Lutherleben - Felix Leibrock - E-Book

Lutherleben E-Book

Felix Leibrock

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Beschreibung

Wolfgang Trödler alias Wolle, schwergewichtiger Hausmeister auf einem Campingplatz, Flirtkönig und Lebemann, fährt eines Tages mit seinen Inlineskatern gegen einen Baum. Aus dem Koma erwacht, verfügt er über ein enormes Insiderwissen zur Reformationszeit. Das Undenkbare ereignet sich: Wolle kann niemand anderes als Martin Luther sein, der große Reformator. Entsetzt erfährt er von der immer noch andauernden Spaltung der Christenheit, die er verursacht hat. Wie kann er helfen, mit Blick auf das Reformationsjubiläum 2017 diese Spaltung zu überwinden? Er macht sich auf die Suche nach einem der größten Geheimnisse der Reformationszeit und reist als Straßenmusiker an frühere Wirkungsstätten, nach Augsburg, Coburg, Worms, Eisenach, Erfurt, Wittenberg. Wird er, 500 Jahre nach den Ereignissen, den böhmischen Kelch wiederfinden? Zugleich recherchiert die Klinikseelsorgerin Sabine Harder, woher dieser merkwürdige Patient das Lutherwissen haben könnte.

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Seitenzahl: 275

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Felix Leibrock

LUTHERLEBEN

Ein Reformations-Roman

Michael Imhof Verlag

 

© 2011Michael Imhof Verlag GmbH & Co. KGStettiner Straße 25D-36100 PetersbergTel. 0661/9628286; Fax 0661/63686www.imhof-verlag.de

 

Gestaltung und Reproduktion: Michael Imhof VerlagUmschlagfoto: Britta Rehder, Apolda ISBN ePUB 978-3-7319-0095-5

 

 

 

Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft …

Philipper 4,7

Das Unzulängliche, hier wird’s Ereignis

Goethe

Hilf, heiliger Martin Luther, dass ich endlich den richtigen Mann finde …

Gebetszettel in der WittenbergerSchlosskirche im September 2010

I

Eigentlich passte Wolfgang Trödler gut zu ihr. Nur die Weibergeschichten störten.

Zur Untreue hatte Wolle, wie sie ihn alle auf dem Campingplatz riefen, viele Gelegenheiten. Da waren die Frauen von den Dauercampern unten am See, direkt an der Blauen Bucht. Die Männer fuhren oft mit dem Motorroller alleine übers Land. Stundenlang. Hatten sie eine Geliebte, die sie besuchten? Kaum dass sie am Rezeptionshäuschen vorbeigebraust waren, ging bei Wolle eine SMS der alleingelassenen Frauen ein. Mal tropfte der Abfluss, mal war die Stromzufuhr defekt. Ob er mal schnell kommen könne. In den Blockhäusern des Campingplatzes mieteten sich manchmal Frauen, alleine oder zu zweit, ein. Dort fiel nach einer Weile des Einlebens erstaunlich oft ein Bild von der Wand oder die Mikrowelle streikte. Wer konnte da schnell und preiswert helfen? Wolle hier, Wolle dort. Mit bärengleichen Schritten tappte er über den Campingplatz. Nach ein, zwei, manchmal drei Stunden kehrte er zur Rezeption zurück. Man habe ihn noch zu einem Kaffee eingeladen, gab er in solchen Situationen beiläufig Rosemarie Aicher zu verstehen, seiner Lebensgefährtin. Sie war die Pächterin des Campingplatzes „Blaue Bucht“.

War ihre Eifersucht begründet? Einmal hatte sie den Zivildienstleistenden an die Rezeption gesetzt und war Wolle heimlich hinterhergeschlichen. Sie sah ihn mit halbem Körper unter einem Wohnwagen liegen. Er fummelte an den Leitungen am Unterbau des Wagens, neben ihm stand eine blondierte Sechzigjährige aus Leuna mit von der Sonne gegerbter Haut. Aus der Ferne sah sie, wie die trotz des Alters ungeniert bikinitragende Frau einen ihrer Füße mit lila lackierten Zehen direkt auf Wolles Bauch kreisen ließ. Rosemarie stürmte auf den Wagen zu, schob die Leunaerin zur Seite. Die zischte sie herablassend an und zündete sich eine Zigarette mit Goldfilter an.

„Lass doch den Fuß ruhig auf meinem Bauch, das beruhigt“, brummte es unter dem Wagen hervor. Rosemarie streifte sich blitzschnell einen Schuh ab und stieß ihren Fuß heftig in Wolles Speck.

„Holla, Liesel, kannst es wohl gar nicht erwarten“, stöhnte er lustvoll und robbte ans Tageslicht hoch. Ihm fiel die Wasserrohrzange aus der Hand, als er sah, wer ihm da so heftig den Bauch kujoniert hatte.

„Das habe ich nur getan, um ihn zu stabilisieren, damit er nicht seitlich wegkippt“, krächzte die Blondierte und drehte den Kopf nach oben.

„Ich will Ihnen mal was sagen“, keifte Rosemarie und einige Haarsträhnen hingen ihr in die Stirn, „wie soll ein Mann seitlich wegkippen, der so dick ist wie dieser und der gerade mal waagerecht unter den Wagen passt?“

„Ach Schätzchen“, sirrte die Leunaerin jetzt und blies ihr den Rauch ins Gesicht, „reg dich ab, dein Wolle hat mir nur einen Gefallen getan, der Süße, und dafür bekommt er jetzt auch einen Kaffee von mir.“

Rosemarie funkelte Wolle an, der etwas verunsichert zwischen den Frauen stand. Betreten schaute er auf die Erde und beobachtete eine Ameise, die ein weißes, für ihren Körper viel zu großes Ei auf dem Rücken transportierte.

„Ich werde dann wohl besser mal zur Rezeption gehen und wieder Gäste empfangen“, nuschelte er. Rosemarie stürmte schnaubend davon. Wolle gemächlich hinterher. Rosemarie konnte nicht mehr sehen, wie er der Liesel freundlich zuzwinkerte.

Wie sollte Rosemarie mit ihrer Eifersucht umgehen? Bis dahin war es nur ein Verdacht. Jetzt wusste sie es: Da war mehr zwischen Wolle und dieser Liesel aus Leuna als nur gemeinsames Kaffeetrinken. In ihr stiegen Bilder auf, Wolle in den Armen der Lederhäutigen, ihre lila Nägel in sein speckiges Rückenfleisch eingebohrt, es war zum Verzweifeln. Warum schämte Wolle sich nicht, ein solches Lotterleben zu führen? Sie beschloss, sich die Eifersucht einfach zu verbieten. Leicht gesagt. Sie wachte oft nachts auf, weil sie die Bilder nicht loswurde. Aber was war die Alternative? Wolle wegzujagen aus ihrem Leben? Das ging nicht. Sie war überzeugt, er liebte sie trotzdem. Doch, er passte gut zu ihr und zu ihrer Lebenslage, obwohl er dreizehn Jahre jünger war. Nur die Weibergeschichten störten.

„Moin, moin“, lachte ihm das Rentnerehepaar aus Cuxhaven entgegen, während er ihnen die Chipkarte und die anderen Unterlagen für den Campingplatz ins Auto reichte. „Wat is denn dat für’n Shietwetter, Wolle?“

„Na, ihr von der Küste müsst es ja wissen, wie das mit dem schönen Wetter ist!“, lachte er zurück. Der Regen prasselte auf das Dach der Rezeption. Durch die Scheibe des Holzhäuschens war Rosemarie zu erkennen, die die Mappen mit den Unterlagen für die neu eintreffenden Camper vorbereitete. Sie winkte dem norddeutschen Ehepaar zu, das schon seit vielen Jahren zum Urlaub an den Stausee kam.

Wolle zeigte den Neuankömmlingen die Richtung an, in der ihr diesjähriger Stellplatz lag. Handwerklich begabt, humorvoll, meist gut gelaunt, war Wolle auch äußerlich eine imponierende Erscheinung: Ein Brustkorb wie ein Panzerschrank, über den das lange weiche Haar seines ergrauten Vollbarts wallte. Obwohl nicht außergewöhnlich groß, füllte er mit seiner Tonnengestalt jeden Raum aus, vor allem wenn er dazu seine sonore Bassstimme ertönen ließ. Die alte Hornbrille auf der Stupsnase verlieh ihm etwas Verschmitztes. Mit seinen gerade mal fünfzig Jahren strahlte er etwas Väterliches, Beschützendes aus. Rosemarie bot ihm ein behagliches Zuhause und eine berufliche Perspektive. Sie beschäftigte ihn als geringfügig Verdienenden, darüber hinaus konnte er sich aus der Haushaltskasse bedienen. Das tat er vor allem dann, wenn er in die Stadt fuhr, um es sich, wie er es nannte, mal so richtig gut gehen zu lassen. Bezogen war das vor allem auf kulinarische Abenteuer. Vom Schweinebraten über die heiß geliebte Käsesahnetorte bis zum Latte Macchiato bei Giovanni, dem Italiener. Den Campingplatz hatte Rosemarie vor fünf Jahren übernommen, nachdem ihr Mann Eberhard an Lungenkrebs gestorben war. Anfangs tat sie sich schwer. Sie kannte sich nicht mit Buchführung aus, hatte keine Ahnung von Steuern und Versicherungen, von den vielen technischen Erfordernissen eines Campingplatzes ganz zu schweigen. Bis zum Tod ihres Mannes hatte sie die Gaststätte Seeklause auf dem Campingplatz geführt. Mit einem besonderen Angebot von Rosemarie hatte die Seeklause großen Zuspruch erfahren: Die Hobbyangler unter den Campern hatten die Möglichkeit, die in der Frühe in der Blauen Bucht geangelten Fische bei ihr abzuliefern. Sie bereitete sie ihnen am Abend zu einem Sonderpreis zu, mal die Forelle nach Müllerin Art, mal den Saibling gedünstet in Riesling-Senfsauce, immer mit Dill oder Mangold von der Blauen Bucht. Ihr Mann hatte den Campingplatz von der Gemeinde gepachtet, Rosemarie war seine Unterpächterin. Was sollte aber nach dem Tod von Eberhard geschehen? Ehe die Gemeinde ihr einen anderen Betreiber vor die Nase setzte, ging sie selbst zum Bürgermeister und sagte keck: „Ich mach es!“ Sie stellte einen Hilfstechniker auf Honorarbasis ein, außerdem Saisonkräfte vom Arbeitsamt und, weil der Campingplatz als besonders behindertenfreundlich zertifiziert war, immer wieder Zivildienstleistende. Für die Seeklause fand sich eine frühere Schulkameradin, die Rosemaries Tätigkeit fortführte.

„Goeden dag!“ Überschwänglich begrüßte Wolle die Insassen eines Wagens mit holländischem Kennzeichen. Ein junges Ehepaar grüßte zurück. Im Fond saßen zwei kleine Kinder und eine etwa 50-jährige Frau, die junge Großmutter. Ihr nickte Wolle vertraut zu und strich sich den Bart. Er kannte die Familie vom letzten Jahr. Die Großmutter hatte die Kleinen gehütet, wenn die Eltern in die Stadt fuhren oder am See einen Badenachmittag verbrachten. Da hatte er sich mit der Großmutter, die gar nicht wie eine aussah, angefreundet und bei ihr Unterricht in Niederländisch genommen. So hatte er die Stunden bei ihr jedenfalls gegenüber Rosemarie gerechtfertigt. Man brauche als Hausmeister und Empfangschef bei den vielen Gästen mit den gelben Autokennzeichen ein paar elementare Sprachkenntnisse. »Tja«, hatte Rosemarie nur geseufzt. Kaum waren die Holländer eingewiesen, kamen Hans-Peter und Ursel Schmitz aus Köln mit ihrem schweren Wohnmobil, Rheinländer durch und durch und im siebzehnten Jahr Gast; das Ehepaar Beauchamp aus Lothringen, das seit Jahren auf seiner Fahrt an die Ostsee einen mehrtägigen Zwischenstopp machte; die Steiners aus Sachsen, die mit Ingo, ihrem erwachsenen, spastisch gelähmten Sohn öfter im Jahr für eine Woche an der Blauen Bucht urlaubten; Omlors und Ruffings, zwei Ehepaare aus dem Saarland, die Wolle und Rosemarie auch dieses Mal mit launischen Fragen begrüßten: „Wo han ihr dann die Sunn vaschteggeld? Hanna es Bier kald geschtelld?“

Zu Dutzenden trudelten sie an diesem Freitagnachmittag aus ganz Deutschland und den Nachbarländern ein, altbekannte Gesichter für Rosemarie, aber auch schon für Wolle. Sie alle hatten ihn von Anfang an als Rosemaries Neuen akzeptiert.

Kennengelernt hatten sich Wolle und Rosemarie vor vier Jahren bei einem Linedance-Kurs des nahe gelegenen Country-Clubs. Linedance, jener steifbeinige Tanz, bei dem sich die Teilnehmenden mit emotionslosen, ja gefrorenen Gesichtern wie erratische Blöcke hin- und herschoben, mit angewinkeltem Daumen in der Gürtelschlaufe der Bluejeans, - der Tanz entsprach mit seiner streng fixierten Choreographie den psychotherapeutischen Bedürfnissen Rosemaries in dieser Lebensphase. Der überraschende Tod von Eberhard hatte ihren Seelenhaushalt komplett durcheinandergeworfen. Was sie suchte, war Ordnung, Halt, Orientierung, wie sie der Linedance offerierte. So gönnte sie sich einmal pro Woche die Tanzstunde. Auch war es wichtig, den Kontakt mit dem Country-Club zu pflegen. Der rührige Clubchef Harry Lohmann, genannt Howdie, unterbreitete Freizeitangebote, über die Rosemarie die Campingurlauber gerne kompetent informieren wollte. Nach der Tanzstunde saß man noch auf einen Whisky zusammen, schaute von der Ranchterrasse auf El Condor Pasa, das 23 Jahre alte Westernpferd, das beim Country-Club sein Gnadenbrot fraß. Alle gemeinsam beratschlagten über neue Aufgaben für den Club, um die klamme Clubkasse aufzubessern. Nur zu gerne wollte Howdie zwei, drei Pferde anschaffen und Ausritte für die Urlauber anbieten. Pläne schmieden war das eine, und darin waren alle im Country-Club Meister. Die Finanzen waren das andere. Da schwadronierten sie von Sponsoren, reichen Leuten aus der Stadt, die sich mit dem Country-Club eine goldene Nase verdienen könnten. Aber bisher hatte kein Sponsor diese Einschätzung geteilt und El Condor Pasa trottete weiter alleine seine müden Runden.

Insgeheim hoffte Rosemarie beim Linedance-Kurs auf eine Männerbekanntschaft. Sie brauchte jemanden, der sie auf dem Campingplatz unterstützte, aber auch einen Menschen, mit dem sie alles bereden konnte, was das Leben an Sorgen und schönen Erlebnissen mit sich brachte. Ein Herr mit gezwirbeltem Schnauzbart und edlem Cowboyhut machte ihr gleich zu Beginn des Kurses Avancen. Doch sprach er beim Whisky die ganze Zeit von seinen Arztbesuchen. Er schilderte ihr ausführlich die Prostatauntersuchung beim Urologen, begeisterte sich für die Wanderung des Koloskops durch seinen Dickdarm, die er am Bildschirm mitverfolgt hatte, und wog vor ihr selbstversunken ab, ob er seine Krampfadern in Kürze veröden, lasern oder strippen lassen sollte. Als sie auch noch sein Alter erfuhr, 72 Jahre, schied er als zupackender Mithelfer auf dem Campingplatz und auch als liebender Gatte für sie aus. Mit ihren damals 58 Jahren war sie vom Leben gezeichnet. Die rötlichen Haare dünnten aus und gaben den Blick auf die Kopfhaut an manchen Stellen frei, das Gesicht war von kleinen Falten durchfurcht und unter den Augen deuteten sich dunkle Ringe an. Die Ansprüche an einen Zukünftigen hatte sie zwar zurückgeschraubt, aber jeden würde sie deswegen noch lange nicht nehmen! Nein, lieber wollte sie sich allein durchs Leben kämpfen als beispielsweise diesen Egomanen nehmen, der ihr nur eine einzige Frage während des einstündigen Zusammenseins gestellt hatte, nämlich die, wo im Country-Club die Toilette sei.

Eines Tages war er da, wie Phönix aus der Asche: Wolle. Linedance war der einzig mögliche Tanz zwischen beiden: Er mit der Statur eines Bud Spencer, nur nicht so groß, sie einen Kopf kleiner als er, kugelrund, mit fleischigen Oberarmen. Sie trampelten in Traversen und Quadrillen vor- und nebeneinander über den knarrigen Bretterboden der Ranch zur Musik von Johnny Cash und Shania Twain den Canadian Stomp. Nach wenigen Tänzen warf Wolle mit seinen kleinen Augen lustige Blicke in Richtung Rosemarie und stampfte noch fester auf. Die kopfüber hängenden Whisky- und Ginflaschen über der Theke wackelten bedrohlich. Am Ende der Stunde lud er sie zu einem Johnnie Walker Black Label ein. Noch am selben Abend zeigte sie ihm den Campingplatz und bot ihm an, in einem der Blockhäuser for free zu übernachten. Am nächsten Morgen hackte er Holz im Freien, während sie den Kaffee brühte. Als er seinen Strammen Max schmatzend aß und Bierschinken scheibenweise verschlang, hatte sie das Gefühl, hier sei ein Leben am Ort seiner Bestimmung angelangt.

So redselig Wolle von Anfang an war, wenn es um Gott und die Welt ging, so knapp angebunden war er, wenn sie ihn auf seine persönliche Vergangenheit ansprach. Auch nach vier Jahren Zusammenleben wusste sie nur von einem abgebrochenen Jurastudium in München, von einer Zeit als Bahnkellner und von dem zermürbenden Dasein als Verkäufer in einem Möbelzentrum. Dort hatte er für einige Monate in der Bettenabteilung gearbeitet. Nach einer Verkaufsschulung musste er den Kunden mit der Frage auflauern, ob er helfen könne. Fast immer war die Antwort gleich: „Wir wollen uns nur mal umschauen!“

Er sprach nie von seinen Eltern oder Geschwistern, anderen Lebenspartnerinnen oder gar Kindern. Als er nach zwei Monaten aus seiner Stadtwohnung auf den Campingplatz in Rosemaries Wohnung über der Seeklause einzog, hatte er nur wenige Möbel und Kleider, dafür aber eine Vielzahl von Biergläsern und Weinkaraffen, Humpen, Krügen und Kelchen. Außerdem brachte er sein Akkordeon mit, mit dem er manches Mal an schwülen Sommerabenden die angetrunkenen Gäste der Seeklause beglückte. Ab und zu spielte er noch über den Beginn der Nachtruhe um 22.00 Uhr hinaus, was Rosemarie auf die Palme brachte. Denn wenn unter Campern eines heilig war, dann die Campingplatzordnung. Der Ruf der Blauen Bucht stand auf dem Spiel!

„Ich fahr noch mal eben eine Runde“, warf er Rosemarie zu, nachdem sich die Ankunftswelle der Urlauber gelegt hatte. Der Regen hatte nachgelassen, der Wald über dem Gelände war erfüllt von jubelnden Vogelstimmen.

Wolle zurrte sich den sternverzierten Helm fest und stieb mit seinen weiß-pinken Inlinern davon. Rosemarie hatte sie ihm zum 50. Geburtstag geschenkt. Sein größter Wunsch hatte sich damit erfüllt. In einem der seltenen Momente, in denen er von seinem Früher erzählte, hatte er offenbart, als Kind leidenschaftlich gern Rollschuh gefahren zu sein. Keine Frage, diesen Wunsch musste Rosemarie ihm erfüllen, auch um ihn zu weiteren Gesprächen über seine Herkunft zu motivieren. Schon bald hatte er eine Lieblingsstrecke über Rad- und geteerte Fußwege gefunden. Sie führte ihn am Country-Club und am Tiergehege vorbei zum See und um diesen herum zurück zum Campingplatz. Mit voller Fahrt brauste er jetzt das leicht abschüssige Gelände auf die Bundesstraße zu, um kurz vor der Einmündung abzubremsen und dann in scharfem Bogen in den Radweg Richtung See einzubiegen. Normalerweise war das kein Problem. Aber heute war der Teer vom Regen glatt und wie aus dem Nichts huschte ein Hase über die Waldstraße. Wolfgang Trödler versuchte, ihm auszuweichen. Er kam von der Strecke ab und raste auf eine 500 Jahre alte deutsche Eiche am Straßenrand zu. Im letzten Augenblick breitete er die Arme aus, um den Baum zu umarmen. Die Wucht war gewaltig, er schlug auf die groben Schuppen der Borke auf und kippte dann leblos zur Seite. Blut tropfte aus der Nase in den nassen Waldhumus.

II

„Wolle, mein liebster Wolle, komm doch wieder zurück zu mir“, flüsterte Rosemarie bei jedem Besuch in der Klinik. Sie saß am Krankenbett und hatte ihren Kopf neben den von Wolle gelegt. Wolle war in eine andere Welt abgetaucht. Nach dem Unfall fand ihn ein Camper, der Notarzt war zehn Minuten später da. Im städtischen Krankenhaus versetzte man ihn in ein künstliches Koma. Erst nach zwei Wochen kam er von der Intensivstation in die Neurologische Klinik. Neben drei Rippenbrüchen und einer Fraktur des linken Unterarms sowie vielen Blutergüssen, Hautabschürfungen und einer geschwollenen Nase hatte er ein Schädel-Hirn-Trauma davongetragen. Kam Rosemarie auf Besuch, erkannte er sie nur eingeschränkt: Sie war ihm eine vertraute Person, das glaubte sie zu spüren, aber er wusste ihren Namen nicht mehr. Auch erinnerte er sich nicht an die Blaue Bucht, die Seeklause, den Country-Club, überhaupt alles, was vor dem Unfall lag. Routinehandlungen dagegen funktionierten. Er arbeitete sich aus dem Bett empor und trottete zum Fenster, er aß manierlich, er konnte Zeitschriften lesen und kommentierte manche Meldung mit undefinierbaren Lauten. Manchmal suchte er Rosemaries Hand, drückte sie vorsichtig an seinen lädierten Körper oder lachte sogar mit ihr, wenn ihm etwas von der Gabel fiel. Die Ärzte wollten Rosemarie zunächst gar keine Auskunft geben, weil Wolfgang Trödler für diesen Fall nicht vorgesorgt hatte. Sie war keine Verwandte, sie war, aus Sicht der Ärzte, gar niemand mit Bezug auf ihn. Vor einem Jahr hatte die Ehefrau eines Patienten die Klinik mit einer Klage überzogen. Ein Arzt hatte einer weiblichen Person, die sich als Lebensgefährtin ausgab, Auskunft über den Patienten gegeben. Sie war die Geliebte. Auf dem Flur der Klinik begegnete sie der Ehefrau. Die erkannte die Konkurrentin und empörte sich, was sie hier zu suchen habe. Die angebliche Lebensgefährtin berichtete genüsslich vom Zustand des Mannes, den sie beide begehrten. Sie hatte einen Informationsvorsprung, sie war eher am Bett des Verunglückten. Das sollte die Ehefrau spüren. Seit der Klage der Ehefrau waren die Ärzte noch vorsichtiger mit ihren Auskünften. Erst als keine leiblichen Verwandten auftauchten und Wolle Rosemarie vor den Ärzten nicht zurückwies, erhielt sie einige Informationen. Dr. Heinrich, der Stationsarzt, sprach vom Amnestischen Syndrom und erläuterte die retrograde Amnesie, auch von posttraumatischen Belastungsstörungen war die Rede, – medizinische Fachbegriffe, die Rosemaries Angst eher verstärkten, ihr Wolle werde niemals wieder das volle Gedächtnis erlangen. Eine Prognose lehnte Dr. Heinrich ab.

Gerne hätte sie Tag und Nacht an seinem Bett gewacht, gerne hätte sie den Augenblick erlebt, wenn schlagartig wieder die Erinnerung da war. Aber auch mit kleinen Schritten der Besserung wollte sie zufrieden sein. Doch auf dem Campingplatz begann die Saison und durch den Ausfall ihres Lebensgefährten war sie doppelt gefordert. Nur jeden zweiten, manchmal jeden dritten Tag reichte es für einen Besuch in der Klinik. Sie sah ihn dann die ganze Zeit über liebevoll an, streichelte seine Hand und flüsterte ihm warme Worte ins Ohr. Einmal, als sie ihn lange beobachtete, da glaubte sie, Wolle habe sich auch körperlich verändert. Was war mit seiner Stupsnase geschehen? Sie kam ihr jetzt größer, kantiger vor. Auch die Lippen erschienen ihr voller, wulstiger. Und die Augen, waren sie nicht ein Stück tiefer in die Höhlen zurückgetreten? Das kann doch gar nicht sein, schalt sie sich selbst, jetzt fange ich an zu spinnen. Doch mit Wolle geschah etwas, was sie nicht einordnen konnte.

„Wir können uns den Zustand ihres Lebensgefährten nicht ganz erklären“, gab ihr Dr. Heinrich nach vier Wochen zu verstehen.

„Nicht ganz, was soll das heißen?“ Sie war nervös.

„Nun ja, retrograde Amnesie bedeutet häufig, der Patient kann sich nicht mehr an den Unfall erinnern, verliert aber nicht sein komplettes Langzeitgedächtnis. Herr Trödler aber ist fremd in seinem eigenen Leben, und es sieht so aus, als müsse er sich viele emotionale Kompetenzen neu erwerben. Sie sagen ja selbst, er erinnere sich nicht mehr an die vertraute Umgebung, diesen Campingplatz und alle diese Dinge. Hat er Sie denn mittlerweile wieder mit Namen angeredet?“

Rosemarie schüttelte den Kopf.

„Weiß er denn noch etwas aus seiner Kindheit? Aus den Jahren, bevor er Sie kennengelernt hat? Sie kennen sich doch erst ein paar Jahre, sagten Sie das nicht?“

Sie schwieg und empfand die Fragen als peinlich. Sie wusste so gut wie nichts über Wolles Vorleben. Wieso sollte sich das gerade in seinem jetzigen Zustand ändern? Das war doch eigentlich nicht normal, mit einem Menschen zusammenzuleben, über den man fast nichts wusste!

„Das Ganze ist etwas rätselhaft, weil wir keine Blutungen im Gehirn, keine Hypoxie oder andere Befunde haben, die einen Gedächtnisverlust in dieser Form plausibel machen.“

Ein unsicheres Zucken ging durch Rosemaries Gesicht.

„Passen Sie auf, Frau Aicher, wir haben bei unserem Konsilium erwogen, Herrn Trödler in eine spezielle Reha-Klinik zu verlegen. Die Klinik in Sachsen hat Einrichtungen und Behandlungsmöglichkeiten für Patienten mit ungewöhnlichen Formen der Amnesie. Dort wird er einige Zeit bleiben und wir hoffen auf die Regenerationsfähigkeiten des Gehirns.“

Nach Sachsen, schoss es Rosemarie durch den Kopf. Sie klammerte sich an der Stuhlkante fest. Da kann ich ihn ja kaum besuchen, ohne Führerschein. Der Campingplatz, die bevorstehende Hochsaison, wer hält ihm dann die Hand? Wird er nicht völlig vereinsamen? Wer hilft mir an der Rezeption? Beim Einchecken der Gäste? Bei Reparaturen?

„Frau Aicher, hallo, sind Sie einverstanden?“, holte sie Dr. Heinrich aus ihren Gedanken. Sie nickte. Was sollte sie auch anderes vorschlagen?

„Gut, dann können Sie sich ja heute von ihm verabschieden und morgen bringt ihn ein Krankentransport in die Reha.“

Dr. Heinrich wandte sich der Patientenmappe zu und füllte Formulare aus. Die farblose Gardine am Fenster wehte im Wind. Draußen nieselte es in dünnen Fäden vom Himmel. Leise verließ Rosemarie den Besprechungsraum. Wolle war schon eingeschlafen. Lange sah sie ihn an. Was war nur mit Wolle los? In welche Welt war er abgetaucht? Sie schloss die Tür und ging an der Glaskabine vorbei, hinter der sich die Schwestern aufhielten. Dr. Heinrich unterhielt sich angeregt mit ihnen. Eine Schwester in blauer Dienstkleidung aß ein Stück Pflaumenkuchen. Einige Fliegen schwirrten unruhig zwischen Flur und Glaskabine hin und her. Für einen Augenblick hatte Rosemarie einen schrecklichen Gedanken: Verschwieg man ihr in der Kinik etwas Entscheidendes? Hatten die Ärzte Wolle am Gehirn operiert, mit Fehlern, die sie jetzt vertuschen wollten?

Am nächsten Morgen brachte ein Krankentaxi Wolfgang Trödler in die mehrere Autostunden von der Blauen Bucht entfernte Klinik. Der neue Patient ordnete sich gut in die Abläufe der Klinik ein, saß immer pünktlich im Speisesaal und nahm alle Therapien wahr. Manchmal klingelte das Stationstelefon für ihn. Wenn ihm die Schwester den Hörer brachte und sich am anderen Ende eine „Rosemarie“ meldete, sagte er gar nichts, drückte sie aber auch nicht weg. Die Frau redete von neuen Dauercampern, von einem Stromausfall, vom Zahnweh El Condor Pasas. Neugierig sah er bei diesen Worten aus dem Fenster in die hohen Pappeln des Parks.

„Mein lieber Wolle, nächsten Mittwoch komme ich dich besuchen“, sagte die Stimme eines Tages.

Der Angesprochene hatte keine Ahnung, welche Mühen es Rosemarie bereitet hatte, sich diesen Tag freizuschaufeln.

„Wolle, hast du gehört, ich komme zu dir! Die Steiners nehmen mich auf ihrer Fahrt nach Hause mit. Stell dir vor, ihr Ingo macht in der gleichen Klinik wie du eine Reha. Dann werden dich die Steiners öfters besuchen!“

Wolle starrte stumm das Telefon an.

„Wolle, hallo, hörst du mich?“

Rosemarie erwartete wie immer keine Antwort, wenn sie mit ihm telefonierte. Schon wollte sie auflegen, als in das leichte Rauschen der Funkverbindung zwei leise Worte vom anderen Telefon fielen:

„Mit Akkordeon.“

Rosemarie verschluckte sich fast vor Aufregung. War das Wolles Stimme? Oder hatte das jemand anderes für ihn geflüstert? Aber Akkordeon, das war doch sein Instrument.

„Wolle, du möchtest das Akkordeon haben, habe ich das richtig gehört?“ Wolle hatte gesprochen, einen Satz mit Bezug auf eine versunkene Zeit, es kam ihr vor wie ein Wunder! Das Akkordeon! Die Krankheit Wolles machte sie bescheiden, demütig. Sie war dankbar für den geringsten Fortschritt.

„Klar bringe ich das mit, lieber Wolle, klar doch, mein Liebster. Na klar, sehr gerne …“

Glückswellen. Wolle begann, sich wieder zu erinnern. Längst hatte er sie weggedrückt.

Der Mittwoch, an dem Rosemarie Wolle besuchte, verging für sie wie im Fluge. Wolle hatte sie zwar anfangs finster angeschaut, wie eine Fremde. Auch als sie ihm von der Blauen Bucht erzählte. Von den Gästen in der Seeklause, die sich schon freuten, wenn er ihnen wieder mal aufspielte. Sein Blick wirkte bedenklich, die Stirn zeigte eine bisher unbekannte Furche über der Nasenwurzel. Erst als die Steiners, die Ingo in seine Reha-Abteilung gebracht hatten, das Akkordeon ins Zimmer hereinschleppten, hellte sich seine Miene etwas auf.

„Wir werden jetzt öfter bei dir reinschauen, Wolle“, sprachen sie aufmunternd. Rosemarie erhob sich. Sie war auf Steiners angewiesen, die sie zum Bahnhof brachten. Auch Wolle stand jetzt von seinem Krankenbett auf. Rosemarie streckte sich zu ihm empor und schlang die Arme um seinen Hals, so weit das ihrer beider Leibesfülle und die ungleiche Körpergröße zuließen. Sie sah von unten direkt durch die glatten Barthaare zur Unterlippe, zur Nase. Das waren doch nicht mehr die alten Wolle-Organe, oder? Sie zweifelte. Hatten die Ärzte ihn im Gesicht operiert, um einer Entstellung vorzubeugen? Hatte sie die Schwellung des Gesichtes nach dem Unfall fehlgeleitet? Zwei Tage nach dem Unfall hatte sie ein gerahmtes Foto mit ihr und Wolle vor der Seeklause auf die Intensivstation gebracht. Das Foto stellte sie auch in der Neurologischen Klinik auf den Nachttisch. Eines Tages war es spurlos verschwunden. Die Schwester mit dem Pflaumenkuchen behauptete sogar, ein Foto habe nie auf dem Nachttisch gestanden. Hatte Dr. Heinrich bei der Visite auf diesem Foto das ursprüngliche Gesicht gesehen und ein Verschweigen der OP für sinnvoller gehalten? Doch da, erwiderten Wolles Arme nicht ganz leicht die Umarmung? Alles würde gut, glaubte sie für einen Augenblick. Was sie nicht wusste: Der sie da zu umarmen schien, war nicht mehr Wolfgang Trödler.

III

Sabine Harder legte den Bleistift zur Seite und zerriss das kaum beschriebene DIN-A4-Blatt. Zu dem Brief an die Kolosser, wie er in der Bibel stand und über den sie am Sonntag predigen sollte, fand sie keinen richtigen Zugang. So viele moralische Aufforderungen, wer wollte das noch hören! Eigentlich hatte sie sich das mit dem Predigen als Klinikseelsorgerin anders vorgestellt. Mit ihrer 50%-Stelle beabsichtigte sie den Schwerpunkt auf die Gespräche mit den Kranken zu legen. In der Woche hielt sie die Vormittage dafür frei. Dazu kamen die Notfälle, die sie jeder Zeit ereilen konnten. In die sonntäglichen Gottesdienste kamen stets neue Patienten. Ein Dutzend Predigten mit speziellem Bezug zu der Sorgenwelt von Kranken bereitete sie vor, die sie dann nacheinander hielt. Alle drei Monate begann sie den Predigtzyklus von vorne, mit einigen Aktualisierungen, wie sie die Weltgeschichte oder der Klinikalltag nahelegten. Die Predigt jedenfalls sollte nicht mehr wie zuvor im Stadtpfarramt die Arbeitszeit übermäßig beanspruchen. Schließlich hatte sie zwei kleine Kinder und einen Mann, der als Pharmavertreter viel unterwegs war. Alles das hatte sie bei ihrer Bewerbung bedacht, doch dann kamen sie: Frau Adlung und Frau Beer, zwei ältere, distinguierte Damen mit Konzertabo im Stadttheater und edlem Geschmeide an Hals und Arm. Sie wohnten nicht weit weg vom Klinikgelände. An einem eisigen Wintersonntag erschien es ihnen zu gefährlich, die abschüssige Straße in die Stadt und zur Friedenskirche zu laufen. Sie entschieden sich für den Gottesdienst in der Reha-Klinik. Es sollte eine Ausnahme sein. Ein Mal. Dieses eine Mal fanden sie aber viel bequemer. Auch predigte die Pfarrerin schön. Außerdem war ihnen als treuen Leserinnen der „Apotheken-Umschau“ und von eigenen Zipperlein her das Thema Krankheit ohnehin vertraut. Kurzum, sie entschieden sich, in Zukunft jeden Sonntag in die Reha-Klinik zum Gottesdienst zu gehen. So war es nichts mit dem einen Dutzend Predigten für Sabine Harder. Denn was gab es Schlimmeres, als wenn die Damen irgendwann erzählten, die Frau Pfarrerin predige immer das Gleiche. Ein Ehrgefühl stieg in ihr hoch. Nein, dieser Schmach wollte sie sich nicht aussetzen. So saß sie an einem Samstagnachmittag in ihrem schönen Dienstzimmer mit Blick in den Kurpark, die Birken schwankten im Wind und die Kohlmeisen zirpten im Psalmgarten. Den hatte die Klinik auf ihr Betreiben hin angelegt, finanziert von der Pharmafirma ihres Mannes. An diesem Nachmittag war er mit den Kindern in den Zoo gefahren, um ihr den Rücken freizuhalten. Nur dass ihr zu der Stelle aus dem Brief an die Kolosser partout nichts einfallen wollte.

War da nicht Musik zu hören? Draußen im Park. Das konnte sie jetzt gar nicht vertragen: Ablenkungen. Sie erhob sich, um das Fenster zu schließen. Schon hatte sie den Fenstergriff umgedreht, schon war sie einen Schritt zum Schreibtisch zurückgegangen, da drehte sie den Kopf langsam wieder in Richtung des Fensters und stutzte. Sie sah jetzt konzentriert nach draußen. Da saß ein schwerer Mann mit grauem Bart im dunkelblauen Bademantel, den Kopf über ein Akkordeon gebeugt, auf einer der neuen Parkbänke mitten im Psalmgarten. Genau dort, wo hohe Weidenruten, in ihrer Krone zusammengeflochten, eine Art Schlucht bildeten. Sie illustrierten den Vers aus dem 23. Psalm: Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal. Sie hatte den Mann noch nie gesehen. Irgendwie eine unwirkliche Szene, wunderte sie sich. Der Eindruck verstärkte sich, nachdem sie das Fenster leise wieder geöffnet hatte. Der Mann spielte nur mit der rechten Hand auf dem Akkordeon. Sie nahm eine einstimmige Melodie wahr, die etwas unbeholfen klang, wie von einem Anfänger in der Musikschule. Unablässig wiederholte der Graubärtige die Melodie, ausdruckslos, mantramäßig. Es dauerte, dann dämmerte ihr, was sie wirklich irritierte. Die Melodie war von Martin Luther. Keine Frage, der Mann spielte Ein feste Burg ist unser Gott. Jetzt sah sie, wie er die Lippen bewegte. Ja, er schien auch den Text zu brummen. Schon wollte sie in den Psalmgarten, um den Sonderling anzusprechen, da fielen ihr die Damen Adlung und Beer ein. Morgen kamen sie wieder, mit Perlenketten behangen saßen sie dann in der zweiten Reihe links erwartungsvoll vor ihr. Morgen, am Sonntag, der den Kirchennamen Kantate trug. Kantate! Singt! Darum ging es doch in diesem Brief an die Kolosser auch: … mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott! Der Mann im Park tat genau das: Ein Lied spielen und singen, das Gott als feste Burg gegen die Feinde pries. Die Klinik war auch so eine Burg. Die Feinde der Patienten waren die Krankheiten. Gott wollte mit den Menschen sein, die sich vor den Feinden fürchten. Dafür ist er zu loben mit Liedern … Jetzt hatte sie einen Zugang zum Thema des Sonntags. Kurz überlegte sie, den sonderbaren Mann mit seinem Lutherlied als Einstieg zu nehmen, entschied sich aber dagegen. Gut möglich, ja sogar wahrscheinlich, dass der Mann entweder morgen in den Gottesdienst kam oder die Übertragung ins Zimmer einschaltete! Es wäre ihm dann peinlich, sich auf diese Weise erwähnt zu finden. Auch ist die seelsorgerische Gesprächssituation belastet, wenn er sich auf diese Weise kompromittiert sieht. Nein, das würde sie nicht tun. Aber der Mann muss doch auf meiner Liste sein, sagte sie sich, nachdem sie die Predigt in einem Zuge niedergeschrieben hatte. Sie blätterte die Computerausdrucke durch. Die Klinikverwaltung hatte gestern und heute keinen männlichen Neuankömmling gemeldet, der das Kästchen „Besuch der Klinikseelsorgerin erbeten“ angekreuzt hatte. Noch einmal sah sie aus dem Fenster. Der Mann im Bademantel hatte sein Akkordeon eingepackt und trug den Koffer jetzt in Richtung der neurologischen Abteilung. Sabine Harder zweifelte, ob sie ihn wirklich nicht kannte. Er war ja eine imposante Erscheinung! Sie besuchte nicht nur die, die ausdrücklich den Besuchswunsch angekreuzt hatten, sondern auch die, die als evangelisch gemeldet waren. Dieser Mann war nicht darunter. Entweder gehörte er keiner Kirche an oder er hatte die Mitgliedschaft aus irgendeinem Grund nicht mitgeteilt oder er war katholisch. Drei Motive, die sich alle nicht mit seinem öffentlichen Auftritt im Park vertrugen. Das hatte eine besondere Bewandtnis, wenn jemand es wagt, ein uraltes Kirchenlied in einem Klinikpark zu spielen. Hatte ihn der Psalmgarten inspiriert?

Der Mann tauchte am nächsten Tag nicht im Gottesdienst auf. Frau Adlung und Frau Beer lauschten andächtig den Worten Sabine Harders und sangen das Lied nach der Predigt demonstrativ ohne Gesangbuch mit: Ein feste Burg ist unser Gott, solch ein Lied hatte man in ihrer Generation im Konfirmationsunterricht noch auswendig gelernt! Nachdem die Pfarrerin die kärgliche Kollekte gezählt und das Sakristeibuch ausgefüllt hatte, ging sie zur neurologischen Abteilung. Sie wollte den wunderlichen Mann sprechen. Die Flure waren in Pastelltönen gestrichen. In den Aufenthaltsräumen fand sie ihn nicht. Sie beschrieb den Schwestern den Musikanten im Bademantel. Schulterzucken, ungläubiges Staunen auf den ersten Stationen. War sie einem Phantom aufgesessen? Sie stieg die Treppen zum vierten Stockwerk hoch und traf auf Schwester Petra. Sie kannten sich vom gemeinsamen Volleyballspiel des Klinikteams. Kurz trug sie ihr Anliegen vor. Die Schwester wusste gleich Bescheid und flüsterte ihr zu: „Wundere dich nicht über das, was du jetzt gleich siehst.“ Am Ende des Stationsflures lag der Aufenthaltsraum. Den beiden Frauen schlug das Trommeln und Klingen Orffscher Musikinstrumente entgegen, ein bizarres Klanggemisch mit einer darüber schwebenden Melodie.