Mittelstadt - Joachim Thomas - E-Book

Mittelstadt E-Book

Thomas Joachim

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Beschreibung

Die Geschichten in diesem Buch beschreiben Menschen und Ereignisse in der fiktiven Stadt "Mittelstadt". Mittelstadt liegt irgendwo in der Provinz, abseits des großen Weltgeschehens am Rande des Mittelgebirges. Ein kleines Städtchen mit illustren und eigenwilligen Bürgern. Also Menschen - wie du und ich. Die Ereignisse, die geschildert werden, könnten überall geschehen sein. Und das verbindet uns mit den beschriebenen Personen. Liebenswürdige und weniger liebenswürdige Menschen begegnen uns mit Problemen, die eigentlich keine sind. Der normale Alltag in all seinen Facetten. Und weil das so ist, fühlen wir uns mitten hineinversetzt in das Leben und Treiben von Mittelstadt. Wie schön für uns und die Mittelstädter.

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Dieses Buch widme ich:

meiner lieben Ehefrau Dagmar sowie meiner Hauskatze Lara, die mich so tatkräftig bei der Geschichtensammlung unterstützt haben sowie allen Freunden und Nachbarn, die sich gewollt oder ungewollt in diesem Buch wiederfinden.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Der Kultur- und Geschichtsverein

Das Spielhaus im Garten

Open air zu Weihnachten

Die „Waldhöhenweger“, Teil 1

Nette Kollegen

Strategiebesprechung

Die „Waldhöhenweger“, Teil 2

Die Planungsphase

Zoff im Kochstudio

Die „Waldhöhenweger“, Teil 3

Der stumme Flügel

Mittelstadt: dieser Zug endet hier

Intensive Beratung

Genesis

Die „Waldhöhenweger“, Teil 4

Erinnerungen

Der störrische Herr Ferstl

Ziemlich beste Freunde

Der hilfreiche Herr Windig

Die „Waldhöhenweger“, Teil 5

Ein fataler Irrtum

Unerwartete Planungshürden

Der Blaubeerkuchen

Der Teufel Alkohol

Die „Waldhöhenweger“, Teil 6

Nachwort

Der Autor

Vorwort:

Herzlich Willkommen, sehr geneigte Leserin, sehr geneigter Leser.

Erlauben sie mir, dass ich sie bei den nachfolgenden Geschichten und Episoden begleite und mich hin und wieder mit ein paar Erläuterungen in die Geschehnisse, die in diesem Buch beschrieben werden, einmische. Sie wollen wissen, wer ich bin? Nun ja – vergessen sie diese Frage. Lassen sie mich einfach im Hintergrund bleiben und ein bisschen die Fäden spinnen, an denen unsere Akteure hängen. Ich bin der Spieler und sie, meine Damen und Herren, das Publikum. So sind die Rollen gerecht verteilt und sie können es sich bequem machen und schmunzelnd, vielleicht auch ein bisschen nachdenklich, das Leben und Treiben in Mittelstadt verfolgen. Denn in diesem Buch geht es um nicht mehr und nicht weniger als das normale mitmenschliche Leben in einer Kleinstadt, wo jeder jeden kennt und schätzt – oder auch nicht.

Wie gesagt, wir befinden uns in Mittelstadt. Einem kleinen Städtchen irgendwo in der Provinz. Nicht allzu weit entfernt von der Landeshauptstadt. Aber weit genug entfernt, um ein halbwegs eigenständiges Leben pflegen zu können. Vor ein paar Jahren war man sogar Kreisstadt. Aber als die Landesregierung die Entscheidung traf, die Kreise neu zu ordnen, musste man dieses Privileg aufgeben, ebenso wie das bis dahin eigene Autokennzeichen. Inzwischen darf man allerdings wieder mit dem ehemaligen Kennzeichen fahren. Ein Umstand, der von den stolzen Mittelstädtern reichlich in Anspruch genommen wird. Man darf sich seit der Kreisgebietsreform „Große Kreisstadt“ betiteln und aus dem Bürgermeister ist der „Oberbürgermeister“ geworden- auch wenn sich an der Person nichts geändert hat.

Das war es dann aber auch schon. Denn mit dem Verlust des eigenen Landkreises und dem Abgleiten in die politische Bedeutungslosigkeit wanderten auch die Behörden ab. Das Landratsamt wurde in der neuen Kreisstadt, die nun für die Fläche zweier ehemaliger Kreise zuständig ist, entsprechend erweitert und schön herausgeputzt. Das Finanzamt schloss sich dem Standortwechsel an und baute sich ein eigenes standesgemäßes Domizil. Andere Institutionen folgten. Was in Mittelstadt verblieb war die eigene Stadtverwaltung in ihrem mittelalterlichen, nostalgisch schönem Rathaus sowie eine Außenstelle des Landratsamtes mit unbedeutenden Abteilungen in einem unpersönlichen Zweckbau am Rande des Stadtzentrums. All dies geschah sehr zum Leidwesen des örtlichen Mittelstandes und der Geschäftsleute, die sich an die schöne Zeit zurücksehnen, als Mittelstadt noch Kreisstadt war. Da war – vor allem in den Mittagspausen – die Innenstadt belebt, wenn die Behördenbediensteten ihre mittäglichen Einkäufe tätigten oder bei einem ausgedehnten Essen die hochwichtigen provinziellen politischen Entscheidungen diskutierten. Nichts mehr von alledem. Einige Gastwirte und Geschäftsleute waren gezwungen, sich der neuen Situation anzupassen und ihre Lokale oder Geschäftsbetriebe herunterzufahren oder aber ganz zu schließen. Der einst gut frequentierte und bunte Wochenmarkt, auf dem die Bauern und Händler der Region ihre Waren feilboten, findet heute nur noch zweimal in der Woche statt – in stark geschrumpftem Umfang. Und die angebotenen Waren stammen auch nicht mehr alle aus der Region. Wie gesagt, die regional-politische Bedeutung hat Mittelstadt verloren. Auch deshalb, weil die große Bundesstraße, die durch Mittelstadt führt, ihre Bedeutung verloren hat: eine neue Autobahn ist gebaut worden, der internationale Transitverkehr führt nicht mehr durch Mittelstadt. Was die Bewohner dieser Stadt hingegen nicht verloren haben, ist ihr Stolz und das Traditionsbewusstsein. Schließlich kann man ja auf eine fast achthundertjährige Geschichte zurückblicken. Eine große Feier zum Stadtjubiläum steht an. Und man besitzt ja auch noch das die Stadtkulisse dominierende Schloss, das ein bisschen den Glanz vergangener Tage erahnen lässt.

Ach ja, das Schloss. Seit vielen Jahren nicht mehr im Besitz der ehemaligen Adelsfamilie. Diese hatte es schon im vorvorigem Jahrhundert dem Land überlassen müssen, das es seitdem für eher profane statt prunkvolle Anlässe nutzte. Es diente als königliches Amtsgericht. Später, als es keinen König mehr gab, war es nur noch Amtsgericht. Eine Zeit lang führte es – sprachlich angepasst – den Titel Kreisgericht, ehe es wieder der alten Bestimmung entsprechend ein provinzielles Amtsgericht wurde. Und das ist es heute noch – auch nach dem Verlust der Kreisstadt-Würde. Die Landesregierung hat keine andere Verwendung für das Schloss.

Vor dem Schloss befindet sich die ebenso alte Marktkirche. Der Pfarrer ist stolz darauf, dass sein Kirchturm höher ist als der Schlossturm – auch wenn sich in seine Kirche eher weniger Menschen verirren als im gegenüberliegenden Amtsgebäude. Doch das ist dem Umstand der Bestimmung der Gebäude geschuldet. Die Kirche besucht man, wenn einem danach ist; das Amtsgericht gewöhnlich, wenn anderen danach ist.

Und sonst? Was hat Mittelstadt mit seiner provinziellbeschaulichen Atmosphäre noch zu bieten? Ein Museum, das die Handwerkskunst vergangener Zeiten präsentiert und Künstler, die die beschauliche Landschaft um Mittelstadt auf der Leinwand festgehalten haben. Ein paar Industriebetriebe gibt es, die schon bessere Zeiten erlebt haben.

Kleine Geschäfte, die ums Überleben kämpfen. Zwei Grundschulen, eine Realschule und ein Gymnasium. Und einen Bahnhof, in den sich tatsächlich noch ab und zu mal ein Zug verirrt. Mit Ausflüglern, die nicht wissen, warum es sie in diese Gegend verschlägt.

Die Technische Universität der Landeshauptstadt unterhält eine Außenstelle in Mittelstadt und regelmäßig finden beachtenswerte Konzerte im Kulturzentrum statt, in dem sich auch eine Musikschule befindet. Und ein modernes Einkaufszentrum gibt es – oder besser gesagt, es sollte es geben. Derzeit nämlich stehen die Läden nahezu leer aufgrund von unübersehbaren Baumängeln, über die in den vergangenen Jahren heftig prozessiert wurde. Auch wenn der Streit vor den Gerichten inzwischen ein Ende gefunden hat, ist noch nicht abzusehen, wann tatsächlich pulsierendes Leben herrschen wird in diesem Einkaufssilo.

Und es gibt die Menschen von Mittelstadt. Durchaus ein bisschen besonders, durchaus ein bisschen geprägt von der rauen Landschaft. Immer aber bodenständig und liebenswürdig – fast immer. Und diese Menschen, liebe Leserinnen und Leser, möchte ich ihnen im Folgenden näher bringen: die Menschen auf der Straße, in den Geschäften, die Menschen in ihrer Nachbarschaft und in den Amtsstuben. Ja, auch dort, im Rathaus, auf der Polizeiwache, im Gericht herrscht ein eigenes Leben, Gesetze hin oder her.

Die Landeshauptstadt ist weit weg, der Bürger aber steht vor der Tür. „Auf ihn alleine kommt es an“, versucht der Oberbürgermeister seinen Mitarbeitern klar zu machen, nicht ohne etwas eigennützig auf die nächste Wahl zu schielen. Es sind eben alles „Mittelstädter“, ein wenig anders, ein wenig „eigener“ als Großstädter- eben Mittelstädter. Und ein wenig doch so, wie sie und ich.

Mittelstadt, ein seltsames, aber wahrscheinlich gar nicht so seltenes Biotop, erbittet ihre Aufmerksamkeit. Natürlich ist die Stadt allein der dichterischen Phantasie des Verfassers entsprungen wie auch alle Charaktere der folgenden Episoden. Übereinstimmungen mit tatsächlich existierenden Menschen wären rein zufällig und keineswegs beabsichtigt. Das ist die Wahrheit – fast jedenfalls.

Vorhang auf!

Der Kultur- und Geschichtsverein

Kalt ist es. Und es regnet. Kein halbwegs normaler Mensch würde seinen Hund bei diesem Wetter vor die Tür scheuchen. Aber es geht ja auch nicht um den Hund. Sylvio Paul, der Oberbürgermeister von Mittelstadt bereitet sich vor, selbst und in eigener Person das Haus, sein Rathaus, zu verlassen. Lustlos zieht er sich den dicken Parka an, setzt seine gefütterte Wollmütze auf und verlässt das Rathaus. Er muss sich seinen Bürgern zeigen – so hat das jedenfalls seine Sekretärin befohlen. Eine übrigens sehr dominante und rigorose Vorzimmerdame. Da hat man nichts zu lachen, auch nicht als Oberbürgermeister.

Sylvio Paul öffnet die schwere Rathaustür, tritt auf die oberste Stufe der Rathaustreppe und schaut auf den vor ihm liegenden Marktplatz. Es ist Vorweihnachtszeit. Doch Weihnachtsstimmung will bei ihm nicht aufkommen, wenn er den armselig gestalteten Weihnachtsmarkt betrachtet. Früher, ja früher – da standen hier Bude an Bude, da roch es nach Glühwein und Zimtsternen. Aus dem gesamten Gebirge waren die Holzschnitzer angereist und hatten ihre Räuchermännchen und Pyramiden angeboten. Und es tummelten sich die in Weihnachtsstimmung befindlichen Bürger der Stadt vor den festlich geschmückten Verkaufsständen. „Rumms“ – die schwere Rathaustür fällt zu und hätte den armen Oberbürgermeister fast die Treppe herabgestoßen. Heute – was er sieht sind ein paar wenige Buden, die städtische Weihnachtspyramide, den großen Adventskalender für die Kinder, den nahezu schmucklosen Weihnachtsbaum und einen Würstchenstand. Aber wenigstens dort stehen einige Bürger dieser Stadt. Und so beschließt der leicht frustrierte OB, an diesem Stand seine Mittagsmahlzeit einzunehmen.

Ein höhnisches „Holla, wen sehn wir denn da“, tönt ihm entgegen, als er die vor dem Würstchenstand aufgestellten Stehtische erreicht. Das glühweinselige Lachen der dort versammelten Gewerbetreibenden und auch Ratsmitglieder Mittelstadts begrüßt ihn: Bernd Meltzer, Inhaber des ortsansässigen Spielwarengeschäfts, Joachim Flöter, selbst Gastronom und gewöhnlich mit seinem Papagei auf den Schultern in Mittelstadt unterwegs – heute ohne diesen Vogel, des Wetters wegen. Oder Hans Billig, Ratsmitglied und Inhaber einer Reinigungsfirma, der mit dem Motto „Wir hassen Schmutz“ für sich wirbt. Die Aufzählung der Anwesenden, die mit dem Glühweinbecher in der Hand auf den Oberbürgermeister anstoßen, ließe sich fortsetzen. Aber auch so reicht es Sylvio Paul schon jetzt und er bedauert, den Schutzbereich seines Rathauses verlassen zu haben. Bruno Bader, Inhaber eines Elektrogeschäfts mit angeschlossener Postfiliale überreicht dem verdutzten Oberbürgermeister einen Pappbecher mit dampfendem Glühwein mit Schuss: „Auf unser Stadtoberhaupt“, prostet er den anwesenden Honoratioren zu, „ der sich auf dem harten Boden seines Rathausstuhles die Hose abwetzt für unser aller Wohl.“ Gelächter allenthalben. „Aber im Ernst, Sylvio“, Bruno Bader beugt sich dem Oberbürgermeister zu. Sein Gesichtsausdruck nimmt besorgte Züge an. „Im übernächsten Jahr feiern wir 800 Jahre Mittelstadt. Angekündigt habt ihr das schon seit langem im Ortsblättchen. Ein tolles Jahr soll es werden mit vielen bunten Überraschungen. Aber von konkreten Planungen habe ich überhaupt noch nichts gehört. Ihr im Rathaus macht alle Bürger heiß- aber worauf eigentlich? Lass doch mal die Sau raus und erzähle uns, was ihr so auf der Matte habt“.

Sylvio Paul nimmt einen Schluck aus seinem Becher und wendet sich dann – sichtlich nervös – seinem Gegenüber zu : „Ihr kennt die Situation im Rathaus selber gut genug – kein Personal, kein Geld, keine Ideen. Was soll ich machen? Es fehlt an allen Ecken. Wenn kein Wunder geschieht, können wir einpacken mit unserer Jubiläumsfeier. Und auf Fördermittel, die ihr vom Stadtrat immer einsacken wollt, können wir nicht bauen. Die Stadt kann nichts leisten- Punkt, fertig. Es liegt an euch, an ehrenamtlichem Engagement, an Spenden, an Freiwilligen, ob überhaupt etwas geschieht. Das Stadtsäckel gibt für das Jubiläum nichts her.“ Das ist deutlich und wird von den Umstehenden so auch wahrgenommen. „Ja, Bürgermeister, pardon: Oberbürgermeister“, Leo Friedrich, ehemaliger Bezirksschornsteinfegermeister und nunmehriger Rentner schwingt wütend sein Pappschälchen mit Bratwurst, „warum verschweigst du uns das? Da muss doch etwas geschehen. Ich bin 1989 mit der Fahne in der Hand auf den Schlossturm gestiegen, um die Freiheit zu verkünden. Und jetzt, wo es darum geht, die Stadt gebührend zu feiern, kneift ihr. Wir haben dich nicht gewählt, damit du dich auf der faulen Haut im Rathaus sonnen kannst. Lass dir mal was einfallen, für uns, für die Bürger von Mittelstadt.“

Sylvio Paul fühlt sich ausgesprochen beklommen und unwohl. Eigentlich hat Leo Friedrich ja Recht. Aber woher soll er das Geld für eine angemessene Jubiläumsfeier nehmen bei der angespannten finanziellen Situation? Dass die Stadt fast pleite ist, wagt er gar nicht zu sagen. Woher die Leute nehmen, die ein derartiges Event ausrichten könnten? „Ihr könnt euch ja selbst einbringen“, sagt er schließlich in seiner Beklommenheit, „mit eigenen Ideen, mit Spenden und hochgekrempelten Ärmeln“. „Warum eigentlich nicht? Wenn die Stadt schon nichts für die Bürger tun kann, dann eben die Bürger für die Stadt.“ Zustimmendes Gemurmel begleitet die Worte von Reinhard Maassen. Er, der Rektor des städtischen Gymnasiums (und ehemals Vorgesetzter des OB, als dieser noch als Lehrer am Gymnasium unterrichtete), hat sich bisher zurückgehalten. „Warum gründen wir eigentlich keinen Verein. Natürlich einen gemeinnützigen. Der könnte, fernab vom hierarchischen Behördentrott Spenden einsammeln, die Jubiläumsveranstaltungen planen und organisieren , einen Festumzug zusammenstellen, Ideen entwickeln – alles Dinge, für die deine Behördenschnarchnasen, lieber Sylvio, ohnehin überfordert wären?“

Letzteres weist der Oberbürgermeister energisch zurück. Allein die Idee eines Vereins zur Förderung der Kultur und des Geschichtsbewusstseins in Mittelstadt scheint ihm zu gefallen. Vielleicht ist der Besuch auf dem Weihnachtsmarkt doch nicht so nutzlos. „Mein lieber Reinhard“, der Frust bei Sylvio Paul scheint wie weggeblasen, als er in staatsmännischer Manier weiterfährt, „deinen Vorschlag nehme ich sehr wohlwollend zur Kenntnis.“

Und dann läuft der Oberbürgermeister zur Hochform auf: „Nun denn, liebe Mitbürger, wir gründen einen Verein. Was wir brauchen ist ein wohlklingender Name, ein attraktiver Vereinszweck, eine fundierte Satzung und einen Vorstand, der tatkräftig und ehrenamtlich- das heißt, der Stadt dürfen keine Kosten entstehen – die Ausgestaltung der 800-Jahr-Feier anpackt.“

Ein Hoch auf den Oberbürgermeister. Der Vereinsname ist schnell gefunden: „Kultur- und Geschichtsverein Mittelstadt“. Die Satzung- naja? Die kann vielleicht die ortsansässige Notarin Sybille Wache entwerfen. Sie profitiert ohnehin von der Stadt. Vielleicht mit Hilfe von Frau Dr. Sibon- die ist beim Oberlandesgericht und hat Ahnung in solchen Dingen. „Und der Amtsgerichtsdirektor, mit dem du ja einen so tollen Draht hast“, wendet sich Joachim Flöter an den OB, „kann ja auch mal auf die Satzung schauen.“ Aber wer soll den Verein leiten? Wer ist dafür geeignet? Ratlos schauen sich die Mitglieder der verschwörerischen Gemeinschaft an. Senken ihren Blick. Hoffentlich trifft es nicht mich.

Die Erlösung kommt von Sylvio Paul: „Sören kann das machen!“ Die allseitige Erleichterung ist deutlich spürbar.

Sören Seier, bundesweit agierender Vortragsreisender, scheint für eine solche Aufgabe mehr als geeignet: er kann alles, er weiß alles und ist mehr als eloquent. „Prima“, sagt Sylvio Paul, „Sören Seier ist hervorragend geeignet. Als Vielredner wie unser Bundesinnenminister gibt er auf jedem Parkett eine gute Figur ab. Ich rede mit ihm.“ Die Pappbecher werden noch einmal mit Glühwein aufgefüllt nach dieser wunderbaren und auch einstimmigen Entscheidung in kompetenter Runde. „Ich veranlasse alles“.

Sylvio Paul verabschiedet sich und wankt sichtlich gelöst zurück ins Rathaus, schwebt erhobenen Hauptes durch sein Vorzimmer und lässt sich kurze Zeit später erleichtert in seinen Oberbürgermeistersessel fallen. Dorothea Fessel, seine Sekretärin, die ein wenig irritiert den vorbeischwebenden Oberbürgermeister angestarrt hat, folgt ihm und schaut ihn fragend an. „Liebe Dorothea, es war eine glänzende Idee von dir, mich zu meinen Mitbürgern zu schicken. Die frische Luft auf dem Marktplatz, der wohlwollende Empfang meiner Wähler, die herrliche Kulisse unserer wunderschönen Altstadt haben mich spontan inspiriert zu einer außerordentlich glänzenden Idee. Wir werden ein Stadtfest erleben im übernächsten Jahr, wie du es dir großartiger nicht vorstellen kannst: 800 Jahre Mittelstadt. Geplant, organisiert und durchgeführt vom hiesigen „Kultur- und Geschichtsverein“, dessen Entstehung ich soeben beschlossen habe“.

Der Oberbürgermeister verschränkt seine Arme hinter dem Kopf, lacht verschmitzt seine Sekretärin an , die mit großaufgerissenen Augen auf ihren Chef schaut und offensichtlich noch nicht so richtig verstanden hat, was er ihr soeben offenbart hat, und beendet dann seine Ausführungen mit folgender Anweisung: „Ach ja, Dorothea, du kannst dann schon einmal eine Satzung für den soeben gegründeten Verein entwerfen und eine Telefonverbindung zu meinem geschätzten Freund Sören Seier herstellen“.

Das Spielhaus im Garten

Fritz Milz ist ein Tausendsassa. Jedenfalls für den „Mittelstädter Boten“, die regionale Zeitung. Er ist Chefredakteur, Gerichtsreporter und Fotojournalist in einer Person. Immer zur Stelle, wenn es irgendetwas Aufregendes zu berichten gibt und Ansprechpartner für alle, die sich über dieses oder jenes beschweren wollen. Meistens findet er auch etwas, das die Bürger anspricht und geeignet ist, seine Zeitungsseiten zu füllen.

Aber heute, an diesem nicht sehr spannenden Tag, ist sein Redaktionstisch leer: kein Unfall, kein Einbruch, keine Beschwerden unmutiger Bürger. Von Mord und Totschlag ganz zu schweigen. Es ist zum Verzweifeln. Der Bericht über die Kaninchenzüchter der Region ist längst gedruckt und kann die Spalten nicht mehr füllen. Prominente Bürger oder Politiker der Region? Alles schon bis in die Verästelungen der Familiengeschichte ausgewalzt. Beschlüsse des Stadtrats? Wer will das schon lesen? Was bleibt in solch tristen Momenten? Das Gericht. Fritz Milz schnappt sich die Sitzungslisten dieser Woche. Dankenswerterweise werden diese regelmäßig an die Zeitung gefaxt, so dass sich schnell ersehen lässt, was so anliegt im Gericht und die Leser interessieren könnte. Heute Donnerstag : keine Strafverhandlungen, da Herr Richter Schnam im Urlaub ist. Zivilverhandlungen beim Direktor. Nun gut, wenn`s denn sein soll.

Fritz Milz betritt das Schloss, in dem das Amtsgericht seinen Sitz hat. Seit einiger Zeit finden Eingangskontrollen statt, weil es beim Landgericht in der Hauptstadt kürzlich zu unerquicklichen Vorkommnissen in den Verhandlungen gekommen ist. Man muss mit allem rechnen. Aber Fritz Milz ist bekannt, natürlich auch hier im Gericht. Er wird ohne Kontrolle durchgelassen und steuert auf den Zivilsitzungssaal 315 zu. Zu seinem Erstaunen ist er nicht der einzige Zuschauer der anstehenden Verhandlung. Eine lärmende Schulklasse drängt in den Saal voller Vorfreude darüber, ob ihnen hier das geboten wird, was sie aus dem Fernsehen her kennen: gewitzte Verteidiger, ein mit der Klingel rasselnder Richter und aufmüpfige Angeklagte. Nichts dergleichen zunächst. Allein der vorsitzende Richter erscheint und erklärt der Klasse, dass sie an einer Zivilverhandlung teilnehmen werden. Es geht um Streitigkeiten zwischen zwei Parteien, nicht um kriminelle Delikte. Ein Nachbarstreit soll verhandelt werden. Das Gericht wird einen verträglichen Modus finden müssen, um den Streit beilegen zu können. Niemand wird in den Knast wandern. Wie immer im Leben wird man bemüht sein, der Vernunft zum Siege zu verhelfen.

Das kommt bei der Schulklasse nicht besonders gut an. Eigentlich ist man auf „action“ eingestellt, auf Randale im Gerichtssaal. Die Gesichter der Schülerinnen und Schüler lassen die Enttäuschung spürbar werden. Der vorsitzende Richter, der Direktor des Gerichts, Herr Samoth, nimmt dies lächelnd zur Kenntnis. Und er nimmt sich Zeit, der Klasse den Unterschied zwischen einem Straf- und einem Zivilprozess zu erklären. „In allen Verfahren allerdings“, so der Richter mit ernster Miene, „kommt es darauf an, dass das Gericht den zugrundeliegenden Sachverhalt richtig und genau ermitteln kann. Dazu sind Beweise notwendig. Und in erster Linie sind die Beweismittel, die die Parteien oder das Gericht zur Verfügung haben, die Zeugen. Es ist daher außerordentlich wichtig, dass man als Zeuge nicht nur vor Gericht erscheint, wenn man die Aufforderung hierzu erhält, sondern dass man dann auch die gestellten Fragen wahrheitsgemäß beantwortet. Andernfalls macht man sich nicht nur selbst strafbar, sondern entzieht dem Gericht auch die Grundlage für eine gerechte und richtige Entscheidung“. Sehr ernst schaut Herr Samoht die vor ihm sitzenden Schülerinnen und Schüler an, die ihrerseits etwas verschämt, jedoch sichtlich interessiert auf den Mann in der schwarzen Robe blicken. Und dann schweift er ganz plötzlich ab, wendet sich augenscheinlich einem völlig anderem Thema zu: „Dieser große und schöne Sitzungssaal, in dem wir uns gerade befinden, ist der Stolz und das Aushängeschild des Gerichts. Er ist vor kurzem renoviert worden und die Pracht des ehemaligen Bankettsaales dieses Schlosses ist wieder freigelegt worden. Die schöne Wandbemalung, die Stuckdecke und die verträumten Erker. Es fanden hier auch früher schon Gerichtsverhandlungen statt, aber nicht in diesem prachtvollen Ambiente. Was allerdings vollständig erneuert werden musste, war der Fußboden. Ehemals bestand dieser aus Holzbohlen, die auf Eichenbalken lagen. Nun hat man einen Betonboden eingebaut. Und warum musste dies erfolgen? Wer von euch hat eine Erklärung hierfür?“ Schweigen im Saal. Der Richter schaut die Schüler einzeln an. „Nun, keine Erklärung? Keine Vorstellung? Dann gebe ich selbst die Antwort auf meine Frage. Die Balken waren schlichtweg durchgebogen. Bei den Gerichtsverhandlungen in diesem Saal ist so viel gelogen worden, dass sich die Balken gebogen haben. Deshalb der Hinweis vorhin an euch, bei Gericht nur die Wahrheit zu sagen.“

Der Direktor lehnt sich in seinen Stuhl zurück. Ihm ist nicht anzusehen, wieviel Wahrheit in seiner eigenen Erklärung steckt, aber den Schülerinnen und Schülern bleibt der Mund offen stehen. Allein Fritz Milz lacht in sich herein: der balkenbiegende Zeuge. Was für eine schöne und anschauliche Geschichte. Und nun noch bitte eine hierzu passende Verhandlung.

Damit kann der vorsitzende Richter tatsächlich aufwarten. Die Parteien des folgenden Rechtsstreits werden in den Sitzungssaal gerufen. Das klägerische Ehepaar – Rentner alle beide – besitzt nicht weit vom Gericht entfernt ein kleines Häuschen mit Garten. Wenn man aus dem Erkerfenster hinausblicken würde, könnte man es unterhalb des Schlosses liegen sehen. Nebenan ebenfalls ein kleines Häuschen, auch mit Garten. Die ursprünglichen Eigentümer dieser Idylle, langjährige und friedliche Nachbarn der Kläger, hatten sich erdreistet, ihr Eigenheim aus Altersgründen zu verkaufen. Und zwar an eine junge Familie mit ebenso jungen wie energiegeladenen Kindern. Und die rührigen Eltern haben sehr bald etwas Gutes getan für ihren Nachwuchs- nämlich ein wuchtiges Spielhaus errichtet. Auf Stelzen. Darin können die jungen Rangen mit ihren Freunden nicht nur nach Herzenslust toben, sondern sie genießen außerdem einen wunderbaren Rundumblick auf die Nachbarschaft. Eingeschlossen der Blick auf das Schlafzimmerfenster der Kläger. „Der Schwarzbau muss weg,“ so die Argumentation des klägerischen Anwalts, „durch den ungehinderten Blick vom Spielhaus und das Toben der Kinder auf eben diesem Konstrukt wird die Privat- und insbesondere die Intimsphäre meiner Mandanten zutiefst verletzt.“ „Welche Intimsphäre?“ entrüstet sich der gegnerische Anwalt: „Der Blick in ein Museum darf doch auch nicht verwehrt werden. Oder anders ausgedrückt: wo kein Theater spielt, kann es auch keine unerlaubten Zuschauer geben. Sollen die Kläger doch das Rollo runterlassen. Die freie Entfaltung der kindlichen Ausgelassenheit muss in jedem Fall Vorrang haben vor eingebildeten Phantasievorstellungen der betagten Kläger“. „Diese bodenlose Frechheit müssen wir uns nicht bieten lassen!“ Der Kläger versucht mühsam, aus seinem Sitz aufzusteigen und schwingt drohend seine Gehhilfe in Richtung der Gegenseite. Zur Freude der Schulklasse. Denn jetzt kommt doch noch so etwas wie „action“ in den Sitzungssaal. Auch der junge Familienvater springt auf und zeigt in Richtung des Klägers: „Da, sehen sie selbst, Herr Richter, gemeingefährlich ist der auch noch!“ Beide Anwälte zerren an ihren Mandanten, so dass sie wieder auf ihren Stühlen Platz nehmen, nicht aber ohne Drohgebärden in Richtung des Gegenüber. Fritz Milz ist begeistert. Das wird einen schönen Artikel geben. Und auch die Schülerinnen und Schüler haben ihren Spaß an der Verhandlung. Herr Samoht mahnt zur Ruhe und Gelassenheit: „Ich habe hier Fotos von dem Stein des Anstoßes. Kommen sie doch mal nach vorne, damit wir uns einen Überblick von der Örtlichkeit verschaffen können. Und wenn das nichts hilft, bitte, dann gehen wir eben geschlossen zu ihren Grundstücken. Die Nachbarschaft wird’s freuen.“ Die Anwälte kommen mit ihren Mandanten nach vorn zum Richtertisch, wobei letztere sich auf diesem kurzen Weg noch gegenseitig angiften. „Es reicht“, der Richter wird nun seinerseits ungehalten, „sie sind doch erwachsene Menschen. Dann benehmen sie sich auch als solche. Was soll die Schulklasse von ihnen denken? Und wenn meine Worte sie nicht beeindrucken können, dann kann ich auch Taten folgen lassen. Es gibt ja noch das Mittel des Ordnungsgeldes.“

Diese Drohung wirkt. Kläger und Beklagter stehen mit gesenktem Kopf vor dem Richter. Allerdings entwickelt sich nunmehr ein sehr hitziges Streitgespräch zwischen den Prozessbevollmächtigten der Parteien, wobei auch Sätze wie „Schauen sie doch erst einmal ins BGB, bevor sie den Mund aufmachen“ und „Sie sind doch der Rechtsverdreher“ zu vernehmen sind. Einmal mehr zur Freude des Publikums und des eifrig mitschreibenden Journalisten, weniger zu der des Richters, der sich vorn über den Richtertisch beugt: „Was ich soeben zu den Parteien gesagt habe, gilt auch für sie, sehr verehrte Herren Kollegen.“