Mind Control - Stephen King - E-Book
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Mind Control E-Book

Stephen King

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Beschreibung

In Zimmer 217 ist etwas aufgewacht. Etwas Böses.

Brady Hartsfield, verantwortlich für das Mercedes-Killer-Massaker mit vielen Toten liegt seit fünf Jahren in einer Klinik für Neurotraumatologie im Wachkoma. Seinen Ärzten zufolge wird er sich nie erholen. Doch hinter all dem Sabbern und In-die-Gegend-Starren ist Brady bei Bewusstsein – und er besitzt tödliche neue Kräfte.

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Das Buch

In Zimmer 217 ist etwas aufgewacht. Etwas Böses. Brady Hartsfield, verantwortlich für das Mercedes-Killer-Massaker mit vielen Toten liegt seit fünf Jahren in einer Klinik für Neurotraumatologie im Wachkoma. Seinen Ärzten zufolge wird er sich nie erholen. Doch hinter all dem Sabbern und In-die-Gegend-Starren ist Brady bei Bewusstsein – und er besitzt tödliche neue Kräfte, mit denen er unvorstellbares Unheil anrichten kann, ohne sein Krankenzimmer je zu verlassen. Ex-Detective Bill Hodges, den wir aus Mr. Mercedes und Finderlohn kennen, kann die Selbstmordepidemie in der Stadt schließlich mit Brady in Verbindung bringen, aber da ist es schon zu spät.

Der Autor

Stephen King, 1947 in Portland, Maine, geboren, ist einer der erfolgreichsten amerikanischen Schriftsteller. Bislang haben sich seine Bücher weltweit über 400 Millionen Mal in mehr als 50 Sprachen verkauft. Für sein Werk erhielt er zahlreiche Preise, darunter 2003 den Sonderpreis der National Book Foundation für sein Lebenswerk und 2015 mit dem »Edgar Allan Poe Award« den bedeutendsten kriminalliterarischen Preis für Mr. Mercedes. 2015 ehrte Präsident Barack Obama ihn zudem mit der National Medal of Arts. Seine Werke erscheinen im Heyne-Verlag, zuletzt die Spiegel-Bestseller Finderlohn und Basar der bösen Träume.

STEPHEN KING

MIND CONTROL

ROMAN

Aus dem Amerikanischenvon Bernhard Kleinschmidt

Die Originalausgabe erschien unter dem TitelEND OF WATCHbei Scribner, New York

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2016 by Stephen King

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe byWilhelm Heyne Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Lothar Strüh

Covergestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN 978-3-641-19558-8V005

Für Thomas Harris

Get me a gun

Go back into my room

I’m gonna get me a gun

One with a barrel or two

You know I’m better off dead than

Singing these suicide blues.

Cross Canadian Ragweed

10. APRIL 2009

MARTINE STOVER

Am dunkelsten ist es immer vor der Morgendämmerung.

Dieser gut abgehangene Spruch kam Rob Martin in den Sinn, als der Rettungswagen, den er lenkte, langsam die Upper Marlborough Street entlang in Richtung Heimat rollte, das heißt zur Feuerwache Nr. 3. Wem auch immer das eingefallen war, er hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Heute Morgen war es jedenfalls dunkler als in einem Bärenarsch, obwohl die Dämmerung nicht mehr lange auf sich warten lassen würde.

Nicht dass dieser Tagesanbruch etwas Besonderes darstellen würde, wenn er endlich in Fahrt kam; er hatte sozusagen einen Kater. Der Nebel war dicht und roch nach dem nahen Großen See, der nicht so großartig war. Zu allem Überfluss hatte es auch noch zu nieseln begonnen, feine, kalte Tropfen. Rob drehte die Scheibenwischer von Intervall auf langsam. In nicht allzu weiter Entfernung erhoben sich zwei unverkennbare gelbe Bogen aus der trüben Suppe.

»Die Goldenen Titten von Amerika!«, rief Jason Rapsis, der auf dem Beifahrersitz saß. In seinen über fünfzehn Jahren als Rettungssanitäter hatte Rob mit allerhand Kollegen zusammengearbeitet, und Jace Rapsis war der beste – locker, wenn gerade nichts los war, unerschütterlich und vollkommen konzentriert, wenn es drunter und drüber ging. »Auf zur Futterkrippe! Gott segne den Kapitalismus! Bieg ab, bieg ab!«

»Im Ernst?«, sagte Rob. »Nachdem uns eben plastisch vorgeführt wurde, was der Scheiß anrichten kann?«

Sie kehrten gerade von einem Einsatz in einer der Villen in Sugar Heights zurück, wo ein Mann namens Harvey Galen den Notruf gewählt und über furchtbare Schmerzen in der Brust geklagt hatte. Die beiden hatten ihn im Salon, wie reiche Leute zweifellos sagten, auf einem Sofa liegend vorgefunden wie einen gestrandeten Wal in einem blauen Seidenpyjama. Seine Gattin war ihm nicht von der Seite gewichen, überzeugt, er würde jeden Moment das Zeitliche segnen.

»Auf zu Mäckes, auf zu Mäckes!«, skandierte Jason, während er auf seinem Sitz hüpfte. Der ernste, kompetente Sanitäter, der Mr. Galens Vitalparameter gemessen hatte (neben sich Rob, der den Notfallkoffer mit dem Beatmungsgerät und den Herz-Kreislauf-Medikamenten parat hielt), hatte sich in Luft aufgelöst. Mit seinen blonden Haaren, die ihm in die Augen fielen, sah Jason wie ein zu groß gewachsener Vierzehnjähriger aus. »Bieg ab, hab ich gesagt!«

Rob bog ab. Er hatte selbst Lust auf einen McMuffin Sausage und vielleicht eines von diesen Kartoffeldingern, die wie gebackene Büffelzunge aussahen.

Vor dem Bestellschalter wartete nur eine kurze Autoschlange. Rob stellte sich hinten an.

»Außerdem hatte der Bursche sowieso keinen echten Herzinfarkt«, sagte Jason. »Er hatte bloß beim Mexikaner zu viel in sich reingeschaufelt. Schließlich hat er sich geweigert, mit uns ins Krankenhaus zu fahren, stimmt’s oder hab ich recht?«

Es stimmte. Nach ein paar herzhaften Rülpsern und einem Posaunenstoß aus dem Unterleib, bei dem seine klapperdürre Frau in die Küche geflohen war, setzte Mr. Galen sich auf, erklärte, er fühle sich schon wesentlich besser, und meinte, nein, er glaube nicht, dass er ins Kiner Memorial transportiert werden müsse. Rob und Jason glaubten das ebenfalls nicht, nachdem sie sich angehört hatten, was Galen am Vorabend im Tijuana Rose alles verschlungen hatte. Sein Puls war kräftig und sein Blutdruck stabil. Letzterer zwar auf heiklem Level, aber das wahrscheinlich schon seit Jahren. Der automatisierte externe Defibrillator war in seinem Leinenbeutel geblieben.

»Ich will zwei McMuffins Egg und zwei Hash Browns«, verkündete Jason. »Und schwarzen Kaffee. Ach, eigentlich will ich doch lieber drei Hash Browns.«

Rob dachte immer noch über Galen nach. »Diesmal war es eine Verdauungsstörung, aber bald wird es was Ernstes sein. Ein Infarkt wie ein Donnerschlag. Was meinst du, wie viel er gewogen hat. Hundertvierzig? Hundertsechzig?«

»Mindestens hundertfünfzig«, sagte Jason. »Aber hör jetzt auf, mir mein Frühstück madig zu machen.«

Rob wies mit dem Arm auf die goldenen Bogen, die in dem vom See heranziehenden Nebel aufragten. »Dieser Schuppen und die ganzen anderen Fettschleudern sind zu ’nem ziemlichen Teil schuld an dem, was hier in Amerika schiefläuft. Als jemand, der im medizinischen Bereich arbeitet, weißt du das bestimmt. Was du da bestellen willst? Das sind neunhundert Kalorien nur mal so zwischendrin, Kumpel. Wenn du in deine McMuffins noch Sausage zum Egg packst, kommst du sogar auf circa dreizehnhundert.«

»Was nimmst du eigentlich, du Gesundheitsapostel?«

»Einen McMuffin Sausage. Vielleicht auch zwei.«

Jason schlug ihm auf die Schulter. »So gefällst du mir schon besser!«

Die Schlange bewegte sich vorwärts. Vor ihnen waren noch zwei Autos, als das Funkgerät unter dem im Armaturenbrett eingebauten Computer losplärrte. Die Leute in der Zentrale verhielten sich normalerweise ruhig und gefasst, aber die Stimme am anderen Ende klang diesmal wie die eines ausgeflippten Radiomoderators nach zu vielen Dosen Red Bull. »An alle Rettungswagen und Feuerwachen, wir haben einen MANV! Ich wiederhole, MANV! Das ist ein dringlicher Ruf an alle Rettungswagen und Feuerwachen!«

MANV, die Abkürzung für Massenanfall von Verletzten. Rob und Jason starrten sich an. Flugzeugabsturz, Zugunglück, Explosion oder Terroranschlag. Eines davon musste es eigentlich sein.

»Einsatzort ist das City Center in der Marlborough Street, ich wiederhole: das City Center in der Marlborough. Noch einmal, das ist ein MANV mit wahrscheinlich mehreren Toten. Gehen Sie vorsichtig vor.«

Rob Martin zog sich der Magen zusammen. Wenn man zu einem Unfall oder einer Gasexplosion geschickt wurde, ermahnte einen niemand zur Vorsicht. Das hieß, es handelte sich um einen Terroranschlag, der womöglich noch im Gang war.

Die Stimme im Funkgerät fing wieder von vorn an. Jason schaltete Rotlicht und Sirene ein, während Rob das Lenkrad herumkurbelte, um den schweren Rettungswagen auf den schmalen Fahrweg zu lenken, der am Gebäude entlangführte. Dabei streifte er die Stoßstange des Wagens vor ihm. Sie waren nur neun Straßen vom City Center entfernt, aber wenn Al-Kaida dort mit Kalaschnikows herumballerte, konnten sie das Feuer nur mit ihrem getreuen Defibrillator erwidern.

Jason griff nach dem Mikrofon. »Verstanden, Zentrale, hier spricht Nummer dreiundzwanzig von Wache drei, wir sind in etwa sechs Minuten da.«

Aus anderen Stadtvierteln waren andere Sirenen zu hören, aber der Lautstärke nach zu urteilen, waren sie selbst dem Schauplatz am nächsten. Ein eisengrauer Lichtschein kroch langsam in die Luft, und während sie aus dem McDonald’s-Parkplatz in die Upper Marlborough einbogen, schob sich ein grauer Wagen aus dem Nebel, eine große Limousine mit verbeulter Motorhaube und übel verrostetem Kühlergrill. Einen Moment lang waren die aufgeblendeten HID-Scheinwerfer direkt auf Rob gerichtet. Er drückte aufs Doppelhorn, bevor er das Steuer herumriss. Der Wagen – ein Mercedes, allerdings war Rob sich da nicht sicher – schlitterte auf seine eigene Fahrspur zurück, dann sah man nur noch im Nebel verschwindende Rücklichter.

»Du lieber Himmel, das war knapp«, sagte Jason. »Hast du dir vielleicht das Kennzeichen gemerkt?«

»Nee.« Robs Herz hämmerte so heftig, dass er das Pulsieren in der ganzen Kehle spürte. »War damit beschäftigt, uns das Leben zu retten. Hör mal, wie kann’s am City Center denn mehrere Tote gegeben haben? Ist doch viel zu früh. Da muss noch geschlossen sein.«

»Vielleicht war es ein Busunglück.«

»Unmöglich. Die Busse fahren erst ab sechs.«

Sirenen. Überall Sirenen, die sich aufeinander zubewegten wie die leuchtenden Punkte auf einem Radarschirm. Ein Streifenwagen raste vorüber, aber soweit Rob es beurteilen konnte, würden sie vor den anderen Rettungswagen und Löschzügen da sein.

Was uns die Chance gibt, erschossen oder in die Luft gesprengt zu werden, dachte Rob – von einem wild gewordenen Araber, der Allahu akbar brüllt. Nette Vorstellung.

Aber Arbeit war Arbeit, weshalb er auf die steile Rampe fuhr, die zum Hauptgebäude der Stadtverwaltung und zu dem potthässlichen Betonklotz führte, in dem er bei Wahlen seine Stimme abgegeben hatte, bevor er in einen Vorort gezogen war.

»Stopp!«, brüllte Jason. »Verdammte Scheiße, Robbie, stopp!«

Scharen von Menschen kamen aus dem Nebel auf sie zu. Manche rannten fast taumelnd die steile Rampe herunter. Einige schrien. Ein Mann stürzte, rollte über den Boden, rappelte sich auf und rannte weiter. Unter seiner Jacke ragte flatternd ein zerrissener Hemdzipfel hervor. Rob sah eine Frau mit zerfetzter Strumpfhose, blutigen Schienbeinen und nur einem Schuh. Er trat so panisch auf die Bremse, dass sich die Schnauze des Rettungswagens neigte und jede Menge ungesicherter Kram durch die Gegend flog. Medikamente, Infusionsbeutel und verpackte Injektionsnadeln aus einem nicht verschlossenen Schränkchen – ein Verstoß gegen die Vorschriften – wurden zu Geschossen. Die Trage, die sie für Mr. Galen nicht gebraucht hatten, krachte an die Seitenwand. Ein Stethoskop fand eine Lücke, prallte an die Windschutzscheibe und fiel auf die Mittelkonsole.

»Ganz sachte«, sagte Jason. »So langsam, wie es geht, okay? Wir wollen die Sache ja schließlich nicht noch schlimmer machen.«

Behutsam trat Rob aufs Gas und fuhr im Schritttempo weiter die Rampe hinauf. Noch immer kamen ihnen Leute entgegen, Hunderte offenbar, manche blutend, die meisten ohne sichtbare Verletzungen, aber alle zu Tode erschrocken. Jason öffnete sein Fenster und lehnte sich hinaus.

»Was ist da los? Kann mir jemand sagen, was da los ist?«

Ein Mann kam keuchend angerannt, ganz rot im Gesicht. »Es war ein Auto. Hat sich durch die Menge gewühlt wie eine Mähmaschine. Mich hat dieser verfluchte Irre nur um ein Haar verpasst. Weiß nicht, wie viele er erwischt hat. Wir waren eingepfercht wie Tiere, weil man Absperrungen aufgestellt hatte, um Ordnung zu schaffen. Das hat dieser Kerl absichtlich getan, und jetzt liegen sie da oben wie … wie … ach Gott, wie blutbeschmierte Schaufensterpuppen. Ich habe mindestens vier Tote gesehen, aber bestimmt hat’s mehr gegeben.«

Der Mann setzte sich wieder in Bewegung, nun nicht mehr rennend, sondern schlurfend, weil sein Adrenalinspiegel abgesunken war. Jason löste seinen Gurt und lehnte sich weiter hinaus. »Haben Sie gesehen, was für eine Farbe er hatte?«, rief er dem Mann hinterher. »Der Wagen, meine ich?«

Der Mann drehte sich um, bleich und verstört. »Grau. Ein großer, grauer Wagen.«

Jason ließ sich wieder auf den Sitz plumpsen und sah Rob an. Keiner der beiden musste es aussprechen: Das war der Wagen, dem sie nach ihrem Stopp bei McDonald’s ausgewichen waren. Das Zeug auf seiner Schnauze war also kein Rost gewesen.

»Fahr weiter, Robbie. Darüber machen wir uns später Gedanken. Schaff uns erst mal da rauf, und überfahr bloß niemand, ja?«

»Ja.«

Als Rob den Parkplatz erreichte, ließ die Panik bereits nach. Manche verließen ohne Hast den Ort des Geschehens, andere versuchten, denen zu helfen, die von dem grauen Wagen überfahren worden waren; einige wenige, die in jeder Menschenmasse vorhandenen Arschlöcher, machten mit ihren Handys Fotos oder Videos. Wahrscheinlich wollen sie auf YouTube einen Volltreffer landen, dachte Rob. Auf dem Asphalt lagen verchromte Pfosten, an denen gelbes Absperrband befestigt war.

Der Streifenwagen, der Rob und Jason überholt hatte, stand vor dem Gebäude neben einem Schlafsack, aus dem eine schlanke, weiße Hand ragte. Quer über dem von einer Blutlache umgebenen Schlafsack lag ein Mann. Der Polizist winkte den Rettungswagen herbei; im grellen blauen Blinklicht schien sein Arm sich ruckartig zu bewegen.

Rob griff nach dem mobilen Datenterminal und sprang hinaus, während Jason bereits zum Heck des Rettungswagens rannte. Mit seinem EH-Koffer und dem Defibrillator kam er wieder zum Vorschein. Da es inzwischen immer heller wurde, konnte Rob das über den Türen des Saals flatternde Banner lesen: GARANTIERT 1000 JOBS!Wir halten zu den Bürgern unserer Stadt!BÜRGERMEISTER RALPH KINSLER.

Gut, das erklärte, weshalb sich am frühen Morgen so eine Menschenmenge versammelt hatte. Eine Jobbörse. Es herrschten zwar überall harte Zeiten, seit die Wirtschaft im Jahr zuvor einen donnerschlagartigen Infarkt erlitten hatte, doch in dieser kleinen Großstadt am See, wo die Jobs schon vor der Jahrtausendwende dahingeschmolzen waren, lief es besonders schlecht.

Rob und Jason gingen auf den Schlafsack zu, aber der Beamte schüttelte den Kopf. Sein Gesicht war aschfahl. »Der Bursche da und die beiden im Schlafsack sind tot. Wahrscheinlich seine Frau und ihr Baby. Offenbar wollte er sie beschützen.« Tief aus seiner Kehle kam ein kurzer Laut, halb rülpsend, halb würgend. Er schlug sich die Hand vor den Mund, nahm sie wieder weg und deutete damit zur Seite. »Die Frau da drüben könnte noch am Leben sein.«

Gemeint war eine ausgestreckt auf dem Rücken liegende Gestalt, deren Beine so vom Rumpf abstanden, dass eine schwere Verletzung zu vermuten war. Der Schritt ihrer schicken, beigefarbenen Slacks war dunkel von Urin. Ihr Gesicht – das, was davon geblieben war – war fettverschmiert. Ein Stück der Nase und der Großteil der Oberlippe waren weggerissen worden, die perfekt überkronten Zähne waren unwillkürlich gefletscht. Der Mantel und die Hälfte des Rollkragenpullovers waren zerfetzt. An Hals und Schulter blühten große, dunkle Blutergüsse auf.

Der verfluchte Wagen ist direkt über sie drübergerollt, dachte Rob. Hat sie zerquetscht wie ein Eichhörnchen. Gemeinsam mit Jason kniete er sich neben die Frau und zog sich dabei blaue Schutzhandschuhe über. In der Nähe lag eine Handtasche mit Reifenspuren. Rob hob sie auf und warf sie ins Heck des Rettungswagens. Womöglich konnte sie als Beweismittel dienen. Und natürlich würde die Frau ihre Handtasche wiederhaben wollen.

Falls sie überlebte.

»Sie atmet nicht mehr, aber ich spür einen Puls«, sagte Jason. »Schwach und langsam. Zieh mal den Pulli runter.«

Als Rob das tat, kam der halbe BH mit. Die Träger waren zerfetzt. Rob schob den Rest hinunter, um freie Bahn zu haben, dann begann er mit der Herzdruckmassage, während Jason sich an die Beatmung machte.

»Wird sie es schaffen?«, fragte der Polizist.

»Keine Ahnung«, sagte Rob. »Wir kümmern uns schon drum. Sie haben andere Probleme. Wenn weitere Rettungswagen hier hochgeprescht kommen, wie wir es um ein Haar getan hätten, wird am Ende noch jemand überfahren.«

»Mein Gott, überall liegen Verwundete herum. Es ist wie ein Schlachtfeld!«

»Dann helfen Sie, so gut Sie können!«

»Sie atmet wieder«, sagte Jason. »Komm schon, Robbie, retten wir wenigstens ein Leben. Nimm das Terminal, und sag im Kiner Bescheid, dass wir jemand in kritischem Zustand bringen. Vorläufige Diagnose: Genickbruch, Rückenmarkstrauma, innere Verletzungen, Gesichtsverletzungen und wer weiß was. Ich sag dir gleich die Vitalparameter.«

Rob stellte über das mobile Datenterminal den Kontakt her, während Jason weiter den Beatmungsbeutel betätigte. Jemand von der Notaufnahme meldete sich sofort mit klarer, ruhiger Stimme. Das Kiner Memorial Hospital war eine Unfallklinik der obersten Kategorie, gelegentlich auch als Luxusklasse bezeichnet, und daher auf solche Fälle vorbereitet. Zu diesem Zweck fand dort fünfmal im Jahr ein Training statt.

Als der Anruf erledigt war, bestimmte Rob den Sauerstoffgehalt im Blut (wie erwartet miserabel) und holte dann die steife Halskrause und das orangefarbene Spineboard aus dem Wagen. Inzwischen kamen ständig weitere Rettungsfahrzeuge angefahren, und der Nebel hob sich allmählich, wodurch das Ausmaß der Katastrophe sichtbar wurde.

Alles mit einem einzigen Wagen, dachte Rob. Kaum vorstellbar.

»Okay«, sagte Jason. »Wenn sie nicht stabil ist, haben wir immerhin unser Bestes getan. Schaffen wir sie an Bord.«

Darauf bedacht, das Spineboard völlig waagrecht zu halten, hoben sie die Frau in den Rettungswagen, legten sie auf die Trage und schnallten sie fest. So wie ihr bleiches, entstelltes Gesicht von der Halskrause gerahmt war, sah sie wie das Opfer eines Rituals in einem Horrorfilm aus … nur waren diese Opfer immer jung und attraktiv, während die Frau eher wie Ende vierzig oder Anfang fünfzig aussah. Zu alt, noch auf Arbeitssuche zu gehen, hätte man gesagt, und Rob musste sie nur betrachten, um zu wissen, dass sie auch nie wieder auf Jobsuche gehen würde. Oder überhaupt gehen. Wenn sie diesen Tag überstand und unglaubliches Glück hatte, war das Ergebnis vielleicht keine Tetraplegie – eine Lähmung aller vier Gliedmaßen –, aber unterhalb der Körpermitte war es für sie definitiv vorbei.

Jason kniete sich hin, legte ihr eine durchsichtige Kunststoffmaske über Mund und Nase und drehte dann den Regler an dem Sauerstofftank hinter der Trage auf. Die Maske beschlug sich. Ein gutes Zeichen.

»Was nun?«, fragte Rob, womit er meinte, was er noch tun könne.

»Such in dem Zeug, das durch die Gegend geflogen ist, nach ’ner Portion Epi, oder hol was aus meiner Tasche. Ich hab ’ne Weile einen guten Puls gespürt, aber jetzt ist er wieder schwächer geworden. Und dann setz dich ans Steuer. Bei ihren Verletzungen ist es ein Wunder, dass sie überhaupt noch am Leben ist.«

Unter einer auf dem Boden liegenden Schachtel Bandagen fand Rob eine Ampulle Epinephrin und reichte sie Jason. Dann schlug er die Hecktüren zu, kletterte auf den Fahrersitz und trat aufs Gas. Wer bei einem MANV als Erster vor Ort war, kam auch als Erster in der Klinik an. Das würde die geringen Chancen der Verletzten ein winziges bisschen verbessern. Allerdings war es selbst in dem spärlichen Morgenverkehr eine viertelstündige Fahrt, und wenn sie das Ralph M. Kiner Memorial Hospital schließlich erreicht hatten, war die Frau wahrscheinlich tot. Angesichts ihres Zustands war das eventuell die beste Lösung.

Aber sie starb nicht.

Um drei Uhr nachmittags saßen Rob und Jason im Bereitschaftsraum von Feuerwache Nr. 3, obwohl ihre Schicht schon lange beendet war. Zu aufgedreht, als dass auch nur daran zu denken war, nach Hause zu fahren, glotzten sie auf den Fernseher, in dem ein Nachrichtensender lief, auf stumm gestellt. Insgesamt hatten sie acht Fahrten hinter sich, aber die mit der Frau war am schlimmsten gewesen.

»Martine Stover, so heißt sie«, sagte Jason schließlich. »Sie wird immer noch operiert. Hab angerufen, während du pinkeln warst.«

»Weiß man, wie ihre Chancen stehen?«

»Nein, aber man hat sie nicht einfach sterben lassen, und das will schon was heißen. Bestimmt wollte sie sich um ’ne Stelle als Chefsekretärin bewerben. Ich hab in ihrer Handtasche nach dem Führerschein gesucht, um die Blutgruppe rauszukriegen, und dabei einen ganzen Stapel Referenzen gefunden. Sieht so aus, als wär sie gut in ihrem Job gewesen. Zuletzt war sie bei der Bank of America angestellt. Wurde wegrationalisiert.«

»Und wenn sie überlebt? Was meinst du? Bloß die Beine?«

Jason starrte auf den Bildschirm, auf dem ein Basketballspiel gezeigt wurde. Leichtfüßig rannten die Spieler über das Feld. Lange sagte er nichts, dann: »Wenn sie überlebt, ist sie ein Tetra.«

»Bestimmt?«

»Zu fünfundneunzig Prozent.«

Im Fernseher kam eine Bierwerbung, in der aufgedrehte junge Leute in der Kneipe tanzten. Alle hatten Spaß. Für Martine Stover war der Spaß vorbei. Rob versuchte sich vorzustellen, was sie erwartete, wenn sie überlebte. Ein Leben in einem Elektrorollstuhl, den sie lenkte, indem sie in ein Röhrchen blies. Ernährung entweder mit pürierter Pampe oder intravenös. Von einem Respirator unterstützte Atmung. Kacken in einen Beutel. Leben in einer medizinischen Dämmerzone.

»Christopher Reeve ist damit gar nicht so schlecht umgegangen«, sagte Jason, als hätte er Robs Gedanken gelesen. »Hatte ’ne gute Einstellung. War ein echtes Vorbild. Hat den Kopf hochgehalten. Hat sogar Regie bei ’nem Film geführt, glaube ich.«

»Klar hat er den Kopf hochgehalten«, sagte Rob. »Dank einem Halskragen, der nie abgenommen wurde. Außerdem ist er inzwischen tot.«

»Sie hatte ihre besten Klamotten an«, sagte Jason. »Feine lange Hosen, ’nen teuren Pulli und ’nen hübschen Mantel. Alles, um wieder auf die Beine zu kommen. Und da kommt so ein Dreckskerl an und nimmt ihr alles weg.«

»Hat man ihn eigentlich schon geschnappt?«

»Soweit ich gehört hab, noch nicht. Wenn sie ihn haben, hängen sie ihn hoffentlich an seinem Sack auf.«

Als die beiden in der folgenden Nacht einen Schlaganfallpatienten ins Kiner brachten, erkundigten sie sich nach Martine Stover. Sie lag auf der Intensivstation und ließ Anzeichen einer verbesserten Gehirnfunktion erkennen, was auf ein bevorstehendes Wiedererlangen des Bewusstseins hindeutete. Wenn es so weit war, würde jemand ihr die schlechte Nachricht überbringen müssen: Sie war von der Brust abwärts gelähmt.

Rob Martin war froh, dass nicht er dieser Jemand war.

Und der Kerl, den die Presse als Mercedes-Killer titulierte, war immer noch nicht gefasst worden.

Z

JANUAR 2016

1

In der Hosentasche von Bill Hodges zerbricht eine Glasscheibe. Es folgt der Jubel eines jugendlichen Baseballteams: »Das ist ein HOMERUN!«

Hodges zuckt zusammen und richtet sich abrupt auf. Das Wartezimmer von Dr. Stamos, der mit drei weiteren Ärzten eine Gemeinschaftspraxis betreibt, ist an diesem Montagmorgen voll besetzt. Alle drehen sich nach Hodges um, der spürt, wie ihm das Blut ins Gesicht schießt. »Tut mir leid«, sagt er unbestimmt in den Raum. »Eine SMS.«

»Und zwar eine sehr laute«, bemerkt eine alte Dame mit schütterem weißem Haar und Halslappen wie ein Beagle. Hodges kommt sich vor wie ein ausgescholtenes Kind, dabei ist er bald siebzig. Was die Mobilfunketikette angeht, ist die Frau jedoch auf dem neuesten Stand. »An öffentlichen Orten wie dem hier sollten Sie Ihr Telefon leiser stellen oder ganz den Ton abschalten.«

»Natürlich, natürlich.«

Die alte Dame wendet sich wieder ihrem Taschenbuch zu (es ist Fifty Shades of Grey, und angesichts des zerfledderten Zustands liest sie es nicht zum ersten Mal). Hodges zerrt sein iPhone aus der Tasche. Die Nachricht stammt von Pete Huntley, seinem alten Partner aus Polizeizeiten. Inzwischen steht Pete selbst kurz vor der Pensionierung, kaum zu glauben, aber wahr. Als »Ende der Patrouille« bezeichnet man das dort, aber für Hodges ist es ein Ding der Unmöglichkeit, seine Patrouille zu beenden. Er führt jetzt eine kleine Zweipersonenfirma namens Finders Keepers. Dabei bezeichnet er sich als privater Zielfahnder, weil er vor einigen Jahren ein wenig in die Bredouille geraten ist und daher keine Lizenz als Privatdetektiv beantragen kann. In dieser Stadt muss man dafür bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Dennoch ist er im Grunde ein Privatdetektiv, zumindest teilweise.

Ruf mich an, Kermit. Pronto. Ist wichtig.

Kermit ist eigentlich der erste Vorname von Hodges, der jedoch im Allgemeinen seinen zweiten verwendet, um die Froschwitze auf ein Minimum zu beschränken. Pete allerdings verwendet mit Vorliebe den ersten. Das findet er saukomisch.

Hodges überlegt, ob er sein Handy einfach wieder einstecken soll (sobald er es auf lautlos gestellt hat, falls er den entsprechenden Menüpunkt findet). Er kann jederzeit ins Sprechzimmer von Dr. Stamos gerufen werden und will die Konsultation rasch hinter sich bringen. Wie die meisten älteren Männer, die er kennt, mag er Arztpraxen nicht besonders. Er hat immer Angst, man könnte dort etwas an ihm entdecken, was nicht nur nicht in Ordnung, sondern wirklich nicht in Ordnung ist. Außerdem weiß er genau, worüber sein alter Partner mit ihm sprechen will: über dessen große Abschiedsparty im kommenden Monat. Die soll im Raintree Inn draußen in der Nähe vom Flughafen stattfinden. Da hat auch Hodges seine Party veranstaltet, aber diesmal hat er vor, wesentlich weniger zu trinken. Vielleicht sogar überhaupt nichts. Als er noch im Polizeidienst war, hatte er Probleme mit dem Alkohol, die teilweise der Grund für das Scheitern seiner Ehe waren, aber inzwischen hat er anscheinend den Geschmack an dem Zeug verloren. Das ist eine Erleichterung. Er hat einmal einen Science-Fiction-Roman mit dem Titel Der Mond ist eine herbe Geliebte gelesen. Mit dem Mond kennt er sich nicht aus, aber dass das auf den Whiskey zutrifft, kann er definitiv bestätigen, und Whiskey wird direkt hier auf Erden hergestellt.

Er revidiert seine Entscheidung, überlegt, ob er Pete eine SMS schicken soll, erhebt sich dann jedoch. Die alten Gewohnheiten sind zu stark.

Die junge Frau an der Rezeption heißt laut ihrem Namensschildchen Marlee. Dem Aussehen nach ist sie siebzehn, und sie schenkt ihm ein strahlendes Cheerleader-Lächeln. »Sie kommen bestimmt gleich dran, Mr. Hodges, versprochen! Wir sind bloß ein winziges bisschen im Verzug. Heute ist eben Montag.«

»Monday, Monday, can’t trust that day«, sagt Hodges.

Marlee sieht ihn verdutzt an.

»Ich gehe mal einen Moment raus, ja? Muss einen Anruf machen.«

»Gern«, sagt Marlee. »Aber bleiben Sie gleich vor der Tür stehen. Wenn es so weit ist und Sie immer noch draußen sind, winke ich Ihnen.«

»In Ordnung.« Auf dem Weg zur Tür bleibt Hodges vor der alten Dame stehen. »Gutes Buch?«

Sie blickt zu ihm hoch. »Nein, aber es ist voller Energie.«

»Habe ich auch gehört. Haben Sie schon den Film gesehen?«

Ebenso erstaunt wie interessiert starrt sie ihn an. »Es gibt tatsächlich einen Film?«

»Ja. Den sollten Sie sich mal anschauen.«

Nicht dass Hodges ihn gesehen hätte, obwohl Holly Gibney – früher seine Assistentin, heute seine Geschäftspartnerin und seit ihrer problematischen Kindheit ein leidenschaftlicher Filmfan – versucht hat, ihn hinzuschleppen. Zwei Mal. Holly hat auf seinem Handy auch die zerbrechende Glasscheibe samt dem Homerun-Jubel als SMS-Signalton aktiviert. Das fand sie amüsant. Hodges ebenfalls … am Anfang. Jetzt nervt es ihn brutal. Er nimmt sich vor, im Internet nachzuschauen, wie man das ändern kann. Wie er festgestellt hat, findet man im Internet alles. Manches ist nützlich. Manches ist interessant. Manches ist lustig.

Und manches ist absolut widerwärtig.

2

Petes Handy läutet zweimal, dann hört Hodges die Stimme seines alten Partners. »Huntley.«

»Hör mir gut zu, eventuell wirst du nämlich später getestet, ob du alle Fakten mitbekommen hast«, sagt Hodges. »Ja, ich komme zu deiner Party. Ja, ich werde nach dem Essen ein paar Worte sagen, die amüsant, aber nicht ordinär sein werden. Ja, mir ist klar, dass sowohl deine Ex als auch deine derzeitige Lebensabschnittsgefährtin da sein werden, aber meines Wissens hat ohnehin niemand eine Stripperin bestellt. Falls doch, ist das bestimmt Hal Corley, dieser Trottel, und dann musst du den eben …«

»Bill, stopp! Es geht nicht um die Party.«

Hodges hält sofort die Klappe. Das tut er nicht nur, weil im Hintergrund lautes Gebrabbel herrscht – es sind die Stimmen von Polizisten, das weiß er, auch wenn er nicht verstehen kann, was sie sagen. Was ihn augenblicklich zum Schweigen bringt, ist die Tatsache, dass Pete ihn Bill genannt hat, und das bedeutet, es geht um etwas wirklich Ernstes. Zuerst denkt er an Corinne, seine eigene Exfrau, dann an seine Tochter Alison, die in San Francisco lebt, und schließlich an Holly. Du lieber Himmel, wenn Holly etwas zugestoßen ist …

»Worum geht’s dann, Pete?«

»Ich bin gerade an einem Tatort, scheinbar ein erweiterter Suizid. Wäre gut, wenn du herkommst und dir das mal anschaust. Bring deine Kollegin mit, wenn sie Zeit und Lust hat. Ich sag’s zwar nicht gern, aber ich hab den Eindruck, sie ist unter Umständen ein wenig cleverer als du.«

Es ist also niemand, den Hodges kennt. Seine Bauchmuskeln, die sich wie zur Abwehr eines Schlags kontrahiert haben, entspannen sich. Die ständig vorhandenen Schmerzen, die ihn in die Praxis geführt haben, sind allerdings weiterhin vorhanden. »Natürlich ist sie cleverer. Weil sie jünger ist. Sobald man sechzig ist, verliert man Millionen von Gehirnzellen, ein Phänomen, das du in ein paar Jahren am eigenen Kopf erleben wirst. Aber wieso soll ein alter Ackergaul wie ich zum Tatort eines Mordes traben?«

»Weil das wahrscheinlich mein letzter Fall ist, weil die Medien groß darauf abfahren werden und weil – halt dich fest – ich tatsächlich Wert auf deine Meinung lege. Auf die von Gibney auch. Außerdem besteht ein merkwürdiger Zusammenhang mit dir. Wahrscheinlich ist das bloß Zufall, aber da bin ich mir nicht ganz sicher.«

»Was für ein Zusammenhang?«

»Sagt dir der Name Martine Stover etwas?«

Einen Moment lang ist das nicht der Fall, dann macht es klick. An einem nebligen Morgen des Jahres 2009 hat ein Irrer namens Brady Hartsfield am City Center einen gestohlenen Mercedes in eine Schar von Arbeitssuchenden gesteuert. Acht davon hat er getötet und fünfzehn schwer verletzt. Im Lauf ihrer Ermittlungen haben die Detectives K. William Hodges und Peter Huntley eine große Anzahl von denen, die an diesem nebligen Morgen zugegen waren, vernommen, darunter alle überlebenden Verletzten. Am schwersten war das Gespräch mit Martine Stover, und zwar nicht nur weil ihr Mund so entstellt war, dass praktisch nur ihre Mutter verstehen konnte, was sie sagte. Stover war von der Brust abwärts gelähmt. Später hat Hartsfield einen anonymen Brief an Hodges geschickt, in dem er Stover als »Kopf am Stiel« bezeichnet hat. Besonders grausam an diesem hässlichen Wortspiel war das radioaktive Körnchen Wahrheit, das es enthielt.

»Ich kann mir kaum vorstellen, dass eine Tetraplegikerin einen Mord begeht, Pete … außer in einer Folge von Criminal Minds vielleicht. Daher nehme ich an …«

»Ja, die Mutter war die Täterin. Zuerst hat sie Stover getötet, dann sich selbst. Kommst du?«

Hodges zögert nicht. »Klar doch. Holly hole ich unterwegs ab. Wie lautet die Adresse?«

»Hilltop Court 1601. In Ridgedale.«

Ridgedale ist ein von Pendlern bewohnter Vorort im Norden der Stadt, nicht so nobel wie Sugar Heights, aber doch recht hübsch.

»Dann bin ich in vierzig Minuten da, vorausgesetzt, Holly ist im Büro.«

Was der Fall sein wird. Ab acht Uhr morgens, manchmal schon ab sieben, sitzt sie beinahe immer an ihrem Schreibtisch und bleibt dort, bis Hodges sie anblafft, sie solle nach Hause gehen, sich was zu essen machen und auf ihrem Computer einen Film anschauen. Holly Gibney ist der Hauptgrund dafür, dass Finders Keepers schwarze Zahlen schreibt. Sie ist ein Organisationsgenie, sie kennt das Internet wie die eigene Handtasche, und ihre Arbeit ist ihr Leben. Gut, neben Hodges und der Familie Robinson, vor allem Jerome und Barbara. Als die Mutter der beiden sie einmal als Ehrenmitglied der Familie bezeichnete, hat sie gestrahlt wie die Sonne an einem Sommernachmittag. Das tut Holly inzwischen öfter als früher, wenn auch für Hodges’ Geschmack immer noch nicht oft genug.

»Das ist super, Kerm. Danke.«

»Hat man die Leichen schon abtransportiert?«

»Die sind gerade auf dem Weg ins Kühlfach, aber Izzy hat alle Aufnahmen auf ihrem iPad.« Gemeint ist Isabelle Jaynes, mit der Pete zusammenarbeitet, seit Hodges im Ruhestand ist.

»Okay. Ich bringe dir ein Eclair mit.«

»Hier ist schon eine ganze Konditorei. Wo bist du übrigens gerade?«

»Ist nicht so wichtig. Ich bin so bald wie möglich bei dir.«

Hodges beendet den Anruf und eilt den Flur entlang zum Aufzug.

3

Der für acht Uhr fünfundvierzig bestellte Patient von Dr. Stamos kommt endlich aus dem Untersuchungszimmer heraus. Marlee sieht sich nach dem Arzt um. Der Termin von Mr. Hodges war um neun, und jetzt ist es halb zehn. Wahrscheinlich wartet der arme Kerl ungeduldig darauf, hier abgefertigt zu werden, um das zu tun, was er heute sonst noch vorhat. Als sie einen Blick in den Flur wirft, sieht sie, wie Hodges in sein Handy spricht.

Marlee steht auf und späht ins Sprechzimmer von Dr. Stamos. Der sitzt an seinem Schreibtisch, eine geöffnete Aktenmappe vor sich. Auf dem Reiter steht KERMIT WILLIAM HODGES. Stamos studiert etwas in der Mappe und reibt sich dabei die Schläfe, als hätte er Kopfschmerzen.

»Dr. Stamos? Soll ich Mr. Hodges hereinrufen?«

Verdutzt blickt der Arzt erst zu ihr hoch und dann auf die Uhr auf seinem Tisch. »Ach Gott, ja. Am Montag läuft’s immer beschissen, was?«

»Can’t trust that day«, sagt Marlee und wendet sich zum Gehen.

»Ich liebe meinen Beruf, aber den Aspekt davon hasse ich«, sagt Stamos.

Nun ist Marlee an der Reihe, verdutzt zu sein. Sie dreht sich um und sieht ihn an.

»Nicht so wichtig. Hab mit mir selbst gesprochen. Schicken Sie ihn rein. Bringen wir es hinter uns.«

Marlee blickt in den Flur hinaus und sieht gerade noch, wie die Aufzugtür gegenüber zugeht.

4

Vom Parkhaus neben dem Ärztehaus aus telefoniert Hodges mit Holly, und als er das Turner-Building in der Lower Marlborough erreicht, wo sich das Büro der beiden befindet, steht sie schon davor. Die Aktentasche hat sie zwischen ihren bequemen Schuhen abgestellt. Holly Gibney ist inzwischen Ende vierzig, ziemlich groß und schlank. Die braunen Haare hat sie normalerweise am Hinterkopf zu einem festen Knoten zusammengebunden. An diesem Morgen trägt sie einen voluminösen North-Face-Parka, dessen Kapuze ihr schmales Gesicht rahmt. Dieses Gesicht könnte man als reizlos bezeichnen, denkt Hodges, bis man die Augen sieht, die schön und voller Intelligenz sind. Allerdings sähe man die wohl lange nicht, denn im Allgemeinen meidet Holly Gibney jeden Blickkontakt.

Hodges lenkt seinen Prius an den Bordstein, und Holly steigt rasch ein, zieht ihre Handschuhe aus und hält die Hände in die aus der Belüftungsöffnung strömende Warmluft. »Du hast aber furchtbar lange gebraucht.«

»Fünfzehn Minuten. Ich war auf der anderen Seite der Stadt und hatte rote Welle.«

»Es waren achtzehn Minuten«, teilt Holly ihm mit, während er wieder losfährt. »Weil du gerast bist, was kontraproduktiv ist. Wenn du ein Tempo von exakt zwanzig Meilen pro Stunde beibehältst, hast du fast immer grüne Welle. Die Ampeln sind nämlich aufeinander eingestellt, das habe ich dir schon mehrfach erklärt. Aber erzähl jetzt lieber mal, was der Arzt gesagt hat. Hast du die Tests mit Bestnote bestanden?«

Hodges überdenkt seine Alternativen, es sind lediglich zwei: die Wahrheit sagen oder schwindeln. Holly hat ihn damit genervt, er solle zum Arzt gehen, weil er Magenprobleme hat. Zuerst war es nur ein Drücken, jetzt hat er ein wenig Schmerzen. Holly wiederum hat zwar gewisse Probleme mit ihrer Persönlichkeit, ist jedoch eine sehr effiziente Nervensäge. Wie ein Hund mit einem Knochen, denkt Hodges manchmal.

»Die Ergebnisse waren noch nicht da.« Das ist keine richtige Lüge, redet er sich ein, weil ich sie ja noch nicht erfahren habe.

Sie sieht ihn zweifelnd an, während er auf die Stadtautobahn einbiegt. Hodges hasst es, wenn sie ihn so ansieht.

»Ich kümmere mich schon darum«, sagt er. »Vertrau mir.«

»Das tue ich«, sagt sie. »Das tue ich, Bill.«

Worauf er sich noch schlechter fühlt.

Sie beugt sich vor, öffnet ihre Aktentasche und nimmt ihren iPad heraus. »Während ich auf dich gewartet habe, hab ich ein paar Sachen recherchiert. Willst du sie hören?«

»Nur zu!«

»Als Martine Stover von Brady Hartsfield zum Krüppel gemacht wurde, war sie fünfzig Jahre alt, weshalb sie heute sechsundfünfzig wäre. Theoretisch könnte sie auch siebenundfünfzig sein, aber da wir erst Januar haben, ist das wohl kaum anzunehmen, meinst du nicht auch?«

»Aller Wahrscheinlichkeit nach nicht, das stimmt.«

»Zur Zeit des Massakers am City Center wohnte sie mit ihrer Mutter in einem Haus in der Sycamore Street. Nicht weit von Brady Hartsfield und dessen Mutter, was man als Ironie des Schicksals bezeichnen könnte.«

Außerdem in der Nähe von Tom Saubers und seiner Familie, sinniert Hodges. Vor nicht allzu langer Zeit hatten er und Holly einen Fall, bei dem diese Familie involviert war und bei dem es zudem eine Verbindung zu dem gab, was die Lokalzeitung als »Mercedes-Massaker« bezeichnete. Eigentlich gab es allerhand Verbindungen, darunter die wohl merkwürdigste, dass der von Hartsfield als Mordwaffe verwendete Wagen der Cousine von Holly Gibney gehört hat.

»Wie haben es eine alte Frau und ihre schwerbehinderte Tochter eigentlich geschafft, aus der Sycamore Street nach Ridgedale umzuziehen?«

»Mit Geld von der Versicherung. Martine Stover hatte nicht nur ein oder zwei hoch dotierte Policen abgeschlossen, sondern gleich drei. Was Versicherungen anging, war sie richtig fanatisch.« So etwas kann nur jemand wie Holly beifällig sagen, denkt Hodges. »Nachher sind mehrere Berichte über sie erschienen, weil sie von denen, die überlebt haben, am schwersten verletzt war. Sie wusste, hat sie gesagt, wenn sie im City Center keinen Job ergattert, muss sie ihre Policen zu Geld machen, eine nach der anderen. Schließlich sei sie eine alleinstehende Frau, die ihre verwitwete, arbeitslose Mutter unterstützen müsse.«

»Die sich letztlich um sie gekümmert hat.«

Holly nickt. »Sehr merkwürdig und sehr traurig. Aber wenigstens war sie finanziell abgesichert, was ja der Zweck von Versicherungen ist. Deshalb konnten die beiden sogar in ein besseres Viertel ziehen.«

»Ja«, sagt Hodges. »Aber das bringt ihnen jetzt nichts mehr.«

Darauf erwidert Holly nichts. Vor ihnen ist die Ausfahrt nach Ridgedale. Hodges nimmt sie.

5

Pete Huntley hat so zugenommen, dass ihm der Bauch über den Gürtel hängt, aber Isabelle Jaynes sieht in ihren engen, ausgeblichenen Jeans und ihrem blauen Blazer so umwerfend aus wie eh und je. Der Blick ihrer verschleierten grauen Augen wandert von Hodges zu Holly und dann zu Hodges zurück.

»Du bist mager geworden«, sagt sie. Das könnte ein Kompliment oder ein Vorwurf sein.

»Er hat Magenprobleme, deshalb musste er ein paar Tests machen«, sagt Holly. »Eigentlich hätten die Ergebnisse heute kommen sollen, aber …«

»Lassen wir das, Holly«, sagt Hodges. »Wir sind hier nicht bei einer medizinischen Konsultation.«

»Ihr erinnert mich täglich mehr an ein altes Ehepaar«, sagt Izzy.

Worauf Holly in nüchternem Ton erwidert: »Eine Heirat mit Bill würde unsere berufliche Beziehung belasten.«

Pete lacht, weshalb Holly ihm einen verwirrten Blick zuwirft, während sie das Haus betreten.

Es ist ein hübsches Gebäude im Cape-Cod-Stil, und obwohl es auf einer Anhöhe steht und draußen kühle Temperaturen herrschen, ist es drinnen bullig warm. Im Flur ziehen alle vier dünne Gummihandschuhe und Überschuhe an. Wie vertraut mir das alles ist, denkt Hodges. Als wäre ich nie weg gewesen.

An einer Wand des Wohnzimmers hängt ein Gemälde mit großäugigen Straßenkindern, an der anderen ein riesiger Fernseher. Davor stehen ein Sessel und ein Couchtisch. Auf dem Tisch liegen säuberlich aufgefächert einige Klatschzeitschriften wie OK! und Sensationsblätter wie Inside View. Inmitten des Zimmers sieht man zwei tiefe Furchen im Teppich. Da haben die beiden abends gesessen, um fernzusehen, denkt Hodges. Vielleicht auch den ganzen Tag lang. Die Mama in ihrem Sessel, Martine in ihrem Rollstuhl. Der den Furchen nach zu urteilen ganz schön was gewogen haben muss.

»Wie hieß die Mutter?«, fragt er.

»Janice Ellerton. Ihr Mann James ist vor zwanzig Jahren gestorben, laut …« Pete, wie Hodges vom alten Schlag, verwendet ein Notizbuch statt einen iPad. Jetzt konsultiert er es. »Laut Yvonne Carstairs. Sie und die andere Pflegerin, Georgina Ross, haben die Leichen vorgefunden, als sie heute Morgen kurz vor sechs hier eingetroffen sind. Man hat ihnen was extra bezahlt, damit sie so früh aufkreuzen. Diese Georgina Ross war keine große Hilfe …«

»Sie hat nur geschwafelt«, sagt Izzy. »Die Carstairs war allerdings in Ordnung. Hat immer einen kühlen Kopf behalten und sofort die Polizei gerufen, sodass wir schon um zwanzig vor sieben hier waren.«

»Wie alt war die Mutter?«, fragt Hodges.

»Das wissen wir noch nicht genau«, sagt Pete. »Aber sie hatte sicher ein paar Jährchen auf dem Buckel.«

»Sie war neunundsiebzig«, sagt Holly. »In einem der Zeitungsartikel, die ich beim Warten auf Bill gefunden hab, stand, dass sie bei dem Massaker am City Center dreiundsiebzig war.«

»Das ist ’ne schrecklich lange Zeit, wenn man sich um eine so schwer behinderte Tochter kümmern muss«, sagt Hodges.

»Immerhin war sie in guter Verfassung«, sagt Isabelle. »Zumindest hat Carstairs das behauptet. Sie war kräftig. Und sie hatte viel Hilfe. Dafür war Geld da, weil …«

»… sie Versicherungen abgeschlossen hatte«, ergänzt Hodges. »Darüber hat Holly mich auf der Herfahrt schon informiert.«

Izzy wirft Holly einen Seitenblick zu. Holly bemerkt ihn nicht, sie mustert das Zimmer. Macht Inventur. Schnuppert in der Luft. Streicht mit der Handfläche über die Sessellehne. Holly hat emotionale Probleme, sie ist atemberaubend sachlich, aber daneben besitzt sie Antennen für äußere Reize, wie nur wenige andere Menschen sie haben.

»Morgens kamen zwei Helferinnen«, sagt Pete. »Nachmittags zwei und abends noch mal zwei. An allen sieben Wochentagen. Von einer Privatfirma namens …« Er blickt wieder in sein Notizbuch. »Home Helpers. Die haben alles gemacht, wo’s um Heben ging. Außerdem gibt’s eine Haushälterin, Nancy Alderson, aber die hat offenbar gerade Urlaub. Auf dem Kalender in der Küche steht Nancy in Chagrin Falls. Markiert sind dabei der heutige Tag, außerdem Dienstag und Mittwoch.«

Zwei Männer, die ebenfalls Handschuhe und Überschuhe tragen, kommen den Flur entlang. Aus dem Teil des Hauses, in dem die verstorbene Martine Stover gelebt hat, vermutet Hodges. Beide tragen einen Tatortkoffer.

»Im Schlafzimmer und im Bad ist alles erledigt«, sagt einer von ihnen.

»Was gefunden?«, erkundigt sich Izzy.

»In etwa das, was zu erwarten war«, sagt der andere der beiden. »Aus der Badewanne haben wir ziemlich viele weiße Haare geholt, kein Wunder, hat die alte Dame sich doch da umgebracht. Kot war ebenfalls in der Wanne, aber nur eine Spur. Ebenfalls wie zu erwarten.« Als Hodges ihn fragend anblickt, fügt der Mann von der Spurensicherung hinzu: »Sie hat eine Inkontinenzhose getragen. Die Frau hat ihre Hausaufgaben gemacht.«

»Uuuh«, stößt Holly hervor.

»Im Bad steht ein Duschstuhl, aber in der Ecke mit frischen Handtüchern drauf«, sagt der erste Kriminaltechniker. »Sieht aus, als wäre er nie verwendet worden.«

»Wahrscheinlich hat man die Tochter mit dem Schwamm abgewaschen«, sagt Holly.

Sie sieht immer noch angeekelt drein, entweder von der Inkontinenzhose oder von der Scheiße in der Wanne, aber ihr Blick zuckt weiter umher. Ab und an stellt sie ein, zwei Fragen oder gibt einen Kommentar von sich, aber im Allgemeinen verhält sie sich still, weil andere Menschen sie einschüchtern, vor allem aus der Nähe. Allerdings kennt Hodges sie gut – zumindest so gut, wie das überhaupt möglich ist – und weiß, dass sie sich in höchster Alarmbereitschaft befindet.

Später wird sie reden, und er wird ihr aufmerksam lauschen. Im vergangenen Jahr, während der Sache mit der Familie Saubers, hat er erfahren, dass es sich auszahlt, Holly zuzuhören. Ihre Gedanken verlaufen abseits der ausgetretenen Pfade, manchmal weit abseits, und sie hat eine beinahe unheimlich anmutende Intuition. Obwohl sie von Natur aus ängstlich ist, wofür sie weiß Gott gute Gründe hat, kann sie durchaus tapfer sein. Holly ist der Grund, weshalb Brady Hartsfield alias Mr. Mercedes sich jetzt im Zentrum für Neurotraumatologie am Kiner Memorial Hospital befindet. Sie hat ihm mit einer mit Kugellagerkügelchen gefüllten Socke den Schädel eingeschlagen, bevor er eine wesentlich größere Katastrophe verursachen konnte als die am City Center. Nun lebt er in einer Welt der Dämmerung, die der neurologische Chefarzt der Hirnverletzungsklinik als »andauernden vegetativen Zustand« bezeichnet.

»Tetraplegiker können zwar duschen, aber bei den ganzen Apparaten, an die sie angeschlossen sind, ist es schwierig für sie«, erläutert Holly nun. »Deshalb bleibt es normalerweise bei der Reinigung mit dem Schwamm.«

»Gehen wir doch in die Küche, da ist es sonnig«, sagt Pete, was sie auch tun.

Als Erstes bemerkt Hodges die Geschirrablage, wo der Teller, auf dem sich Mrs. Ellertons letzte Mahlzeit befunden hat, zum Trocknen steht. Die Arbeitsflächen glänzen, und der Boden sieht so sauber aus, dass man davon essen könnte. Hodges ahnt, dass das Bett oben in ihrem Zimmer fein säuberlich gemacht ist. Womöglich hat sie sogar den Teppichboden gesaugt. Dazu kommt die Inkontinenzhose. Sie hat sich um alles gekümmert, worum sie sich kümmern konnte. Als jemand, der vor einiger Zeit selbst ernsthaft an Selbstmord gedacht hat, kann Hodges das nachempfinden.

6

Pete, Izzy und Hodges sitzen am Küchentisch. Holly wechselt ständig ihre Position; manchmal steht sie hinter Isabelle, um auf deren iPad die säuberlich in einem Ordner namens ELLERTON-STOVER gesammelten Fotos zu betrachten, dann wieder stöbert sie mit Fingern, leicht wie Schmetterlinge, in den verschiedenen Schränken.

Izzy liefert die nötigen Erklärungen und wischt gelegentlich über den Bildschirm, um das nächste Bild aufzurufen.

Die erste Aufnahme zeigt zwei Frauen mittleren Alters in der roten Polyamiduniform des Pflegedienstes. Beide sind kräftig und haben breite Schultern, aber eine – Georgina Ross, wie Hodges annimmt – weint und umklammert ihre Schultern, sodass die Unterarme sich an die Brüste pressen. Die andere, Yvonne Carstairs, ist offenbar aus härterem Holz geschnitzt.

»Die beiden sind um Viertel vor sechs hier eingetroffen«, sagt Izzy. »Sie hatten einen eigenen Schlüssel, weshalb sie nicht klopfen oder klingeln mussten. Manchmal hat Martine bis halb sieben geschlafen, sagt Carstairs. Mrs. Ellerton war immer schon auf den Beinen; sie hat erzählt, sie würde gegen fünf aufstehen, um erst mal einen Kaffee zu trinken. Heute Morgen war sie allerdings nicht da, und nach Kaffee hat es auch nicht gerochen. Daher dachten sie, die alte Dame hätte ausnahmsweise mal verschlafen, gut für sie. Sie sind auf Zehenspitzen ins Schlafzimmer von Stover gegangen, direkt den Flur entlang, um nachzuschauen, ob die schon wach war. Da haben sie das hier vorgefunden.«

Izzy wischt zum nächsten Bild. Hodges erwartet ein weiteres Uuuh von Holly, aber die bleibt still und studiert nur aufmerksam das Foto. Stover liegt im Bett; die Decke ist bis zu ihren Knien heruntergezogen. Die Beschädigungen ihres Gesichts sind nie operiert worden, aber das, was geblieben ist, sieht recht friedlich aus. Die Augen sind geschlossen, die verkrümmten Hände gefaltet. Aus ihrem dürren Bauch ragt eine Ernährungssonde. Ihr Rollstuhl, der Hodges eher wie die Raumkapsel eines Astronauten vorkommt, steht daneben.

»Im Zimmer von Stover hat es sehr wohl gerochen. Allerdings nicht nach Kaffee, sondern nach Schnaps.«

Izzy wischt wieder. Nun kommt eine Detailaufnahme des Nachttischchens, auf dem mehrere Reihen Tabletten liegen, offenbar die tagesübliche Ration. Ein Mörser ist auch da, um sie zu Pulver zu zerreiben, damit Stover das Zeug überhaupt schlucken konnte. Völlig unpassend steht dazwischen eine kleine Flasche Smirnoff Red Label samt einer medizinischen Spritze. Die Wodkaflasche ist leer.

»Die alte Dame ist keinerlei Risiko eingegangen«, sagt Pete. »Das Zeug ist dreifach destilliert und hat ’nen Alkoholgehalt von siebenunddreißig Prozent.«

»Ich nehme an, sie wollte, dass es für ihre Tochter so rasch wie möglich vorüber ist«, sagt Holly.

»Gute Hypothese«, sagt Izzy, jedoch mit auffallend wenig Wärme. Sie hat für Holly nichts übrig, was auf Gegenseitigkeit beruht. Hodges weiß darüber Bescheid, hat jedoch keine Ahnung, weshalb es so ist. Und da sie nur selten mit Isabelle zusammentreffen, hat er darauf verzichtet, Holly danach zu fragen.

»Habt ihr vom Mörser eine Nahaufnahme?«, fragt Holly.

»Natürlich.« Izzy wischt, worauf der Tablettenmörser auf dem nächsten Bild die Größe einer fliegenden Untertasse hat. In dem Schälchen ist ein Rest weißes Pulver verblieben. »Definitiv wissen wir es erst in einigen Tagen, aber wir denken, es ist Oxycodon. Laut dem Etikett ist das entsprechende Döschen erst drei Wochen alt, aber es ist genauso leer wie die Wodkaflasche.«

Sie blättert zurück zu Martine Stover, die mit geschlossenen Augen daliegt und die mageren Hände wie zum Gebet gefaltet hat.

»Ihre Mutter hat die Tabletten gemahlen, in die Wodkaflasche gefüllt und das Zeug dann in Stovers Ernährungssonde gegossen. Wahrscheinlich wirksamer als eine Todesspritze. Sie wusste genau, was sie tat.«

Izzy wischt weiter. Diesmal macht Holly tatsächlich uuuh, wendet jedoch nicht den Blick ab.

Das erste Foto von Martine Stovers behindertengerechtem Bad ist eine Weitwinkelaufnahme, die den extra niedrigen Waschtisch mit dem Becken, die extra niedrigen Handtuchhalter und Schränkchen und die riesige Kombination aus Dusche und Badewanne zeigt. Die Schiebetür der Dusche ist geschlossen, die Wanne hingegen sichtbar. Janice Ellerton liegt im Wasser, das ihr bis zu den Schultern reicht. Sie trägt ein rosa Nachthemd. Das sich wohl aufgebläht hat, als sie in die Wanne gestiegen ist, denkt Hodges, aber auf diesem Tatortfoto klebt es an ihrem dürren Leib. Über den Kopf ist ein Plastikbeutel gestülpt, der mit dem Frotteegürtel eines Bademantels befestigt ist. Darunter kommt ein Schlauch heraus und führt zu einer kleinen, auf dem gefliesten Boden liegenden Gasflasche. Auf deren Aufkleber sind lachende Kinder abgebildet.

»Ein Suizid-Set«, sagt Pete. »Wahrscheinlich hat sie im Internet gefunden, wie man so was bastelt. Es gibt eine Menge Websites, die einem das erklären, samt Bildern. Als wir eingetroffen sind, war das Wasser in der Wanne kühl, aber als sie hineingestiegen ist, dürfte es warm gewesen sein.«

»Das wirkt angeblich tröstlich«, wirft Izzy ein, und auch wenn sie nicht uuuh sagt, verzieht ihr Gesicht sich kurz zu einem Ausdruck des Ekels, als sie zum nächsten Bild wischt, einer Nahaufnahme von Janice Ellerton. Durch deren letzte Atemzüge ist der Beutel innen beschlagen, aber Hodges kann erkennen, dass ihre Augen geschlossen sind. Sie ist mit friedlicher Miene gestorben.

»In der Flasche war Helium«, sagt Pete. »Kann man in allen großen Discountläden kaufen. Eigentlich ist es dafür gedacht, beim Kindergeburtstag Luftballons aufzublasen, aber man kann sich auch gut damit umbringen, indem man sich einen Beutel über den Kopf stülpt. Zuerst tritt Benommenheit ein, gefolgt von Verwirrung, und in dem Zustand bekommt man den Beutel wahrscheinlich selbst dann nicht mehr runter, wenn man es sich anders überlegt hat. Als Nächstes kommt Bewusstlosigkeit, dann der Tod.«

»Gehen Sie doch noch mal zu dem letzten Bild zurück«, sagt Holly. »Zu dem, wo das ganze Badezimmer zu sehen ist.«

»Aha«, sagt Pete. »Da hat Dr. Watson offenbar was gesehen!«

Izzy ruft das Bild auf. Hodges beugt sich vor und kneift die Augen zusammen; sein Sehvermögen ist nicht mehr das alte. Da sieht er, was Holly gesehen hat. Neben einem dünnen grauen Stromkabel, das zu einer Steckdose führt, liegt ein Filzstift. Jemand – vermutlich Ellerton, denn deren Tochter war schon lange nicht mehr fähig zu schreiben – hat auf die Ablage einen einzelnen großen Buchstaben gemalt: Z.

»Was haltet ihr davon?«, fragt Pete.

Hodges denkt nach. »Das ist ihre Abschiedsbotschaft«, sagt er schließlich. »Z ist der letzte Buchstabe im Alphabet. Hätte sie Griechisch beherrscht, wäre es vielleicht Omega gewesen.«

»Sehe ich auch so«, sagt Izzy. »Irgendwie elegant, könnte man sagen.«

»Z ist auch das Zeichen von Zorro«, klärt Holly die anderen auf. »Der war ein maskierter mexikanischer Ritter. Es gibt eine Menge Filme über ihn; in einem hat Anthony Hopkins den Don Diego gespielt, aber der war nicht besonders gut.«

»Halten Sie das für relevant?«, fragt Izzy. Ihr Gesicht drückt höfliches Interesse aus, aber ihr Ton ist spitz.

»Außerdem gibt es eine Fernsehserie«, fährt Holly fort. Sie stiert wie hypnotisiert auf das Foto. »Die wurde von Walt Disney produziert, noch in Schwarz-Weiß. Vielleicht hat Mrs. Ellerton die damals als kleines Mädchen gesehen.«

»Willst du behaupten, sie hat Zuflucht zu ihren Kindheitserinnerungen genommen, als sie bereit war, sich umzubringen?«, sagt Pete zweifelnd, was Hodges nachvollziehen kann. »Tja, möglich wär’s, denk ich.«

»Ich denk eher, das ist Blödsinn«, kommentiert Izzy und verdreht die Augen.

Holly achtet nicht darauf. »Darf ich einen Blick ins Bad werfen? Ich fasse bestimmt nichts an, nicht mal mit denen hier.« Sie hebt die kleinen, behandschuhten Hände.

»Nur zu«, sagt Izzy sofort.

Anders gesagt: Schwirr ab, damit wir uns unter Erwachsenen unterhalten können, denkt Hodges. Er findet die Haltung, die Izzy gegenüber Holly an den Tag legt, nicht besonders toll, aber da das an Holly abzuperlen scheint, sieht er keinen Grund, ein Problem daraus zu machen. Außerdem ist Holly heute Vormittag tatsächlich ein wenig hektisch; sie flitzt ständig hin und her. Wahrscheinlich liegt das an den Bildern. Tote sehen nie toter aus als auf Polizeifotografien.

Holly zieht in Richtung Badezimmer davon. Hodges lehnt sich zurück, verschränkt die Hände im Nacken und schiebt die Ellbogen nach hinten. Heute Morgen hat ihm sein lästiger Magen nicht ganz so viele Probleme bereitet, vielleicht weil er Tee statt Kaffee getrunken hat. Falls das zutreffen sollte, wird er seinen Vorrat an Teebeuteln aufstocken müssen. Ganz erheblich. Er hat die ständigen Magenschmerzen echt und ehrlich satt.

»Sagst du mir mal, was wir hier eigentlich tun, Pete?«

Pete hebt die Augenbrauen und bemüht sich, ein Bild der Unschuld zu bieten. »Was in aller Welt willst du denn damit sagen, Kermit?«

»Du liegst richtig damit, dass die Medien die Sache hier aufgreifen werden. Es ist genau das beschissene Melodrama, das die Leute lieben, weil ihnen ihr eigenes Leben dann besser vorkommt …«

»Zynisch, aber wahrscheinlich wahr«, sagt Izzy seufzend.

»… aber ein Bezug zum Mercedes-Massaker ist eher gezwungen als zwingend.« Hodges ist sich nicht ganz sicher, ob seine Formulierung ausdrückt, was er meint, aber es klingt gut. »Was wir hier haben, ist eine Art Sterbehilfe, verabreicht von einer alten Dame, die es einfach nicht mehr ausgehalten hat, ihre Tochter weiter leiden zu sehen. Als sie das Helium aufgedreht hat, war ihr letzter Gedanke wahrscheinlich: Bald werde ich bei dir sein, Liebes, und wenn ich auf den Pfaden des Himmels wandle, wandelst du dicht bei mir.«

Das quittiert Izzy mit einem Schnauben, während Pete bleich und nachdenklich aussieht. Hodges fällt ein, dass sein alter Partner und dessen Frau vor langer Zeit, vor etwa dreißig Jahren, ihr erstes Baby, ein kleines Mädchen, durch plötzlichen Kindstod verloren haben.

»Das ist traurig, und die Medien werden es ein oder zwei Tage lang begierig aufgreifen, aber so etwas geschieht jeden Tag irgendwo auf der Welt. Vielleicht sogar jede Stunde. Also sag mir, worum es wirklich geht.«

»Wahrscheinlich um gar nichts. Meint jedenfalls Izzy.«

»Das meint Izzy tatsächlich«, bestätigt die.

»Izzy denkt wahrscheinlich, dass ich kurz vor der Ziellinie weich in der Birne werde.«

»Das denkt Izzy keineswegs. Izzy denkt lediglich, es ist Zeit, dass dir das Bienlein namens Brady Hartsfield nicht mehr in selbiger Birne herumschwirrt.«

Sie richtet den Blick ihrer verschleierten grauen Augen auf Hodges.

»Auch wenn Ms. Gibney ein Ausbund an Spleens und merkwürdigen Assoziationen ist, hat sie Hartsfield zu Recht schachmatt gesetzt, was ich ausgesprochen anerkennenswert finde. Jetzt vegetiert er in der Hirnklinik vom Kiner vor sich hin, wo er wahrscheinlich bleiben wird, bis er an einer Lungenentzündung stirbt, womit er dem Staat dann eine Stange Geld erspart. Für das, was er getan hat, wird er nie vor Gericht gestellt werden, das wissen wir alle. Ihr beiden habt es nicht geschafft, ihn wegen der Sache am City Center zu schnappen, aber Gibney hat ihn ein Jahr später daran gehindert, bei diesem Konzert im MAC zweitausend Kids in die Luft zu sprengen. Das müsst ihr einfach akzeptieren. Seht es als Erfolg, und lasst es hinter euch.«

»Puh«, sagt Pete. »Wie lange hat das denn schon in dir gebrodelt?«

Izzy versucht, ein Grinsen zu unterdrücken, scheitert aber. Pete erwidert das Grinsen, und Hodges denkt: Die beiden arbeiten so gut zusammen wie Pete und ich früher. Was für ’ne Schande, dass so ein Team nun auseinanderbricht, wirklich und wahrhaftig.

»Schon eine ganze Weile«, sagt Izzy. »Aber sag’s ihm jetzt endlich.« Sie sieht Hodges an. »Immerhin handelt es sich nicht um kleine graue Männchen aus Akte X.«

»Sondern?«, fragt Hodges.

»Um Keith Frias und Krista Countryman«, sagt Pete. »Die waren am zehnten April morgens ebenfalls am City Center, als Hartsfield zugeschlagen hat. Frias, damals neunzehn Jahre alt, verlor fast seinen ganzen rechten Arm, vier Rippen gebrochen, dazu kamen innere Verletzungen. Außerdem hat er siebzig Prozent der Sehkraft im rechten Auge verloren. Countryman, einundzwanzig, hatte mehrere Rippenbrüche, einen Armbruch und Wirbelschäden, die sich letztlich gegeben haben – nach allerhand schmerzhaften Therapien, die ich mir lieber nicht vorstellen will.«

Das will Hodges auch nicht, aber er hat oft über die Opfer von Brady Hartsfield nachgegrübelt. Vor allem darüber, wie siebzig niederträchtige Sekunden das Leben von so vielen Menschen auf Jahre hinweg verändern konnten … oder, im Falle von Martine Stover, für immer.

»Die beiden haben sich in einer Einrichtung bei ihrer wöchentlichen Therapiesitzung kennengelernt und ineinander verliebt. Als es ihnen besser ging … allmählich … wollten sie heiraten. Dann, im Februar letzten Jahres, haben sie gemeinsam Suizid begangen. In den Worten eines alten Punksongs: Sie haben massenhaft Pillen geschluckt und sind gestorben.«

Dabei muss Hodges an den Mörser auf dem Tischchen neben Stovers Pflegebett denken. An den Mörser mit einem Rest Oxycodon. Stovers Mutter hat das gesamte Pulver in Wodka aufgelöst, aber auf diesem Tischchen müssen allerhand andere Betäubungsmittel gelegen haben. Wieso hat sie sich die Mühe gemacht, einen Plastikbeutel und Helium zu verwenden, wenn sie doch ein paar Tabletten Vicodin hätte schlucken können und dann mit einer Portion Valium über den Jordan reisen?

»Bei Frias und Countryman war es ein Suizid von jungen Leuten, wie er ebenfalls täglich vorkommt«, sagt Izzy. »Die Eltern der beiden waren von ihren Heiratsplänen nicht gerade begeistert. Wollten noch etwas Zeit verstreichen lassen. Und zusammen weglaufen war schlecht möglich. Frias konnte kaum gehen, und beide hatten keine Arbeit. Es war genug Geld von der Versicherung da, die Therapiesitzungen zu bezahlen und etwas zur Haushaltskasse der jeweiligen Eltern beizutragen, aber von einer Police, wie Martine Stover sie hatte, konnte nicht die Rede sein. Dumm gelaufen, könnte man sagen. Man kann nicht mal von einem merkwürdigen Zufall sprechen. Schwer verletzte Menschen werden oft depressiv, und wer unter Depressionen leidet, bringt sich manchmal um.«

»Wo haben die beiden es getan?«

»Im Zimmer vom jungen Frias«, sagt Pete. »Während seine Eltern mit seinem kleinen Bruder einen Ausflug in einen Vergnügungspark gemacht haben. Sie haben die Pillen geschluckt, sind ins Bett gekrochen und eng umschlungen gestorben, genau wie Romeo und Julia.«

»Romeo und Julia sind in einem Grab gestorben«, sagt Holly, die gerade in die Küche zurückkommt. »In dem Film von Franco Zeffirelli, der eigentlich der beste ist …«

»Schon gut, ich hab’s kapiert«, sagt Pete. »Jedenfalls waren sie in beiden Fällen mausetot.«

In einer Hand hält Holly das Exemplar von Inside View, das auf dem Couchtisch gelegen hat. Es ist so gefaltet, dass man ein Bild von Johnny Depp erkennt, auf dem dieser entweder betrunken, bekifft oder tot aussieht. Hat Holly etwa die ganze Zeit im Wohnzimmer gesessen und in einer Klatschzeitschrift geschmökert? Falls ja, ist sie heute wirklich neben der Spur.

»Sag mal, Holly, fährst du eigentlich immer noch den Mercedes, den Hartsfield deiner Cousine Olivia gestohlen hat?«, fragt Pete.

»Nein.« Holly setzt sich, legt sich die gefaltete Zeitschrift auf den Schoß und drückt spröde die Knie zusammen. »Letzten November hab ich ihn gegen einen Prius eingetauscht, wie Bill einen hat. Der Mercedes hat massenhaft Sprit geschluckt und war nicht umweltfreundlich. Außerdem hat meine Therapeutin es mir empfohlen. Sie hat gesagt, nach eineinhalb Jahren hätte ich den Bann, den er auf mich ausgeübt hat, sicher gebrochen, und da hätte er keinen therapeutischen Wert mehr. Wieso interessiert dich das denn?«

Pete beugt sich vor und verschränkt die Hände zwischen den Knien. »Hartsfield hat den Mercedes damals mit einem elektronischen Gerät geknackt, mit dem er die Türen öffnen konnte. Im Handschuhfach lag ein Ersatzschlüssel. Vielleicht wusste er darüber Bescheid, vielleicht hat sich das Massaker am City Center auch nur ereignet, weil sich die Gelegenheit dazu ergab. Gewissheit werden wir darüber nie bekommen.«

Und Olivia Trelawney, denkt Hodges, hat ihrer Cousine Holly in vieler Hinsicht geähnelt – sie war nervös, zurückhaltend, eindeutig ungesellig. Keineswegs dumm, aber nicht besonders sympathisch. Wir waren uns sicher, dass sie ihren Wagen unverschlossen und mit dem Schlüssel in der Zündung hatte stehen lassen, weil das die einfachste Erklärung war. Und weil wir auf einer primitiven Ebene, auf der das logische Denken keinen Einfluss hat, wollten, dass das die Erklärung war. Olivia ist uns furchtbar auf die Nerven gegangen. Dass sie wiederholt alles geleugnet hat, haben wir als arrogante Weigerung interpretiert, die Verantwortung für ihre Fahrlässigkeit zu übernehmen. Der Schlüssel in ihrer Handtasche, den sie uns gezeigt hat? Den hielten wir für den Ersatzschlüssel. Wir haben ihr zugesetzt, und als die Medien ihren Namen erfahren hatten, haben sie sie ebenfalls unter Druck gesetzt. Irgendwann hat sie dann wohl selbst geglaubt, sie hätte das getan, was wir dachten – einem auf einen Massenmord bedachten Monster Vorschub geleistet. Keiner von uns ist auf die Idee gekommen, dass ein Computerfreak in der Lage sein könnte, so ein Gerät zusammenzubasteln. Olivia Trelawney natürlich auch nicht.

»Aber wir waren nicht die Einzigen, die sie unter Druck gesetzt haben.«

Dass er das laut ausgesprochen hat, wird ihm erst bewusst, als alle ihn ansehen. Holly nickt ihm leicht zu, als wären sie beide demselben Gedankengang gefolgt. Was nicht besonders überraschend wäre.