Mord am Watzmann - Felix Leibrock - E-Book

Mord am Watzmann E-Book

Felix Leibrock

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Beschreibung

Kletterunfall oder perfektes Verbrechen? Mordermittlungen in den Berchtesgadener Alpen Für ein Urlauber-Ehepaar endet die Bergtour auf den Watzmann tödlich: Kurz unterhalb der Mittelspitze stürzen sie in die Tiefe. Keiner der beiden überlebt. Ein Fall von Selbstüberschätzung? Gestolpert, ausgerutscht – oder gestoßen? Der junge Kommissar und Polizeibergführer Simon Perlinger glaubt nicht an einen Zufall. Als routinierter Kletterer und angstfreier Bergfex ist er Spezialist für Alpinunfälle. Und sein Instinkt sagt ihm: Hier ist nicht alles mit rechten Dingen zugegangen! Doch wer könnte ein Motiv gehabt haben, die wohl treuesten Stammgäste des Ortes zu ermorden? - Auftakt der neuen Berchtesgaden-Krimireihe rund um den sportlichen Ermittler Simon Perlinger - Schauplatz Berchtesgadener Land: Bayernkrimi mit viel Lokalkolorit und Ortskenntnis - Verbrecherjagd vor spektakulärer Naturkulisse: Für diesen Alpenkrimi sollten Sie trittsicher und schwindelfrei sein! - Spannendes Lese-Vergnügen für Bergsteiger und Kletter-Fans Auch auf dem Berg kommt kein Mörder ungestraft davon Auf den Watzmann geht man nicht einfach so. Das wissen die beiden Touristen von der norddeutschen Küste sehr wohl! Seit Wochen trainieren sie für die Watzmann-Überschreitung anlässlich ihrer Silberhochzeit. Warum sind die Wanderer trotzdem verunglückt? Bei seinen Ermittlungen stößt Simon Perlinger bald auf dunkle Geheimnisse im Umfeld der Opfer – und eine Mauer des Schweigens bei den sonst so redseligen Berchtesgadenern. Krimiautor Felix Leibrock ist selbst begeisterter Bergsteiger und macht seine Lieblingsgipfel in den Berchtesgadener Alpen zur Kulisse für Mord und Totschlag. Als Seelsorger der Bayerischen Bereitschaftspolizei ist ihm fast kein menschlicher Abgrund fremd. Dadurch kann er besonders authentische Kriminalgeschichten schreiben – quasi aus dem echten Leben gegriffen!

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Seitenzahl: 368

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Felix Leibrock

MORDAM WATZMANN

Ein Berchtesgaden-Krimi

Diese Geschichte ist frei erfunden. Tatsächlich existierende Personen und Firmen wurden verändert und/oder vom Autor ausgedacht, Geschehnisse anderen und/oder fiktiven Personen zugeordnet. Verbleibende Übereinstimmungen mit etwaigen realen Personen wären somit rein zufällig und sind nicht gewollt.

Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr.Eine Haftung der Autoren bzw. Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

1. Auflage 2021

Copyright dieser Ausgabe © 2021 Servus Verlag bei Benevento Publishing Salzburg – München, eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg Dieses Werk wurde durch die Verlagsagentur Thomas Schlück vermittelt.

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Red Bull Media House GmbH

Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15

5071 Wals bei Salzburg, Österreich

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT

Gesetzt aus der Palatino, Bauer Bodoni, Courier

Umschlaggestaltung: www.b3k-design.de, Andrea Schneider, diceindustries

Umschlagmotive: Michael Thaler/shutterstock.com; Vaclav Mach/shutterstock.com

Karte Innenklappe: Nina Andritzky

ISBN: 978-3-7104-0298-2

eISBN: 978-3-7104-5056-3

»Vül hat's schon pockt,Am Berg aufi g'lockt,G'folgt sans ihm tapfer,Oba da Berg, der wüll sei Opfer.«

Wolfgang Ambros/Joesi Prokopetz»Der Berg«, aus dem Album»Der Watzmann ruft«

Inhalt

PERSONEN

PROLOG

Kapitel 1 • Feuergeister

Kapitel 2 • Schein und Sein

Kapitel 3 • Überraschungen

Kapitel 4 • Wagnisse

Kapitel 5 • Simon

Kapitel 6 • Gewissensfragen

Kapitel 7 • Erinnerungen

Kapitel 8 • Windhund

Kapitel 9 • Auf Abwegen

Kapitel 10 • Watzschamanin

Kapitel 11 • Hüttenorakel

Kapitel 12 • Watzmannhatz

Kapitel 13 • Gipfelsturm

Kapitel 14 • Wutanfall

Kapitel 15 • Auf zur Ostwand!

Kapitel 16 • Leichenfunde

Kapitel 17 • Resis Geheimnis

Kapitel 18 • Todesnachricht

Kapitel 19 • Ein schrecklicher Verdacht

Kapitel 20 • Homunculus

Kapitel 21 • Erste Bilanz

Kapitel 22 • Der Pakt

Kapitel 23 • Dösbaddel

Kapitel 24 • Prioritäten

Kapitel 25 • Gespräche mit Toten

Kapitel 26 • Evangelisches Barock

Kapitel 27 • Schlechte Berater

Kapitel 28 • Handylektüre

Kapitel 29 • Watzmannkind

Kapitel 30 • Marzipanparadies

Kapitel 31 • Schicksalsschläge

Kapitel 32 • Love is in the air

Kapitel 33 • Wichtige Telefonate

Kapitel 34 • Gedankenkarussell

Kapitel 35 • Dilemma

Kapitel 36 • Die Zeugin

Kapitel 37 • Ein Riesenberg Schulden

Kapitel 38 • Zufälle

Kapitel 39 • Gespräche mit dem Watzmann

Kapitel 40 • Opas Archiv

Kapitel 41 • Viererbande

Kapitel 42 • Schlechtes Gewissen

Kapitel 43 • Liebesleid

Kapitel 44 • Sündiges Leben

Kapitel 45 • Kontrollverlust

Kapitel 46 • Zöllners Geheimnis

Kapitel 47 • Freundinnen

Kapitel 48 • Liebesbeweis

Kapitel 49 • Schlafende Hunde

Kapitel 50 • Luisas Hose

Kapitel 51 • Lange Schatten

Kapitel 52 • Der Lauf

Kapitel 53 • Freundschaft

Kapitel 54 • Das Gespräch

Kapitel 55 • Aufstieg

EPILOG

DANK

PERSONEN

Simon Perlinger, junger Polizeibergführer in der Polizeiinspektion Berchtesgaden

Ludwig Perlinger, Großvater von Simon, Schnitzer, Hobbyhistoriker und Entenzüchter

Maria Perlinger, Gattin von Ludwig, Hühnerzüchterin und Rosenkranzbeterin

Kunigunde Pöppel, beste Freundin von Maria Perlinger, Hühnerexpertin

Michael Pregler, Luisa Sedlbauer, beide bei der Bergpolizei Berchtesgaden

Robert Kopp, Matthias Brandtner, Bergwachtler in Berchtesgaden

Belinda Koreck, Polizeihauptkommissarin bei der Kripo Traunstein

Josef »Sepp« Kummer, Vertreter des bandscheibengeplagten Hüttenwirts im Watzmannhaus

Theresa »Resi« Stanggassinger, Bedienung mit »Schwingungen« im Watzmannhaus

Dr. Hilde Stöckl, Psychiaterin in Berchtesgaden

Stefan Wineke, Reeder in Lübeck, langjähriger Berchtesgaden-Urlauber

Heike Wineke, Gattin von Stefan, Kunsthistorikerin

Malte und Alina Wineke, Kinder von Stefan und Heike

Ingo und Hanno Wineke, Brüder von Stefan Wineke, der ihnen das Erbe ausbezahlt hat

Olaf Holtmann, politischer Gegner von Stefan Wineke und sein Intimfeind

Pascal Holtmann, Sohn von Olaf, Student und Geliebter von Heike Wineke

Harald Singer, Prokurist und Strippenzieher

Vladimir Smirnow, Singers Mann fürs Grobe, mit direktem Draht in die Unterwelt

Clara Mertes, Modedesignerin in Hamburg

Dr. Nils Füllkrug, esoterischer Gewissenforscher und Medium zu den Orbitariern

Rick Walker, US-Bürger, Alpen-Schamane

Ansgar Blei, Ausbilder bei der Bundespolizei in Lübeck und auf der Kührointalm

Armin Zöllner, Jens Petersen, Mitarbeiter von Holtmann Medizintechnik

PROLOG

Sie haben vom dritten Kind geträumt. Jetzt ist es so weit. Ausgelassen feiern sie, spüren dieses tiefe Glücksgefühl, das einen überkommt, wenn sich ein großer Wunsch erfüllt. Mit Jagertee aus Pappbechern stoßen sie an. Sie sehen stolz aus – wie Jäger nach der Hubertusjagd. Sie albern herum, bewerfen sich gegenseitig mit Bällen aus nassem Schnee und nehmen die mächtigen Wolkentürme über dem Massiv nicht ernst. Immer dichter wird der Schnee, aber ein letzter Jagertee geht noch. Und noch einer.

Dann schlägt die Furie zu. Einen anderen Namen gibt es nicht für sie. Klar, der Wetterbericht hat vor ihr gewarnt. Aber wer jung ist, zweifelt prinzipiell an Warnungen. Alles nur übertriebene Ängste, so sind die Älteren halt. Auch die Meteorologen sind Greise. Aber man selbst hat zwei kräftige Arme, steht mit beiden Beinen im Leben – holla, was kostet die Welt!

Die Furie zerstört das Glück des Augenblicks, raubt alles Unbeschwerte. Erfasst ihr junges Leben wie die Schnee-Eule das Küken. Die Krallen des Schicksals, die ihnen schwere Wunden schlagen. Auch wenn sie noch einmal davonkommen, tragen sie fortan einen Rucksack voller Schuldgefühle mit sich. Sind sie unvernünftig, maßlos gewesen?

Die Zeit, dieses ewige Räderwerk von Alltag, Urlauben und Familienfeiern, drängt das Geschehene in den Nebel der Erinnerungen ab. Ein Baumstumpf auf einem kahlen Hügel, totes Holz, bei dem nur noch das Wurzelwerk ein unterirdisches und unmerkliches Leben weiterführt.

Aber an Wintertagen, wenn Schnee einsetzt und Wälder und Wege wie mit einem riesigen Kreidestift anmalt, hören sie auch heute noch die Schreie. Diesen Hall des Entsetzens aus weit aufgerissenen Mündern, der sich ausbreitet und von den kalkigen Felswänden vieltausendfach widerhallt. Der in ihre Köpfe eindringt und die Schädeldecke von innen zu sprengen droht. Sie sehen die Furie wieder, wie sie ihren immer breiteren Schlund mit eisigen Kristallen stopft und alles Leben unter sich begräbt. Nachdem sie ihre Gier befriedigt, ihr Werk getan hat, sind die Wege ins Tal weiß und wüst. Und es wird finster in der Tiefe ihres Herzens.

Der Schnee ist ihr Unglück. Aber er erweist sich auch als Komplize, weil er alles verwischt …

Kapitel 1 • Feuergeister

Berchtesgaden,an einem Herbsttag vor siebzehn Jahren

Die schwarze Rauchsäule steht wie ein Menetekel am grau bewölkten Himmel. Aber weiß ein Zwölfjähriger, was ein Menetekel ist?

Er schließt sein Fahrrad auf. Fährt an der Kaserne der Gebirgsjäger vorbei. Was für ein magisches Wort: Gebirgsjäger. Wie immer versucht er einen kurzen Blick auf den Innenhof zu erhaschen. Doch der Rauch beansprucht jetzt all seine Gedanken. Der kommt nämlich von ziemlich genau dort, wo er hinmuss. Er tritt in die Pedale, als sei er ein Nachwuchsfahrer bei der Tour de France. Die Bischofswieser Ache plätschert neben dem Radweg ihr monotones Lied. Endlich kreuzt er die Bundesstraße. Biegt ein in die Straße, die zum Aschauer Weiher führt. Gerade als er aus dem Sattel gehen will, sieht er mehrere Leute vor dem Friseursalon stehen. Mit hochgezogenen Augenbrauen schauen sie den Hang hinauf. Auch Frau Gruber ist unter ihnen, die füllige Gattin des Bäckermeisters. Mit ihren roten Backen und ihrer teigigen Haut sieht sie aus wie eine Kirschnudel. Sie erkennt ihn, starrt ihn an, die Backen leicht aufgeblasen. Traut sich aber nicht, ihn anzusprechen.

Er stellt sich auf die Pedale, tritt kräftig los, um den steilen Anstieg zu bewältigen. Brennt etwa einer der benachbarten Bauernhöfe? Ihm ist nach wie vor nicht klar, von wo der Rauch ausgeht. Jahre später noch wundert er sich, wieso er eines als ausgeschlossen ansah: dass das neu gebaute Haus seiner Eltern in Flammen steht. Er hört Martinshörner, sieht Blaulichter. Rettungswagen und eine Polizeistreife rasen in der Mitte der Fahrbahn an ihm vorbei. Auch schwerfällige Feuerwehrautos kämpfen sich den Hang hinauf und keuchen wie alte Schlosshunde. Nach der letzten Wegbiegung sieht er es, ohne es wirklich zu realisieren: Sein Haus, das Haus, in dem er lebt, das neu gebaute Haus seiner Eltern brennt!

Er rollt auf das Haus zu. Hört nicht das Knistern, das an die Salven von Maschinengewehren erinnert. Er spürt nicht die Hitze, die die Abelien auf dem Balkon binnen Sekunden verwelken lässt. Er riecht nicht die verkokelnden Holzbalken, schmeckt nicht den schwarzen Staub auf seiner Zunge. Er hat nur Augen für das Inferno. Flammen, die wie glühende Echsen aus den Fenstern des Dachgeschosses hervorzüngeln. Genau dort, wo sich sein Zimmer mit den abgeschrägten Wänden befindet. Wenn er sich mit den Zehenspitzen auf sein Bett gestellt hat, sah er durch die Fensterluke im Dach den Watzmann.

Drehen die hier einen Film? Mit Feuersauriern, und er ist mitten in die Aufnahmen geraten? So was aber auch! Er schaut sich um. Aber nirgendwo sind Kameras zu sehen, und die Kommandorufe der Feuerwehrleute klingen verdammt echt!

Der Junge ist wie in Trance. Ein Löschfahrzeug steht vor dem Carport und hat die riesige Leiter ausgefahren. Die ersten Wasserstrahlen gehen auf das Dach nieder. Ziegel fliegen herab. Der hölzerne Dachstuhl glüht orange wie Lava. Genau dort, wo das Feuer seinen Herd hat, saß er vor drei Stunden noch über seinen Mathehausaufgaben. Dezimalbrüche und Primfaktorzerlegung. Gerade bricht und zerlegt sich hier etwas ganz anderes. Sein junges Leben. Aber das weiß er zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Er ahnt es noch nicht einmal. Nur so ein merkwürdiges Kribbeln ist in seinen Fingern zu spüren.

Er kommt vom Klettern im noch ziemlich neuen Boulder-Raum. Seilfreies Klettern, das macht so einen Spaß! Das Alpin- und Kletterzentrum im Ortsteil Strub ist für ihn fast so etwas wie ein zweites Zuhause geworden. Mehrmals in der Woche trainiert er dort. Sein Ziel ist es, später die ganz großen Wände der Alpen zu besteigen. Große Zinne, Eiger Nordwand, das Matterhorn. Auch mal Berge im Himalaja. Die Dhaulagiri-Südwand, die Rupal-Flanke des Nanga Parbat. Sein Vater war dort schon bei Expeditionen und träumt von weiteren. Und er, mit seinen zwölf Jahren, träumt mit ihm. Schon als er sieben Jahre alt war, wanderten und kletterten sie gemeinsam zum Hocheck. Mit neun dann die Watzmannüberschreitung. Mit elf sind sie an Silvester mit Tourenskiern das Watzmannkar hochgestiegen.

»Papa, du machst doch bald mit mir die Watzmann-Ostwand«, flüstert er jetzt vor sich hin. Eine Beschwörungsformel, um die Feuergeister zu bannen. Möge es ganz schnell vorbei sein mit dem Brand! Er legt sein Fahrrad in die Wiese, nähert sich dem Haus. Als freistehendes Gebäude ist es durch einen fünfzig Meter langen Stichweg mit der Straße zum Naturbad Aschauer Weiher verbunden. Eine junge Polizistin mit blondem Zopf errichtet mit rot-weißem Flatterband eine provisorische Absperrung auf dem Weg zur Straße. Sie rennt auf ihn zu, fragt streng, wer er denn sei und was er hier suche. Er sagt seinen Namen. Er wohne in dem brennenden Haus. Sie nimmt ihn mit in den Polizeibus. Wieder glaubt er, Teil eines Films zu sein. Ein Actionfilm. Gleich kommen die und sagen, alles gar nicht schlimm, das Feuer sei ein einziges großes Pyrospektakel.

Der Junge betrachtet die Polizeijacken mit der Leuchtschrift, die an Haken seitlich der Schiebetür hängen. Die Polizistin telefoniert währenddessen, fordert zwei, drei Leute vom Kriseninterventionsteam an. Es ginge um einen Zwölfjährigen, vielleicht auch um andere Angehörige, die bald eintreffen würden.

Dann ein riesiges Krachen, Flackern, Knistern. Durch das Fenster des Polizeibusses sieht der Junge, wie der Dachstuhl endgültig in sich zusammenkracht. Genau an der Stelle, wo sich das Schlafzimmer der Eltern befindet.

Später weiß er nicht mehr, wie lange er wohl im Polizeibus gesessen hat. Es ist dunkel geworden. Die Flammen sehen vor dem schwarzen Himmel noch gespenstischer aus. Das Wasser der Feuerwehr zwingt sie nur langsam zum Rückzug. Er denkt an seinen Gameboy, der jetzt wohl auch ein Raub der Flammen geworden ist. Das lodernde Haus wirkt unwirklich. Wie eins dieser Plastikgebäude auf der Modelleisenbahn seines Vaters.

Erst als er seinen Großvater mit dem alten Jeep auf dem Stichweg stoppen und aussteigen sieht, stürzt er aus dem Polizeibus. Mechanisch drückt ihn der Großvater an sich, während er gleichzeitig mit ernster Miene auf das brennende Haus starrt. Unmerklich bewegt der Mann mit dem üppigen grauen Einstein-Schnauzer und der kräftig gefurchten Stirn die Lippen. Viele Stunden hat er hier beim Bau geholfen, die ganze Strecke vom Stichweg zum Haus und zur Garage eigenhändig gepflastert. Jetzt ist dieser Weg von rußigen Ziegelbruchstücken übersät.

Während der ganzen Zeit fragt sich Simon nicht ein einziges Mal, wo seine Eltern sind. Das kommt ihm später merkwürdig vor, sehr merkwürdig. Er ist an diesem Abend nur mit einer Frage beschäftigt: Hat er das Heizgerät ausgeschaltet, bevor er ins Kletterzentrum gefahren ist?

Kapitel 2 • Schein und Sein

In der Nähe von Hamburg,Freitag, 30. Juli

Die beiden fahren nach Berchtesgaden, um ihre silberne Hochzeit zu feiern. Obwohl … feiern? So ganz dankbar, glücklich und gefühlig? Schatzibär, du bist das größte Geschenk meines Lebens? Oder: Ohne dich bin ich nur ein tönendes Erz, eine klingende Schelle, ein Nichts.

Nein, nimmt man derlei Gefühlsduselei als Maßstab, kann von Feiern nicht die Rede sein. Sagen wir besser: Sie begehen ihre Silberhochzeit, wickeln sie ab, erledigen sie. Wie den TÜV beim Auto. Den feiert man schließlich auch nicht und ist nur froh, wenn man ihn hinter sich hat. Denn um die Ehe der beiden steht es schon lange nicht mehr gut. Sie ist geprägt von Misstrauen. Von Enttäuschung. Von leeren Routinen.

Warum dann aber dieses ganze Brimborium mit Wegfahren, teurem Hotel, Watzmannbesteigung? Ganz einfach: Wat mutt, dat mutt.

Weil es die Gesellschaft, die Tradition, das Außenbild so erfordern. Wenn sie nach Lübeck zurückkommen, werden sie in ihren Kreisen eine Menge zu erzählen haben. Man ist weggefahren, hat etwas Exklusives unternommen, und für das ihnen servierte Essen hat der Koch natürlich vier von drei möglichen Michelin-Sternen eingeheimst. Eine Ehe wie eine Filmkulisse im Studio Babelsberg. Nicht echt, alles nur gestellt, zum Vortäuschen und Blenden. Aber immerhin: Sie sind ihre eigenen Kulissenschieber.

Doch hinter der Fassade brodelt es. Jederzeit kann der Kessel explodieren. Oder ein Ventil geht hoch, und der Druck entweicht in Form eines heftigen Streits. Ein Gedanke treibt sie beide um: Hätten wir sie nur schon hinter uns, die Silberhochzeit!

Für die kommenden sieben Tage haben sie sich ein Ziel gesetzt. Auch ein Programm gibt es. Die gemeinsame Zeit ist durchgetaktet. Denn nichts ist zwischen unharmonischen Eheleuten schlimmer als stumme Stunden, Leerlauf und ungewollte Zweisamkeit. Eigentlich wollten sie ein befreundetes Paar mitnehmen. Dann wäre alles erträglicher. Die beiden Frauen. Die beiden Männer. Man kann sich als Paar aus dem Weg gehen. Aber niemand wollte sie begleiten. Ach, sehr nett eure Einladung, aber wisst ihr, bei so einer intimen Feier, da wollen wir euch nicht stören, mussten sie sich anhören. Auch die Kinder können erst am Tag der Silberhochzeit nachkommen. Darum also ein durchgetaktetes Programm wie im Aktivurlaub. Sie, die Planerin, hat es zusammengestellt und den Zettel auf seinen Schreibtisch im Haus am Brink gelegt:

Freitag

Anreise

Samstag/Sonntag

Training

Montag

Aufstieg zum Watzmannhaus und Übernachtung dort

Dienstag

Aufstieg zum Hocheck und Überschreiten des Watzmanngrats, Abstieg durchs Wimbachgries, abends Essen mit Alina und Malte

Mittwoch

Watzmann-Therme, Wellness

Donnerstag

Rückreise gemeinsam mit den Kindern

Auf den Watzmann geht man nicht einfach so. Schon gar nicht, wenn man von der Küste stammt. Obwohl sie schon oft in Berchtesgaden waren. Auch sonst viele Gipfel in den Alpen erklommen haben. Getrennt voneinander seit Wochen gejoggt oder ins Fitnessstudio in Lübeck gegangen sind. Obwohl sie alles getan haben, bedarf es eines speziellen Trainings. Für die Berge benötigt man andere Muskeln als auf dem Laufband oder beim Kieser-Training. Steigmuskeln. Klettermuskeln. Auch Nervenmuskeln. Mutmuskeln. Durchhaltemuskeln.

Das ist der Plan für die Tage in Berchtesgaden: Sport, Sport, Sport. Raus, raus, raus. Dann sitzt man nicht so eng aufeinander, vermeidet explosive Situationen, hält Distanz, wenn man sich für die große Tour mit kleineren Anstiegen wie auf den Grünstein oder die Gotzenalm warm läuft. Das Adrenalin wird die Laune aufbessern. Wer weiß, vielleicht lassen sie sogar die vielen gemeinsamen Bergurlaube Revue passieren. Ein bisschen Eintracht kommt dann womöglich doch noch auf. Als sie sich kennenlernten, da haben die Berge sie sehr miteinander verbunden. Ob Klettern, Wandern oder Skifahren, als Norddeutsche waren die Berge für sie ein besonderer Kick. Adrenalinorte eben. Früher auch mal Liebesorte.

Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. Auch sie kennen die Magie des Verliebtseins. Das Sichberauschen am anderen. Die völlige Ausschaltung des Ichs. Nur das Du zählt. Der temporäre Liebeswahn. Doch bis zur Silberhochzeit lässt sich der nicht aufrechterhalten. Weil es halt doch ein Ich gibt, das sich von Monat zu Monat mehr zu Wort meldet und fragt: Wo bleibe ich, wenn ich nur an dich denke, nur für dich handle, mich nur um dich drehe?

Stark Besoffene kommen in Ausnüchterungszellen. Erst langsam, beim Nüchternwerden, realisieren sie, wie fremd sie sich selbst im Rausch waren. Auch Ehen entpuppen sich mit der Zeit oft als Ausnüchterungszellen. Jeder für sich merkt, wie beseelt, berauscht, bekloppt man am Anfang war. Der Alltag erdet den Rausch. Wenn es gut geht, wird aus Verliebtsein Liebe. Aber viele Ehen drohen in Leerlauf, Entfremdung, Abneigung und manchmal sogar Hass abzugleiten.

Bei ihnen kam die Entfremdung schleichend. Es war ein Prozess, bei dem sie feststellten, dass sie zwei Planeten mit eigenen Umlaufbahnen waren. Die Silberhochzeit ist der unausgesprochene Versuch, noch ein Mal die alte Herrlichkeit vom Beginn ihrer Beziehung aufleben zu lassen. Mit einer Fahrt in die Berge, nach Berchtesgaden, zum Watzmann. Das vertraute Gebirge. Kein Liebesurlaub, nein, das geht nicht mehr. Dafür ist zu viel vorgefallen in den letzten fünfundzwanzig Jahren. Aber noch einmal den Watzmann besteigen, den Grat überschreiten. Am Abend davor auf der Hütte übernachten. Das erspart ihnen das Problem, in den Tag der Silberhochzeit hineinfeiern zu müssen. Denn um zweiundzwanzig Uhr ist Hüttenruhe. Da kann es um Mitternacht gar nicht mehr so gefühlig werden, weil man längst schläft. Nach der Watzmannüberschreitung am Dienstag werden sie abends mit Alina und Malte, ihren erwachsenen Kindern, im Hotel essen. So entsteht auch da kein peinliches Schweigen.

Sie haben sich abgesichert. Wenn sie nach Lübeck zurückkommen, werden sie von einer traumhaften Feier berichten. Schon lange sind sie Meister darin, ihre gegenseitige Abneigung vor anderen zu verbergen. Bei Empfängen oder Einladungen turteln sie wie junge Tauben, flirten wie flippige Teenies, werfen sich sogar Koseworte zu. Hase, Maus, Schatz. Das Kulissenschieben beherrschen sie. So auch der Plan für die Silberhochzeit. Ein paar Glücksfotos. Ein echt wirkendes Lächeln Arm in Arm. High Five von der Mittelspitze des Watzmanns. Die perfekte Fassade. Sie stand, sie steht und sie wird stehen.

Seit Kurzem aber fürchtet Stefan Wineke, dass genau diese Fassade trotz der jahrelangen Arbeit einstürzen könnte. Denn seine Frau hat die sorgsam austarierten Kräfte zwischen ihnen gehörig ins Wanken gebracht. So zumindest sieht er es. Er ist geladen. Auch der Mercedes-Maybach in der S-Klasse, mit dem sie gerade nach Berchtesgaden fahren, kann zu einem Faraday’schen Käfig werden. Blitze von außen wehrt er ab. Was aber, wenn es im Käfig blitzt?

Jetzt ist die Gelegenheit gekommen, Heike wegen der Lübecker Gerüchte zur Rede zu stellen. Von wegen Silberhochzeit und zur Schau gestelltes Glück in Dosen. Schon beim Fahren durch den Elbtunnel hält er es nicht mehr aus.

»Ganz Lübeck redet über dich! Man hat dich mit ihm im Café gesehen. Du bist zur Lachnummer verkommen!«, donnert er los und wartet auf Heikes Reaktion. Er will sie provozieren. Endgültig die Bestätigung haben, dass sie ein Verhältnis hat. Mit Pascal, dem Freund ihres Sohnes Malte. Pascal ist gerade mal fünfundzwanzig Jahre und damit gut halb so alt wie sie.

»Reg du dich mal nicht so auf …«, gibt sie nur zurück und schaut seitlich aus dem Fenster auf die vorbeifliegenden Felder und Wälder. Ein Dementi klingt anders.

Für Stefan ist es gar nicht so bestürzend, sich seine Frau in den Armen eines jungen Liebhabers vorzustellen. Er weiß um sein eigenes Fremdgehkonto. Was ihn jedoch quält, ist die konkrete Person, die als Geliebter seiner Frau gehandelt wird: Pascal Holtmann ist der Sohn seines Intimfeindes Olaf Holtmann. Mit ihm hat sich Stefan schon so manchen Streit geliefert. In wenigen Wochen ist die Wahl zum Vorsitzenden im Wirtschaftsausschuss der Lübecker Bürgerschaft. Da werden sie beide gegeneinander antreten. Eine jahrelange Feindschaft erlebt dann ihren endgültigen Showdown. Es wird einen Sieger und einen Verlierer geben. Etwas dazwischen gibt es nicht. Er oder Holtmann. Nicht, dass die Position dieses Vorsitzes so wichtig wäre. Aber es geht um Macht, Sieg und Geweihzeigen. Und ausgerechnet mit dem Sohn dieses widerlichen Arschloches, mit diesem Sohn, soll seine Frau ein Verhältnis haben.

Damit wird er zu Olaf Holtmanns Lachnummer. Dass dessen Sohn ein Versager ist, hat sich herumgesprochen. Na, für Heike Wineke reicht er noch, wird Holtmann senior spotten. Harald Singer, Prokurist der Reederei Wineke & Söhne und sein persönlicher Berater, hatte ihn, Stefan, deswegen sehr ernst angesprochen. Wenn seine Alte, so nannte der dreiste Singer seine Frau Heike tatsächlich, wirklich etwas mit dem Sohn von Holtmann habe, könne er alle weitergehenden Ambitionen streichen. Vorsitzender des Wirtschaftsausschusses wäre dann die letzte Sprosse seiner Karriereleiter. Wenn er das überhaupt würde, angesichts der fatalen Gerüchte. Es sei denn, er bringe seine Frau dazu, diesen Pascal Holtmann für immer vom Acker zu jagen.

»Wer im Glashaus sitzt und so weiter, du kennst das ja …«, spricht Heike nach einer Weile leise vor sich hin. Ihr sind zahllose Affären ihres Mannes im Lauf der Jahre zu Ohren gekommen. Erst vor Kurzem hat sie erfahren, er habe sich mit einer Praktikantin im Sekretariat der Reederei vergnügt. Die sei gerade einmal zwanzig gewesen. Klein, dumm, aber mit hochgepuschten Möpsen. Sie weiß, da gehen bei ihm die Sicherungen durch. Für ihn war es eine einfache Übung, so eine Göre anzubaggern. Der große Reeder Wineke. Ein kleiner Onassis, der mit Geld, Macht und teurem Rasierwasser eine junge Angestellte mit einem Fingerschnippen flachlegt. Was will er ihr also vorwerfen? Die Zeiten sind vorbei, wo es junges Gemüse nur für ältere Herren gab, pah!

Stefan war schon während ihrer Schwangerschaften auf sexuellen Nebengleisen unterwegs. Das haben ihr damals Freundinnen zugesteckt. Nur weil sie während und nach der Schwangerschaft mal keine Lust hatte, nahm er sich das heraus. Das blieb so bis heute. Er holt sich das, was er braucht. Ohne Rücksicht auf sie. Sie ist überzeugt, dass er sexsüchtig ist. Natürlich streitet er alle Affären ab, wenn sie ihn darauf anspricht. Er, der erfolgreiche Reeder, ist für die bürgerliche Galerie natürlich ein treuer Ehemann. Wie sich das gehört. Aber sie nimmt die Gerüchte wahr, die keine sind. Sie entsprechen den Tatsachen. Sie riecht das fremde Parfum, sieht beim Waschen den Lippenstift am Hemdkragen.

Wenn sie sich fragt, wann sie begonnen haben, sich zu entfremden, dann denkt sie an die Streitgespräche um das dritte Kind. Sie wollte noch ein Kind, er aber nicht. Diese stundenlangen Diskussionen! Diese vollkommen unterschiedlichen Ansichten vom Leben! Dieses Genervtsein von den Argumenten des jeweils anderen! Tränen, knallende Zimmertüren, Drohungen. Damals ging es auch los, dass er beim Sex oft kniff, auswich, sich davonstahl. Er begründete es mit der Angst, sie wolle ihm ein drittes Kind unterjubeln. Damals schon hätte sie einen Cut machen müssen. Wie merkwürdig, trotz solcher Gräben zusammengeblieben zu sein. Wenn sie jetzt manchmal darüber nachdenkt, staunt sie. Mit seinen Vorwürfen und Anklagen demütigt er sie seit fünfzehn, zwanzig Jahren. Seit einigen Jahren haben sie gar keinen Sex mehr miteinander. Doch ist die Liebe in der Mitte des Lebens ohne Sex am Leben zu erhalten? Oder wenigstens mit flüchtigen Küssen, Umarmungen, einem Streicheln über die Hand?

Kapitel 3 • Überraschungen

Hotel Edelweiß, Berchtesgaden,Freitag, 30. Juli

Nein, die Ehe der Winekes existiert fast nur noch auf dem Papier. Aber sie ist scheinbar unauflöslich. Sonst wäre Stefan schon lange davongelaufen, weil er seine Frau als frigide empfindet. Und Heike hätte ihm den Laufpass gegeben, weil er ein sexueller Schwerenöter ist. Sie leben nicht miteinander, sondern nebeneinander. Jeder auf seiner eigenen Spur, mit massiven Mittelleitplanken dazwischen. Warum biegt keiner ab, sortiert sein Privatleben neu, beginnt ein erfüllteres Leben?

Der Sachzwänge wegen.

Die Reederei, die Stefans Vater gehörte, haben alle drei Söhne geerbt. Seine Brüder Ingo und Hanno hält Stefan für geschäftsunfähig. Sie sind zwar auch in der Wirtschaft tätig, aber in der Gastwirtschaft, wie er bei den wenigen Treffen mit ihnen offen lästert. Ingo ist Pianist in einer Berliner Hotelbar. Außerdem schlägt er sich mit ein wenig Privatunterricht am Klavier durch. Er lebt mit einer überschminkten Kellnerin zusammen, säuft die Nächte hindurch Wodka Gorbatschow und schläft meist bis zum Mittag. Hanno residiert mit seiner thailändischen Frau auf Bali und betreibt dort eine Bar. Aber Stefan – und wohl auch Hanno selbst – ist nicht ganz klar, was die Bar eigentlich einbringt. Dann gibt es auch noch diese dubiosen Geschäfte, die Hanno nur andeutet. Handel mit Shishas, Armbrüsten aus dem Libanon und Matrjoschkas. All so ein Tinnef, den er in seiner Bar besoffenen Touristen aus Schweden, Deutschland oder Australien andreht.

Kurzum: Beide Brüder sind Taugenichtse, verjubeln nur das Geld der Eltern. Stefan hat sie ausbezahlt, weil er die Reederei allein besitzen wollte. Das Geld dazu gab ihm Heike. Sie stammt aus dem alten holsteinischen Adel der von Abercron. Richtig fette Pfründe. Ländereien. Halb Schleswig-Holstein. Na ja, nicht ganz. Jedenfalls war es viel, sehr viel Geld, das Heike Stefan gab. Unter einer Bedingung, nämlich stille Teilhaberin der Firma zu werden. Zöge sie ihr Geld ab, wäre dies das Ende der Reederei Wineke & Söhne.

Ihren Mann zu verlassen, das hat Heike schon oft überlegt. Aber auch sie steckt in der Ehe fest. Stefan ist ein angesehener Bürger der Stadt. Er sitzt nicht nur in der Bürgerschaft, die man so historienschwanger mit Thomas Manns Vater verbindet. Er ist auch Honorarkonsul der Republik Slowenien, Aufsichtsrat der Theater Lübeck GmbH und Mitglied im Rotary Club Lübecker Marzipan. Das bringt viele ehrenvolle Einladungen zu Empfängen mit sich, auf denen sie ihre maßgeschneiderte Mode von Clara Mertes, einer Hamburger Edel-Designerin, vorzeigen kann. Sie ist sozial engagiert bei Inner Circle, einem Club, bestehend vorwiegend aus wohlhabenden Lübeckerinnen. An der Volkshochschule gibt sie als studierte Kunsthistorikerin Kurse, ist ausgebildete Stadtführerin. Das alles ist ihr möglich durch, tja – das gute Netzwerk von Stefan Wineke. Der Leiter der Volkshochschule ist sein Parteifreund. Und mit der Tourismuschefin gibt er sich bei vielen Empfängen Küsschen links, Küsschen rechts.

Heikes sozialer Status hängt seit vielen Jahren von Stefans Stellung in der Stadt ab. Das gilt auch, wenn er abstürzt. Das bekommt sie sofort zu spüren. Wie damals, als er im Stadtrat sein Ehrenwort gab, er habe keinen Einfluss auf die Vergabe von Pachtgrundstücken zugunsten seiner Reederei im Bauausschuss genommen. Aussagen von Mitgliedern dieses Ausschusses brachten das Ehrenwort jedoch ins Wanken. Der Ruf der Winekes war ramponiert. Die Lübecker Presse berichtete tagelang von nichts anderem. Nur wagte sich niemand von den Ausschussmitgliedern vollends aus der Deckung. Bald gab es Gerüchte, Wineke habe sich mit viel Geld deren Schweigen erkauft. Jedenfalls merkte auch Heike in diesen kritischen Wochen, wie man sie beim Konditor nicht mehr ausdrücklich mit dem Nachnamen begrüßte. Als ob am Namen Wineke Gülle klebte. Ihre Friseurin war auch schweigsamer als sonst. Doch die Zeit heilte alle Wunden. Des Reeders zweifelhaftes Ehrenwort war nach einigen Monaten vergessen.

Seit einem halben Jahr kommt sie sich nun vor wie ein Pinguinküken, das seine Schale mit spitzem Schnabel zerschlägt und zu leben beginnt. So frisch, so frei, so unendlich neugierig auf das, was kommt. Ihre Schale, das war das spießige, von Rollenvorgaben geprägte Leben auf diesem sich ständig gleich drehenden Karussell der Eitelkeiten. Dieses Wichtigtun, dieses Gesehenwerden, dieses Zurschaustellen von Mode und Macht und Reichtum. Der Weg zum Glück ist das nicht. Das merkt sie jetzt immer deutlicher. Das Glück wohnt ganz woanders.

Ihr Leben steht seit einem halben Jahr kopf – wegen Pascal Holtmann. Seit er in der Fußgängerzone dieses ungewöhnliche Instrument gespielt hat. Dieser eine magische Moment, der sie genauso überrascht hat wie ihn. Er machte eine Pause, sie redeten. Er malte, interessierte sich für ihre Kurse an der Volkshochschule. Ein paar Tage später nahm er sogar an einem davon teil. Nach dem letzten Kurstermin gingen sie noch einen Cappuccino trinken. Sie lud ihn ein und staunte über sich selbst. Sich mit dem besten Freund des eigenen Sohnes in einem Café mitten in der Fußgängerzone zu zeigen war nicht ohne. Aber sie nahm das Gerede in Kauf. Es war ihr irgendwie egal. Mit fast fünfzig musste noch mal was kommen. Wer sich verliebt, verliert die Angst.

Dann kam dieser Tag, als er sie in ihrer Gründerzeitvilla am Brink besuchte. Angeblich war er mit Malte verabredet, ihrem Sohn. Sie hatten zusammen Abitur gemacht, und Malte studierte mittlerweile Physik in Hamburg.

»Malte hat dir gesagt, er sei hier?«

»Äh, nicht direkt. Ich dachte, ich schau mal … also, ich schau einfach mal vorbei.«

Er stotterte.

Sie trug Freizeitkleidung, rot-blaue, eng anliegende Leggins und Schlabberpullover, die halblangen vanilleblonden Haare waren mit einem billigen Gummi zum Zopf gebunden.

»Komm doch rein«, sagte sie und lächelte. Die Grübchen unter ihren ausgeprägten Wangenknochen zeigten sich. Auch sie war nervös. Stefan war in der Reederei. Es war früher Nachmittag. Meist kam er erst spätabends nach Hause. Oft fuhr er noch nach Hamburg, buchte sich Stundenhotels. Die hatte er doch tatsächlich bei der letzten Steuererklärung als Geschäftskosten geltend gemacht. Sie hatte es zufällig entdeckt, als die Unterlagen vom Finanzamt auf seinem Schreibtisch lagen. Vielleicht vögelte er gerade wieder eine seiner Liebschaften, sagte sie sich.

»Na los!«, ermunterte sie Pascal noch einmal zum Eintreten. Stefan hätte Pascal rausgeworfen, so groß war sein Hass gegen Olaf Holtmann. Sippenhaft. Aber ihr war das jetzt egal. Sollte er es doch versuchen. Dann würde er sie von einer ganz anderen Seite kennenlernen. Pascal war ihr Besucher. Und würde es bleiben, egal was Stefan sagte.

Sie saßen am Küchentisch und tranken Rooibostee aus alten englischen Porzellantässchen. Schon komisch, das alles. Sie löste ihren Zopf, die Haare fielen ihr ins Gesicht. Mit leicht schrägem Mund blies sie sie weg. Ein nervöses Lachen von beiden. Dann. Ja, dann. Sie sahen sich plötzlich lange in die Augen. Sehr lange. Schweigen. Die Herzen schlugen wie dumpfe Trommeln im Urwald. Und ihre Hände fanden sich irgendwie und drückten sich. Er stand auf, sie auch und dann …

Sie ist verrückt, sagt sie sich seitdem oft. Aber sie will verrückt sein! Sich das holen, was ihr Stefan Wineke vorenthält. Sich rächen für dieses jahrelange Hintergehen. Wie oft stand sie ihm gegenüber, redete mit ihm, und er schaute durch sie hindurch. War mit den Gedanken bei seinem letzten Techtelmechtel, bei Flirts, bei Bettterminen. Oder bei seinen geschäftlichen Machenschaften, bei Singers zwielichtigen Vorschlägen. Jedenfalls nicht bei ihr. Er sieht sie nicht, hört sie nicht, begehrt sie nicht.

Was hält sie noch bei ihrem Mann? Eine feste Beziehung mit Pascal einzugehen, das kann auch sie sich nicht vorstellen. Sie will sich das jetzt gönnen, genießen, das Leben auskosten. Ohne irgendein Ziel. Einfach mal ausscheren aus Normen und Traditionen. Noch nie hat sie das gewagt. Ein Hochgefühl erfasst sie bei diesen Gedanken. Kribbeln im Bauch, wie sie es noch nie gespürt hat. Aber sie kennt auch melancholische Anwandlungen. Pascal sucht in dir mehr die Mutter als die Geliebte, sagt ihr dann eine dunkle Stimme. Seine leibliche Mutter ist früh gestorben. Zur Stiefmutter hat er ein unterkühltes Verhältnis.

Trennen wird Heikes Affäre das Ehepaar Wineke wohl kaum. Ihrer beider Status, ihre finanziellen Verflechtungen, die gemeinsamen Kinder lassen ein Auseinandergehen nicht zu. Auch Stefans und Singers ehrgeizige politische Pläne sprechen dagegen. Ganz unterschwellig bindet sie auch ein gemeinsames Geheimnis aneinander, über das sie aber nie sprechen. Heike und Stefan sind zwei sich abstoßende Magnete im Schraubstock der bürgerlichen Ehe.

Spät treffen sie in Berchtesgaden ein. Der Watzmann glüht rotgolden in der Abendsonne, fast wie der Rosengarten in Südtirol. Im noblen Hotel Edelweiß checken sie ein. Sie gehen ins Hotelrestaurant, essen Saibling aus der Stanggass und wechseln dann in die Bar. Dort trinken sie eine Flasche Dom Pérignon für dreihundert Euro. Für ein erstes Foto rücken sie auf den ledergepolsterten Barhockern zusammen. Das mit den Selfies funktioniert nicht richtig. Ein Kellner springt ihnen bei und verordnet ihnen für die Fotos noch mehr Nähe. Sie posten die Bilder, jeder für sich an seine Leute in Lübeck, Hamburg und sonst wo. Man braucht fröhliche Bilder. Heike bearbeitet eins der Fotos, schneidet Stefan weg und schickt es an Pascal.

Trinke auf dich, schreibt sie dazu.

Heike und Stefan unterhalten sich über das Wetter der nächsten Tage, die geplante Tour. Bald werden sie zu alt für so eine anstrengende Unternehmung sein. Noch einmal wollen sie es wissen. Alina und Malte haben ein ganz besonderes Geschenk angekündigt. Vielleicht würden die Tage doch nicht so übel, denken sie. Der Champagner wirkt.

»Hast du den VW-Bus vorhin am Marktplatz gesehen? Die zwei Männer, die drinsaßen?« Stefans Stimme klingt nun nicht mehr so gereizt wie am Vormittag im Auto.

»Ja, Holtmann Medizintechnik.« Auch Heike ist entspannt.

»Aber es ist Freitagabend. Fahren die da nicht nach Lübeck zurück?« Stefan greift in das Schälchen mit den Erdnüssen.

»Vielleicht zu weit für ein Wochenende.«

Die beiden wundern sich nicht weiter. Olaf Holtmanns Firma ist führend im Bereich Medizintechnik. Sie hat Aufträge in ganz Deutschland und Europa. Warum nicht auch in Berchtesgaden. Der T5 ist ein Dienstfahrzeug. Gut möglich, dass die Techniker selbst in Bayern leben.

Sie bestellen noch zwei Gin Tonic. Während sie stumm daran nippen, sehen sie durch die Glastüren der Bar einen silbernen Audi A4 am Hoteleingang vorfahren. Lübecker Kennzeichen. Sie staunen nicht schlecht, als sie erkennen, wer da aussteigt.

Kapitel 4 • Wagnisse

Lübeck,Freitag, 30. Juli

Pascal Holtmann ist nicht gerade das, was man einen Schönling nennt. Seine Dreadlocks erinnern an die verstaubte Matte eines thailändischen Massagesalons. Die Nase ist ein bisschen knollig, die dünnen Lippen umrahmt ein zotteliger Vollbart. Meist trägt er eine verwaschene ausgebeulte Kapuzenjacke. Doch all das nimmt man nicht mehr wahr, wenn man in seine apfelgrünen Augen schaut. Funkelnde Perlen im weißen Sand der Algarve.

In seinem Smartphone sucht er eine Bahnverbindung nach Berchtesgaden. Er ist in eine Frau verliebt, die silberne Hochzeit feiert. Das klingt für ihn gar nicht so absurd, wie man meinen sollte. Als er noch Philosophie studiert hat, las er viel Sartre und Beauvoir. Das von ihnen vertretene Modell der freien Liebe, fernab von bürgerlichen Konventionen, hat ihn angesprochen. Jean-Paul und Simone, sie sind jetzt seine Kronzeugen. Seine Gewissensstärker. Sie geben ihm mit ihrem freien Denken den Mut, sich seine Zuneigung, ja Liebe zu Heike Wineke nicht einfach verbieten zu lassen.

Für ihn und Heike gab es den magischen Moment. Von solchen Augenblicken zehren viele Paare, gerade wenn die Liebe im Alltag untergeht. Der zauberhafte Anfang, der die Beziehung mythisch erhöht. Er saß auf einem ausklappbaren Angelhocker in der Breiten Straße in Lübeck, direkt vor dem Rathaus. Sein Vater ging dort als Mitglied der Bürgerschaft und einflussreicher Unternehmer ein und aus. Pascal hatte sich von seinen Ersparnissen eine Handpan gekauft. Ein ziemlich neues Musikinstrument. Zwei Halbkugeln aus Blech, die aufeinandergeklebt waren. Pascal hielt sie auf dem Schoß. Er entlockte den sieben Tonfeldern auf der Oberfläche durch sanfte Schläge mit den Händen sphärische Klänge. Im geschäftigen Treiben der Fußgängerzone waren die Klänge leicht zu überhören. Aber sie überhörte sie nicht.

Heike Wineke blieb stehen, hörte ihm lange und andächtig zu. Nach dem Stück sprach sie ihn an. Sie freue sich, dass er mit Malte befreundet sei. Bei der Abifeier hätten die beiden ganz schön viel getrunken, sie habe sie beobachtet, lachte sie und zeigte ihre makellos weißen Zähne. Obwohl – so makellos waren sie nicht, zwischen den oberen Schneidezähnen entdeckte er eine gar nicht so kleine Zahnlücke. Er war wie gebannt, obwohl er nicht zuordnen konnte, woher seine Faszination kam.

Sie schauten sich schweigend in die Augen. Länger als normal. Sie wiegte ganz leicht den Kopf hin und her. Die Verzauberung nahm ihren Lauf. Diese wohlhabende Unternehmersgattin hatte ihn einfach so angesprochen. Obwohl ihr Ehemann und sein Vater erbitterte Gegner waren. Er ahnte intuitiv das Verbindende zwischen ihr und ihm. So wie er unter seinem Vater litt, litt sie unter ihrem Mann. Beide Unternehmer waren Alphatiere, nur auf sich und das eigene Ansehen bedacht. Machtgeil. Keine Rücksicht auf die, die ihnen anvertraut waren. Ehefrau oder Kind, sie kamen gleichermaßen unter die Räder, wenn sie nicht in den ihnen zugedachten Rollen funktionierten.

Heike lobte ihn für die Musik mit der Handpan. Sein Vater hatte ihm genau deshalb wenige Minuten zuvor eine Szene gemacht. Er sei eine Schande für die Familie Holtmann! Sich vor dem Rathaus mit diesen Suppenschüsseln aufzubauen und die Passanten mit seinem Geklopfe zu belästigen! Wo er sich über Jahre hinweg einen guten Ruf erarbeitet habe! Bald werde er sogar der Vorsitzende des Wirtschaftsausschusses der Hansestadt. Wenn, ja wenn ihm nicht sein Sohn den Ruf ruiniere! Er sei ein nichtsnutziger Student!

Die Szene war laut und unschön. Viele, die an ihnen vorbeigingen, schüttelten den Kopf. Aber Pascal wollte sich nicht wieder von seinem strengen Vater unterkriegen lassen. Er war jetzt fünfundzwanzig Jahre alt. Sein Vater hatte ihm nichts mehr zu sagen. Deshalb war er aus der elterlichen Villa ausgezogen, lebte seitdem in einer winzigen Wohnung nicht weit entfernt vom Holstentor.

Mit Straßenmusik und Gelegenheitsjobs hielt er sich über Wasser. Er war nicht mehr auf die väterliche Kohle angewiesen. Und genau deswegen hörte er nach dem peinlichen Auftritt des Vaters vor dem Rathaus auch nicht auf, die Handpan zu spielen. Heike, ihr Lächeln belohnten ihn dafür. Er hatte sich nicht von seinem Vater beugen lassen. War mit seinem Instrument geblieben. Sonst wäre es auch nicht zu der Begegnung mit Heike, zum magischen Moment, gekommen. Ihr unbeschwertes Lachen, die Zahnlücke.

Auch wenn er jetzt mit seinem Studium der Kunstgeschichte nicht gerade auf sicherem beruflichem Boden stand, würde er sich nie mehr etwas von seinem Vater vorschreiben lassen. Er hatte ihn zu diesem BWL-Studium gezwungen. Volles väterliches Stipendium, wenn er ein Studium durchziehe, das ihn perspektivisch auch in die Firmenleitung bringe. Obwohl, so stimmte das auch nicht ganz. Die Vorstellung, die riesige Firma seines Vaters einmal selbst zu leiten, hatte ihn schon irgendwie gereizt und verführt. Er war damals anfällig für dieses Denken in Aktien und Macht. Halb zog der Vater ihn, halb sank er hin. Darum das BWL-Studium. Aber das war nicht das Richtige für ihn. Er merkte es schon bald, studierte aber noch vier Semester weiter. Weil er sich nicht traute, es dem Vater zu sagen. Als er dann abbrach, tobte der. Er sei ein Versager, warf er ihm an den Kopf.

Okay, dann bin ich halt ein Versager, sagte er sich, aber ich lasse mir jetzt gar nichts mehr sagen. Nie mehr. Erst recht nicht von Danuta, seiner Stiefmutter. Sie hatte er noch nie gemocht. Seine leibliche Mutter war an Brustkrebs gestorben, da war er gerade einmal acht Jahre alt. Und dann kam diese Frau aus Polen, die eigentlich nur den Haushalt führen und auf ihn aufpassen sollte. Sie hat sich seinen Vater geangelt. Ein Leben in Reichtum und Ansehen erworben, weil sie ihn in einer persönlichen Krise erwischte. Der Tod der Ehefrau, er warf auch Olaf Holtmann einige Zeit aus der Bahn. Das war Danutas Chance.

Jetzt also stand Heike Wineke in der Breiten Straße vor ihm und sagte, sie sei von seiner Musik ganz verzückt. Fragte ihn nach seinem Studium. Fand das mit der Kunstgeschichte gut. Sie habe das auch studiert. Weil sie sich um die Kinder gekümmert habe, sei sie nie so richtig dazu gekommen, sich beruflich umzuschauen. Sie habe Bekannte, die mit ihr studiert hätten, und jetzt in Museen, Galerien oder Verlagen arbeiteten. Auch wenn man selbst male, sei das ein Vorteil, wenn man kunstgeschichtlich bewandert sei.

»Malst du?«, fragte sie unversehens. Obwohl er schon Mitte zwanzig war, duzte sie ihn – wie damals, zu Schulzeiten, als er Malte noch öfter besuchte. Ihm stockte der Atem. Noch nie hatte er mit jemandem über sein Malen gesprochen. Über seine mit nervöser Hand entstandenen Bleistiftzeichnungen. Mit ihnen bannte er apokalyptische Träumereien im Stile Alfred Kubins auf Papier. Auch Heike gegenüber öffnete er sich nur vorsichtig. Deutete lediglich an, dass es ein paar Zeichnungen gäbe. Obwohl es Hunderte waren.

»Vielleicht willst du die mal ausstellen? Bei uns in der Volkshochschule gibt es dazu eine Möglichkeit. Wenn du möchtest, kannst du dich ja mal melden. Ich könnte den Leiter fragen. Aber vorher müsste ich ein paar Bilder von dir sehen. Kannst mir ja welche zeigen, falls du Malte mal wieder besuchst.«

Mit einem unmerklichen Blinzeln ging sie davon. Am nächsten Tag meldete sich Pascal Holtmann zu einem Kurs über Lübecker Kirchenbauten und ihre Ausstattungen in der Volkshochschule an. Dozentin war Heike Wineke.

Die Fahrkarte nach Berchtesgaden und zurück würde mehr als hundert Euro kosten. Ob sich das lohnt? Nur um heimlich hinter ihr, dem Mann und Alina und Malte herzuschleichen? Zuzuschauen, wie sie trotz unglücklicher Ehe auf fünfundzwanzig Jahre anstoßen?

Das mit der unglücklichen Ehe hatte sie ihm gesagt, als sie sich das letzte Mal sahen. An der Ostsee. Timmendorfer Strand. Ihr Mann war auf Geschäftsreise. Sie hatte ihn in aller Frühe mit ihrem chiliroten Mini Cooper abgeholt, um den Sonnenaufgang an der Ostsee zu erleben. Barfuß liefen sie durch den schweren Sand die Küste entlang. Alberten rum wie Teenager. Dann saßen sie an der Spitze der Seebrücke. Sie begann zu erzählen, vom Ehemann, der durch sie hindurchsieht …

Soll er jetzt wirklich das viele Geld für ein Zugticket nach Berchtesgaden ausgeben? Was, wenn ihn Malte dort entdeckte? Der weiß ja hoffentlich nichts von ihrer Beziehung. Und wäre er dann nicht ein Spanner? Außerdem war er noch nie so richtig in den Bergen. Heike hatte erzählt, sie wollten den Watzmann besteigen. Könnte er das überhaupt, den Winekes so einfach im Hochgebirge hinterhersteigen?

Kapitel 5 • Simon

Von Berchtesgaden in die Weltund wieder zurück

Simon Perlingers Gastvater Archie schoss ohne Vorwarnung. Mehrfach. Der neunzehnjährige Tim starb noch in der Garage. Er war wie Simon als deutscher Au-pair nach Louisville, Kentucky, gekommen. Tims Gasteltern wohnten nur wenige Straßenzüge von Simons Familie entfernt. Archie war stark alkoholisiert, als er schoss. Er hatte Tim für einen Einbrecher gehalten.

So ein Ereignis gräbt sich tief in das Bewusstsein, wenn man es direkt miterlebt. Simons Zeit in den USA, das Au-pair-Jahr, sie werden für immer davon überschattet sein. Denn Tim war sein Freund. Nach dem tödlichen Schuss besorgte ihm die Au-pair-Organisation ein Hotelzimmer und psychologische Betreuung. In Archies Haus weiterzuleben, das ging nicht mehr. Dazu war er viel zu geschockt. Sein Jahr in Kentucky war ohnehin fast vorbei, ein paar Tage früher als geplant reiste Simon nach Deutschland zurück.

Wie konnte es zu dem Blutbad kommen? Wenn Simon heute, gut zehn Jahre später, daran denkt, sieht er darin auch einen Grund, warum er zur Polizei gegangen ist. In Deutschland gelten strenge Waffengesetze. Und das ist auch gut so. Wenn schon jemand Waffen einsetzt, um eventuelle Einbrecher dingfest zu machen, dann doch bitte die Polizei. Und nicht jemand wie der besoffene Archie, der einfach mal in den Wohnzimmerschrank greift und einen Neunzehnjährigen umlegt.

Simons Leben kennt Katastrophen. Darum ist er froh, wenn es Regeln und Ordnung gibt. Regeln, die solche Katastrophen eingrenzen oder gar nicht erst zulassen. Schon als Kind haben ihm die Eltern das beigebracht: Regeln sind wichtig im Leben. Man muss sie einhalten und bei anderen kontrollieren, ob sie das auch tun. Sonst funktioniert das Zusammenleben nicht. Da die Eltern ihm das immer wieder einbläuten, entwickelte sich bei Simon eine Art Kontrollzwang. Die Eingangstür des neu gebauten Hauses immer zwei Mal zuschließen! Den Zebrastreifen zur Schule immer genau in der Mitte überqueren! Das Heizgerät immer ausschalten! Stets erwischte sich Simon beim Nachdenken über diese Regeln und ob er sie eingehalten hatte. Das Leben bestand aus Ordnung und Kontrolle.

Wo ihm das als Kind besonders einleuchtete, war beim Klettern. Er verstand seinen Vater, wenn der ihm sagte: Lieber einmal zu viel als einmal zu wenig kontrollieren, ob alle Gurte und Karabiner sitzen! Bei dir UND deinem Kletterpartner! Immer mit Helm auf Klettersteige! Viele Beispiele nannte der Vater, wo nachlässiges Verhalten in den Bergen katastrophale Folgen nach sich zog.

Mit sechzehn, siebzehn Jahren begann Simon, sich für Politik zu interessieren. Im Schulunterricht lernte er, wie ein Staat funktioniert. Genauso wichtig wie die Gesetze selbst, sei die Kontrolle darüber, dass sie auch eingehalten