall.

Mit den Ausflügen ihres Bruders in die Stadt verhielt es sich anders. Er wusste anscheinend, wonach er suchte; er stand in lebhaftem Austausch mit seinem Körper. Geist und Körper waren bei ihm zur Einheit geworden, dachten einen Gedanken, waren aus auf ein und dieselbe Obsession, und zum ersten Mal überhaupt konnte Desdemona, was er dachte, nicht erfassen. Sie wusste nur, es hatte nichts mit ihr zu tun.

Das trieb sie um. Und machte sie vermutlich auch ein wenig eifersüchtig. War sie denn nicht seine beste Freundin? Hatten sie einander nicht immer alles gesagt? Kümmerte sie sich nicht um alles, kochen, nähen, das Haus in Ordnung halten wie früher ihre Mutter? Hatte sie nicht ganz allein die Seidenraupen versorgt, damit er, ihr kluger kleiner Bruder, beim Priester Unterricht nehmen, Altgriechisch lernen konnte? War nicht sie diejenige gewesen, die sagte: «Du hast die Bücher, ich habe die Seidenraupenzucht. Du musst nur die Kokons auf dem Markt verkaufen.» Und als er dann immer länger in der Stadt geblieben war, hatte sie sich darüber beschwert? Hatte sie die Papierschnipsel, seine roten Augen, den moschussüßen Geruch in seinen Sachen erwähnt? Desdemona argwöhnte, dass ihr verträumter Bruder zum Haschischraucher geworden war. Wo Rembetikamusik war, da war auch Haschisch. Lefty konnte mit dem Verlust der Eltern nur fertig werden, wie er es eben tat: indem er in einer Haschischwolke verschwand, berieselt von der mit Abstand traurigsten Musik der Welt. Das alles verstand Desdemona und hatte daher auch nichts gesagt. Nun aber sah sie, dass ihr Bruder seinem Kummer auf eine Weise entkommen wollte, wie sie es nicht erwartet hatte; und sie war nicht mehr willens, den Mund zu halten.

«Eine Frau willst du?», fragte Desdemona ungläubig. «Was für eine Frau? Eine Türkin?»

Lefty sagte nichts. Nach seinem Ausbruch war er wieder mit Kämmen beschäftigt.

«Vielleicht willst du ja ein Haremsmädchen. Ist das so? Du glaubst wohl, ich weiß nichts von diesen Dingern, diesen poutanes? O doch. Ich bin ja nicht dumm. Du magst es, wenn dir ein fettes Mädchen mit ihrem Bauch vor dem Gesicht herumwackelt? Mit einem Edelstein auf ihrem fetten Bauch? Willst du so eine? Ich will dir mal was sagen. Weißt du, warum türkische Mädchen sich das Gesicht bedecken? Du glaubst, es ist wegen ihrer Religion? Nein. Sie tun das, weil sonst niemand ihren Anblick ertragen könnte!»

Und nun schrie sie: «Schäm dich, Eleutherios! Was ist bloß los mit dir? Warum nimmst du dir kein Mädchen aus dem Dorf?»

Da lenkte Lefty, der sich gerade die Jacke abbürstete, die Aufmerksamkeit seiner Schwester auf etwas, was sie ganz offensichtlich übersah. «Vielleicht ist es dir noch nicht aufgefallen», sagte er, «aber in diesem Dorf gibt’s keine Mädchen.»

Was weitgehend stimmte. Bithynios war nie ein großes Dorf gewesen, aber 1922 war es kleiner denn je. 1913, als die Reblausplage die Rosinen vernichtet hatte, hatte die Abwanderung begonnen. Während der Balkankriege waren noch mehr gegangen. Leftys und Desdemonas Cousine Sourmelina hatte es nach Amerika verschlagen, und nun lebte sie in einem Ort namens Detroit. An einen sanften Hang des Berges gebaut, war Bithynios kein Gebirgsdorf am Abgrund. Es war eine elegante, zumindest harmonische Ansammlung gelber Stuckhäuser mit roten Dächern. Die prächtigsten Häuser, von denen es zwei gab, hatten çikma, geschlossene Erker, die über die Straße hinausragten. Die ärmsten Häuser, von denen es viele gab, waren im Wesentlichen Einzimmerküchen. Und dann gab es noch Häuser wie das von Desdemona und Lefty, mit einem voll gestellten Wohnzimmer, zwei Schlafzimmern, einer Küche und einem Klohäuschen im Garten mit einer europäischen Toilette. Geschäfte gab es in Bithynios keine, auch keine Post und keine Bank, nur eine Kirche und eine einzige Taverne. Zum Einkaufen musste man nach Bursa, das erste Stück zu Fuß und dann weiter mit der Pferdestraßenbahn.

1922 wohnten kaum hundert Menschen in dem Dorf. Weniger als die Hälfte davon waren Frauen. Von siebenundvierzig Frauen waren einundzwanzig alt. Weitere zwanzig waren mittelalte Ehefrauen. Drei waren junge Mütter, jede mit einer Tochter in Windeln. Eine war seine Schwester. Blieben zwei heiratsfähige Mädchen. Die Desdemona nun eilends aufzählte.

«Wieso sollte es hier keine Mädchen geben? Was ist mit Lucille Kafkalis? Das ist ein nettes Mädchen. Oder Victoria Pappas?»

«Lucille riecht», antwortete Lefty sachlich. «Sie badet vielleicht einmal im Jahr. An ihrem Namenstag. Und Victoria?» Er strich sich mit dem Finger über die Oberlippe. «Victoria hat einen Bart, der größer ist als meiner. Ich will mit meiner Frau nicht das Rasiermesser teilen.» Und er legte die Kleiderbürste hin und zog sich die Jacke an. «Warte nicht auf mich», sagte er und verließ das Schlafzimmer.

«Geh doch!», rief Desdemona ihm nach. «Macht mir doch nichts aus. Aber denk dran: Wenn deine türkische Frau die Maske abnimmt, komm mir nicht ins Dorf zurückgelaufen!»

Doch Lefty war schon weg. Seine Schritte verhallten. Desdemona spürte, wie das rätselhafte Gift in ihrem Blut wieder zu wirken begann. Sie achtete nicht darauf. «Ich esse nicht gern allein!», schrie sie, zu niemandem.