Mit dem Teufel im Bunde - Petra Oelker - E-Book

Mit dem Teufel im Bunde E-Book

Petra Oelker

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Beschreibung

Der neue historische Bestseller von Petra Oelker Hamburg, anno 1772: Die Stadt ist in Unruhe – der Turm der ehrwürdigen St.-Katharinen-Kirche droht umzustürzen und soll in einem geradezu teuflischen Verfahren von Baumeister Sonnin ins Lot gebracht werden. Dann wird plötzlich die reiche Kauffrau Sibylla van Keupen erschlagen – ausgerechnet in der Katharinenkirche. Ein böses Omen. War es der Baumeister? Ihre altjüngferliche Schwägerin? Oder die Kunstblumenmacherin? Rosina, Weddemeister Wagner und die Kaufmannsfamilie Herrmanns ermitteln und stoßen auf eine Mauer des Schweigens.

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Petra Oelker

Mit dem Teufel im Bunde

Ein historischer Kriminalroman

Über dieses Buch

Der neue historische Bestseller von Petra Oelker

 

Hamburg, anno 1772: Die Stadt ist in Unruhe – der Turm der ehrwürdigen St.-Katharinen-Kirche droht umzustürzen und soll in einem geradezu teuflischen Verfahren von Baumeister Sonnin ins Lot gebracht werden. Dann wird plötzlich die reiche Kauffrau Sibylla van Keupen erschlagen – ausgerechnet in der Katharinenkirche. Ein böses Omen. War es der Baumeister? Ihre altjüngferliche Schwägerin? Oder die Kunstblumenmacherin?

Rosina, Weddemeister Wagner und die Kaufmannsfamilie Herrmanns ermitteln und stoßen auf eine Mauer des Schweigens.

Vita

Petra Oelker, geboren 1947, arbeitete als freie Journalistin und veröffentlichte Jugend- und Sachbücher. Sie schrieb mehrere in der Gegenwart angesiedelte Kriminalromane, unter ihnen «Der Klosterwald» und «Die kleine Madonna».

Dem großen Erfolg ihres ersten historischen Kriminalromans «Tod am Zollhaus» folgten weitere Romane, in deren Mittelpunkt Hamburg und die Komödiantin Rosina stehen:

 

Weitere Veröffentlichungen:

(in der Reihe um die Komödiantin Rosina)

Tod am Zollhaus

Der Sommer des Kometen

Lorettas letzter Vorhang

Die zerbrochene Uhr

Die ungehorsame Tochter

Die englische Episode

Der Tote im Eiskeller

Die Schwestern vom Roten Haus

Die Nacht des Schierlings

Im schwarzen Wasser

 

(in der Reihe um die Äbtissin Felicitas Stern)

Der Klosterwald

Die kleine Madonna

 

sowie

Die Neuberin

Tod auf dem Jakobsweg

Sich von Verbrechen fernhalten heißt nicht, dass sie dann aufhören.

 

Dacia Maraini

Prolog

Das Blut rann den nackten Arm des Scharfrichters hinab bis in sein schwarzledernes Wams, es leuchtete rot auf der weißen Haut. Obwohl es aus der Entfernung wie ein dünnes Rinnsal erschien, wirkte es wie ein Fanal. Nicht der abgetrennte Kopf des Gerichteten oder der entsetzliche Mund, nicht der als blutender Kadaver vom Richtblock auf die Bretter rutschende Körper – es war dieses leuchtend rote Blut aus den durchtrennten Adern des abgeschlagenen Kopfes auf der weißen Haut des triumphierend gereckten Armes.

Das war das Bild, das er nicht vergaß. Die Erinnerung kehrte zurück, wenn er vor einem Schlachthaus oder im Hof eines Anwesens zum Ausbluten aufgehängte Schweine oder Rinder sah, auch neulich, als die weiße Katze von den Rädern einer dahinrasenden Kutsche zerquetscht wurde. Und manchmal ohne offensichtlichen Anlass.

So wie jetzt im Halbschatten unter der Hainbuche. Hier war weit und breit kein Schlachthaus, gewiss kein Richtplatz, nicht einmal ein Gehöft. Auch fehlte jeglicher Geruch von Blut, Sterben und Verwesung. Da war nur in den Farben des Herbstes leuchtendes Land, fallendes Laub und der Duft von feuchter Erde, ein Bussard zog hoch über ihm seine Kreise, mit den scharfen Augen auf der Suche nach einer Beute, die beiden Pferde dösten mit gesenkten Köpfen. Nun taumelte eine müde Hummel behäbig brummend vorbei, sonst gab es nichts als Stille und Frieden.

Johannes Taubner schüttelte seinen Kopf, heftig, so wie ein nasser Hund sich schüttelte.

Eine helle Stimme lachte auf. «Hat sich wieder eine Wespe in dem Gestrüpp auf deinem Kopf verirrt? Soll ich nachsehen?»

Der junge Mann, der zwei Schritte von Taubner entfernt im Gras gelegen und in die Wolken gestarrt hatte, richtete sich auf, froh, dass das müßige Herumliegen offenbar ein Ende hatte. Mit seinen etwa zwanzig Jahren war er halb so alt wie Taubner, sein weißblondes Haar wirkte gegen die von Wind und Sonne mehr gerötete als gebräunte Haut des Gesichts künstlich, der einfache blaue Kittel über der Kniehose, die einmal bessere Tage gesehen hatte, war ihm zu weit. Seine hellen Augen, der große Mund verrieten ein heiteres, schwärmerisches Naturell, nur manchmal, wenn er sich unbeobachtet fühlte, war sein Blick der eines viel älteren Mannes.

«Nein», sagte Taubner, «keine Wespe. Es war – gegen die Trägheit. Ja, es vertreibt die Trägheit.»

Er sah keinen Grund, dem Jungen, wie er ihn bei sich stets nannte, seine Gedanken anzuvertrauen. Erst recht nicht die dunklen, davon hatte Henrik selbst genug.

Er war lange in Kopenhagen gewesen; während der letzten Wochen hatte er mit seinem neuen Gehilfen in Wismar gearbeitet, nun war das Ziel ihrer Reise nicht mehr weit. Das musste der Grund für die Vision jenes blutigen Tages sein. Würde er auf einen Baum klettern, der höher hinaufragte als die Hainbuche, könnte er womöglich schon die Türme und Wälle sehen, sogar ein Stück des breiten, zum Meer führenden Flusses. Er hatte scharfe Augen. Wie der Bussard. Die Stadt war noch eine, vielleicht anderthalb Tagesreisen entfernt. Er kannte sie gut und wusste, wenn man sich auf den Straßen von Norden und Osten dem Tor näherte, passierte man das Galgenfeld. Es war eine große Wiese, fast so groß wie die bei Kopenhagen. Richtstätte und ungeweihte Erde zum Verscharren der Hingerichteten. Oder was von ihnen übrig geblieben war. Er war kein kaltblütiger Mensch, das war er nie gewesen, so hoffte er, Galgen und Räder leer vorzufinden. Es mochte ja sein, dass die verwesenden, von Raub- und Aasvögeln zerhackten Körper der Hingerichteten der Abschreckung dienten – im Preußischen, so hatte er gehört, ließ man manche der Gehenkten an den Galgen, bis nur mehr die Gerippe übrig waren –, doch mit den Jahren hatte er zu zweifeln begonnen, ob diese Sitte christlich war oder nur barbarischen Völkern angemessen, die nichts von der Erlösung und Vergebung der Sünden wussten.

Diesmal war ihm das Bild vom Blut auf der weißen Haut im Schlaf begegnet. Die Sonne stand immer noch hoch, er konnte nur kurz eingenickt sein. Offenbar lange genug.

Seit er als einer von Tausenden auf der weiten Fläche vor der dänischen Hauptstadt dem schrecklichen Spektakel zugesehen hatte, waren Monate vergangen. Als er damals auf das Blut gestarrt hatte, war ihm die dichtgedrängte Menge von Körpern wie ein großes, sich mit angehaltenem Atem zusammenkrümmendes Tier erschienen, wie ein einziger Körper, der ihn fest umschloss und ihm die Luft nahm. Er wollte aus dieser seltsamen Manege fliehen, dreißigtausend Zuschauer hatten sich um das auf dem Østre Fælled errichtete Schafott eingefunden, so war später in den Zeitungen geschrieben worden. Aber wie alle anderen hatte er ausgeharrt, als halte auch die Zeit den Atem an, um sich dann von der plötzlich, wie im geheimen Einverständnis davoneilenden Menge mitziehen zu lassen, fortschwemmen, zurück hinter die Mauern der Stadt.

Erst später in seinem Quartier hatte er erkannt, was an dieser Rückkehr so befremdlich gewesen war: Das Geschwätz hatte gefehlt in diesem eiligen Menschenstrom, die Prahlerei, das Ausmalen und einander Erzählen von dem, was sich gerade ereignet hatte. Da war ein Raunen hier und dort gewesen, mal ein Seufzen, ein Aufschluchzen gar, doch keine wetteifernden Töne des Triumphs, des üblichen genussvollen Grausens und der Schadenfreude.

Oder hatte er sie nur nicht gehört? Waren sie nur nicht durch das taube Rauschen in seinen Ohren, in seinem ganzen Kopf gedrungen? Das glaubte er nicht. Auch in den nächsten Tagen, als er wortkarg wie gewöhnlich seiner Arbeit nachging oder am Abend in der Schänke bei einem Krug Bier dem Geschwätz der Leute zuhörte, war von dieser erstaunlichen Stille und Eile, in der die Menge den Richtplatz verlassen hatte, die Rede gewesen. Doch schon am nächsten Tag war die gewohnte Ordnung wieder eingekehrt, nicht nur der Pöbel auf den Märkten und im Hafen, in den Gassen und Schänken hatte zum üblichen Geschrei zurückgefunden, auch die Zeitungsschreiber und Drucker, die Verfasser der Flugschriften.

Die Flugschriften waren in der Stadt verkauft worden, ob mit oder ohne Bilder – alle waren im gleichen Ton gehalten. Da war von dem Verräter die Rede, von dem Lüstling, dem Betrüger, dem Staatsfeind, von dem Mann, der die Königin verführt und den König und den Kronprinzen zu ermorden geplant hatte. Von einem, der mit dem Teufel im Bunde gewesen war. Wie sonst sollte man es erklären, wenn ein Pastorensohn in kurzer Zeit vom armen Altonaer Stadtphysikus zum Vorleser, königlichen Leibarzt und schließlich zum nahezu allmächtigen Geheimen Kabinettsminister aufstieg?

Er hatte den Dreck nicht gekauft, ihm reichte, dass man den Vorlesern auf den Plätzen und in den Schänken kaum entkam. Womöglich hatte er es nicht selbst lesen, nicht schwarz auf weiß sehen wollen, so überlegte er jetzt, weil er Angst vor Zweifeln hatte. Womöglich, ja. Es war bei aller Gewissheit nicht leicht, der eigenen Überzeugung treu zu bleiben, wenn alle Welt an eine andere Wahrheit glaubte.

Die Wahrheit? Wahrheit war ein schwieriges Wort, was sich dahinter verbarg, noch schwieriger. Darüber wollte er nun nicht nachdenken. Er reckte die Schultern, bewegte vorsichtig den steif gewordenen Rücken und sah sich um. Es gab immer noch diese Momente, in denen er nicht erstaunt gewesen wäre, wenn er sich vergeblich umgesehen hätte. Dabei hatte er sich an den Jungen gewöhnt, so unwillig er ihn zunächst aufgenommen hatte – einem wie Henrik Unterschlupf zu gewähren, war in jenen Tagen gefährlich gewesen.

Inzwischen holte ihn die Erinnerung an die blutige Hinrichtung seltener ein, auch mit weniger Erschrecken, und obwohl er nicht wusste, warum er sich stets gerade an diese roten Streifen von Blut auf der weißen Haut erinnerte, fragte er sich nicht mehr danach. Es war unnütz, über Begebenheiten zu grübeln, wenn er sie nicht ändern konnte. Insbesondere nach solchen, die in der Vergangenheit lagen und somit unabänderlich Teil der wirklichen Welt waren.

Er hatte andere Hinrichtungen gesehen, hatte die letzten Schreie einer des Kindsmords überführten Frau gehört, bevor sie, eingenäht in einen Sack, im Fluss unter das Wasser gedrückt und ertränkt worden war. Es war nicht wirklich gewiss gewesen, ob sie das Kind ihrer Schwester getötet hatte; was die Menschen unter der Tortur gestanden, war nie gewiss. Er hatte Gehenkte gesehen oder das, was von ihnen übrig geblieben war, er hatte auch – wie in Kopenhagen – nach der Tötung gevierteilte und auf Räder geflochtene Körper gesehen, die großen schwarzen Vögel, die darauf hockten und mit scharfen Schnäbeln ihre Beute zerhackten und verteidigten. Einmal hatte ihn bei der Fahrt durch ein Stadttor der Geruch verbrannten Fleisches empfangen. Es war ein Tag von drückender Schwüle gewesen, der Geruch hatte noch den ganzen Tag und die folgende Nacht in der Stadt gehangen. Selbst als die Reste des Scheiterhaufens beseitigt und die Asche des Delinquenten nach der Sitte an einem unbekannten Ort in alle vier Winde verstreut worden war, hatte er es noch gerochen. Doch so war das Leben, Strafen gehörten dazu, auch die zum Tode.

Bis zu jenem Tag in Kopenhagen Ende April hatte er sich die Entscheidung, ob solche Strafen gerecht waren, nie angemaßt. Diese Hinrichtung war unrecht gewesen, dessen war er sicher. Nur deshalb reiste der Junge nun mit ihm, als sein neuer Gehilfe. In Hamburg würde niemand fragen, wer Henrik war, woher er kam, wohin er wollte. Und zu welchem Zweck. Das vor allem.

«Komm», sagte er, stand auf und löste die Fessel um die Vorderbeine der Pferde. Der Junge sprang auf. Er zog laut den Rotz hoch, wischte sich grob mit der Hand unter der Nase entlang und lachte.

«Richtig so?», fragte er.

«Schon ganz gut.» Taubner lächelte flüchtig. Der Eifer, ja, das Vergnügen, mit dem der Junge sich darin übte, das Gebaren eines Mannes ohne feine Erziehung anzunehmen, heiterte ihn stets auf.

Kapitel 1

Hamburg

Montag, 26. Oktober

Es war einer dieser milden Herbsttage, die das Wissen um die Nähe der winterlichen Kälte und Dunkelheit absurd erscheinen lassen. Das Sonnenlicht funkelte schon ein wenig matt auf dem Alstersee und den Fleeten, doch es wärmte noch und ließ die Menschen, die an diesem Vormittag auf den Straßen unterwegs waren, ihre Schritte verlangsamen. Einige gerieten gar ins Schlendern, was in einer großen Hafen- und Handelsstadt wie Hamburg an einem ganz gewöhnlichen Wochentag durchaus ungewöhnlich war. Die Straßenhändler und die Blumenverkäuferinnen machten wieder bessere Geschäfte, man grüßte einander freundlicher als sonst, blieb hier und da stehen, um ein paar Worte zu wechseln, die sonst nicht gewechselt worden wären. Möglicherweise wurden sogar alte Feindschaften vergessen, wenigstens für diesen einen schönen Tag, dieses späte Geschenk des schon vergangenen Sommers.

Natürlich galt das nicht für alle Menschen in der Stadt, hier und da wurde gestritten oder betrogen, rüde befohlen oder unerbittlich gestraft wie an allen anderen Tagen.

«Ja, ja», murmelte Baumeister Sonnin, dessen Kopf eigentlich mit Wichtigerem als dem Für und Wider milder Spätherbsttage beschäftigt war, «es mag wohl doch an der Kraft der Sonne liegen, wenn die Wilden in den heißen Ländern zur Faulheit neigen.»

Gestern Abend im Gasthaus Zum Traubenthal hatte er das noch vehement abgestritten und behauptet, jeder Mensch sei zur Disziplin und somit auch zur Selbstdisziplin fähig und überhaupt Herr seiner Entscheidungen und seines Tuns. Selbst Frauen und Wilde. Wodurch die Debatte in eine andere Richtung abdriftete, nämlich ob diese Wilden, die gelb-, schwarz- oder rothäutigen, überhaupt Menschen seien, bevor sie die Segnungen der christlichen Taufe genössen. Eine dumme, immer wiederkehrende Erörterung, die Sonnin überhaupt nicht gefiel.

Er marschierte mit raschem Schritt durch all das Geschlender, bog in den langgestreckten Platz vor dem Rathaus ein und überlegte, ob er die Sache von der Sonne und den Wilden gerade nur gedacht oder womöglich laut ausgesprochen hatte. Er erinnerte sich nicht, auch hatte er nicht darauf geachtet, ob ihn jemand seltsam ansah. Auf so etwas achtete er nie, die Leute sahen ihn oft genug seltsam an. Was nur an der Dummheit der Leute liegen konnte, er selbst hielt sich ganz und gar nicht für seltsam. Er war der beste Baumeister der Stadt. Dass er es auf unübliche Weise geworden war, spielte keine Rolle. Die große Michaeliskirche in der Neustadt war sein Werk, nun gut, nicht allein sein Werk, aber zum größten Teil. Und die neuen Methoden, mit denen er den Abriss der nach einem Blitzschlag übrig gebliebenen Ruine und den Bau der neuen Kirche bewerkstelligt und vorangetrieben hatte, hatten seinen Namen und sein Können trotz aller Streiterei und Krittelei weit über die Stadt hinaus bekannt gemacht.

Aber es stimmte, wenn er nicht besser auf sich achtgab, wurde er wunderlich. Wahrscheinlich wurde er nur alt. In der letzten Zeit ertappte er sich häufiger dabei, wie ihm in Gesellschaft oder auf belebter Straße ein grimmiges Stöhnen entfuhr oder er einen Gedanken laut aussprach. Leider auch, wenn es überhaupt nicht angebracht war, so wie in der letzten Woche, als er des dummen Geschwätzes um die ewige Repariererei an dem baufälligen Rathaus müde gewesen war. Der Blitz hätte St. Michaelis verschonen und besser in das Rathaus fahren sollen. Das machte der Stadt wahrlich keine Ehre, es war längst samt dem angebauten Niederngericht reif zu Abbruch und Neubau. Aber sie wollten sparen, die Herren mit den weißen Halskrausen, und ließen immer nur an dem alten Gemäuer herumwerkeln. Seit zwölf Jahren stützte ein eingezogener Pfeiler mitten im Ratssaal die alte Decke, einmal war schon ein Stein herausgefallen, während einer Sitzung – da sollte noch einer behaupten, die Ratsherren besäßen keinen Mut. Sie waren so todesmutig wie knauserig.

Er hatte von jeher seine Differenzen mit der Obrigkeit gehabt, vor allem mit der Dummheit mancher als bedeutend geltender Männer, auch das war bekannt und hatte ihn zweifellos einige lukrative und reizvolle Bauaufträge gekostet, vom Amt des Stadtbaumeisters gar nicht erst zu reden.

Leider war er nicht reich genug, um sich leisten zu können, stets zu sagen, was er dachte. Obwohl es verlässliche einflussreiche Freunde und Kenner seiner Kunst in der Stadt gab, sollte er dafür sorgen, dass seine Gegner und Feinde nicht mehr wurden. Ja, er musste unbedingt besser achtgeben. Wie oft hatte er sich das schon vorgenommen?

Er blieb stehen, blinzelte durch die Sonne zur breiten, mit den Statuen der von einundzwanzig deutschen Kaisern und Königen geschmückten Fassade des Rathauses, weiter zur Börse hinüber und verzog spöttisch den Mund. So viel zum freien Willen und zur Selbstzucht, dachte er und war diesmal ganz sicher, nur gedacht und nicht gesprochen zu haben.

Dabei wäre es gerade in diesem Moment einerlei gewesen. Niemand beachtete den Baumeister, alles scharte sich um ein Grüppchen von Männern und Frauen vor der Bücherbude bei der Trostbrücke. Wer keine Zeit hatte, stehen zu bleiben, um den Grund der Aufregung zu erkunden, machte im Vorbeigehen einen langen Hals und spitzte die Ohren. Sonnin hatte auch keine Zeit, doch was er jetzt hörte, ließ ihn das vergessen.

«Ich hab’s immer gesagt», schrie ein vom Eifer rotgesichtiger Mann, in dem Sonnin den Büchsenschmied Murke aus der Spitaler Straße erkannte, und schwenkte eine Broschüre. Ihn hatte die Milde des Tages offensichtlich unberührt gelassen. «Ein Physikus? Ein Minister? Ein Graf? Dummes Zeug! Ein Teufel auf Erden, das ist er gewesen! Ein Verräter, Kindsmörder und Menschenverderber.»

«Sittenstrolch», rief ein anderer mit meckerndem Lachen, «Ihr habt Sittenstrolch vergessen!»

«Lüstling», piepste eine weibliche Stimme dazwischen, und eine Woge von Gelächter ging durch die Menge, doch niemand widersprach.

«Pass bloß auf, Jan Murke», mahnte eine dicke, sommersprossige Frau, die ihren mit Walnüssen gefüllten Korb gegen das Drängen der Leute umklammert hielt. «Teufel bleibt Teufel, auch wenn die Dänen ihm den Kopf abgeschlagen haben. Das macht dem gar nichts. Pass bloß auf, dass er nicht beim nächsten Gewitter angesaust kommt und dich holt. Ich hör’s schon donnern.»

Für eine Sekunde war es totenstill, dann ging das Geschrei weiter. Sonnin befahl sich, nicht mehr zuzuhören, und drängte durch die Reihen. Er würde keinen Pfennig ausgeben für ein solches Pamphlet, er hatte genug von dem Schund in den Fingern gehabt, aber er wollte es sehen. Er wollte wissen, ob irgendjemand – ob in Kopenhagen oder hier an der Elbe – noch etwas Neues zu Aufstieg und Fall des Dr. Johann Friedrich Struensee erdacht hatte.

Der Pächter der Bücherbude stand hochzufrieden mit vor dem Bauch gefalteten Händen hinter seinem Tresen und sah aus wie ein Goldsucher, der auf eine dicke Ader gestoßen ist. Die Hinrichtung des dänischen Ministers und tatsächlichen Regenten, der einmal Armenarzt im benachbarten Altona gewesen war, lag nun schon ein halbes Jahr zurück, trotzdem tauchten immer noch Flugschriften auf, die sich verkauften wie Brot während einer Hungersnot. Manche waren vielblättrig wie ein Buch, fast alle gehässige, geifernde Pamphlete, die nach Sonnins Meinung mehr über Geisteshaltung und Moral ihrer Verfasser aussagten als über den Mann, der an seinen unmäßigen Ambitionen – sicher auch an der Liebe zu seiner Königin – gescheitert, wegen Majestätsbeleidigung im Höchsten Grad und Hochverrats angeklagt, verurteilt und hingerichtet worden war. Ermordet, sagten manche, doch das waren wenige. Die Sache mit dem Teufel war nun wirklich nicht neu, aber Satan, Unzucht und Verrat verkauften sich immer gut.

«Und ich hab auch gesagt, was hier steht.» Der Büchsenschmied übertönte alle. «Der Kerl lebt! Struensee lebt.»

Wieder herrschte für einen Atemzug Stille – alle, auch die, die ihn zuvor wenig beachtet hatten, starrten Murke an.

«Hier steht’s», rief er mit kippender Stimme und schwenkte seine Broschüre wie eine Siegesfahne, doch das ging schon in der neu aufbrandenden Debatte unter.

‹Struensee lebt›. Zwei Worte, die zündeten wie ein Windstoß in nur noch glimmendem Feuer. Das war tatsächlich neu, und plötzlich war sich Murkes Publikum nicht mehr einig. Die, die selbst ein Exemplar ergattert hatten, beugten sich über das Papier, andere versuchten mitzulesen, einige lachten, allerdings klang es weniger fröhlich als schrill.

Struensee, las Murke vor, sei es gelungen, aus seinem Kerker zu entkommen und statt seiner einen Doppelgänger aufs Schafott zu schicken, der ihm hündisch ergeben gewesen sei. Oder eine teuflische Chimäre, das sei ungewiss. Jedenfalls sei es nicht der Geheime Kabinettsminister des Königs gewesen, dem zuerst die Hand und dann der Kopf abgeschlagen, dessen Körper gevierteilt aufs Rad geflochten, Kopf und Hand auf Stangen gespießt ausgestellt worden seien, bis alles an einem geheimen Ort verscharrt worden war.

Murke hielt es mit der teuflischen Chimäre. Nun, verlas er weiter, sei der Entkommene auf der Flucht und bereite sich mit seinen Spießgesellen vor, anderswo sein unmenschliches Spiel zu treiben. Umsturz, Revolution oder eine andere Teufelei.

«Unmenschliches Spiel», murmelte eine Stimme in Sonnins Nähe, Murkes wichtigtuerische Stimme nachäffend. «Das unmenschliche Spiel betreiben ganz andere.»

Sonnin sah sich suchend um, aber er konnte nicht erkennen, zu wem die Stimme gehörte. Nun hätte er doch gerne eines dieser Pamphlete gekauft, der Händler hob nur grinsend die Schultern und schüttelte den Kopf.

«Kommt morgen früh wieder», sagte er, beflissen die Hände gegeneinanderreibend, «bis dahin ist nachgedruckt.»

«Und hoffentlich von der Zensur konfisziert», knurrte der Baumeister und kämpfte sich unwirsch wieder aus dem Menschenknäuel. Spätestens in einer Stunde würde es in der ganzen Stadt und den umliegenden Ortschaften verbreitet sein: ‹Struensee lebt›. Genug Schwachköpfe würden es glauben. Einige vielleicht, weil sie es hofften, weil sie sich an den jungen unermüdlichen Physikus erinnerten, der verbissen gegen die Windmühlenflügel der Dummheit und des Aberglaubens gekämpft hatte – selbst etliche, die ihn nicht gemocht und seine Ansichten absolut nicht geteilt hatten, fanden sein Ende übertrieben und unrecht. Die meisten jedoch, weil ihnen die Vorstellung zu einem wohligen Grausen verhalf. Besonders in Verbindung mit der teuflischen Chimäre.

«Sonnin, alter Freund, Ihr seht aus, als hätte Euch jemand das Buttermilchtrinken verboten.» Claes Herrmanns, Großkaufmann und eine der Grauen Eminenzen der Stadt, stellte sich dem grimmig und blind für seine Umwelt über den Platz stapfenden Baumeister in den Weg und musterte ihn amüsiert. «Seid Ihr in eine Rauferei geraten? Wenn Ihr erlaubt …»

Mit einem raschen Griff rückte er die im Gedränge verrutschte Perücke des Baumeisters gerade und klopfte ihm ein wenig von dem herabgerieselten grauen Puder von der Schulter.

«Ein Becher Buttermilch käme mir jetzt sehr recht. Es geht nichts über frische Buttermilch. Und Rauferei? Beinahe.» Er blickte zu der sich auflösenden Menge vor der Bücherbude zurück und schnaufte ärgerlich. «Der Kerl dort verkauft mal wieder eine dieser erbärmlichen Flugschriften. Ich dachte, damit sei es endlich vorbei. Irgendein Idiot hat sich tatsächlich was Neues ausgedacht. Struensee, so wird da behauptet, lebt. Er sitze irgendwo wie die Made im Speck, sammele seine Anhänger, die man sträflicherweise – ha, sträflicherweise! – nicht reihenweise geköpft, sondern nur des Landes verwiesen hat, und brüte eine Teufelei aus. Besonders mit seinem älteren Bruder, der in Kopenhagen seine rechte Hand gewesen ist. Man stelle sich vor: Revolution in Altona und Pinneberg! In Hamburg gar. In England mag das möglich sein, da gärt es schon lange, aber bei uns? Warum nicht gleich im Garten Eden?»

«Was?» Claes Herrmanns lachte ungläubig. «Verzeiht mein Lachen, der Einfall ist nicht wirklich lustig. Aber das ist zu absurd.»

«Wahnwitz!»

«Wahnwitz. Unbedingt. Wie sollte das gegangen sein? Tausende waren Zeuge der Hinrichtung.»

Sonnin berichtete knapp, was er gerade gehört hatte, unwillig, gleichwohl spürte er Erleichterung. Er kannte den Kaufmann lange und gut genug, um zu wissen, dass er in ihm keinen Verfechter von Struensees radikalen Reformen, aber einen Mann von einiger Vernunft vor sich hatte.

«Habt Ihr eins von diesen Pamphleten?», fragte Claes Herrmanns.

«Nein, sie waren schon alle verkauft. Der Budenkerl sagt, morgen früh habe er neue, bis dahin sei frisch gedruckt.»

Herrmanns pfiff leise durch die Zähne. «Das bedeutet, die Fetzen werden hier bei uns gedruckt.»

«Hier oder in Altona. Neuerdings soll es auch in Wandsbek eine kleine Druckerei geben. Einerlei, so ein Geschäft lässt sich kein Drucker entgehen, selbst wenn er dafür Schmutz drucken muss.»

«Umso weniger, wenn er es nicht als Schmutz ansieht. Vergesst es einfach», schlug Herrmanns vor. «Der Teufel hat immer Konjunktur. Der ist der beste Kompagnon, wenn man Aufregung schüren und den Leuten das Geld aus der Tasche ziehen will. Wie der Klabautermann. Der muss auch herhalten, wenn ein Schiff auf unerklärliche Weise verschwindet. Dabei verschwinden Schiffe nun mal, so ist die Seefahrt. Struensee als Teufel – eigentlich kann Euch das nicht überraschen. Ich erinnere mich, dass man selbst Euch wegen Eurer Methoden der Kumpanei mit dem alten Luzifer bezichtigt hat. Ihr wärt mit dem Satan im Bunde gewesen, hieß so nicht der Titel einer Flugschrift? Wartet nur ab, wenn Ihr nun den Turm der Katharinenkirche …»

«Sapperlot! Die Katharinenkirche. Ich komme zu spät.» Der Baumeister neigte, schon im Davoneilen, den Kopf zum Gruß und hastete über die Zollenbrücke davon.

Claes Herrmanns’ Begleiter, ein eleganter Mann von vielleicht dreißig Jahren, sah ihm verblüfft nach; die Klarheit seines Gesichts unter dem sanft lockigen aschblonden Haar, das über den Ohren zu den erforderlichen akkuraten Röllchen gedreht und im Nacken über dem Haarbeutel von einem schwarzen Seidenband gefasst war, wurde nur von einem pince-nez gestört.

«Das war Baumeister Sonnin?», fragte er.

«Ja. Ich hätte Euch gerne miteinander bekannt gemacht. Er ist meistens in Eile, sicher findet sich bald eine andere Gelegenheit. Lasst Euch nicht täuschen, Meinert, er ist ein äußerst kluger Kopf. Eigensinnig, das gewiss, manchmal bis zur Sturheit, aber klug. Und mutig. So einer», fügte er wie zu sich selbst hinzu, «so einer hat nicht nur Freunde. Nun gut», er rieb sich den krümeligen Puder aus Sonnins altmodischer Perücke von den Händen, «was haltet Ihr von einem kleinen Besuch im Kaffeehaus? Ich brauche nach dieser teuflischen Geschichte unbedingt Kaffee. Ihr solltet ihn mit Kardamom versuchen. Oder müsst Ihr gleich zurück ins Kontor?»

Zacharias Meinert zögerte. Tatsächlich wurde er im Kontor erwartet. Von seinem Schwiegervater, was die Sache einerseits leichter, anderseits schwieriger machte. Aber einen Kaffeehausbesuch mit Claes Herrmanns konnte er nicht ablehnen. Im Gegenteil, der Vater seiner Frau würde beeindruckt sein. Im Übrigen war der ein wohlwollender Mensch, als Oberhaupt seines Handelshauses wie seiner Familie vielleicht ein wenig pedantisch, doch er hatte ihn oft genug aufgefordert, in dieser Stadt, in der er den meisten noch als Fremder galt, wichtige Bekanntschaften zu suchen und zu pflegen. Das sei unabdingbar für erfolgreiche Geschäfte, hatte sein Schwiegervater erklärt (als ob er das nicht selbst wüsste), besonders für den zukünftigen Teilhaber einer Großhandlung.

«Wart Ihr schon von Java zurück, als der Struensee-Skandal die Wogen hochgehen ließ?», fragte Claes Herrmanns, als sie Jensens Kaffeehaus bei der Börse erreichten.

«Ja, natürlich.» Der junge Kaufmann beugte sich vor und öffnete dem Älteren höflich die Tür. «Ich habe schon bei meiner Ankunft in Amsterdam vor mehr als einem Jahr von den Vorgängen in Kopenhagen …»

Weiter kam er nicht. In dem Kaffeehaus, Treffpunkt der wohlhabenderen Kaufleute und Privatiers, der Gesandten und Mitglieder des Rats, kurz jener Männer, deren Stimme in der Stadt von Bedeutung war, herrschte Trubel wie zuvor bei der Bücherbude.

«Mit dem Teufel!», rief gerade Senator van Witten und blähte seinen mächtigen Brustkorb, dass beinahe die Silberknöpfe auf seiner Weste aus bestickter sandfarbener Seide abplatzten. «Das ist stark. Die blanke Unvernunft. Reine Spintisiererei. So was überlassen wir in dieser Stadt alten Weibern und Dichtern. Wenn wir den Drucker, der den Unsinn in Umlauf gebracht hat, bei uns erwischen, kann er seine Werkstatt schließen, ein für alle Mal. Und glauben Sie mir, Monsieur, wir werden ihn finden.»

Van Witten war bekannt für starke Worte. Claes Herrmanns grinste, und während er dem schwitzenden, am Rande der Menge mit einem Tablett voller Kännchen und Tassen balancierenden Wirt mit zwei erhobenen Fingern das Zeichen für ‹zweimal-Kaffee-und-zwar-sofort› gab, grinste er noch breiter. In der Bude bei der Trostbrücke mochte die neue Flugschrift ausverkauft sein, hier würde er ganz gewiss eine ergattern. Und wenn er sie van Witten selbst aus der Tasche ziehen musste.

***

«Nein», sagte die junge Madam Vinstedt. «Auf gar keinen Fall.» Leider klang es wenig entschlossen, so bemühte sie sich um ein besonders strenges Gesicht. «Wir haben auch gar keinen Platz für ihn», erklärte sie. Es war einfach zu früh. Obwohl sie seit fast einem halben Jahr verheiratet war, fühlte sie sich in ihrer neuen Rolle, ihrem neuen Leben als Ehefrau und ehrbare Bürgerin immer noch nicht ganz zu Hause. Manchmal erwachte sie am Morgen, spürte die feinen Laken, den schlafenden Mann an ihrer Seite, die Wärme seines Körpers, und es konnte geschehen, dass sie nicht wagte, ihn zu berühren, weil sie sicher war, das Trugbild werde sich dann auflösen. Sie wusste, es war kein Trugbild, es war glückliche Realität, dennoch fühlte es sich an wie ein geborgtes Leben, eine Leihgabe auf unbestimmte Zeit. Wie eine Rolle, die sie spielte? Wie eine Rolle, aber es war kein Spiel. Sie liebte ihren Mann und vertraute auf seine Liebe. Sie hatte viel für ihn aufgegeben, vielleicht zu viel. Aber hatte sie wirklich eine Wahl gehabt?

Ein dezentes, gleichwohl unüberhörbares Räuspern holte sie aus ihren Gedanken in die Diele ihrer Wohnung zurück.

«Nun ja», sagte Mamsell Elsbeth, «keinen Platz, sagt Ihr. Er braucht nicht viel Raum, und die zweite, die kleinere Kammer bei der Küche … in anderen Häusern bekommen die Kinder nur einen Platz neben dem Feuer.»

Sie strich nervös über ihren rundlichen Bauch und blickte auf das Objekt der Ablehnung hinunter. Sie hatte gewusst, dass es nicht einfach sein würde – die meisten Menschen verstanden nicht, was gut für sie war. Normalerweise brauchte eine junge Ehefrau kein fremdes Kind in ihrem Haushalt, aber wenn der Ehemann häufiger verreist als bei seiner Liebsten war, wenn es sich um eine Frau handelte, die ein tätiges, ungewöhnlich freies Leben mit einer ganzen Gruppe vertrauter Menschen gewöhnt war, war ein weiteres Mitglied in ihrem Haushalt geradezu zwingend nötig, wenn sie nicht in Melancholie versinken sollte. Davon war Elsbeth fest überzeugt.

Für einen Moment allerdings ließ sie sich von Madam Vinstedts Nein anstecken. Sie sah den Knirps, den sie der jungen Hausfrau als Helfer für ihren noch jüngeren Haushalt antrug, mit deren Augen und begann zu zweifeln, ob die Idee tatsächlich so fabelhaft war, wie sie gedacht hatte. Tobias war dünn und für sein Alter klein, wobei ungewiss war, ob er, ein Findelkind, tatsächlich schon zehn Jahre zählte, wie in den Akten des Waisenhauses vermerkt. Seine Nase war breit, flach und leider nicht von niedlichen Sommersprossen geziert, sondern heftig gerötet. Womöglich hatte sie im vergangenen Winter zu viel Frost aushalten müssen. Die Ohren wirkten bei Gegenwind zweifellos hinderlich, dazu sein struppiges, kurzgeschorenes rostfarbenes Haar, das linke Auge, das nicht ganz genau in die gleiche Richtung blickte wie das rechte … Zumindest die O-Beine würden sich auswachsen, es waren keine hübschen, aber gesunde und kräftige Beine. Das hatte sie gleich erfahren, als sie ihn kennenlernte. Er war schnell wie der Wind und konnte aus dem Stand springen wie eine Katze. Auch die Fäuste schwingen, was sie jetzt nicht erwähnen sollte.

Auf den ersten Blick also war Tobias weder eine Schönheit, noch wirkte er wie ein tatkräftiger, vertrauenerweckender Helfer. Sie begriff nun, dass sie sich weniger von den Bedürfnissen der Vinstedts hatte leiten lassen als von denen des Kindes. Was vermessen war. Schließlich war sie keine Dame, die sich in Wohltätigkeit ergehen konnte, sondern nur eine Köchin, wenn auch in einem der angesehensten Häuser der Stadt. Aber wer behauptete, nur reiche Leute konnten sich für ihre armen Mitbürger stark machen? Und wer wusste denn schon – in diesen Tagen, da plötzlich wieder so viel vom Teufel geredet wurde –, ob es nicht Tobias’ Schutzengel gewesen war, der ihn ihr direkt vor die Füße geschubst hatte.

«Vielleicht möchtet Ihr noch einmal darüber nachdenken, Madam. Oder eine Nacht darüber schlafen?» Sie betrachtete den Jungen mit trotzigem Wohlwollen, bevor sie entschieden fortfuhr: «Er ist kräftiger, als er scheint, und Ihr braucht jemand für die kleinen schmutzigen Arbeiten, für Botendienste und derlei. Der Winter steht vor der Tür, denkt nur an die Öfen, die müssen befeuert und von der Asche befreit werden, Kohle, Holz und Torf herbeigeschafft und … ach bitte, Madam Vinstedt (nun kam Variante B zum Einsatz), habt ein Herz. Er ist ein guter Junge, und das Waisenhaus – natürlich gibt man sich alle Mühe, aber dort sind zu viele Kinder, das wisst Ihr so gut wie ich. Sie werden ständig krank, und das Essen – dazu muss ich nichts sagen. Dass er die Jahre so munter überstanden hat, zeigt nur, wie zäh und kräftig er ist.» Wieder seufzte sie schwer. Vieles würde sie aus ihrer eigenen Kindheit nicht vergessen, das Waisenhausessen gehörte unbedingt dazu, noch mehr die vielen Kranken. «Tobi ist noch gesund», fuhr sie hastig fort, «er hat einen hellen Kopf und ist anstellig. Ganz ungemein anstellig. Er kann halbwegs lesen und schreiben, nur mit dem Rechnen hapert es noch. Dafür kennt er den Katechismus fast auswendig, und Kirchenlieder und – ja, und dass Madam van Keupen ihn schon nach einer Woche wieder fortgeschickt hat, war nur Pech. Ach was, pure Ungerechtigkeit. Es ist …»

«Halt, Mamsell Elsbeth, halt!»

In Madam Vinstedts tiefblauen Augen blitzte es vergnügt. Da stand sie in ihrer Diele, blickte auf einen Jungen mit den schmutzigsten Knien an den dünnsten Beinen hinunter, die sie seit langem gesehen hatte, hörte, wie die Köchin ihrer besten Freundin ihn anpries wie einen zu trocken geratenen Kuchen, und hatte keinen Moment das Gefühl, dass das ihr passierte. Die Situation erschien unwirklich, diesmal zum Glück wie in einer Komödie.

«Ich weiß, Ihr bringt mir niemand, den Ihr für faul und liederlich haltet», sagte sie, um Ernst bemüht. «Aber gewiss erinnert Ihr Euch: Als Ihr mir antrugt, ein Waisenkind in unseren Haushalt aufzunehmen, sagte ich ‹vielleicht› und ‹keinesfalls vor dem nächsten Frühjahr›. Bis dahin sind es noch sechs Monate. Ein halbes Jahr. Und soviel ich weiß, werden die Kinder erst nach der Konfirmation in Kost gegeben. Ihr wollt mir doch nicht weismachen, dieser Knirps sei schon konfirmiert.»

«Nein, darauf muss er noch einige Jahre warten. Das Waisenhaus ist so überfüllt, da können diese alten Regeln nicht gelten. Wenn jemand eines der jüngeren Kinder in Kost nimmt, sind die Provisoren froh.»

Madam Vinstedt nickte. Sie hatte von den Zuständen im Waisenhaus gehört, jeder in der Stadt wusste darum. In anderen Städten, auch in etlichen, die sie während der vergangenen Jahre auf ihren langen Reisen durch das Land gesehen hatte, ging es noch trauriger zu. Alle Kinder sollten gut ernährt und reinlich gekleidet, christlich erzogen und zudem unterrichtet und ausgebildet werden, damit sie später in allen bürgerlichen Ehren ihr Brot selbst verdienen konnten – die Mädchen als Dienstmagd, Weberin oder Näherin, die Jungen als Handwerker oder Knecht. Besonders talentierte Jungen sollten ein Stipendium für die Lateinschule bekommen. Bei einem zu knapp bemessenen Budget und viel zu engem Raum blieb das weitgehend eine schöne Theorie.

Sie konnte den kleinen Rotschopf nicht dorthin zurückschicken. Die Läuse würde sie schon in den Griff bekommen. Selbst die Krätze, falls sich in der Haut unter seiner Kleidung welche versteckte. Das musste der Grund sein, warum er seine Hände so beharrlich in den Taschen seiner Joppe behielt. Es schreckte sie nicht, sie wusste schon, wer ihr helfen würde, Tobi von der juckenden Qual zu befreien. Plötzlich fühlte sie sich ganz leicht. Sie würde ihn aufnehmen, und es war ihr eine Freude. Dann würde es mit der Stille in der Wohnung vorbei sein, sie konnte ihn neben der Schule selbst unterrichten, ihm sogar Manieren beibringen. Oder kleine Szenen, vielleicht sang er gern.

Nur eines musste noch erklärt werden: «Satt würden wir dich sicher bekommen, Tobias. Aber was hat es mit der ‹puren Ungerechtigkeit› auf sich? Was ist bei Madam van Keupen geschehen?»

Sie sah den Jungen streng an und bedeutete Elsbeth mit einer Handbewegung zu schweigen.

Tobias schluckte. Sein linkes Auge rollte noch ein wenig mehr in die Ecke, doch das schien vielleicht nur so. Er schluckte noch einmal, straffte den Rücken, stemmte die Beine in den Boden, wie ein kleiner, zum Rapport bestellter Soldat, und sagte: «Ja. Ungerechtigkeit. Die dicke Madam hat gesagt, ich hätt geklaut, ich mein die Dicke, die bei Madam van Keupen zu Besuch war. Die Keupen ist ja nich fett. Deshalb hat sie mich weggeschickt, die Keupen.»

Elsbeth entfuhr ein resignierter Seufzer.

«Wusstet Ihr das?» Madam Vinstedts Stimme klang gar nicht mehr amüsiert.

«Natürlich. Ich hätte es schon noch erzählt. Es war eine falsche Anschuldigung. Ihr kennt doch die Schwarzbachin. Sie war an dem Tag bei Madam van Keupen zu Gast, und tatsächlich war ihr Spitz der Dieb.»

«Madam Schwarzbachs Hund?»

«Ja», übernahm Tobias wieder die Erklärung. «Eigentlich.»

An jenem verhängnisvollen Tag hatte die van Keupen’sche Köchin versäumt, die Küchentür zu schließen, und Antoinette hatte die Gelegenheit genutzt. Antoinette war nicht die Köchin, sondern der Spitz. Madam Schwarzbach verehrte Marie-Antoinette, Tochter der großen Kaiserin Maria Theresia und seit zwei Jahren französische Kronprinzessin, die für ihre Zartheit und ihre Vorliebe für teure Pralinees bekannt war. Auf den Spitz traf nur Letzteres zu, was man unter seinem dicken Fell jedoch kaum erkannte, und womöglich barg sein feister Körper eine zarte Seele. Mit seiner spitzen kleinen Nase hatte er sofort den Duft der gebratenen Wachteln erschnuppert, die das Küchenmädchen vom Spieß gezogen und auf eine Platte gelegt hatte. Er war in die Küche gesaust, mit erstaunlicher Behändigkeit auf einen Hocker gesprungen, weiter auf den Tisch und hatte sich eine der krossgebratenen Wachteln geschnappt. Tobias war es gerade noch gelungen, dem gefräßigen Tier einen Brocken der Beute aus dem Maul zu zerren, mit der anderen Hälfte war Antoinette die Stufen zur Diele hinaufgesaust und, trotz des vollen Mauls erbost knurrend, unter dem Schrank verschwunden.

In diesen mächtigen alten Schränken, wie sie in den meisten Hamburger Kaufmannsdielen standen, konnte man einen veritablen Ackergaul verstecken, ein kleiner Hund, selbst mit dickem Fell und mit einer halben Wachtel im tropfenden Maul, fand darunter leicht Platz.

Madam Vinstedts Grinsen war nicht gerade damenhaft, dafür war Elsbeths Gesicht nun reine Empörung.

«Und dann hat die van Keupen ihre Wachteln gezählt und behauptet, Tobias hätte die fehlende gestohlen. Das ist doch ein Witz, oder? Dabei hat das Küchenmädchen die Sache mit dem Hund gleich erzählt, aber für so was, hat die Schwarzbachin gezetert, sei ihre Antoinette viel zu manierlich.»

«Na ja», sagte Tobias mit piepsiger Stimme mitten in Elsbeths Gerechtigkeitsausbruch, «kann sein, die Madam hatte doch recht. ’n bisschen.» Der Blick, mit dem er die junge Frau ansah, von der er längst beschlossen hatte, dass sie seine neue Herrin wurde, hätte ein Herz aus Granit erweicht. «Weil ich nämlich ganz schrecklichen Hunger hatte, und da, ja, da hab ich das Stück gegessen, das ich dem fetten Köter abgejagt hab, war nur ’n winziges Wachtelbein.» Er senkte den Kopf und faltete unterm Kinn demütig die Hände, die seine Knie an Schmutz noch um Längen schlugen. «Das war ganz schlecht von mir, ganz schlecht. Ja. Aber ich hatte so schrecklichen Hunger, und die Madam hätt es weggeworfen, die essen da nichts, was auf’m Boden lag oder in ’nem Hundemaul war. Eigentlich bin ich doch ein Dieb. Oder?»

Er hätte jetzt gerne ein bisschen geweint, doch das musste er noch üben.

‹Eigentlich›, dachte Madam Vinstedt und war nicht sicher, ob sie sich amüsieren oder ärgern sollte, ‹bist du ein ziemlich mittelmäßiger Komödiant.›

Sie beschloss, das Spiel mitzuspielen. Sie kannte sich mit Situationen aus, die genau das erforderten, was dieses Kind tat: Es kämpfte mit den Mitteln, die ihm zur Verfügung standen, um ein besseres Leben. Vor allem aber erinnerte der Junge sie an einen anderen, den sie sehr vermisste. Womöglich lag es nur an seinem widerspenstigen Haarschopf, an seiner Vorstellung konnte es nicht liegen, denn der andere Junge – nun schon ein junger Mann – war stumm.

«Also doch ein Dieb», sagte sie streng. «Nun gut: ein halber Dieb. Was machen wir da, Mamsell Elsbeth? Ach, ich weiß die richtige Strafe. Wir werden dich baden, Tobias, nicht nur waschen, sondern baden. Ganz und gar, mit Seife und einer großen Bürste. Wenn du hier leben willst, muss das sein. Und glaube nicht, dass du um den Unterricht herumkommst. Dafür wird immer Zeit sein. Spätestens im nächsten Sommer kannst du richtig lesen und schreiben. Und rechnen. Vielleicht sogar manierlich reden. Und merke dir: Wenn ich erfahre, dass ich dir nicht vertrauen kann, musst du wieder gehen. Dies ist kein vornehmes oder reiches Haus wie das der Schwarzbachs und der van Keupens, aber wer lügt oder stiehlt, ist nicht willkommen und muss gehen.»

Tobias’ Kopf beugte sich noch tiefer über seine zusammengepressten Hände, und Elsbeth sagte: «Danke, Madam.» Ihre Stimme klang verdächtig nach einem dicken Kloß im Hals. «Danke. Ihr könnt kaum ermessen …» Da fiel ihr ein, dass die junge Madam Vinstedt ihre, Elsbeths Geschichte kannte. «Ich werde weiter nach ihm sehen, und wenn er Ärger macht, kann er was erleben.»

«Mach ich nich, mach ich gar nich, auf gar kein’ Fall …»

Verblüfft sah Tobias die beiden Frauen an, sah von einem Gesicht zum anderen und verstand nicht, warum beide plötzlich hell auflachten. Er würde noch erfahren, dass die Redewendung ‹auf gar keinen Fall› in diesem Haus häufig verwandt wurde. Es war ihm egal, solches Lachen konnte nur Gutes bedeuten.

Alles Weitere war schnell verabredet. Tobias würde noch einige Tage im Waisenhaus bleiben, bis in der Wohnung der Vinstedts ein Platz für ihn hergerichtet und – das vor allem – mit dem Verwalter des Waisenhauses die nötigen Vereinbarungen getroffen und die Papiere unterzeichnet waren.

Tobias beugte sich gerade zu einem besonders tiefen Diener vor Madam Vinstedt, was ihm mit seinen vor Freude und Aufregung zappelnden Gliedern nicht leichtfiel, als schwere Schritte die Treppe heraufgestapft kamen.

«Madam, wir brauchen unbedingt Hilfe.» Eine hochgewachsene dünne Frau mit kräftigen Schultern trat in die Diele, in jeder Hand einen vollen Korb, auf dem Rücken ein Bündel, aus dem drei Porreestangen und ein paar herbstlich müde Mangoldblätter ragten. «Unbedingt eine Hilfe», wiederholte sie nachdrücklich und stellte ächzend die Körbe auf den Boden. «Bist du womöglich eine?»

Sie reckte ihre steifen Schultern und musterte Tobias wie zuvor die Suppenhühner auf dem Markt, die sie wie jetzt den Jungen für zu mager befunden hatte.

Pauline Roth, Köchin und Mädchen für alles im jungen Haushalt des Ehepaars Vinstedt, stemmte die Fäuste gegen die eckigen Hüften.

«Klein und dünn», urteilte sie knapp. «Das ist nicht dein Ernst, Elsbeth, was? Du hast von ’nem kräftigen Jungen geredet. Diesen rotznasigen Spargel kannst du unmöglich gemeint haben.»

«Moment», rief die Dame des Hauses, «komme ich gerade einem Komplott auf die Spur? Wissen alle außer mir, die es doch zuallererst angeht, dass unser Haushalt ein neues Mitglied bekommt?»

«Pardon, Madam.» Pauline schnaufte immer noch, ihr hochrotes Gesicht, Ergebnis der schweren Last auf dem Weg vom Markt am Messberg und der Treppen bis zur dritten Etage, nahm langsam wieder eine manierliche Farbe an. «Kein Komplott, gewiss nicht. Ich kenne Elsbeth doch schon lange, sie hat mir vor ein paar Tagen auf dem Markt von einem Waisenjungen erzählt. Ich habe an einen wie Benni gedacht, den Pferdejungen der Herrmanns’, und jetzt bringt sie uns so was.» Sie pikte Tobias mit kritisch vorgeschobener Unterlippe den Zeigefinger in die Rippen. «Haut und Knochen, eine Schande ist das. Erzähl mir keiner was von tätiger Nächstenliebe. Den müssen wir tüchtig füttern, Madam. Der Junge wird Euch teurer kommen als ein Lakai mit Perücke, Samthosen und allem Pipapo. Ich sag’s Euch, Madam. Aber niedlich isser ja mit seinem schiefen Auge. Manche sagen ‹schiefes Auge, Teufelsauge›, und dann noch die roten Haare – ist natürlich alles Unsinn und Spökenkiekerei, aber den müssen wir nehmen, Madam, den nimmt sonst keiner.»

Die letzten Worte klangen nur noch gedämpft in die Diele, Pauline war schon mitsamt ihrer schweren Fracht in der Küche verschwunden.

Tobias grinste so breit, dass fast alle seiner überraschend makellosen Zähne zu sehen waren. Köchinnen, das hatte er heute gelernt, waren wunderbare Menschen, die dicken wie die dünnen.

«Tja», sagte Madame Vinstedt, «wenn selbst Pauline auf deiner Seite ist …»

‹Dann müssen wir eigentlich nur noch Monsieur Vinstedt überzeugen›, hatte sie sagen wollen. Das Lächeln verschwand aus ihren Augen, ihr Blick wanderte hastig zum Fenster hinaus und zurück. Nein, sie musste ihn nicht fragen. Auf gar keinen Fall. Eine Überraschung geschah ihm recht.

«Elsbeth?»

«Ja, Madam?» Sie blieb, schon die Klinke in der Hand, stehen und drehte sich um.

«Warum nennt Ihr mich ständig Madam und nicht mehr so wie früher? Ich bin noch die gleiche Frau.»

Elsbeth neigte abwägend den Kopf zur Seite. «Geh schon mal vor, Tobias», sagte sie und schob den Jungen zur Treppe, «warte unten, ich komme gleich nach. Das stimmt nicht», sagte sie, wieder an Madam Vinstedt gewandt, «das seid Ihr keinesfalls.»

«Warum? Ich habe geheiratet, mehr ist nicht geschehen. Ihr habt mich doch immer beim Vornamen genannt, so wie ich Euch. All die Jahre.»

Elsbeth schüttelte den Kopf. «Ihr habt nicht nur geheiratet, Ihr habt Euren Stand auch sonst verändert, absolut verändert, das wisst Ihr genau. Bis vor einigen Monaten wart Ihr überhaupt ohne Stand, Ihr wart eine Wanderkomödiantin, eine besondere, gewiss, keine, die für diesen Beruf geboren war. Ihr kamt als Freundin in das Haus meiner Herrschaft, trotzdem war Euer Stand unserem im Souterrain näher als dem von Madam und Monsieur Herrmanns und Madam Augusta oben im Salon. Nicht wegen Eurer Herkunft, das nicht, aber wegen Eures Berufes. Und das zählt. Nun habt Ihr einen Bürger geheiratet und seid Madam Vinstedt. Ihr seid zu Euren Wurzeln zurückgekehrt und habt nichts mehr mit uns im Souterrain gemein. So sind die Spielregeln, es ist besser für Euch, wenn Ihr das beachtet. Für Euer Wohlergehen und das Eures Gatten, Madam Vinstedt.»

Einen Moment herrschte Stille in der Diele. «Ich wollte Euch nicht erschrecken», sagte Elsbeth dann, ihre Stimme klang behutsam, «ich kenne Euch lange und weiß um Euren Eigensinn. Und Ihr wisst, dass ich Euch nur Glück wünsche, alle tun das, ob wir im Souterrain oder unsere Herrschaften im Salon. Die meisten sagen, Ihr habt schon großes Glück gehabt: ein behagliches Zuhause, ein freundlicher Ehemann, ein Ende Eurer anstrengenden Wanderjahre, des ganzen ungewissen Lebens. Und der Anfeindungen, das auch. Vielleicht, man wird sehen. Ich finde, bei allem Glück habt Ihr auch mutig entschieden. Sicher wisst Ihr das, deshalb mache ich mir keine Sorgen. Ihr habt schon andere Stürme durchgestanden. Und nun muss ich gehen, der Junge wartet. Verzeiht meine lange Rede, aber Ihr habt gefragt.»

Madam Vinstedt nickte. Sie stand an der Tür ihrer Wohnung, die ihr immer noch fremd war, und als Elsbeths Fuß die erste Stufe berührte, sagte sie: «Trotzdem, Elsbeth. Bitte.»

Die Mamsell zog ihren Fuß zurück und blieb auf dem Treppenabsatz stehen. Sie sah auf ihre geröteten rauen Köchinnenhände, strich über den blau-grau gestreiften, festen Stoff ihres Rockes, drehte sich endlich nach der schönen jungen Frau im geblümten Hauskleid aus feinem Kattun um. Sie war trotz der stets ein bisschen wirren, dicken blonden Locken und der feinen Narbe auf der linken Wange elegant, als sei sie niemals etwas anderes gewesen als die Tochter oder Ehefrau eines wohlhabenden gebildeten Bürgers. Niemand, der ihre Vergangenheit nicht kannte, würde anderes denken. Elsbeth sah ihre Augen, den bittenden Blick, und plötzlich war es einfach. Wozu waren Regeln gut, wenn man sie nicht ab und zu missachtete?

«Auf Wiedersehen», sagte sie, «und noch einmal von Herzen Dank, dass Ihr den Jungen aufnehmt, Mademoiselle – Pardon», sie lachte verschmitzt, «Madam Rosina.»

***

Die drei Menschen, die im Hof der Katharinenkirche standen und zur Spitze des mächtigen Turmes hinaufstarrten, waren sich nur in ihrer Blickrichtung einig, auch hatten alle drei just in dieser Stunde keinen Sinn für die Schönheit und Milde des Tages. Sie hatten ihre Köpfe weit in die Nacken gelegt, der mittlere, ein Mann von überaus kräftiger Statur, die auch der lange schwarze Mantel, das traditionelle Unterhabit, nicht schmaler erscheinen lassen konnte, stützte mit der Linken seine Perücke, die er wegen des wichtigen Besuchs aufgesetzt hatte. Seine Rechte wies mit gestrecktem Zeigefinger zur Turmspitze hinauf, was überflüssig war, weil die Aufmerksamkeit heischende Geste einzig von drei Knirpsen gesehen wurde, die sich nicht im Geringsten für den Kirchturm interessierten. Sie hatten sich für diesen Tag vom Besuch der Sankt-Katharinen-Kirchenschule beurlaubt, um ein bisschen über den Gemüsemarkt zu streifen und hier und da, wo es sich ergab und ungefährlich schien, etwas zu stibitzen, das das Knurren ihrer Mägen beheben könnte. Sie hatten sich gerade noch hinter einen der Grabsteine des Kirchhofs retten können, als der Hauptpastor von Sankt Katharinen – denn niemand anderer hielt da den Finger in die Höhe, als der in der ganzen Stadt wegen seiner Strenge und Prinzipientreue teils gefürchtete, teils belächelte, teils tiefverehrte Johann Melchior Goeze – mit wehendem Unterhabit um die Ecke gebogen war, gefolgt von einem Mann im so altmodischen wie abgetragenen weinroten Rock und einer vornehm in dunkelblauen, kunstvoll gemusterten, schimmernden Kattun gekleideten Dame.

Der Mann in Weinrot, Baumeister Sonnin, wirkte missgestimmt, die Dame hingegen lächelte sanft. Hätte ihr reifes Alter von mehr als vierzig Jahren nicht dagegengestanden, hätte man sagen können: wie ein Kätzchen. Wobei daran zu erinnern ist, dass auch die zufriedensten Kätzchen gern ihre Krallen ausfahren, und das nicht immer nur im Spiel.

Mit einigem Abstand war den dreien eine weitere, ebenfalls weibliche Gestalt gefolgt. Ihre gerade Haltung ließ ihren zierlichen Körper größer erscheinen, als er war, ob sie missgestimmt oder zufrieden war, hätte niemand sagen können, vielleicht nicht einmal sie selbst. Ihr Gesicht, ihre ganze Erscheinung verriet nichts: Die grauen Augen blickten ohne tieferes Interesse den Turm hinauf, wobei ihr Blick weniger die Spitze fixierte, als vielmehr einer auf und davon fliegenden Dohle folgte. Auch ihr Kleid und das leichte Tuch um ihre Schultern waren in Grautönen gehalten. Kurz und gut, trotz der Spitzenvolants an ihren Ärmeln sah sie aus und bewegte sie sich wie eine Gouvernante, die alle Hoffnung aufgegeben hatte, ein schöner junger Herr mit halbwegs ansehnlichem Besitz und manierlichem Betragen werde sie von ihrem belanglosen Schicksal erlösen und zur stolzen Ehefrau und Herrin eines eigenen Haushaltes machen.

Nur drei leicht zu übersehende Dinge störten das Bild der grauen Maus: der zierliche Ohrschmuck aus Granaten und Flussperlen, der besonders schön geschwungene Mund und die Farbe ihres gegen die Mode streng am Hinterkopf zusammengefassten Haares. In diesem Moment, als ein Sonnenstrahl sich in einer aus den Kämmen gerutschten Strähne fing, glühte ein goldener Schimmer in dem tiefen Braun auf. Dann wandte sie sich um, trat einen Schritt zurück in den Schatten, und der Schimmer, diese kleine Verheißung von Leidenschaft und Glück, verschwand. Zurück blieb die bescheidene Gesellschafterin einer wohlhabenden Witwe, deren hübsch geschwungene Lippen vom vielen Aufeinanderpressen schon begannen, schmal und blass zu werden. Und vom Schweigen. Manchmal ist die Natur verschwenderisch, ohne dass es jemand bemerkt, so gehen kostbare Gaben wie die Schönheit einer Gestalt, eines Gesichts, sogar einer Seele, verloren.

Die Katharinenkirche auf der südwestlichen Ecke der Grimminsel zählte zu den ältesten und ehrwürdigsten Gotteshäusern der Stadt. Sie stand nach Jahrzehnte währendem Bau seit gut dreihundert Jahren als große dreischiffige Nachfolgerin eines zweihundert Jahre älteren Kirchleins auf dem unsicheren Grund. Obwohl es niemand wahrnahm, der ins Gebet versunken oder bei anderen schönen oder schweren Gedanken in einer der Kirchenbänke saß, war das Fundament des Gotteshauses dem stetigen Auf und Ab von Ebbe und Flut ausgesetzt, das die Elbe noch so viele Meilen von der See entfernt dem schlickigen Untergrund bescherte.

Doch das war nicht der Anlass für die nun anstehende Sanierung des Turms, genauer gesagt der Turmspitze. An ihrer gefährlichen Neigung waren neben einer Senkung des Unterbaus vor allem verrottete Balken schuld, ein wenig auch der Wind, dem sie sich schon so lange in den Weg stellte. Die Aufrichtung war ein erhebliches Unterfangen, es brauchte einen erfahrenen und einfallsreichen Baumeister. Und eine Menge Geld. Da der selige Dr. Martin Luther seinerzeit dem einträglichen Ablasshandel zumindest für Anhänger seiner Lehre und damit auch den Bewohnern dieser Stadt den Garaus gemacht hatte, war das mit dem Geld so eine Sache. Selbst für eine Gemeinde, die von jeher die wohlhabendsten Schäfchen zu den ihren zählte.

Der Turm, der bis dahin ein nur bis zum Dach des Mittelschiffes reichender Quader gewesen war, war erst im vergangenen Jahrhundert auf diesem Sockel in die Höhe gebaut, seine Fassade vor vier Jahrzehnten im zeitgemäßen Stil mit Kolossalpilastern und Bauschmuck aus Sand- und Backstein neu gestaltet und zugleich verstärkt worden. Auch hatte der damalige Baumeister den alten Turmschaft als marode erkannt und gestärkt und gesichert.

Es war ein majestätischer und eleganter Turm, vom Kirchhof bis zum Kreuz auf seiner Spitze reckte er sich vierhundert Fuß in den Himmel hinauf. Auf dem kräftigen, quadratisch gemauerten Unterbau und dem daraufliegenden Oktogon mit den Zifferblättern der Uhr in alle vier Himmelsrichtungen türmten sich drei mit Kupfer belegte, «Welsche Hauben» genannte Zwiebelkuppeln, die oberen beiden von Säulen zu Laternen geformt. Darüber erhob sich eine schlanke Pyramide mit einer umlaufenden goldenen Krone auf halber Höhe und einer vergoldeten Kugel mit Wetterfahne und dem Kreuz auf der Spitze.

«Bei allem Bemühen», erklärte die elegante Dame nach einer Weile, «ich sehe auch heute nur eine äußerst geringe Neigung. Für mich», sie senkte den Kopf und drehte ihn behutsam einmal nach links und einmal nach rechts, als müsse sie prüfen, ob der Hals nach dem langen Starren noch beweglich sei, «für mich sieht der Turm gerade aus, keinesfalls bedrohlich geneigt. Verzeiht einer unwissenden Frau, lieber Sonnin, gewiss ist meine Frage dumm, womöglich scheint sie gar respektlos, was sie keinesfalls sein soll. Aber seid Ihr ganz sicher, dass Eure Berechnungen stimmen? Vier Fuß Überhang nur in der Spitze oberhalb des Oktogons? Das müsste ich doch auch ohne Eure geheimnisvollen Gerätschaften erkennen.»

«Ganz richtig, Madam, ganz richtig», beeilte sich Hauptpastor Goeze zu sagen. Er kannte den Baumeister lange und gut genug, um zu wissen, dass dessen leises Schnaufen wenig Gutes verhieß. Auch war er es so schrecklich leid. Seit Monaten, genaugenommen seit Jahren, schwelte die Debatte um die Neigung des Katharinenturms, um die Frage, ob diese Neigung Gefahr bedeute, für den Turm wie für die Menschen, die an seinem Fuß entlanggingen, gar die Kirche betreten wollten. Mit Schaudern erinnerte er sich an das, was er in den Annalen der Kirche gelesen hatte, dass nämlich anno 1648 in einer stürmischen Februarnacht der erst viereinhalb Jahrzehnte zuvor aufgesetzte erste Turmhelm heruntergestürzt war. Er hatte Dach, Gewölbe und Teile der Südwand erheblich beschädigt, zum Glück war in jener Nacht niemand in der Nähe gewesen. Schon der Gedanke, gottesfürchtige Menschen auf dem Weg zu Andacht und Gebet könnten von der herabkippenden Turmspitze oder auch nur einem einzigen fallenden Stein getroffen und erschlagen werden, war entsetzlich. Immerhin hatte das Unglück den Bau dieser Turmspitze von erhebender Schönheit zur Folge gehabt.

Er vertraute fest auf Gottes Ratschluss und Plan, ohne Zweifel fester als mancher seiner Amtsbrüder, die es neuerdings nicht mehr verstanden, Theologie und Philosophie auseinanderzuhalten. Doch das bedeutete keinesfalls, profane Pflichten wie das Instandhalten von Mauerwerk, insbesondere von kirchlichem, zu vernachlässigen. Man mochte Johann Melchior Goeze manches nachsagen, dumm, schwärmerisch, gar ein Phantast war er nicht. Wenn seine Seele und seine Gedanken auch häufig in höheren Sphären zu schweben schienen, stand der Hauptpastor mit beiden Beinen fest auf der Erde. Insbesondere in weltlichen Dingen, wozu leider auch lästige Angelegenheiten wie die Finanzierung der immer wieder nötigen Reparaturen am Gemäuer und an der Ausstattung der Kirche gehörten. Gerade jetzt bedurfte die Kanzel, dieses wunderbare Kunstwerk aus schwarzem Marmor mit Alabasterfiguren der zwölf Apostel, dringend der Reparatur des tragenden, in der Gestalt Moses geformten Pfeilers, der sich gesenkt hatte. Wie sollte man mit der nötigen Strenge und Eindringlichkeit der Gemeinde predigen, wenn man auf unsicherem Grund stand? Oder – mindestens so dringend erforderlich – die Ausbesserung der Kupferdeckung des Daches. Das wiederum bedeutete, wohlhabende Mitglieder seiner Gemeinde bei allerbester Laune und der Kirche, wie auch ihm ganz persönlich, gewogenen zu halten.

«In der Tat, verehrte Madam van Keupen, es ist wirklich erstaunlich. Auch ich habe es zunächst nicht glauben wollen. Obwohl, nun ja, man sieht es doch. Unser verehrter Baumeister hat recht: Der Turm neigt sich zur Seite. Nach Südwesten. Allein der Schaft neigt sich gute vier Fuß, die Spitze, die zudem in sich verdreht ist, noch einmal vier Fuß. Zusammen eine Neigung von gut acht Fuß, das ist kein Pappenstiel. Besonders, wenn man das Gewicht der Lauben, Laternen und der Spitze bedenkt – stolze siebenhundertvierzigtausend Pfund. Sicher erinnert Ihr Euch, Madam, dass ein Zimmermeister, ein Dachdecker, der Bauhofinspektor und sein Maurermeister, vier unserer zuverlässigsten Bau- und Handwerksmeister, zu dem gleichen Ergebnis gekommen sind. Wenn auch die Stärke der Neigung in den Messungen um ein Geringes voneinander abweicht.»

Wieder schnaufte der ‹verehrte Baumeister›, diesmal vernehmlicher. Es war kein Geheimnis, dass das Geistliche Ministerium und insbesondere die Geistlichen der Katharinenkirche versucht hatten zu verhindern, den in diesen Dingen bewährten Baumeister zu beauftragen, und dass hinter dieser Ablehnung das eine oder andere einflussreiche Mitglied der Gemeinde steckte, war naheliegend. Es war einzig dem Rat zu verdanken, dem Machtwort der Magnifizenzen, der Bürgermeister, und der Senatoren, der Hochweisheiten und Wohlweisheiten, dass der Freigeist Ernst George Sonnin mit der Sanierung und Geraderichtung des Turms beauftragt worden war. Allerdings hatte der Baumeister sich strikt geweigert, die Aufrichtung vorzunehmen, ohne zuvor den Zustand der Säulen zu prüfen, die in den Laternen den Turm trugen. Was wegen der zusätzlichen Kosten neuen Ärger verursacht, sich jedoch als segensreich erwiesen hatte. Denn wie von ihm vermutet, hatten sich drei der Säulen als dringend der Sanierung bedürftig und als die Hauptschuldigen der Turmneigung erwiesen.

«Es ist ganz leicht zu prüfen», fuhr der Pastor fort und wippte nervös auf den Fußspitzen, «auch ohne die Apparaturen eines Baumeisters.» Er streckte den Daumen aufrecht vor sich in die Luft und kniff ein Auge zu. «So. Ganz einfach. Wenn Ihr an Eurem völlig gerade aufgerichteten Daumen vorbeischaut …»

«Oder wenn Ihr Euer Buch mit christlich-erbaulichen Texten», ließ sich endlich auch der Baumeister vernehmen, «das Ihr gewiss immer bei Euch habt, Sibylla, gerade hochhaltet und auf eine gedachte Linie von der Spitze des Turms hinunter zur Mitte zentriert, erkennt Ihr, dass es keine akkurate Vertikale, keine gerade Linie gibt, weil nämlich», nun schnaufte er laut und ungehalten, «weil nämlich der ganze Turm und zudem die Laternen samt der Pyramide aus dem Lot sind. Wie lange bekannt.»

Die seltsame Versammlung vor dem Kirchturm, die die Erklärung eines seit Jahren debattierten Sachverhaltes zum Anlass hatte, fand auf Wunsch Sibylla van Keupens statt. Der Hauptpastor und der Baumeister fanden dieses Treffen überflüssig. Aber Damen waren nun einmal gerne kapriziös, und es war unmöglich gewesen, ihr diesen Wunsch abzuschlagen. Die Katharinenkirche war – von Rathaus und Börse einmal abgesehen – Zentrum des reichsten Quartiers der Stadt. Keine Gemeinde zählte mehr wohlhabende Mitglieder, Sibylla van Keupen gehörte zu ihnen. Und sie, darauf hoffte der Hauptpastor inständig, werde mit einer Gott und den Kassen des Geistlichen Ministeriums und des Rats gefälligen Spende die Kosten der Reparatur erträglicher machen.

Er hatte fest mit dieser milden Gabe gerechnet – hatte sie die nicht eindeutig zugesichert? – und sie längst erwartet. Doch dann war Madam van Keupen plötzlich nach Amsterdam gereist, um Verwandte ihres verstorbenen Mannes zu besuchen, tatsächlich jedoch, so wurde gemunkelt, in eiligen Geschäften.

Der Hauptpastor spürte, wie ihm unter seiner dicken Perücke heiß wurde und kleine Schweißperlen auf seine Oberlippe traten. Er lebte lange genug in dieser Stadt des Handels, um zu wissen, dass plötzliche Reisen, besonders wenn das Ziel eine andere große Handelsstadt war, ein schlechtes Zeichen sein konnten. Stand nicht immer wieder ein vermeintlich erfolgreiches Handelshaus durch Pech oder falsche Investitionen unversehens vor dem Ruin? Sibylla van Keupen hatte nach dem Tod ihres Mannes, plötzlich und unerwartet in den besten Jahren, seinen Platz eingenommen. Zwar gab es in ihrem Kontor einen mit Prokura versehenen Ersten Schreiber, der sie an der Börse, am Hafen und überall sonst vertrat, wo Damen nichts zu suchen hatten und auch unerwünscht waren, die Führung des van Keupen’schen Handels jedoch gab Sibylla nicht aus der Hand. Das wusste jeder. Es war nicht verwunderlich. Andere Frauen, zumeist Witwen, aber auch scheinbar bescheidene Ehefrauen, taten Gleiches. Nur wurde kaum darüber gesprochen. Besonders was die Ehefrauen betraf.

«Ich hoffe», hörte Goeze sich plötzlich sagen, «Eure Geschäfte in Amsterdam waren erfolgreich?»

Er spürte jähe Hitze in seinem Gesicht und schloss für einen Moment die Augen. Wie konnte er sie danach fragen? Jetzt!

Sonnin, einzig mit dem Turm beschäftigt, sah ihn irritiert an, Madam van Keupens Blick blieb freundlich, nur ein winziges spöttisch-amüsiertes Zucken glitt über ihre Mundwinkel.

«O ja», sie berührte leicht seine Schulter, «ich bin sehr zufrieden, obwohl», nun lächelte sie breit, «meine Reise doch nur Verwandten meines Mannes galt. Ihr seht erhitzt aus, lieber Goeze, Ihr dürft Euer Habit ein wenig aufknöpfen. Wir sind ja unter uns. Im Übrigen seid ganz beruhigt. Ich habe nicht vergessen, dass unser ehrwürdiges Gotteshaus irdischen Beistand braucht. Ihr könnt auf mich zählen, das wisst Ihr doch. Wann soll das große Ereignis stattfinden?», wandte sie sich an den Baumeister.

«Bald. In wenigen Tagen. Die Maschinen werden noch gerichtet, und dann muss der Tag windstill sein. Sonst verbrauchen wir unnötige Kraft, das würde die Arbeit erschweren und womöglich verzögern. Wirklich bedauerlich, dass Ihr auf Reisen wart, Madam Sibylla. Ihr habt das Wichtigste versäumt. Das Aufrichten des Turms mag den Leuten besonders erscheinen, dabei ist davon gar nicht viel zu sehen. Als ich den ersten, den Turm der Nikolaikirche wieder ins Lot gebracht habe, hat’s niemand gemerkt und vor allem nicht geglaubt, dass es das Ergebnis genauer Berechnungen war.»

Pastor Goeze seufzte und Sibylla lachte. «Ich erinnere mich. Man hielt es für reines Glück. War nicht auch von der Hilfe des Teufels die Rede? Ihr wart ordentlich zornig, nicht wahr?»

«Weniger, weil es kaum jemand bemerkt hat – das war mir lieb. Es reichte, dass einer der Pastoren versucht hatte, meine Helfer von dieser Arbeit abzuhalten. Aber dass es niemand geglaubt hat, dass das Gelingen für einen Zufall oder den Verdienst meiner Schutzengel oder des Teufels gehalten wurde – das war impertinent.»

«Impertinent war, was Ihr dann getan habt», entfuhr es dem Hauptpastor.