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Eine einzige Begegnung kann unser Leben verändern – und das gilt auch für Begegnungen mit Figuren aus der Literatur. Manchmal kommen wir ihnen so nahe, dass sie uns vertrauter erscheinen als die Menschen in unserer Nachbar- oder Verwandtschaft. Wir finden uns in ihnen wieder, nehmen Anteil an ihren Schicksalen, reiben uns an ihnen und wollen sie nicht mehr missen. Sie bringen uns zum Nachdenken, zum Lachen oder zum Brodeln, nehmen uns mit in fremde Welten und erweitern unseren Horizont. Rainer Moritz lädt ein zu einem Spaziergang durch die Weltliteratur, begleitet von einer äußerst vielfältigen und höchst subjektiven Auswahl seiner Lieblingsfiguren – von Dagobert Duck über Emma Bovary, Troubadix, Dubslav von Stechlin und den Kleinen Nick bis hin zu Emily Grimes.
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Seitenzahl: 146
Veröffentlichungsjahr: 2025
Rainer Moritz
Lieblingsfiguren der Weltliteratur
Oktopus
Wer Romane liest, taucht ein in fremde Sphären, wirdmit Situationen konfrontiert, die mal ganz vertraut und mal völlig fremd erscheinen. Wir lesen Bücher, um neue Sichtweisen auf die Welt kennenzulernen, über unseren Alltag und unsere Gesellschaft hinauszugelangen und uns in Kopf und Herz anderer Menschen hineinzuversetzen. So ist Lektüre fast immer ein Ausbrechen aus der Gegenwart. Wir wollen uns überraschen lassen von Begegnungen, die uns im »realen« Leben vorenthalten bleiben, und an Schicksalen Anteil nehmen, die unser Herz aufwühlen, sodass wir am Ende eines Buches Schwierigkeiten haben, aus der fiktiven Welt zurückzufinden und uns wieder an das oft graue Hier und Jetzt zu gewöhnen.
Lesend lernen wir Menschen kennen, die uns mitunter so nahekommen, dass sie uns vertrauter als unsere Verwandten oder Nachbarn erscheinen. Stunden mit Romanfiguren zu verbringen, das heißt zwar nicht immer, sich mit ihnen zu identifizieren und sein eigenes Leben gespiegelt zu bekommen. Doch unwillkürlich nähern wir uns ihnen, reiben uns an ihnen. Manchen Autorinnen und Autoren gelingt es, unsympathische Charaktere so intensiv zu schildern, dass wir unwillkürlich an ihrem Lebensweg Anteil nehmen und ihre dunklen Seiten vielleicht sogar als unsere eigenen, gut verborgenen erfassen.
Die moderne Literatur, die – sagen wir – seit Beginn des 20. Jahrhunderts oft viel Aufwand betrieb, das Einfühlen in literarische Figuren zu erschweren, das klassische psychologische Erzählen außer Kraft zu setzen und zuhauf »Männer ohne Eigenschaften«, die keine Individualität beanspruchen dürfen, zu präsentieren, hat nicht mit dem beharrlichen Verlangen der Leserinnen und Leser gerechnet, sich in Romangestalten wiederzufinden. Diese sollen uns dazu bringen, zu lachen, nachzudenken, zu staunen, den Kopf zu schütteln, uns zu empören und womöglich ein paar Tränen zu vergießen. Nicht in jedem Fall müssen wir so weit gehen wie Goethes Zeitgenossen, die sich wie Werther kleideten und teils unglückseligerweise sogar seinen Weg bis zum bitteren Ende nachahmten. Und nicht jede Figur inspiriert uns dazu, an Fasching eine neue Identität als Pippi Langstrumpf oder Harry Potter anzunehmen.
Auch Schriftsteller gestehen nicht selten ein, dass ihre Figuren ein Eigenleben entwickeln und dass es schwerfällt, sich von ihnen zu trennen. Deshalb muss das Ende eines Romans nicht das Ende einer Figur bedeuten. Bei Honoré de Balzac, Reinhard Kaiser-Mühlecker, Martin Walser, Colm Tóibín oder Elizabeth Strout zum Beispiel kehren die Heldinnen und Helden wieder, zum Teil nach Jahren, und begleiten nicht nur die Leserschaft, sondern auch ihre Schöpfer.
Dieses Buch trägt der Liebe zu fiktiven Welten Rechnung. Völlig subjektiv habe ich knapp vierzig Figuren der Weltliteratur ausgewählt, die mir im Lauf meines Leserlebens zu treuen Begleitern wurden, die ich besser kenne als die meisten Menschen, die mir in meinem Alltag tagtäglich begegnen. Ja, es kommt mir dann so vor, als gäbe es zwischen Literatur und Leben gar keinen Unterschied.
Meine Auswahl folgt keinem Prinzip. Einige meiner Lieblingsfiguren werden Sie kennen, andere möchte ich Ihnen nahebringen. Sie kommen von überallher, wenngleich ich natürlich auch nach vielen Jahren des Lesens nur einen kleinen Ausschnitt der Literatur überblicke. Diese Figuren, alles Vertraute meines Lebens, stelle ich Ihnen vor. Ob Sie mir dabei folgen können und wie Sie selbst die Frage Mögen Sie Madame Bovary? beantworten, das liegt ganz bei Ihnen. Begleiten Sie mich, und bereichern Sie Ihr Dasein mit Menschen aus Papier und Druckerschwärze, die unser Leben lebenswert und bunter machen.
Rainer Moritz
Im November 2024
Manche Bücher setzen partout keine Patina an. Damag man sie noch so überzeugend in ihren historischen Kontext stellen und betonen, dass sie nur »aus ihrer Zeit heraus« zu verstehen seien, beim Wiederlesen spielt das dann keine entscheidende Rolle mehr, weil sie einen Ton treffen, der nicht nur Vergangenes meint.
Der 1939 geborenen Christine Wolter ist ein solches Kunststück gelungen. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam sie in die DDR, studierte Romanistik, arbeitete als Übersetzerin, als Lektorin und debütierte 1973 mit einem Prosaband. 1978 lernte sie auf einer Dienstreise nach Italien einen Mann kennen und lieben und reiste legal ins südkapitalistische Ausland aus. Trotzdem publizierte sie weiterhin in der DDR.
Protagonistin ihres offenkundig stark autobiographisch geprägten Romans Die Alleinseglerin ist die Literaturwissenschaftlerin Almut, die in Ost-Berlin an einer Doktorarbeit sitzt und versucht, sich allen Herausforderungen zu stellen, die das Leben für eine alleinerziehende Mutter bereithält. Mühsam bewegt sie sich im Viereck »Büro/Kind/Studium/Boot« und leidet darunter, auf keinem Gebiet ihren Ansprüchen gerecht zu werden und stets mit schlechtem Gewissen in den Tag zu gehen. So gesehen gehört Die Alleinseglerin in den Kontext der feministisch orientierten DDR-Literatur, für die gemeinhin Namen wie Christa Wolf, Irmtraud Morgner oder Brigitte Reimann stehen.
Dass Autorin und Roman in diese Schublade dennoch nicht recht passen, hat mit dem Stichwort »Boot« zu tun. Es bezieht sich auf ein nobles Segel-, genauer: Drachenboot, das Almuts Vater, einem vielfach dekorierten Architekten, gehört. So apart sich dieses auf den Seen im Berliner Umland macht, so kostspielig ist sein Unterhalt. Als Almut den Drachen von ihrem Vater übernimmt, spielt sie anfangs mit dem Gedanken, das gute Stück zu veräußern, da ihre finanziellen Mittel begrenzt sind. Doch je näher der Verkauf rückt, desto stärker werden ihre Zweifel, sich von dieser emotional aufgeladenen Schönheit zu trennen – aller Vernunft zum Trotz:
Der Professor schützte nicht mehr. Ich war nur ich: Frau Nichts, Frau Titellos. Junge Frau mit dem Ton auf der ersten Silbe: Jungefrau. Der Werftmann hatte mit Leuten zu tun, die sich Boote leisten konnten. Ich war nur an das Boot geraten, leisten konnte ich es mir nicht.
So erlangt dieser Drachen im Kontext der späten Jahre des DDR-Sozialismus eine symbolische Bedeutung: Seine pure Anmut ist es, die für Almut zählt. Die sture Professorentochter ficht damit nicht nur nachträgliche Kämpfe mit ihrem selbstgefälligen Vater aus, sie sendet zudem ein klares Zeichen an ihre Mitmenschen: Das Boot ist schön und spricht aller Wirtschaftlichkeit hohn. Deshalb will Almut es im wahren Wortsinn um fast jeden Preis behalten.
Nun verbringt Almut ihre knappe Freizeit damit, das marode Boot auf Vordermann zu bringen, ungeachtet dessen, dass in der Mangelwirtschaft des Sozialismus die benötigten Materialien – Lacke oder Abdeckplanen – selten vorrätig sind und dass sie von den alles besser wissenden Männern in den Werften und Häfen mitleidig belächelt wird.
Erzählt wird diese Geschichte im Rückblick. Almut lebt mittlerweile in Mailand, wo der Regen die Illusion vom immer sonnigen Italien gründlich zerstört, und blickt voller Heimweh und Sehnsucht auf die Seenlandschaft ihrer früheren Jahre zurück. Wie sich Almut damals ihre Freiheiten erkämpfte, wie sie mit ihrem Vater rang, der die Familie verließ, als Almut elf war, später als »Herr Professor« seine Privilegien genoss und es ablehnte, als Rentner bezeichnet zu werden, und wie sie sich dank ihrer »Dickköpfigkeit« auch von ihren Kurzzeitliebhabern nicht dreinreden lässt, das macht Die Alleinseglerin zu einem unverwechselbaren emanzipatorischen Lehrstück.
Almut ist eine selbstständige, unkonventionelle Heldin, die mit den lautstark vorgetragenen Appellen an den sozialistischen Gemeinsinn wenig zu tun hat. Das Kollektiv zählt für sie wenig. Almut baut vor allem auf sich selbst; schon als Zwölfjährige hat sie erfahren, dass es oft am besten ist, allein zu sein. Kein Wunder also, dass sie sich anschickt, mit dem knapp zehn Meter langen Drachen ihres Vaters zur »Alleinseglerin« zu werden – ein Unterfangen, das selbst erfahrene Segler nicht mit links erledigen.
Christine Wolters Roman, der en passant grundlegende nautische Kenntnisse vermittelt, ist von bestechender, überzeugender Klarheit und frei von schiefen Bildern – ganz der Absicht der Erzählerin Almut folgend:
Am Schreibtisch in Mailand, mit den endlosen Übungen der Studenten vor mir, im Fenster die gleichfarbigen Tageszeiten des Winters, kommen mir die Bilder, quellen wie die Stoffe meiner Mutter aus den Schubladen. Die Bilder lassen, wie sie sind. Auch gelblich und ausgeblichen. Nichts kolorieren mit Trauer und Bedeutung.
Almut taugt nicht als Vorbild, weder als feministisches noch als sozialistisches. Sie will sie selbst sein und unter mühsamen Umständen ihre Unabhängigkeit bewahren. Das ist nicht wenig. Weitere Popularität erlangten Roman und Figur 1987, als Herrmann Zschoche Die Alleinseglerin für die DEFA überzeugend verfilmte und die Hauptrolle mit der Drummerin Christina Powileit besetzte.
Die Alleinseglerin erschien 1982 im Aufbau Verlag und wurde 2022 im Ecco Verlag neu aufgelegt.
Autorinnen und Autoren lassen sich vielleicht in zweiGruppen einteilen. Die einen, die ständig hinausgehen, Expeditionen unternehmen, sich in gefahrvolle Lagen bringen und auf Kulturen stoßen wollen, die ihrer eigenen ganz fremd sind. Die anderen, denen es genügt, im stillen Winkel tief in sich hineinzuhorchen, zu versuchen, Gedanken und Gefühle zu entwickeln, und die Phantasie kreisen zu lassen.
Ich habe eine Schwäche für die letztere Spezies, für Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die unscheinbarste Alltagsdinge Funken schlagen lassen, lieber das Innenleben ihrer Figuren ausleuchten, als diese permanenten Abenteuern, permanenter Action auszusetzen, und die die Enge der geschilderten Welt gewisserweise transzendieren.
Der Schweizer Gerhard Meier (1917–2008) zählt zu diesen Raum-und-Zeit-Verwandlungskünstlern. Erst spät fand der gelernte Lampendesigner zum Schreiben. Nach kleineren Prosa- und lyrischen Arbeiten begann er 1977, einen fiktiven Kosmos zu schaffen, als er seinen Wohnort Niederbipp in »Amrain« umbenannte und sich ein unverwechselbares Reich schuf, das die Welt in den Südjura holt.
Kaspar Baur und Rudolf Bindschädler heißen seine Hauptfiguren, die in schmalen Büchern so plastisch zum Leben erweckt werden, dass man sie nicht für erfundene Gestalten halten möchte. Zwischen 1979 und 1990 ließ Meier sie in vier zusammengehörigen Romanen auftreten, in Toteninsel, Borodino, Ballade vom Schneien und dem Schlussstein Land der Winde, in Büchern, in denen an Äußerlichem herzlich wenig geschieht und die in den Gedanken ihrer Akteure dennoch einen weltumarmenden Bogen spannen.
Baur und Bindschädler, zwei Herren fortgeschrittenen Alters, spazieren gemeinsam durch Olten, erzählen und erinnern dies und jenes, lassen sich von Assoziationen und Eingebungen leiten. In der Ballade vom Schneien wacht Bindschädler zuletzt an der Seite des sterbenden Baur, und das schien das Ende der Romanfolge zu bedeuten. Doch Land der Winde greift das beharrlich-intensive Gespräch der beiden Männer wieder auf. An einem Novembertag des Jahres 1988 findet sich Bindschädler, der schweigsame Zuhörer, erstmals in Amrain, im »Zentrum der Welt«, ein, um das Grab seines einstigen Weggefährten aufzusuchen. Der Text setzt ein, als der Tote eine Ansprache an die Überlebenden richtet. Sieben Druckseiten lediglich, auf denen gleichermaßen über Kunst, Pferde, Herbstblätter und frühere Schulkameraden räsoniert wird – und dennoch sind sie der Kern des Buches.
Denn Baurs Rede durchzieht alle folgenden Erzählstücke, zunächst als Bindschädler sich ins Haus der Baur’schen Witwe begibt und die nun in den Konjunktiv transponierten Worte aus dem Grabe für sie wiederholt. Und nachdem die beiden – in der für Meier so typischen Gelassenheit – gegessen und getrunken haben, greift die Frau das Gesagte noch einmal auf und lässt es so ein drittes Mal vorbeiziehen.
Die »Kunst der Wiederholung« (Peter Handke) hat in Gerhard Meier einen ihrer großartigsten Fürsprecher gefunden, und wer Wiederholung mit Langeweile gleichsetzt, verfehlt (diese) Literatur – und vielleicht das Leben. Noch über den Tod hinaus bereden sich Baur und Bindschädler, gehen Straßen und Wege entlang, bleiben an Häusern stehen, befragen ihre Erinnerungen und grübeln über deren Sinn nach.
Was sich beide zu sagen haben, schließt die Welt nicht aus: Das Leben und Sterben der Amrainer (daneben aber auch die Entwicklung der sowjetischen Perestrojka) fließen in diesen Kreis ein, begleitet von den Gerüchen und Geräuschen, die die Welt Baurs ausmach(t)en, eines Mannes, der selbst »nicht unbedingt zum Leben geschaffen« war und sich als Schriftsteller fühlte, »wenn auch als einer, der seine Werke in den Wind schrieb«.
Am Ende dieses Novembertags kehrt Bindschädler Amrain den Rücken, doch der Freund bleibt gegenwärtig. Ein Brief, den Baur einst von der Insel Rügen schrieb, fächert die Erinnerung nochmals auf, zum Beispiel an den geliebten Caspar David Friedrich oder an Ludwig Gotthard Kosegarten, »der Pfarrer gewesen sei in Altenkirchen auf Wittow: dem Land der Winde«. Einige Stunden sind verstrichen, knapp einhundertvierzig Romanseiten, und doch meint man, weite Räume durchschritten zu haben.
In Toteninsel hatte Baur, der verhinderte Autor, versucht, seine Vorstellung vom Schreiben festzuhalten – und damit das poetologische Prinzip Gerhard Meiers ausgebreitet:
Ohne dich mit meinem Literaturverständnis quälen zu wollen, muss ich doch sagen, dass für mich der Roman einem Teppich vergleichbar ist, einem handgewobenen, bei dessen Herstellung besonders auf die Farben, Motive achtgegeben wird, die sich wiederholen, abgewandelt natürlich, eben handwerklich gefertigt, beinahe mit einer gewissen Schwerfälligkeit behaftet, und der einen an ein Mädchen aus der Schulzeit erinnert und an eine Blumenmatte mit Kirschbäumen darauf, die gerade blühen; wobei man über diese Blumenmatte schreiten möchte, zumindest noch einmal und natürlich nicht allein.
2005 hat Gerhard Meier einen kleinen Text nachgeschoben, den Monolog Ob die Granatbäume blühen. Auslöser war der Tod seiner Ehefrau Dora, genannt Dorli, die nach sechzig Ehejahren einer tückischen Nervenkrankheit erlag. Meier versucht diesen Verlust einzukreisen. Sein Loblied auf das geliebte Dorli erinnert gemeinsame Spaziergänge, Lektüren oder Familienzusammenkünfte und trifft jenen ganz eigenen Erzählton, der schon die Suggestivkraft der Baur-und-Bindschädler-Romane ausmachte.
So entsteht auf diesen wenigen Seiten ein farbenprächtiges Gewebe, schattiert von einer schwebenden Melancholie, die durch ein »Geltenlassen der Dinge« besänftigt werden soll. Gerhard Meier spricht die Tote direkt an, berichtet ihr – als säße sie weiterhin neben ihm, im Haus am Südjurafuß – von dem, was sich zwischenzeitlich ereignet hat, signiert wie selbstverständlich ein Buch für sie und sinniert ohne pathetischen Überschwang darüber, wie es sein wird, wenn er und Dorli wieder zusammenkommen werden.
Zwischen dem Erinnerten und dem Gegenwärtigen, zwischen den Toten und den Lebenden und zwischen dem Ausgedachten und dem Realen klafft in Gerhard Meiers Gedankenwelt kein Abgrund. Dorli ist präsent wie einst, fast so greifbar wie ihre alten Gartenschuhe, die allenfalls ein wenig zur Seite gerückt werden … und um die Ecke biegen jeden Moment, so scheint es, Baur und Bindschädler, um sich mit ihrem Schöpfer ein weiteres Mal aufzumachen, Amrain zu durchqueren:
Und wenn ich durch Amrain gehe, habe ich manchmal ein Gefühl, als schritte ich durch meine Schreibe. Höre den Baur reden, den Bindschädler. Und der Jura hat eine blaue Schärpe um.
Manchmal genügt es, vor die Tür zu treten, sich den Wind um die Nase wehen zu lassen und spazieren zu gehen. Mit Baur und Bindschädler.
Die ersten drei Bände der Baur-und-Bindschädler-Tetralogie – Toteninsel, Borodino, Ballade vom Schneien – wurden von 1979 bis 1985 im Zytglogge Verlag vorgelegt. Land der Winde und Ob die Granatbäume blühen erschienen 1990 und 2005 im Suhrkamp Verlag.
Kaum zu überblicken sind die Haupt- und Nebenfiguren, die in den sieben Bänden von Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit auftreten. Allein in den weitschweifig ausgebreiteten Salonszenen defilieren unentwegt Gestalten aus der adligen und aufstrebenden bürgerlichen Welt vorbei. Manche vergisst man nicht, wie den begriffsstutzigen Doktor Cottard zum Beispiel, der im Gespräch kaum ein Fettnäpfchen auslässt, ein Meister des Missverstehens ist und trotz gewisser medizinischer Qualitäten kurzerhand als »Esel« gilt. Für andere gilt: aus den Augen, aus dem Sinn.
Doch wer meint, unter den vielen Figuren, die Proust (1871–1922) aufmarschieren lässt, müsste es ein Leichtes sein, welche zu finden, die man rasch und für immer und ewig ins Herz schließt, irrt. Denn sie alle haben ihre Macken, ihre Abgründe; sie alle sind – wie man es früher nannte – gemischte Charaktere, die nur bedingt Sympathien wecken. Charles Swann? Albertine? Odette? Elstir? Mademoiselle Vinteuil? Baron de Charlus? Die Verdurins? Nein, sie sind voller Ecken und Kanten, fallen durch Verlogenheiten oder Intrigen auf und neigen zu sexuellen Praktiken, die nicht jedermanns Sache sind.
Nun gut, dann entscheide ich mich für Françoise, die Haushälterin und Köchin, die – ein Sonderstatus! – den Ich-Erzähler durch all die Jahre begleitet, vom ersten bis zum letzten Band. Sie ist schlichtweg unverzichtbar, redet, keinen Sprachschnitzer auslassend, wie ihr der Schnabel gewachsen ist, neigt zu Grausamkeiten, verkörpert in gewisser Weise das alte Frankreich, dessen Niedergang sie beklagt, und macht keinen Hehl aus ihren Antipathien. Albertine etwa, vor der sie den Erzähler unverhohlen warnt, ist ihr so verhasst, dass deren Tod in ihr nicht nur klammheimliche Freude hervorruft.
Als »Küchen-Michelangelo« führt sie am Herd ein strenges Regiment und scheut sich nicht, ihre sadistischen Neigungen auszuleben. Opfer ist das Küchenmädchen Eulalie – eine Vertraute von Dienstherrin Tante Léonie –, das unter einer Art Spargelallergie leidet, auf die Françoise jedoch nicht im Geringsten Rücksicht nimmt. Im Gegenteil: Sie erteilt der Beklagenswerten besonders viele Spargelschälaufträge.
Die bodenständige Françoise erledigt ihre Pflichten ohne Umschweife und hat keine Zeit für Empfindlichkeiten, etwa als sie ein Huhn küchenfertig zu machen hat. Da die soeben niedergekommene Eulalie als Zuarbeiterin ausfällt, ist Françoise im Stress:
Als ich in die Küche trat, war sie gerade dabei, einem Hähnchen den Garaus zu machen, das in seiner verzweifelten, sehr begreiflichen Gegenwehr, die von der zutiefst empörten Françoise, während sie ihm den Hals unterhalb der Ohröffnung zu durchschneiden versuchte, mit dem Ausruf »Mistvieh, elendiges!« begleitet wurde, die Sanftmut und schmelzende Güte unserer Dienerin in einem weniger vorteilhaften Lichte erscheinen ließ als am folgenden Tage, wo es in seiner nach Art eines Messgewandes mit Gold inkrustierten Haut und seinem köstlichen, wie aus einem Ciborium rinnenden Saft auf der Tafel figurierte. Als es endlich tot war, wischte Françoise das Blut auf, das ihren Groll offenbar nicht hatte ersäufen können; vielmehr bekam sie im Gegenteil einen erneuten Wutanfall, und mit einem Blick auf den Leichnam des endlich erledigten Feindes rief sie noch einmal: »Mistvieh, elendiges!«
Der Erzähler ist erschüttert ob dieser Brutalität und zieht einen Moment lang Françoises Entlassung in Erwägung – bis ihm in den Sinn kommt, dass ein solcher Schritt Entbehrungen nach sich zöge: »Aber wer hätte mir dann so schöne heiße Wärmflaschen in mein Bett gelegt, wer einen so duftenden Kaffee bereitet, und wer schließlich solche Poulets?«