Mord am Kehlsteinhaus - Felix Leibrock - E-Book

Mord am Kehlsteinhaus E-Book

Felix Leibrock

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Beschreibung

Beliebtes Ausflugsziel wird Schauplatz des Verbrechens: Der zweite Fall für Bergpolizist Simon Perlinger Vom Gipfel des Obersalzbergs spannt sich das Panorama der Berchtesgadener Alpen bis nach Salzburg auf. Unten im Tal glitzert der Königssee. Doch an diesem Morgen hat der Liftwart Klaus Brunner keinen Blick für die imposante Berglandschaft. Beim Betreten der Kabine des legendären Kehlsteinlifts bietet sich ihm ein schauriger Anblick: Die venezianischen Spiegel, die grünen Lederbänke, die goldglänzende Innenausstattung – alles ist blutverschmiert. Sofort ist der junge Kommissar und Polizeibergführer Simon Perlinger zur Stelle, um am Tatort Spuren zu sichern. Sind dies die blutigen Spuren eines Kampfes oder gar eines Mordes? Was geschah mitten in der Nacht im Kehlsteinlift? - Band 2 der erfolgreichen Krimireihe rund um Ermittler und Bergfex Simon Perlinger - Geschichtsträchtiger Schauplatz: Das sagenumwitterte Kehlsteinhaus und seine NS-Vergangenheit - Verbrecherjagd vor spektakulärer Naturkulisse: Spannendes Lese-Vergnügen für Krimifans und Bergliebhaber - Bei diesem Regionalkrimi ist Trittsicherheit gefragt: Mordermittlungen in den Berchtesgadener Alpen Im Gebirge mordet es sich besonders gut: Bayernkrimi lässt hinter die idyllische Fassade blicken Simon Perlinger ist routinierter Kletterer und Spezialist für Alpinunfälle. Auch im zweiten Kriminalroman von Felix Leibrock muss er all seinen Spürsinn unter Beweis stellen. Schnell wird klar: Das Blut im Kehlsteinlift stammt von Golo Gruber, einem der drei Inhaber der Grubermilch AG. Der Geschäftsmann ist wie vom Erdboden verschluckt. Als wenig später auch noch der Bruder des Vermissten beim Klettern in den Tod stürzt, ist für Bergpolizist Simon klar: Das kann kein Zufall gewesen sein! Ehe er sich versieht, steckt der Polizeibergführer in einem verzwickten Doppelfall, der so manch abgründiges Geheimnis in der heilen Bergwelt Berchtesgadens zutage fördert.

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Seitenzahl: 372

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Felix Leibrock

MORD AM KEHLSTEINHAUS

Ein Berchtesgaden-Krimi

8

Diese Geschichte ist frei erfunden. Tatsächlich existierende Personen und Firmen wurden verändert und/oder vom Autor ausgedacht, Geschehnisse anderen und/oder fiktiven Personen zugeordnet. Verbleibende Übereinstimmungen mit etwaigen realen Personen wären somit rein zufällig und sind nicht gewollt.

Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw. Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

1. Auflage 2022

Copyright dieser Ausgabe © 2022 Servus Verlag bei Benevento Publishing Salzburg – München, eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg Dieses Werk wurde durch die Verlagsagentur Thomas Schlück vermittelt.

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Red Bull Media House GmbH

Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15

5071 Wals bei Salzburg, Österreich

Umschlaggestaltung: www.b3k-design.de, Andrea Schneider, diceindustries

Umschlagmotive: © Sunrise_studio / shutterstock.com;

© Herbert Berger / imageBROKER / picturedesk.com

ISBN: 978-3-7104-0304-0

eISBN: 978-3-7104-5061-7

Der Watzmann ist der schönste Berg der Berchtesgadener Alpen, der Kehlstein der spannendste.

Inhalt

PERSONEN

Prolog

Kapitel 1 • Blutige Spuren

Kapitel 2 • Vandalismus?

Kapitel 3 • Beklemmende Liftfahrt

Kapitel 4 • Unternehmer verschwunden!

Kapitel 5 • Ein Imperium entsteht

Kapitel 6 • Dissonanzen

Kapitel 7 • Porsche gefunden!

Kapitel 8 • Immer noch ein Tabu

Kapitel 9 • Merkwürdiges

Kapitel 10 • Eva Gruber

Kapitel 11 • Familie aus Eis

Kapitel 12 • Hotel zum Türken

Kapitel 13 • Freude for fjudscha

Kapitel 14 • Seltsame Gestalten

Kapitel 15 • Liebesleben?

Kapitel 16 • Der Antiquitätenhändler

Kapitel 17 • Zwischenbilanz

Kapitel 18 • Eine Leiche

Kapitel 19 • Attentat mit Armbrust

Kapitel 20 • Everest-Pläne

Kapitel 21 • Hausdurchsuchungen

Kapitel 22 • Das Motorrad

Kapitel 23 • Der Hausmeister

Kapitel 24 • Die russische Geliebte

Kapitel 25 • Zwei Verdächtige weniger

Kapitel 26 • Die Visitenkarte

Kapitel 27 • Ein Doktor in Not

Kapitel 28 • Kaufsucht

Kapitel 29 • Überraschende Besuche

Kapitel 30 • Eine Art Geständnis

Kapitel 31 • Geldsegen

Kapitel 32 • Der Blutlift

Kapitel 33 • Ein Geheimnis wird gelüftet

Kapitel 34 • Ein Vollstreckungsbefehl

Kapitel 35 • Ludwig hat eine Idee

Kapitel 36 • Patricks Zimmer

Kapitel 37 • Ein Balg

Kapitel 38 • Verfolgungsjagd

Kapitel 39 • Sieben Finger

Kapitel 40 • Unverhofftes Wiedersehen

Kapitel 41 • Zugriff

Kapitel 42 • Geplatzte Träume

Kapitel 43 • Ludwig klärt auf

Kapitel 44 • Alles fließt

Kapitel 45 • Andrea

Kapitel 46 • Es ist nie zu spät

Kapitel 47 • Das große Treffen

Epilog

DANK

PERSONEN

Simon Perlinger, junger Polizeibergführer und Leiter der Kripo Berchtesgaden

Ludwig Perlinger, Großvater von Simon, Schnitzer, Hobbyhistoriker und Entenzüchter

Maria Perlinger, Gattin von Ludwig, Hühnerzüchterin und Rosenkranzbeterin

Kunigunde Pöppel, beste Freundin von Maria Perlinger, Hühnerexpertin

Michael (Michi) Pregler, Luisa Sedlbauer, beide Polizeibergführer, Kripo Berchtesgaden

Robert Kopp u.a., Bergwachtler in Berchtesgaden

Belinda Koreck, Polizeihauptkommissarin bei der Kripo Traunstein

Rick Walker, US-Bürger, Alpen-Schamane

Golo Gruber, Gernot Gruber, Greta Gruber, Kinder von Hermann und Eva Gruber, gleichberechtigte Inhaber der Grubermilch AG

Eva Gruber, Jahrgang 1945, Ehefrau des verstorbenen Hermann Gruber und Mutter von Golo, Gernot und Greta

Cynthia, Gustav und Gesa Gruber, Golo Grubers Frau und Kinder

Dr. Matthias Herfurt, Fachanwalt für Strafrecht

Klaus Brunner, Liftverantwortlicher des Kehlsteins

Jana, Karl und Patrick Brunner, Klaus Brunners Familie

Rudi Sargmacher, Verwaltungsmitarbeiter des Zweckverbands Tourismus Berchtesgaden und Vorgesetzter von Klaus Brunner

Rudi und Ilona Moderegger, Pächterehepaar des Kehlsteinhauses sowie Willi, der Koch

Manfred Lechhuber, Leiter der Busgesellschaft am Hintereck/Kehlsteinstraße

Corinna Pregler, Ehefrau von Michi Pregler, dem Polizeibergführer

Horst Adler, Antiquitäten- und Militaria-Händler

Arno Krumbacher, Tierschützer, Mitarbeiter auf Honorarbasis im Berchtesgadener Tierheim, Veganer, Einradfahrer und Hobbyornithologe

Andrea Heusmann, Schriftstellerin und eventuell neue Freundin von Simon

Prolog

Kathmandu, Bir Hospital, Mai 2017

Ich wache auf. Mir muss etwas Schlimmes zugestoßen sein. An der weiß getünchten Decke kreist leise ein Ventilator. Mücken führen wilde Tänze auf. Eine Schwester mit dunklem Teint und zartblauem Kittelkleid beugt sich über mich. Sie trägt eine weiße Haube, dazu eine medizinische Maske. Streng fragt sie mich auf Englisch, ob ich einen Tee möchte. Aber ihre Augen lächeln.

Ich bin in einem Krankenhaus. Warum? Meine Hände fühlen sich an wie zwei schwere Kartoffelsäcke. Ich versuche mühsam sie zu heben, sehe die dicken Mullverbände. Ein heftiges Ziehen, das vom linken Daumen ausgeht. Als habe jemand mit einer langen Nadel von der Fingerspitze durch den Arm bis ins Herz gestochen. Ich sinke erschöpft in die Kissen zurück. Beim Blick zur Seite erkenne ich vier, fünf weitere Betten. Auch gegenüber ist eine Bettenreihe zu sehen. Ein richtiger Schlafsaal. Ich nehme nur Einheimische wahr. Sie brabbeln vor sich hin, stöhnen, jammern. Laute, die von starken Schmerzen zeugen.

Bilder fluten meinen Kopf. Für den Aufstieg über den Südsattel zum Gipfel des Mount Everest war das Wetter zunächst günstig. Wir hatten auf etwa achttausend Metern Höhe unser Hochlager für die Gipfeletappe aufgeschlagen. Als wir dann in der Nacht losgingen, lief noch alles reibungslos. Viele Menschen waren am Berg unterwegs. Es gibt ja nur die paar Tage im Mai, die einen Aufstieg zum Gipfel erlauben. Der Hillary Step hatte sich durch das Erdbeben von 2015 verändert. Zwar war er nicht mehr so steil und gefährlich, dafür war die Route schwerer auszumachen. Am schlimmsten aber war der Stau, der sich dort bildete. Nachdem die Sonne aufgegangen war, sah ich es noch deutlicher: Viele Expeditionen wollten zum Gipfel. Wir alle waren zwar gut ausgerüstet, aber gegen die mörderische Kälte half die beste Daunenjacke nichts. Beim Warten froren wir von Minute zu Minute mehr. Auch unsere Sauerstoffvorräte verhießen nichts Gutes. Es war schon mein sechster Versuch, den Everest zu besteigen. Sollte mir das denn nie gelingen?

Wir klatschten in die Hände, traten auf der Stelle, um gegen das Auskühlen anzuarbeiten. Die Sonne funkelte trügerisch vom sich zuziehenden Himmel, als ob sie uns ein letztes Mal ihre Gnade schenken wollte. Die matten Strahlen vermochten nicht darüber hinwegzutäuschen, dass es um die minus zwanzig Grad hatte. In meinem zotteligen Bart, den ich mir seit meiner Ankunft im Basislager hatte wachsen lassen, bildeten sich immer mehr Eisklumpen. Dann der Wetterumschwung. Dichter Nebel und Eisregen. Heftige Windstöße, die mich wie Peitschenhiebe vom Berg zu stoßen versuchten. Ich klammerte mich ans Seil am Beginn des Hillary Steps. Ich war als Nächster dran! Sollte ich es also nicht trotz des miesen Wetters versuchen? Ich hörte nicht, was Daniel, unser Expeditionsführer, von unten schrie. Es begann heftig zu schneien. Um mich herum bildete sich ein weißes Gefängnis. Dann der Rutsch. Ein paar Meter nur, über das schroffe Gestein, an dem kaum Schnee haften blieb, weil es so steil war. Eine scharfe Steinkante schnitt mir den dick gefütterten Thermoanzug auf. Die Kälte kroch jetzt endgültig in alle Poren meines Körpers. Aber noch schlimmer war, dass ich den linken Handschuh verlor. Er hüpfte im dichten Schnee nach unten weg, als ob er einen schadenfrohen Tanz auf meine Kosten aufführte. Ab dann erinnere ich mich an nichts mehr. Filmriss.

Hallende Schritte unterbrechen meine mühsamen Gedanken. Die Visite kommt. Eine Prozession in Weiß.

»You can be lucky«, sagt der Arzt mit der randlosen Brille und den Grübchen in den Wangen. »You can be very lucky that you have survived.«

Ich nicke stumm. Mein Mund ist trocken und schmeckt nach faulem Wasser.

»Now, we open the bandages. We want to see how your fingers are doing.«

Zwei Schwestern sind an mein Bett getreten und schneiden gekonnt die Verbände an den Händen auf. Ich lasse die Prozedur über mich ergehen, zucke nur manchmal etwas zusammen und presse die Kiefer aufeinander wie zwei Eisen eines Schraubstocks.

»Okay«, stellt der Arzt nüchtern fest, »we had to amputate three fingers. They were frozen to death. Three fingers in the middle of your left hand. Playing the piano becomes a little more difficult.«

Niemand aus dem Visitenteam lacht laut. Aber in einigen Augenpaaren erkenne ich ein trügerisches Glitzern über den medizinischen Masken. Wahrscheinlich halten sie uns Europäer mit unserer Gipfelsucht für irre. Mir ist nicht nach Lachen zumute. Ich habe den Kampf gegen den Everest verloren. Wieder einmal. Bezahlt mit drei Fingern. Aber ich werde nicht aufgeben. Ich bin nach wie vor fit. Und zäh. Und belastbar. Ich werde es wieder versuchen. Mein Lebenstraum. Auch mit sieben Fingern ist der Berg zu schaffen. Und ich habe mir, verdammt noch mal, geschworen, auf dem Dach der Welt zu stehen. Meine Schwüre halte ich. Koste es, was es wolle.

Kapitel 1 • Blutige Spuren

Kehlsteinhaus, Mittwoch, 26. Mai

Die Tür des Lifts öffnet sich. Er schaltet die goldverkleideten Deckenstrahler an. Noch ist er verschlafen, verkatert. Er schaut sich langsam um, wie in Zeitlupe. Irgendetwas stimmt da nicht. Himmelsakra! Spielt ihm der viele Alkohol der letzten Nacht einen Streich?

Er reißt die Augen auf wie ein Fuchs beim Erspähen des Eichhörnchens. Sein Unterkiefer klappt herunter. Ein leises Stöhnen kommt aus seinem Rachen. Es gibt keinen Zweifel: Alles in der Liftkabine ist beschmiert mit – ja, womit eigentlich? Angst steigt in ihm auf. Geistesabwesend drückt er den Hebel, der den Schließmechanismus der Lifttür blockiert. Die Flecken, Striche und Streifen an den venezianischen Spiegeln sind mal dunkelrot, mal wässrig grau, dazu krustige, schorfige Erhebungen. Alles ist wild durcheinandergepinselt wie bei einem Gemälde von Jackson Pollock. Für einen Sekundenbruchteil glaubt er, einen fremden Mann auf der anderen Seite des Lifts zu sehen, der ihn finster anglotzt. Schockstarre. Dann die Erleichterung. »Uff, das bin ich ja selbst«, flüstert er, nachdem er sich im Spiegel erkennt.

Sein Blick wandert zu den grünen Lederbänken, die er am Vorabend mit einem Spezialspray imprägniert hat. Jetzt sind auch sie mit Schmierereien überzogen. Irgendwie riecht es leicht modrig. Er tritt in die Kabine, um den Saustall näher zu betrachten. An manchen Stellen hat sich die Farbe zu kleinen Klumpen verdichtet. Mit dem rechten Zeigefinger beginnt er, einen dieser Klumpen von der Lederbank abzukratzen. Doch kaum hat er ihn berührt, zerbröselt die poröse Erhebung. Sein Zeigefinger ist von der abgekratzten Materie leicht feucht. Er hält sie sich unter die riesige Knollennase. In kurzen Zügen zieht er die Luft ein, schnüffelt und ist sich dann sicher: Das, was den Lift so verunstaltet, ist keine liederlich hingepinselte Farbe, kein fahrlässig verschütteter Lack. Das, was er hier sieht, ist getrocknetes, geronnenes Blut!

Das kann doch gar nicht wahr sein! In seinem Lift, der in zwei Stunden wieder Hunderte Menschen zum Kehlsteinhaus bringen soll. Wie soll er diese Sauerei so schnell wegbekommen? Und, noch viel wichtiger, ist es Tierblut? Oder etwa Menschenblut?

»Menschenblut …«, stammelt er vor sich hin. Wenn das wirklich Menschenblut ist, wurde dann hier jemand ermordet? Er schaut sich um, mit Panik in den Augen. Auf seiner Stirn sammeln sich kleine Schweißtröpfchen. Versteckt sich der Mörder vielleicht noch irgendwo hier? Was würde er tun, wenn der Mörder ihm plötzlich gegenüberstünde? Mit einem blutigen Messer in der Hand. Er selbst hat nur seinen riesigen Schlüsselbund als Waffe. Den würde er einem Angreifer ins Gesicht schleudern, um ihn abzuwehren.

Jetzt hört er Schritte. Gleichmäßig. Ganz nah. Sein Herz pocht wie wild. Doch nein, das sind Tropfen, die hallend von der Decke auf den Aluminiumboden fallen. Ein solcher Tropfen landet jetzt direkt auf seinem Gesicht und läuft ihm langsam die Wange hinunter. Das sieht er in einem der Spiegel. Auch dabei handelt es sich um Blut. Voller Ekel greift er sich an die Backe und wischt die schmierige Masse weg. Liegt da etwa eine Leiche auf der Kabine? Jemand, der auf den Lift geklettert ist und gestern bei der letzten Fahrt nach oben an der Decke des Liftschachts zerquetscht wurde? Aber dann hätte er doch Schreie gehört. Das hält doch niemand aus, wenn er wie eine Tomate zerquetscht wird!

Er presst die Augen ein wenig zusammen, weil ihn das Deckenlicht blendet. An den Strahlern erkennt er kleine Klumpen, wie die auf den Polstern. Ihm dämmert, warum es von der Decke tropft: Weil die Strahler sich erwärmen, verflüssigen sich die Klumpen und fallen als Tropfen auf den Liftboden. Ein Lift voller Blut. Als habe ein Priester das Aspergill eingesetzt und anstelle von Weihwasser den roten Lebenssaft verspritzt. Angst steigt in ihm hoch. Er fragt sich, was hier gespielt wird.

Er, das ist Klaus Brunner. Er wohnt in einem spröden Mietshaus im Berchtesgadener Weinfeldweg. Die Liftkabine ist sein Arbeitsplatz, sein zweites Zuhause. Heute wollte er die Sprayreste von den Lederpolstern entfernen, den Liftboden wischen und die verspiegelten Wände mit Glasreiniger zum Glänzen bringen, bevor die Menschenmassen kommen. Für die Gäste sollte die Kabine erstrahlen. Der legendäre Lift hinauf zum Kehlsteinhaus.

Wer das Massiv von Göll und Hohem Brett von Berchtesgaden aus betrachtet und ein bisschen um die Geschichte weiß, dem kommt der Aufbau auf dem seitlich daneben gelagerten Kehlstein befremdlich, irritierend vor. Geradezu schicksalhaft steht dieser Berg mit dem ihn verlängernden und bewaldeten Obersalzberg für die Irrwege deutscher Geschichte. Wie viel Aufwand hat es gekostet, den Kehlstein auf diese Weise zu erschließen! Wie viele Menschen haben sich hier abgeschuftet, wie viel Geld haben die Nazis für ein mehr oder weniger überflüssiges Gebäude verschleudert. Im Grunde genommen für einen einzigen Menschen und dessen Größenwahn. Hier ist dieser Wahn in Stein gehauen. Das aus Hauzenberger Granit erbaute Haus nahe dem Gipfel wirkt wie die Beule auf der Schädeldecke von jemandem, der im Rausch gestürzt ist. Der sich nicht mehr so richtig erklären kann, wie das passiert ist.

Im Ausland kursiert eine andere Deutung der Szenerie. Adlerhorst. Eagle’s Nest. So nennt man das stark ausgesetzte Haus auf dem Kehlstein dort oft. Aber wohnt da ein Adler? Hat da einer gewohnt? War Hitler ein Adler? Der Adler steht für Weitblick, Mut und Kraft, heißt es in einschlägigen Lexika. Weil er beim Auffliegen direkt in die Sonne sieht, ist der Adler ein Symbol für Auferstehung, Erlösung, ewiges Leben. Hm. Passt das überhaupt auf einen einzelnen Menschen? Wohl kaum. Und schon gar nicht auf den eben genannten.

Eagle’s Nest, that doesn’t really fit.

•••

Eine halbe Stunde vorher. Nebel füllt das Tal des Königssees. Die Gipfel mit ihrer leichten Schneeschicht sehen aus wie Gugelhupfe mit Puderzucker. Die Aussicht hat Brunner oft. Immer wenn er auf seiner täglichen Fahrt zur Arbeit die Wolkendecke durchdringt. Über den Wolken. So manches Mal pfeift er den Song von Reinhard Mey. Er kämpft sich mit seinem Moped die lang gezogene Kehre zum Kehlsteinlift hoch. Als er aus dem letzten Tunnel auftaucht, ist unter ihm alles weiß, und der Himmel über ihm strahlt in mattem Blau. Die Straße zum Kehlsteinhaus ist sonst nur Bussen vorbehalten, die Kohorten von Menschen nach oben bringen. Die roten Busse haben eigens für sie präparierte Motoren, Bremsen und Getriebe, weil sie immer nur Steigungen von durchschnittlich vierundzwanzig Prozent rauf- und runterfahren. Ein normaler Linienbus wäre bei solchen Belastungen überfordert und schnell verschlissen.

Seit zwei Wochen ist die Kehlsteinstraße wieder geöffnet. Brunner kommt mit seinem Gefährt an der Buswendestelle an. Das Moped stößt kleine Wölkchen aus seinem Auspuff aus. Auch sein Fahrer atmet schwer, keucht mit jedem Ausatmen eine Nebelfahne in die kalte Luft. Ihm liegt der gestrige Abend schwer in jeder Gehirnwindung. Er war zur Vorstandssitzung des Schachclubs ins Berchtesgadener Bräustüberl gegangen. Mit einigen anderen ist er versumpft. Mei, was hat er heute für einen Brummschädel. Aber wenn man mit dem guten Berchtesgadener Hellen einmal anfängt, ist’s halt schwer, wieder damit aufzuhören. Und dann auch noch dieser Enzian vom Grassl! Die raue Luft tut ihm jetzt auf jeden Fall gut.

Brunner ist als Betriebstechniker verantwortlich für den Lift am Kehlsteinhaus. Das klingt hochtrabender, als es ist. Als Schüler war er faul. Ließ lieber Steine auf dem Königssee tanzen, als sich mit komischen Matheformeln oder der Geschichte Bayerns zu beschäftigen. Den Hauptschulabschluss hat er gerade so geschafft. Später hat er das oft bereut. Zum Beispiel als er an der Kasse des hiesigen Edeka saß und ihm seine früheren Klassenkameraden, die noch auf dem Gymnasium waren, abfällig das Geld für Leberkässemmeln und Cola hinwarfen. Er empfand das als demütigend. Oder als er sich vergeblich um einen Ausbildungsplatz zum Mechatroniker beim VW-Händler bewarb.

Aber irgendwann hatte auch er etwas Glück. Ein Bekannter seines Vaters war Inhaber einer Elektrofirma und bot ihm eine Lehrstelle zum Elektriker an. Klaus gefiel die Ausbildung, er war jetzt fleißiger und brachte passable Noten von der Berufsschule mit. Aber danach übernahm ihn der Meister nicht in den Betrieb. Die Zahl der Aufträge war zurückgegangen, auch gab es billigere Arbeitskräfte aus Osteuropa.

So hing Klaus einige Jahre mehr oder weniger untätig im Elternhaus herum und lebte von der staatlichen Stütze. Nur kurz arbeitete er als Küchenhilfe in einem Hotel, flog dort raus. Aber er begann, sich für Geschichte zu interessieren, las viel und holte nach, was er sich als Schüler vergeben hatte.

Dann kam der Anruf vom Berater der Agentur für Arbeit. Für einen Elektriker mit Gesellenabschluss wäre da eine interessante Stelle am Kehlsteinhaus ausgeschrieben. Genau genommen ginge es um den berühmten Lift. Der müsse gut gewartet werden. Ein Ausfall koste den Tourismusverband viel Geld. Auch gehöre es zum Aufgabenbereich, den Lift täglich zu bedienen und seine Fahrten mit den Ankunftszeiten der Besucherbusse zu koordinieren. Wie das Kehlsteinhaus selbst war der Lift vom Bombenteppich verschont geblieben, mit dem britische Lancaster-Maschinen 1945 den Obersalzberg überzogen und fast alle Gebäude der Nazis zerstörten. Auch als nach Kriegsende die restlichen Gebäude der Nazis am Obersalzberg abgetragen wurden, blieb das Kehlsteinhaus ausgenommen.

Klaus, ein eher scheuer Typ, war bei der Vorstellung unwohl, in der Hochsaison den Menschenmassen ausgesetzt zu sein, die mit dem Lift zum Gipfel strebten. Schreiende Kleinkinder. Eis schleckende Eltern. Schulklassen voller Pubertiere. Vielleicht auch Ewiggestrige, die mit kurz rasierten Schädeln, Sonnenbrille und Schlägerfresse die vielen ausländischen Besucher anpöbelten. Im Winter, wenn das Kehlsteinhaus geschlossen war und keine Busse fuhren, wolle man ihn im Bauhof Schönau einsetzen, so die Herren im Bewerbungsgespräch. Als Mädchen für alles, aber auch zum Räum- und Streudienst. Er überlegte ein paar Tage hin und her und sagte dann für die Stelle zu.

Das liegt nun sieben Jahre zurück. Die Arbeit am Lift des Kehlsteinhauses ist für Klaus Brunner mittlerweile Routine. Er hat sich angewöhnt, Fragen zur Geschichte des Lifts, des Hauses, des Obersalzbergs höflich, aber deutlich zu parieren. Er weist auf das Dokumentationszentrum oder die Ausstellung im Kehlsteinhaus hin. Abends läutet er die letzte Liftfahrt ein, indem er die Umstehenden anspricht und sie darauf hinweist, ihnen bliebe sonst nur noch der Abstieg zu Fuß zum Buswendeplatz. Aber auch der letzte Bus würde bald fahren. Dann müssten die Gäste den ganzen Berg hinunterlaufen, wenn sie nicht rechtzeitig einträfen. Und das auf dem Fußweg durch den Wald! Denn die Straße blieb auch nach Ende des Busverkehrs für Fußgänger gesperrt.

Manchmal sind es bis zum Hals tätowierte Typen, die ihn bei solchen Worten stumm und abweisend anschauen. Brunner kennt seine Pappenheimer. Männer wie diese warten gezielt, bis auch das Pächterehepaar ins Tal gefahren ist und ihnen der Kehlstein allein gehört. In ihren Sporttaschen haben sie Fackeln versteckt. Sie spielen dann ein bisschen die Machtergreifung von 1933 nach. Von dieser historischen Stunde hat der Maler Max Liebermann, als er die Truppen vor seiner Berliner Wohnung umhermarschieren sah, gesagt: »Ich kann gar nicht so viel fressen, wie ich kotzen möchte.« Aber auf dem Kehlstein kotzt niemand in der Nacht wegen der Fackelträger. Sie sind ganz unter sich. Und gehen dann natürlich auf der Straße ins Tal hinunter.

Brunner stellt sein Moped im Betriebsraum des Lifts ab. Erst einmal atmet er tief durch. Weißes Hemd, taubenblaue Jacke mit Emblem des Zweckverbands Tourismus Berchtesgaden. Massiger Bauch und erstaunlich dünne Beine, die sich sicher oft fragen, wie lange sie diese gewaltige Last noch tragen sollen. Auch manche Liftgäste rätseln insgeheim, warum man gerade einen solch korpulenten Mann den Lift bedienen lässt. Er passt ja kaum auf den Stehhocker in der Kabine und löst manchmal ungewollt Alarm aus, weil er mit seiner Wampe an die Armatur gestoßen ist.

Brunners Stirn ist trotz der Kälte schwitzig. Aus der Thermosflasche gießt er sich dampfenden Kaffee in den Deckel und schlürft ein paar Schlucke. Sein Blick wandert über das Dach des Kehlsteinhauses hinweg zum Göll. Auch dieser Gipfel ist mit einer leichten Schneeschicht überzogen, auf die jetzt die ersten Sonnenstrahlen fallen. Vom Tal unten, von Berchtesgaden ist nichts zu sehen. Eine bizarre Kulisse, eine ganz eigene Welt. Caspar David Friedrich würde seine Staffelei aufstellen und lospinseln.

Aber das sind nicht die Gedanken von Brunner an diesem Morgen. Er holt Schrubber, Wischlappen und Eimer aus einer Kammer im Funktionsgebäude. Die frische Luft tut seinem alkoholgeschwängerten Gehirn gut. Schon etwas aufgeweckter begibt er sich zum mächtigen, aus Quadersteinen gerahmten Tor am Lifteingang. Noch ist er ganz allein in dieser unwirklichen Landschaft. Eine Krähe fliegt über ihn hinweg und stößt heisere Schreie aus. Verkohltes Holz liegt auf dem Buswendeplatz. Brunner ist nicht überrascht. Gestern sind wieder so finstere Typen mit dem Lift gefahren, die offensichtlich ein Lagerfeuer gemacht haben. Schriftzüge auf ihrer Kleidung und einige Tätowierungen wiesen sie als sogenannte Reichsbürger aus. Leute, die die Bundesrepublik ablehnen und sich von den geltenden Gesetzen gerne selbst freisprechen. Dumpf haben sie ihn angeglotzt, als er sie auf die letzte Busfahrt hinwies. Einer hat sogar vor ihm auf den marmorierten Boden gespuckt. Mit seiner Uniform, die ihn als Bediensteten des Zweckverbandes ausweist, war Brunner für sie ein Vertreter des Staates und damit ein Hassobjekt. Sie träumen von einem eigenen Reich. Wer weiß, welche Worte gestern an ihrem Lagerfeuer gefallen sind und welche Parolen sie gebrüllt haben.

Brunner erinnert sich an seine erste Fahrt mit dem Lift. Das war kurz vor dem Bewerbungsgespräch. Er hatte sich natürlich angelesen, was es mit dem Lift und dem Kehlsteinhaus auf sich hatte. Als er den golden glänzenden, einhundertvierundzwanzig Meter in die Höhe fahrenden Lift im Bergmassiv betrat, fühlte er sich beklommen. Ihn schauderte, zugleich war er fasziniert. Natürlich dachte er an ihn, den Massenmörder, Schreihals und Kriegstreiber, der viele Millionen auf dem Gewissen hatte. Er war im selben Lift gefahren wie er jetzt. Im ersten Augenblick hielt Brunner es für undenkbar, mit, in und an diesem Lift zu arbeiten. Aber dann dürfte auch niemand mehr über den Münchner Königsplatz spazieren oder ins Bayreuther Festspielhaus gehen. Mit solchen Gedanken beschwichtigte er sein Gewissen. Erfolgreich. Wenn auch andere dieses beklemmende Gefühl bekämen, würde der Lift abschreckend wirken. Die Besuche hätten also einen pädagogischen Wert. Allerdings nicht für die Ewiggestrigen. Wenn sie oben ankamen, strahlten sie wie nach einer Massage von zwei Thai-Frauen. Der Lift, in den Hitler und sein Schäferhund gefurzt hatten, bevor sich die beiden auf der Terrasse des Kehlsteinhauses mit Eva Braun ablichten ließen – manche überkam hier eine weihevolle Stimmung.

Brunner muss noch mal zum Betriebsraum zurücklaufen. Er hat den Schlüssel für die mächtigen Torflügel vergessen, der den einhundertvierundzwanzig Meter langen Gang zum Lift freigibt. Wenn der Lift Geschichten erzählen könnte, denkt sich Brunner oft. Er erinnert sich an einen Tag am Ende der Saison. Kurz vor der Abfahrt des Lifts musste Brunner einem menschlichen Bedürfnis nachgehen. Ein junges Paar hatte den Lift betreten, um wieder nach unten zu fahren. Außer dem Paar kam sonst niemand mehr. Wäre er streng nach Vorschrift gegangen, hätte er sie wieder rausgebeten und später, nach seinem Toilettenbesuch, wieder reingelassen. Aber er wollte mal nicht päpstlicher sein als der Papst und bat das Paar, kurz auf ihn zu warten. Er huschte zu den Toiletten in der Gaststätte. Und was taten die beiden in seiner Abwesenheit? Der schlaksige Mann mit den dunklen Locken drückte den Knopf, der die Lifttür schloss. Dann setzte er mit einem anderen den Lift in Bewegung und fuhr hinunter und dann wieder hinauf. Zwei Mal einundvierzig Sekunden. Brunner, wieder zurück, konnte an der Anzeige genau sehen, auf welcher Höhe sich der Lift befand. Warum die beiden das taten? Offenbar hatten sie auf der kurzen Fahrt Sex. Oder versuchten es zumindest. Der ultimative Kick. Als sich der Lift oben öffnete, sah Brunner, wie der Mann den Reißverschluss seiner Lederhose zuzog und sie sich den Slip zurechtruckelte, bevor der Rock wie ein Theatervorhang nach unten fiel. Die Wangen der vielleicht Zwanzigjährigen glühten wie der Watzmann in der untergehenden Sonne. Der Lockenkopf hechelte wie ein Pudel in der Sahara. Nur ein halbherziges »Sorry« kam über seine Lippen. Brunner setzte ein schiefes Lächeln auf und schwieg. Mit vielem hatte er gerechnet, aber nicht mit Sex in seinem zweiten Wohnzimmer. Er, der nach wie vor Junggeselle war und, was ihn mit Mitte dreißig immer mehr peinigte, auch noch Jungfrau (oder heißt das dann Jungmann?).

Jetzt kommt Brunner am mächtigen Portal des Lifts an. Der Schlüsselbund an seinem Gürtel klimpert ein namenloses Lied. Gerade will er die Torflügel öffnen, da bleibt sein Blick an etwas hängen. Was ist das da auf dem Tor? Dunkle Striche, gemalt, gekritzelt, geschmiert. Brunner tritt einen Schritt zurück. Was bedeutet das?

»Himmelsakra, das waren diese Nazi-Schweine von gestern Abend«, schimpft er vor sich hin und geht erneut zum Betriebsraum zurück. Dort holt er einen Schwamm, der seine besten Tage schon hinter sich hat, und ein spezielles Spülmittel. Wenn man Geduld hat, gehen damit sogar Graffiti weg. Als Brunner den Schwamm ansetzt, hat er überraschend leichtes Spiel. Graffitispray ist das nicht. Brunner kratzt sich am Hinterkopf und wischt dann die Tür komplett sauber. Hilft ja nichts, sich aufzuregen.

Vielleicht sollte er wegen der dubiosen Besucher hier oben mal an den Verfassungsschutz schreiben? Aber das ist ihm zu gefährlich. Schließlich ist er nur ein kleiner Angestellter, und sein Chef sähe das gewiss nicht gern. Einmal hatte er ohne Rücksprache mit oben einem holländischen Radiosender ein Interview gegeben. Mann, da hat die Hütte aber richtig gebrannt, als der Chef davon erfuhr! Eine Ermahnung kam in Brunners Akte. Das war ihm eine Lehre. Lieber wegducken, Augen zu. Er war für die Technik des Lifts und den Betrieb zuständig – und damit gut.

Mit starkem Druck auf den ergrauten Schwamm entfernt er die letzten Farbflecken am Tor. Er ist in Verzug, wie ihm ein Blick auf die Uhr verrät. Bald schon wird das Pächterehepaar Moderegger mit dem Koch ankommen und zur ersten Liftfahrt starten wollen.

Brunner schaut noch einmal auf die wieder sauberen Türen. Dann macht er die Beleuchtung des Tunnels an und geht die Strecke bis zum Lift. Die Schritte hallen. Irgendwo huscht ein Tier davon, vielleicht eine Maus. Im Warteraum zum Lift, einem aufwendig gestalteten Kuppeldom mit Mosaikdecke aus Ruhpoldinger Stein, drückt er den Lichtschalter. Dann dreht er den Schlüssel in die seitlich des Lifts befindliche Armatur. Die beiden Halbtüren öffnen sich. Und dann: Überall dunkelrote und schwarze Farbe. Bald wird ihm klar: Blut! In seinem zweiten Wohnzimmer! Das kann doch nicht wahr sein!

Kapitel 2 • Vandalismus?

Kehlsteinhaus, Mittwoch, 26. Mai

Erst glaubt Brunner an einen Tagtraum, ein Wahnbild. Wie waren der oder die Täter bis hierher zum Lift gekommen? Das Eingangsportal zeigt keinerlei Einbruchsspuren. Brunner greift sich an die Hosentasche, holt apathisch den Schlüsselbund hervor. Hat er gestern Abend das Abschließen vergessen? Nein, das kann nicht sein. Er leidet in dieser Hinsicht an einer Art Zwangserkrankung. Vor allem seit seinem kurzen Intermezzo als Küchenhilfe in der Gastronomie. Damals hatte er eines Abends übersehen, dass noch eine Herdplatte brannte. Als er am nächsten Morgen seinen Dienst antrat, baute sich sein Chef mit breiten Schultern vor ihm auf. Mit einer Pfanne bewaffnet brüllte er ihn an, was er denn für ein Trottel sei. Nicht mal die Herdplatten schaffe er alle auszuschalten. So ein unzuverlässiger Kerl! Er sei fristlos entlassen. Seitdem achtete Brunner penibel darauf, ob er den Herd ausgeschaltet hat, die Wohnungstür, das Auto oder das Tor zum Kehlsteinlift abschlossen war. Immer wieder. Und wieder. Zwanghaft. Er hat sich sogar angewöhnt, das Tor mit dem Schlüssel zu fotografieren, nachdem er es zugeschlossen hat. Falls ihm später im Tal Zweifel kommen. Dann schaut er sich das Foto an, den umgedrehten Schlüssel, und ist beruhigt. Auch jetzt zückt er das Handy und schaut sich das gestrige Foto vom Tor an. Eindeutig, er hat definitiv zugeschlossen. Allein schon wegen dieser Reichsbürgertypen. Damit die keinen Unfug machen. Haben sie es dennoch getan? Wie aber haben sie es dann geschafft, das Tor zu öffnen?

Nur langsam dringt in Brunners Bewusstsein, was er hier sieht. Seine Gedanken springen hin und her wie eine Flipperkugel. Hat er gestern irgendwelche auffallenden Personen hochbefördert? Welche, die vielleicht Blutkonserven dabeihatten? Wieder taucht die Frage auf, die ihm Schauer verursacht: Ist jemand im Lift verletzt, vielleicht sogar ermordet worden? Wo aber ist dieser Jemand? Und wo der Täter, die Täter?

Er überlegt, wer alles einen Schlüssel zum Portal des Lifts hat. Außer ihm noch sein Chef Rudi Sargmacher. Für alle Fälle. Den holen sich dort die Vertretungskräfte ab, wenn er mal krank ist, oder, rein theoretisch, Urlaub hat. Urlaub kommt aber in der halbjährigen Saison nie vor. Weil er da so etwas wie Urlaubssperre hat. Krank war er sowieso noch nie in der Saison. Nur an zwei Wochenenden im Monat vertreten ihn andere Mitarbeiter des Zweckverbands. Sonst häuft er zu viele Überstunden an. Dazu bekommen sie von Sargmacher den Schlüssel. Theoretisch könnte einer dieser Vertretungskollegen den Schlüssel nachgemacht haben. Aber warum sollten sie das tun? Auch Moderegger, der Wirt des Kehlsteinhauses, hat einen Schlüssel. Manchmal sind die Wirtsleute und das Personal noch länger oben, als seine Schicht geht. Sie fahren ohnehin mit ihrem Firmenbus bis zum Buswendeplatz und sind unabhängig von den offiziellen Busverbindungen. Wenn es da spät wird, kommt es vor, dass der Wirt den Lift bedient.

Wie sind die da reingekommen, hämmert es unentwegt in Brunners Kopf. Und was soll das Ganze? Er schaut sich die Klumpen und Schlieren erneut genau an, hält seine Nase daran wie ein Trüffelschwein.

Blutgeruch, diese leicht eiserne Duftnote kennt er. Manches Mal hilft er seinem Schachbruder Korbinian beim Schlachten. Die Blutsuppe, die es zur Belohnung gibt, mag er besonders gerne. Korbis Frau Uschi vermischt dazu das geronnene Schweineblut mit Essigsud und richtet es mit Gemüsebrühe, Graupen und Knoblauch an. Normalerweise läuft ihm bei der Vorstellung daran das Wasser im Munde zusammen. Jetzt aber bricht ihm der Schweiß aus. Er spürt, wie sein geripptes langärmeliges Unterhemd an ihm klebt. Er fürchtet sich vor einem Gewalttäter oder Mörder, ist aber auch wütend. Was ist da in seinem Lift passiert? Sargmacher wird toben, wenn er davon erfährt. Disziplinarische Maßnahmen wird er androhen. Ob er denn nicht in der Lage sei, das Portal richtig zu verschließen, wird der Vorgesetzte ihn anherrschen. Wie der pockennarbige Chef in dem Restaurant damals. Und dann ist da ja schon diese Ermahnung in der Personalakte. Wegen des Radiofuzzis, der ihn überredet hat, sonderbare Begegnungen im Lift zu erzählen. Brunner hatte seinem Chef damals völlig arglos von dem Interview mit dem holländischen Sender berichtet. Den anschließenden Tobsuchtsanfall Sargmachers wollte er nicht noch einmal erleben. Deswegen hatte er ihm auch vom Sex im Lift nichts erzählt. Sargmacher hätte ihm vorgeworfen, den Lift im Stich gelassen zu haben. Hatte er ja auch. Und jetzt eine komplett verschmierte Kabine, sogar mit Blut. Brunner ist paralysiert, verängstigt.

Plötzlich hört er eine Stimme. Nur wenige Meter hinter sich. Schritte hat er keine vernommen. Er zuckt zusammen, dreht sich nur langsam um. Dann sieht er in funkelnde Augen, mit einem Streifen Silber in der Mitte.

»Klaus, ja sag einmal, was ist denn hier passiert?«

»Wie? Äh, was?«

Brunner nimmt nur langsam das Pächterehepaar Moderegger und Willi, den Koch, wahr, die, mit Körben und Taschen bepackt, durch den Tunnel zum Lift gekommen sind. Auch den Motor ihres Kleinbusses hat er nicht gehört, so entrückt war er.

»Jesses Maria, so eine Schmiererei«, sagt der Wirt. »Mach das schnell weg, Klaus. Aber erst fährst uns nach oben.«

Brunner starrt den Wirt ungläubig an. Er soll ihn einfach hochfahren? Und dann alles wegwischen? Als ob hier nichts vorgefallen sei?

»Das … das … das geht nicht«, stammelt er. »Hier sind welche unbefugt eingedrungen, die müssen einen Schlüssel gehabt haben …«

Die buschigen Augenbrauen Modereggers ziehen sich zu einem kleinen durchgehenden Wäldchen zusammen.

»Magst heut nicht arbeiten? Geh weida, ich hab dich gestern im Bräustüberl gesehen. Hast wohl einen Brummschädel?«

»Nein, äh ja, also den Schädel hab ich schon. Aber ich kann das hier nicht wegwischen, weil …«

»Na, wird’s bald!« Der Wirt ist jetzt ungehalten. »Wir müssen unsere Küche vorbereiten. In einer Stunde kommt der erste Gästebus. Los, jetzt fahr uns rauf.« Mit entschiedenen Schritten betritt Moderegger die Kabine. »Ich kann die Knöpfe auch selbst drücken«, droht er Brunner. Aber der stellt sich vor die Schalterleiste links hinter dem Lifteingang und verdeckt sie komplett mit seinem Leibesumfang.

»Klaus, ich verstehe ja, dass dich das mit der Farbe schockt«, versucht es Ilona Moderegger, die Wirtin, jetzt einfühlsamer. »Aber es wird sich schon eine Erklärung finden, wie da jemand das Tor geknackt hat. Und solche Schmierereien, mei, das haben wir doch oben am Haus auch schon gehabt.«

Brunners Lippen zittern. Er schaut ins Leere und spricht dann ganz langsam.

»Ich müsste den Sargmacher anrufen. Aber der ist noch nicht im Büro.«

»Warum?«, schaltet sich der Wirt wieder ein. »Wegen dem bisschen Vandalismus? Komm, mach das weg, wenn du uns nach oben gebracht hast.«

Brunner starrt zwischen Wirt und Wirtin hindurch in die verschmierte Spiegelwand.

»Ich ruf die Polizei an«, sagt er schließlich, traut sich aber nicht, den Modereggers dabei in die Augen zu schauen.

»Nein, das kannst vergessen, Klaus. Dann machen die den Aufzug dicht, und wir können den Tag heute abblasen. Die Saison ist eh schon schlecht angelaufen. Heute wird’s sonnig, und viele wollen herauf. Lass das sein, Klaus!«

Brunner schüttelt den Kopf, spricht jetzt entschieden, schreit fast schon.

»Ich ruf die Polizei an. Denn was da überall so rot ist, das ist Blut!« Er zeigt auf die krustige Masse auf dem Boden.

»Blut? Dann ist es sicher Tierblut. Vandalismus, sage ich doch«, wendet der Wirt ein.

»Ja, sind sicher ein paar Steinböcke hier drin gewesen und haben sich mit den Hörnern blutig gestoßen.« Brunner schaut den Wirt heraufordernd an.

Moderegger krault sich das Kinn und schweigt jetzt.

»Ich geh jetzt raus zum Telefonieren. Und wehe, ihr fahrt nach oben. Wenn das Blut ist, macht ihr euch damit strafbar. Außerdem bringt es eh nichts, wenn ihr jetzt hochfahrt. Wenn die Polizei kommt, geht eh erst mal kein Bus mehr.«

Brunner geht den Weg aus dem Tunnel zurück und wählt die 110. Bald darauf hat er Kriminalhauptkommissar Simon Perlinger am Hörer.

»Lassen Sie alles stehen und liegen, Herr Brunner. Schließen Sie den Lift ab. Wir sind so schnell wie möglich bei Ihnen.«

Brunner denkt an die Schmierereien am Portal, die er bereits vollständig entfernt hat. Soll er der Polizei davon auch erzählen? Oder bringt ihm das Ärger ein? Hat er unwissend wichtige Spuren beseitigt, vielleicht die eines Kapitalverbrechens? Muss er befürchten, dass seine Personalakte dann um mindestens eine DIN-A4-Seite anwächst?

Kapitel 3 • Beklemmende Liftfahrt

Kripoinspektion/Kehlstein, Mittwoch, 26. Mai

Auch die beiden Polizeihauptkommissare Simon Perlinger und Luisa Sedlbauer haben gestern Abend Berchtesgadener Helles getrunken. Anlass war die kleine Feier, mit der die Kriminalpolizeistation Berchtesgaden eröffnet wurde. Eine Staatssekretärin des Innenministeriums aus München war gekommen, der Polizeipräsident aus Rosenheim und Belinda Korreck, die Leiterin der Kripo in Traunstein. Ihr Aufgabenfeld würde durch die Kripo in Berchtesgaden etwas kleiner werden. Aber sie bedauert das nicht. Auch die Kripo Traunstein ist chronisch unterbesetzt und freut sich, wenn sie entlastet wird.

Die Nachricht einer eigenständigen Kripo in Berchtesgaden hatte Simon und Luisa nach der Lösung eines spektakulären Falles erreicht. Ein Lübecker Ehepaar war vom Watzmanngrat in den Tod gestürzt. Was zunächst nach einem Unfall ausgesehen hatte, entpuppte sich bald als kaltblütiger Mord. Dieser Ermittlungserfolg war ein Grund, warum das Bayerische Innenministerium und die Polizeidirektion Bayern-Süd eine zusätzliche Kripo in Berchtesgaden befürworteten. Vor allem aber waren es die enorm gestiegenen Gästezahlen in den Berchtesgadener Alpen, die zu dieser Entscheidung geführt hatten. Wo mehr Menschen sind, gibt es auch mehr Kriminalität. Menschenansammlungen locken zum Beispiel Taschendiebe an. Oder das geschichtsträchtige Areal um den Obersalzberg, das Reichsbürger und andere Extremisten anzieht. Auch bieten die Berge grüne Grenzen für Menschenschmuggel. Oder prominente Urlauber brauchen Personenschutz. Wie der Doppelmord am Watzmann außerdem zeigte, ziehen Abstürze am Berg Fragen nach sich: War es nur fahrlässiges Verhalten? Ein Suizid? Oder gar Mord? Die Liste möglicher und wirklicher Verbrechen im Berchtesgadener Land ist lang. Trotz oder gerade wegen der idyllischen und beschaulichen Bergwelt ringsum.

Simon Perlinger und Luisa Sedlbauer haben als Polizeibeamte beide die Zusatzausbildung als Polizeibergführer absolviert. Sportlich immer trainiert, scheuen sie keinen Einsatz im Hochgebirge. Sie brechen zu Zeugenbefragungen auf einsame Hütten auf, selbst wenn der Wettergott mal wieder die Backen aufbläst und es stürmt und schneit. Die beiden Jungspunde sind sogar richtig heiß auf solche Erlebnisse. Ob der Grund für diesen Eifer ist, dass beide mit dreißig Jahren noch Single sind? Dass sie ihre überschüssige Energie in die berufliche Arbeit in den Bergen einfließen lassen? Niemand weiß das so genau, auch die beiden selbst nicht.

»Lassen Sie alles stehen und liegen, Herr Brunner. Schließen Sie den Lift ab. Wir sind so schnell wie möglich bei Ihnen.«

Simon hat gerade seinen Dienst angetreten und die alte, röchelnde Kaffeemaschine in Gang gesetzt. Da erreicht ihn der Anruf von Klaus Brunner. Blutspuren im Lift zum Kehlsteinhaus!

Die neue Kripo Berchtesgaden hat zwei beengte Zimmer unter dem Dach der Villa Bayer bezogen. In dem großbürgerlichen Haus residiert die Polizeiinspektion Berchtesgaden seit 1987. Der Dritte im Bunde der Kriminalpolizei ist Michael Pregler, zweiundvierzig Jahre alt und ebenfalls ausgebildeter Polizeibergführer. Geschluckt hat er schon etwas, als er von Simons Beförderung zum Leiter der neu eingerichteten Kripo Berchtesgaden erfahren hat. Als der Ältere und Erfahrenere hatte er darauf gehofft, an die Spitze der neuen Kripo befördert zu werden. Aber Simon hat ihm das Studium voraus. Außerdem plagen Michi, wie ihn alle nennen, gerade starke private Probleme. Er ist mit einer Apothekerin fremdgegangen, und das Ganze ist aufgeflogen. Seine Frau hat ihn kurzerhand aus dem elterlichen Haus in der Stanggaß rausgeworfen, in dem sie mit ihren beiden Kindern das zweite Stockwerk bewohnen. Er hat sich jetzt ein Zimmer in Bischofswiesen gemietet und ist psychisch ziemlich durch den Wind. Die Kinder, acht und zehn Jahre alt, kaum noch zu sehen geht ihm an die Nieren. Er hat keinen Appetit mehr, gähnt ständig und ist unkonzentriert. Anzeichen einer depressiven Verstimmung, hat ihm sein Arzt gesagt. Wenn das nicht besser würde, brauche er eine Auszeit.

Luisa betritt gerade das Büro mit den beiden Schreibtischen. Den anderen Raum behalten sie sich für Besucher und Verhöre vor. Michis Büro ist noch das alte ein Stockwerk tiefer bei der Polizeiinspektion. Mittelfristig soll es eigene, angemietete Räume und eine neue Büroausstattung für die Kripo in Berchtesgaden geben.

»Guten Morgen«, ruft Luisa Simon etwas unleidlich zu und will sich einen Kaffee einschenken. Ihr Lidschatten sitzt nicht ganz perfekt.

»Lass gut sein, Luisa, wir müssen gleich los!« Simon schlüpft in seine schwarze Lederjacke. »Zum Kehlsteinhaus. Komm! Das wenige, was ich weiß, erklär ich dir im Auto.«

Sie eilen zum dunkelblauen Dienst-BMW und fahren los. Simon am Steuer schießt die Kurven des Obersalzbergs hoch. Noch fahren keine Busse mit Touristen zum Kehlsteinhaus. Telefonisch informiert Simon die Buszentrale, dass die Straße zum Kehlstein bis auf Weiteres gesperrt ist.

Als sie im Vorbeifahren die schon recht zahlreichen Autos auf dem Parkplatz Hintereck beim Dokumentationszentrum sehen, ahnen die beiden Kriminalbeamten bereits, was das bedeutet. Über eine Treppe geht es vom Parkplatz hinunter zum Busterminal mit den Ticketschaltern und den Haltebuchten der Busse. Hier wollen alle zum Kehlsteinhaus. Haben vielleicht schon Tickets gelöst. Die spektakuläre Fahrt mit dem Bus bietet atemberaubenden Ansichten und ist ein Muss für fast alle, die sich ein paar Tage in Berchtesgaden aufhalten. Das Kehlsteinhaus zählt zu den TOP100-Sehenswürdigkeiten in Deutschland. Und natürlich hat der Lift eine magische Wirkung. Selbst wenn man von der Buswendestelle zum Kehlsteinhaus zu Fuß nur eine Viertelstunde braucht, ist der Berg ohne den Lift für viele nicht mehr attraktiv. Aber es hilft nichts. Wenn im Lift tatsächlich Blutspuren sind, müssen diese erst gesichert werden. Vorsorglich bittet Luisa als Beifahrerin schon mal die Spurensicherung von der Polizeidirektion Rosenheim, sich bereitzuhalten.

Nur selten fahren Autos die schmale Straße zum Lift des Kehlsteins hoch. Simon sieht aber keine Alternative. Mit einem der Busse dort hochzufahren würde an der Abfahrtsstelle für unnötige Unruhe unter den Touristen sorgen.

Warum die und nicht wir? Was, Polizei, die haben ja keine Uniform! Kripo? Wieso das denn? Da brauchen die gleich einen ganzen Bus für zwei Personen? Ungeheuerlich, wir wollen auch hoch! Verdammt, ich bin extra von Stuttgart hergefahren! Unverschämt! …

Luisa springt kurz am Busbahnhof raus und holt sich den Schlüssel für die Schranke, die vor der ersten Brücke die Kehlsteinstraße abriegelt. Als sie sie passiert haben, schaltet Simon in den zweiten Gang und fährt langsam die lang gezogene Schleife zum Buswendeplatz nach oben, die durch fünf Tunnel führt. Obwohl er und Luisa geübte Bergsteiger sind und schon oft in tiefe Abgründe geschaut haben, beschleicht sie hier ein mulmiges Gefühl. Nachher, bei der Abfahrt, werden sie sich hinter einen der Busse klemmen, sollten die wieder fahren. Nicht dass ihnen noch ein anderer Bus entgegenkommt! Dem Gegenverkehr ausweichen hier auf dieser engen Straße, zumal einem Bus, das ist schwierig bis unmöglich.

Simon und Luisa brauchen in der Liftkabine nicht lange, um zu erkennen, was Sache ist. Mit ein bisschen Luminol stellen sie fest, dass es sich bei den Spuren auf dem Boden und an den Spiegeln tatsächlich um Blut handelt. Sie erinnern sich an ihre Ausbildung, wo sie im Fach Kriminalistik verschiedene Formen von Blutspuren gelernt haben. Da das aber sehr diffizil ist, bittet Luisa die Rosenheimer Spurensicherer, sofort zum Kehlsteinhaus zu kommen.

Kaum hat sie das Gespräch beendet, klingelt es auf ihrem Diensthandy an.

»Simon, das ist der Leiter der Busgesellschaft. Ein Manfred Lechhuber. Die betreiben die Busse, die hier hochfahren.«

Simon bittet Klaus Brunner und das Wirtsehepaar mit dem Koch, sich zur Verfügung zu halten. Er geht ein paar Schritte in den Gang zum Lift.

»Nein, wir werden mindestens bis Mittag den Lift und die Kehlsteinstraße nicht freigeben«, sagt er betont ruhig in sein Smartphone.

»Wissen Sie, was das bedeutet?«, hört er Lechhuber zetern. »Hier stehen jetzt schon Hunderte Menschen, die auf die Fahrt nach oben warten. Dann lassen Sie die Menschen doch wenigstens zu Fuß vom Busparkplatz zum Kehlsteinhaus hochgehen!«

Simon überlegt kurz. Wenn er diesem Vorschlag zustimmt, gerät die Situation unter Umständen außer Kontrolle. Wütende Besucher, die, statt den spektakulären Lift zu nehmen, jetzt vom Buswendeplatz zum Haus hochkraxeln. Die werden vielleicht den Lift stürmen. Das kann er nicht verantworten. Also bleibt er hart und beendet das Gespräch. Die Ansage ist klar: Busse frühestens ab 12:00 Uhr und erst nach ausdrücklicher Freigabe. Bis dahin sollte die Spurensicherung aus Rosenheim mit ihrer Arbeit fertig sein.

Luisa schießt unzählige Fotos vom Tor zum Tunnel, vom Tunnelgang, vom Kuppeldom und vom Lift selbst. Simon befragt unterdessen Brunner und das Wirtsehepaar. Vor allem Brunner soll in allen Details schildern, wie er die Situation am Morgen vorgefunden hat und was gestern Abend war, als er seinen Arbeitsplatz verlassen hat.

»Ich weiß nicht, ob ich überhaupt mit Ihnen reden darf«, wendet Brunner ein. In seinem Kopf spukt die Personalakte herum, das Interview mit dem holländischen Radiosender, die weggewischten Schmierereien am Portal. Seine Beine schlottern, auch der mächtige Bauch rollt hin und her. Simon spürt Brunners Aufregung und separiert ihn von den anderen. Im Tunnelgang redet er auf ihn ein, er möge doch bitte die Wahrheit sagen.

»Aber der Sargmacher, den muss ich doch vorher informieren!« Brunner erklärt Simon den Vorfall mit dem Radiosender. Auch bei der Polizei gibt es strenge Hierarchien. Simon versteht Brunners Sorge. Er sagt ihm mehrfach zu, seine Aussagen absolut vertraulich zu behandeln. Dann fängt dieser an zu erzählen. Alles. Auch von den Reichsbürgern gestern berichtet er.

»Dass Sie das Tor gleich gereinigt haben, spricht doch für Sie«, sagt Simon schließlich und schaut ihm direkt in die Augen. »Sie konnten ja nicht wissen, wie es im Lift aussieht. Ihr Chef soll froh sein, so tüchtige Mitarbeiter zu haben.«

Simon lässt Brunner wieder zu dem Wirtsehepaar zurückkehren. Die Sonne streichelt das Kehlsteinhaus mit milden freundlichen Strahlen. Nachdem die Rosenheimer Spurensicherung eingetroffen ist und ihre Arbeit im Lift beginnt, steigen Simon und Luisa zu Fuß die rund einhundertvierzig Meter nach oben zum Kehlsteinhaus. Um das Haus herum und am Haus selbst entdecken sie nichts Verdächtiges.

Per Funk bitten sie das Wirtsehepaar und den Koch, ebenfalls zu Fuß nach oben zu kommen. Mit ihren Körben und Taschen brauchen die eine Weile, bis sie endlich am Kehlsteinhaus angelangt sind. Die beiden Bergpolizisten bitten die drei vom Wirtshaus, sich umzuschauen, ob ihnen irgendetwas Besonderes auffällt. Doch das ist nicht der Fall.