Mord in der Steinbach-Villa - Gudrun Leyendecker - E-Book

Mord in der Steinbach-Villa E-Book

Gudrun Leyendecker

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Beschreibung

In der Steinbach Villa wird Hausherr Adalbert Steinbach, ein reicher Fabrikant, ermordet aufgefunden. Zwischen den merkwürdigen Trophäen des Opfers und erstaunlich gesprächigen Familienmitgliedern beginnt Ermittlerin Hanna Blohm ihre Suche nach der Wahrheit. Mehr als sechs Verdächtige, düstere Geheimnisse und eine Atmosphäre voller Skurrilität, ein Krimi, der mit psychologischem Feingefühl und feiner Ironie die Masken der Villa fallen lässt.

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Seitenzahl: 184

Veröffentlichungsjahr: 2025

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In der Steinbach Villa wird Hausherr Adalbert Steinbach, ein reicher Fabrikant, ermordet aufgefunden.

Zwischen den merkwürdigen Trophäen des Opfers und erstaunlich gesprächigen Familienmitgliedern beginnt Ermittlerin Hanna Blohm ihre Suche nach der Wahrheit.

Mehr als sechs Verdächtige, düstere Geheimnisse und eine Atmosphäre voller Skurrilität – ein Krimi, der mit psychologischem Feingefühl und feiner Ironie die Masken der Villa fallen lässt.

Dieser Roman ist Natascha Frieben gewidmet, die nicht nur geduldig meine Sonderwünsche bei ihrer Gestaltung der schönen Cover berücksichtig, sondern auch viele weitere Talente hat, die unsere Kommunikation in ungeahnte Höhen und Tiefen führen und unseren Gedanken Flügel verleiht.

Gudrun Leyendecker ist seit 1995 Buchautorin. Sie wurde 1948 in Bonn geboren.

Siehe Wikipedia.

Sie veröffentlichte bisher über 110 Bücher, unter anderem Sachbücher, Kriminalromane, Liebesromane, und Satire. Leyendecker schreibt auch als Ghostwriterin für namhafte Regisseure. Sie ist Mitglied in schriftstellerischen Verbänden und in einem italienischen Kulturverein. Erfahrungen für ihre Tätigkeit sammelte sie auch in ihrer Jahrzehntelangen Tätigkeit als Lebensberaterin.

Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

1. Kapitel

Hanna Blohm stieg aus dem Wagen und blieb für einen Augenblick reglos auf dem Kiesweg stehen. Vor ihr erhob sich die Steinbach-Villa, ein weitläufiger Altbau, der seine Jugendjahre längst hinter sich hatte, und in der sorgfältigen Renovierung eine gewisse zeitlose Strenge bewahrte. Das helle Mauerwerk wirkte glatt und tadellos, die hohen Fenster glänzten wie frisch poliert.

Der Garten, der sich in geraden Linien bis an die steinernen Stufen des Eingangs zog, war in peinlicher Genauigkeit angelegt: Rabatten im rechten Winkel, Rasenflächen wie mit dem Lineal gezogen, Ziersträucher, die keine Willkür duldeten. Es fehlte an Einfällen, an Überraschungen – ein Garten ohne Seele, der sich ganz der Vorstellung von Ordnung unterwarf. Hanna empfand ihn als eine Visitenkarte des verstorbenen Hausherrn, straff und ohne jedes Lächeln, so, wie man ihn ihr beschrieben hatte.

Mit gemessenem Schritt ging sie die Stufen hinauf. Als sie an der schweren Eingangstür die Klingel betätigte, hallte der Ton lang und klar durch das Haus. Wenig später öffnete sich die Tür.

Vor ihr stand eine Frau mittleren Alters, klein gewachsen, schmal, in einem schlichten grauen Kleid, das aus der Mode geraten war. Ihr Gesicht wirkte glatt, fast ausdruckslos, doch nicht ohne Güte. Der Blick wich Hannas Augen aus, und ihre Stimme klang kaum mehr als ein gehauchtes Wort:

„Sie sind Frau Blohm? Sicher geht es um den Mord an Herrn Steinbach?!“

„Kommissar Mauser schickt mich“, erwiderte Hanna freundlich, „ich möchte mit den Bewohnern sprechen.“

Die Frau neigte leicht den Kopf, als sei auch dies ein Befehl, den man gehorsam auszuführen hatte. „Ich bin Virginia, die Haushälterin. Treten Sie ein.“

Hanna folgte ihr in die Eingangshalle. Der erste Eindruck war zugleich prächtig und befremdlich: Marmorfliesen, hohe Wände, Stuckdecken – und dazwischen, an scheinbar wahllos gewählten Stellen, standen Schaufensterpuppen. Manche trugen Abendkleider, andere einfache Mäntel, alle waren in regloser Haltung erstarrt. Sie verliehen dem Raum etwas Künstliches, beinahe Gespenstisches, als hätte sich eine Gesellschaft eingefunden, die das Atmen verlernt hatte.

Virginia bemerkte Hannas Blick und sagte leise, fast entschuldigend: „Herr Steinbach ließ sie aus der Fabrik hierherbringen. Er war stolz auf sie. Manchmal sagte er, sie seien die besten Beweise für das, was er erschaffen habe.“

Hanna musterte die Puppen. Die Miene aus starrem Plastik, die sorgfältig gezeichneten Lippen, die glasigen Augen – es war, als hätte jemand versucht, das Geheimnis des Lebens zu greifen, aber im entscheidenden Moment sei ihm der Atem versagt geblieben.

„Er sah sich gern als Schöpfer“, fuhr Virginia fort, „ein wenig wie ein Gott, der Menschen formt. Auch wenn sie nicht lebendig sind. Für ihn waren diese Figuren ein Spiegel seiner Macht, seiner Fähigkeiten. Und er wollte, dass wir alle täglich daran erinnert wurden.“

Hanna nickte, ohne ihre Regung preiszugeben. Zwischen der kühlen Eleganz der Villa und den schweigenden Gestalten, die überall wie Wachen postiert waren, lag eine unheilvolle Symbolik, die mehr über den Hausherrn verriet, als er selbst je gesagt haben mochte.

Im kleinen Salon angekommen, nahm Virginia am Rand des Sessels Platz, während Hanna sich ihr gegenübersetzte.

„Virginia,“ begann Hanna leise, „erzählen Sie mir bitte von Herrn Steinbach. Wie war er?“

Die Haushälterin faltete die Hände im Schoß, zögerte einen Moment, und ihre Stimme nahm den Ton einer wohl einstudierten Sprache an:

„Er war ein sehr kluger Geschäftsmann, gnädiges Fräulein. Herr Steinbach wusste stets, was er tat. Er hatte ein großes Selbstbewusstsein, und jeder – in der Firma wie hier im Haus – achtete ihn. Er hat so viel geleistet. Unter seinen Händen ist die Fabrik aufgeblüht, und auch zu Hause hat er immer dafür gesorgt, dass alles seine Ordnung hatte.“

Sie holte kurz Luft, als wolle sie nicht zu viel verraten, und fuhr dann leiser fort:

„Er war praktisch, tüchtig, ehrgeizig. Manchmal streng. Aber er wollte, dass jeder von uns den geraden Weg geht.“

Ihre Hände ruhten nun still, doch ihre Augen flackerten für einen Moment, als hätte sich hinter der einstudierten Rede etwas anderes geregt – etwas, das Hanna nicht entging.

Hanna lehnte sich zurück, das Notizbuch geöffnet, der Stift bereit. Die Puppen am Rand des Salons schienen ihr zuzuhören, ihre stummen Gesichter ein illusorisches Publikum zu bilden, das jede Äußerung festhielt. Hanna sog jedes Wort von Virginia in sich auf, als prüfe sie es auf Echtheit.

„Hatte Herr Steinbach Feinde?“ fragte sie ruhig. „Gab es jemanden, der ihm offen oder heimlich schaden wollte?“

Virginia sah einen Augenblick lang an die Wand, als suchte sie in den Bildern nach der Antwort. Dann sah sie Hanna wieder an, und ihre Stimme war so fest, wie man es von ihr noch nicht gehört hatte. „Feinde? Nicht hier. In der Fabrik mag es Konkurrenz oder Neider gegeben haben, Menschen, die um Aufträge rangen oder vergeblich versuchten, ihm das Wasser abzugraben. Aber Feinde… hier?“ Sie schüttelte kaum merklich den Kopf. „Ich würde für jeden von uns hier die Hand ins Feuer legen, wenn es um so etwas geht. Keine von den Personen, die unter diesem Dach leben, würde Herrn Steinbach so etwas Brutales antun.“

„Die Spurensicherung hat keine Einbruchsspuren gefunden“, hakte Hanna nach. „Sie haben die Türen und die Fenster geprüft?“

„Ja,“ sagte Virginia leise. „Alles war verschlossen. Ich weiß. Herr Steinbach saß noch spät in seinem Arbeitszimmer; er arbeitete oft bis tief in die Nacht. Da kann man leicht annehmen, dass der Mörder aus einem dieser Zimmer hier kam.“ Ihre Finger legten sich wie unwillkürlich ineinander. „Ich glaube…“, sie suchte nach Worten, „ich glaube, der Mord war gut geplant. Es muss jemand gewesen sein, der wusste, wie man unbemerkt hereinkommt. Das muss jemand vorher ausgekundschaftet haben. Wahrscheinlich war es jemand, der wusste, wann Herr Steinbach allein arbeitet. Ich denke, es war ein Fremder von außerhalb, aus der gefühllosen Geschäftswelt. Solche Menschen… sie haben Mittel und Wege, und sie sind nicht zimperlich.“

Hanna machte sich eine kurze Notiz. „Sie meinen also einen professionellen Täter? Einen, der leise gearbeitet hat, vielleicht mit einem Schalldämpfer?“

Virginia nickte, die Augen auf ihren Schoß gesenkt. „Das habe ich mir jedenfalls so gedacht. Niemand hat etwas gehört in der Nacht. Kein Geräusch, kein Tumult. Wenn jemand von uns die Tat begangen hätte, so hätte man doch etwas bemerken müssen: ein Flüstern, oder vielleicht Schritte. Aber da war nichts. Es geschah in einer Nachtstunde, unbemerkt, und danach war nichts mehr wie vorher. So etwas kann nur ein völlig Fremder getan haben.“

„Und Sie schließen vollkommen aus, dass es jemand aus dem Haus war?“

„Unbedingt, ja.“ Die Antwort kam knapp und entschieden.

Virginia war noch nicht zufrieden. „Hier wohnen außer ihnen noch sechs Personen.“

„Wenn es um unsere Bewohner geht, die drei Söhne, Frau Brigitte Steinbach, seine Exfrau, die Schwester Ella, den Forstmeister Josef, ich kenne sie alle gut und seit Jahren. Manches ist zwischen ihnen nicht ohne Schwierigkeiten, wie überall auf der Welt, aber einen Mord traue ich keinem zu. Sie mögen zuweilen Streit haben, aber Mörder sind sie nicht.“

Hanna beobachtete genau, wie sich Virginias Hände bewegten, fragte noch einmal: „Sind Sie sich wirklich sicher? Würden Sie niemanden hier verdächtigen, nicht einmal insgeheim?“

Virginia richtete sich auf. „Nein. Wirklich nicht. Wenn ich jemandem misstraute, würde ich es Ihnen sagen. Aber mein Gefühl sagt mir etwas anderes. Die Spur führt nach draußen, da bin ich mir ganz sicher. Und wenn Sie mich fragen — schicken Sie die Spurensicherung nochmal. Vielleicht haben wir etwas übersehen. Vielleicht gibt es da irgendeine kleine Tür, einen lockeren Stein in der Mauer, irgendetwas, das einem den Weg nach innen ermöglicht.

Das Haus ist alt; es hat Nischen, die man übersehen kann.“

Hanna notierte Virginias Bitte. In dem kleinen Raum, zwischen den toten Statuen aus Plastik und Stoff, verblasste der Nachhall ihrer Worte. Es musste alles noch einmal genau überprüft werden, das war sicher.

*

2. Kapitel

Hanna hatte gerade das Gespräch mit Virginia beendet, als Schritte im Kies vor der Villa zu hören waren. Ein kräftiges Schnauben und das helle Klirren von Steigbügeln mischten sich in die ungewöhnlichen Klänge. Die junge Ermittlerin trat ans Fenster und sah, wie ein hochgewachsener Mann in Reitkleidung das Pferd einem Stallburschen übergab, bevor er federnden Schrittes die Treppen hinaufstieg.

Die Tür öffnete sich, und er blieb kurz überrascht stehen, als er Hanna im Eingangsbereich erblickte. Sein Haar war vom Reiten zerzaust, die Stiefel staubig, die Reithandschuhe hielt er noch in der Hand.

„Ach, wir haben Besuch?“ fragte er mit einem leichten Lächeln, das mehr Neugier als Freundlichkeit verriet. „Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?“

„Hanna Blohm, im Auftrag der Kriminalpolizei“, stellte sie sich vor. „Kommissar Mauser hat mich gebeten, mit den Hausbewohnern über ein paar Fakten zu sprechen.“

Er lachte trocken, zog die Augenbrauen hoch und erwiderte: „Wolfram Steinbach. Der älteste Sohn des Opfers. Wenn Sie wirklich nur ein paar Fragen haben, bin ich erleichtert. Ich hatte schon Angst, Sie wollen hier gleich ein Verhör veranstalten.“

„Keine Sorge“, sagte Hanna mit einem kaum sichtbaren Lächeln. „Es soll nicht länger dauern als nötig. Aber zunächst: bitte nehmen Sie mein Beileid entgegen.“

Der Mann winkte fast ungeduldig ab. „Danke. Ja, ich weiß, das gehört sich. Aber wundern Sie sich bitte nicht, wenn ich nicht so aussehe, als hätte ich einen Verlust erlitten. Offen gesagt, hier im Haus ist niemand so traurig, wie man es vielleicht erwartet.“

Hanna verbarg ihr Erstaunen sorgfältig und notierte sich im Stillen, wie offen er sprach. Ein Geständnis der Gleichgültigkeit konnte genauso verdächtig wirken wie gespielte Trauer.

„Darf ich fragen, warum?“ sagte sie vorsichtig. „Ihr Vater war doch…“

„…mein Vater?“ fiel er ihr ins Wort. „Verzeihen Sie, wenn ich lache. Er war alles Mögliche, aber kein Vater. Wenn Sie es genau wissen wollen: Alle Probleme, die man sich nur denken kann, hatte ich mit ihm die ganzen Jahre lang. Mit uns dreien, also auch meinen Brüdern, war er genauso.“

Hanna sah ihn aufmerksam an. „Welche Probleme meinen Sie?“

Er lachte wieder, diesmal bitter, und zog die Reithandschuhe enger um seine Finger. „Wo soll ich anfangen? Bei meiner Mutter vielleicht. Sie war eine sanfte Frau. Er hat sie auf dem Gewissen. Er war so böse zu ihr, dass sie krank wurde und schließlich starb. Wir Kinder? Wir waren die meiste Zeit im Internat, abgeschoben, wie Gepäckstücke, die man aus dem Weg räumt. Und wenn wir in den Ferien hier waren, herrschte er wie ein Diktator. Keine Wärme, keine Nähe, nur Vorschriften. Er war ein reiner Materialist, gnadenlos nüchtern. Ohne Gefühl. So kalt wie seine Puppen, die er hier überall aufgestellt hat, damit wir ja nie vergessen, wie großartig er sich selbst fand.“

Er lachte plötzlich auf, fast spöttisch, und deutete auf eine Puppe im Eck, die in einem knallroten Ballkleid erstarrt stand. „Sehen Sie die da? Die hat er besonders gemocht. Stellen Sie sich vor: Er hat ihr mal einen Namen gegeben. Theresia. Und er bestand darauf, dass wir ihr zu Weihnachten Geschenke unter den Baum legten. Da hab’ ich zum Spaß ein Stück Schokolade hingelegt. Wissen Sie, was er sagte? ‚Sie ist mehr wert als du mit deinen schlechten Späßen.‘“

Hanna ließ sich nicht anmerken, wie befremdlich sie die Geschichte fand. Doch sie registrierte den Tonfall: ein Gemisch aus Spott, Trotz und einer alten Kränkung, die längst nicht überwunden war.

„Sie fühlten sich also ungeliebt?“ fragte sie schließlich.

„Einer von ihnen.“ Er verbeugte sich theatralisch, als stünde er auf einer Bühne, und zwinkerte. „Wenn Sie also jemanden brauchen, der sich schon immer im Streit mit meinem Vater befand – voilà, hier stehe ich.“

Die Selbstironie war spürbar, doch Hanna erkannte darin auch die etwas überhebliche Haltung eines Mannes, der es nicht nötig hatte, sich zu verstellen. Gerade deshalb musste sie ihn umso ernster nehmen.

Hanna hielt den Blick auf Wolfram gerichtet. „Sie sprechen erstaunlich offen über Ihre Abneigung gegen ihren Vater. Glauben Sie, dass Sie von der Polizeiverdächtigt werden?“

Wolfram grinste, als habe sie gerade einen guten Witz gemacht. „Aber natürlich. Wir alle. Mein Vater wird erschossen, und jeder Bewohner dieses Hauses ist verdächtig. Das weiß ich, das wissen Sie, und das weiß Ihr Chef sicher auch. Und ich weiß auch schon, wonach sie jetzt weiter fragen. Vernünftige Alibis? Haben wir nicht. Wir saßen am Mordabend alle gemeinsam beim Abendessen, wie es sich gehörte. Ein festes Ritual, von dem man nicht abwich, und danach ist jeder in seinem Zimmer verschwunden. Glauben Sie mir, niemand hatte Lust, den restlichen Abend mit dem ‚Herrn des Hauses‘ zu verbringen.“

„Und warum nicht?“

„Weil er schlechte Laune hatte.“ Wolfram zuckte die Schultern, als sei das nichts Besonderes.

„Gab es einen Streit?“

„Nein, nicht direkt. Er war wütend – wegen einer seiner Lieblingspuppen. Eine dunkelhaarige Japanerin, in einem Kimono. Einer ihrer Arme war abgebrochen, und niemand wollte zugeben, daran schuld zu sein. Er hat es gehasst, wenn man seine Figuren auch nur berührte. Und dann das…“ Wolfram schüttelte amüsiert den Kopf. „Er sah darin eine persönliche Beleidigung. Als hätte man ihm selbst einen Arm abgerissen.“

Hanna spürte, wie ein Frösteln über ihre Haut lief. „Können Sie mir diese Puppe zeigen?“

„Natürlich.“ Wolfram erhob sich und führte sie in einen Nebenraum. Auch hier standen mehrere Puppen in strenger Formation: ein Herr im Abendanzug, eine blonde Dame im Cocktailkleid, ein Kind Spielanzug. Mitten unter ihnen fiel die Japanerin ins Auge. Der seidene Kimono schimmerte blass, das Gesicht war mit zarter Präzision bemalt, doch der rechte Arm fehlte.

Hanna trat näher, beugte sich hinunter und betrachtete die Bruchstelle. Sie war nicht glatt, nicht von einem unglücklichen Stoß oder Sturz herrührend, sondern zerfasert, als habe jemand mit roher Gewalt daran gerissen. Ein absichtlicher Akt.

„Das sieht nicht nach einem Unfall aus,“ murmelte sie. „Eher nach… Wut.“

Wolfram legte den Kopf schief, seine Miene schwankte zwischen Spott und Gleichgültigkeit. „Mag sein. Aber glauben Sie mir! ich bin kein Puppenwächter. Ich weiß nicht, wer der Bösewicht war. Vielleicht einer meiner Brüder, vielleicht die Haushälterin, vielleicht…“ Er deutete theatralisch auf die Puppe im Abendkleid, „…vielleicht hat sie sich selbst gewehrt.“

Er lachte leise über seinen eigenen Scherz, doch Hanna blieb ernst. Für sie war der abgebrochene Arm kein bloßes Detail – er war eine Spur. Ein kleiner, gewaltsamer Vorbote, der in der ordentlichen Welt des Hauses etwas Dunkles, Zerstörerisches ankündigte.

*

3. Kapitel

Die Tür öffnete sich lautlos. Hanna fuhr herum, eine Frau trat ein – groß, elegant, in einem smaragdgrünen Kleid, das leicht schimmerte, als sei es für einen Abend im Theater bestimmt und nicht für ein Gespräch im Hause eines Ermordeten.

„Darf ich?“ sagte sie und lächelte, ohne eine Antwort abzuwarten. Ihr Auftreten war derart selbstsicher, dass selbst Wolfram mit einem kaum hörbaren Seufzer verschwand. Als Hanna sich umsah, war auch die Haushälterin nicht mehr da – irgendwann, während des Gesprächs mit dem ältesten Sohn des Opfers, hatte sie sich still davongeschlichen.

Die Fremde hielt Hanna die Hand hin. „Brigitte“, stellte sie sich vor, „die Exfrau. Sie wundern sich bestimmt, dass ich noch immer hier lebe, unter einem Dach mit meinem Exmann.“

Ihre Stimme war weich, zugleich von einer Sicherheit getragen, die keinen Widerspruch duldete.

„Nun…“, begann Hanna, doch Brigitte hob schon die Hand.

„Ja, ja, das klingt ungewöhnlich. Aber glauben Sie mir: Man konnte es mit Adalbert aushalten, wenn man ein ganz dickes Fell hatte. Und das meine ich wörtlich. Zu Ihrer Information: Das Haus gehörte einmal meiner Familie, doch es war hoch verschuldet, ich konnte es nicht halten. Da kam Adalbert ins Spiel.

Er kaufte es – mit einem Vertrag, der mir nun, nach seinem Ableben wenigstens diese kleine Wohnung rettet. Mein eigener, kleiner Besitz, eine Insel inmitten seines Reiches.“

Brigitte ging ein paar Schritte durch den Raum, als wolle sie die Puppen mustern wie alte Bekannte. „Er zog damals mit seinen drei schulpflichtigen Söhnen ein, ich half, sie großzuziehen, soweit sie überhaupt zu Hause waren. Viel Zeit verbrachten sie in den verschiedenen Internaten. Aber das war auch ihr Glück – dort lernten sie Menschen zu werden und auch Manieren, die im Schatten ihres Vaters sonst wohl verkümmert wären. Wir verstehen uns gut, die jungen Herren und ich.“ Sie blickte auf die verletzte Puppe.

Hanna folgte ihrem Blick. Dann zeigte sie auf die Japanerin ohne Arm. „Und wissen Sie vielleicht, wer dieser Dame dieses wichtige Körperteil entrissen hat?“

Brigitte blieb stehen. Ein Lächeln, süffisant, beinahe verschwörerisch, glitt über ihr Gesicht. „Ach, gnädige Frau Kommissarin – solche kleinen Unfälle geschahen von Zeit zu Zeit. Wenn sich eine von uns allzu sehr über Adalbert geärgert hatte, konnte schon mal ein Arm, ein Hut, ein Kopf zu Bruch gehen. Die Puppen mussten so einiges erdulden. Sie waren die stummen Stellvertreter für das, was man ihrem Besitzer am liebsten angetan hätte.“

Ihre Stimme war seidig, doch das Funkeln in den Augen verriet mehr als sie sagte. Hanna spürte, dass diese Frau nicht nur eine frustrierte Exgattin war, sondern eine Mitwisserin, die mit den Puppen-Geschichten vertrauter war, als sie zugeben wollte.

Für einen Moment meinte Hanna, die Japanerin im Kimono blinzeln zu sehen – ein Schimmer auf dem Glasauge, das sie höhnisch anstarrte.

Brigitte hingegen strich sich nur gelassen eine Haarsträhne zurück und fügte hinzu: „Adalbert hat seine Puppen mehr geliebt, als er je zugegeben hätte. Mit Menschen dagegen konnte er nicht wirklich umgehen. “

„Haben Sie Ihren Ex-Mann nach der Trennung oft gesehen?“ fragte Hanna vorsichtig.

Brigitte, die lässig an der Lehne eines Stuhls Platz genommen hatte, schlug die Beine übereinander. „Gesehen, ja. Aber nicht mehr als unbedingt nötig. Ich habe ihm, soweit es ging aus dem Weg gehen müssen, schon als Selbstschutz – glauben Sie mir, es war eine Wohltat, ihn nicht dauernd um sich zu haben. Die einzige Ausnahme war das Abendessen. Da habe ich mich zu seinen Söhnen gesetzt, ihretwegen, nicht seinetwegen. Ich wollte nicht, dass die Jungen ihm allein ausgeliefert sind. Ich war eine Art… moralische Gegenstimme am Tisch.“

„War er laut? Wurde er handgreiflich?“ fragte Hanna.

Brigitte schüttelte entschieden den Kopf. „Das wäre möglicherweise leichter gewesen. Nein, Adalbert bestrafte mit Worten – verächtlich, kalt, zynisch. Er hatte die Gabe, einen mit einem einzigen Satz so kleinzumachen, dass man sich wie Staub fühlte. Seine drei Söhne hat er stets als Versager hingestellt. Für ihn war niemand gut genug.“

Hanna ließ das Gesagte sinken, dann fragte sie: „Könnten Sie mir etwas mehr über die drei Herren erzählen? Was tun sie heute?“

Ein Hauch von Stolz huschte über Brigittes Gesicht. „Wolfram, der Älteste, besitzt ein Fitnessstudio. Manchmal steht er selbst mit an den Geräten, aber seine Leidenschaft ist das Reiten – er ist Dressurreiter, hat schon Pokale gewonnen. Nikolaus, der Mittlere, hat einen guten Blick fürs Handwerk. Er renoviert alte Häuser, und wenn ihn die Muse packt, malt er. Landschaften, Porträts, auch Abstraktes – einiges wurde sogar in einer Galerie ausgestellt. Und Peter-Konstantin, der Jüngste, ist Musiker. Pianist in Ausbildung, er gibt auch Klavierunterricht. Ein sensibler, begabter junger Mann.“

Sie machte eine kurze Pause, und dann senkte sich ihre Stimme zu einem kühlen Ton. „Doch all das zählte für Adalbert nicht. Für ihn war nur das Geld der Fabrik wichtig – und das floss reichlich. Seine Schaufensterpuppen gingen nach ganz Europa hinaus, besonders nach Frankreich und Italien, wo man für Mode noch mehr übrighat als in unserem Land. Die Söhne dagegen hätten für ihn auch aus Holz oder Porzellan sein können – solange sie nicht nach seiner Pfeife tanzten, waren sie wertlos.“

Brigittes Hände lagen reglos im Schoß, doch Hanna spürte, dass unter der glatten Oberfläche brodelnde Gefühle lauerten – gegen den Mann, der selbst im Tod noch Schatten warf.

Und Sie, Frau Steinbach“, fragte Hanna leise, „wie sehen Sie die Sache? Glauben Sie, dass sich der Täter unter den Hausbewohnern befindet?“

Brigitte hob ihr Kinn ein Stück höher, ein Lächeln um die Lippen, das nicht freundlich wirkte. „Aber nein. So gern Ihr Chef das glauben möchte – hier im Haus gibt es keinen Mörder. Adalbert hatte viele Feinde, mehr als er Freunde hatte. Wenn Sie mich fragen: er hat mit seinen Puppen Dinge getrieben, die nicht ganz sauber waren.“

Hanna runzelte die Stirn. „Wie meinen Sie das?“

„Nun,“ begann Brigitte und ließ ihre Stimme geheimnisvoll sinken, „diese Puppen, die er baute, waren nicht alle massiv. Einige waren hohl. Und glauben Sie mir, in so einem leeren Körper lässt sich vieles verbergen. Schmuggelware, Rauschgift – wer weiß. Ich habe keine Beweise, aber es würde mich nicht wundern, wenn Adalbert in Geschäfte verwickelt war, die besser im Dunkeln bleiben.“

Hanna schwieg einen Moment, während in ihrem Kopf ein neues Bild entstand:

Die makellosen Figuren, die da standen wie stumme Wächter warenvielleicht Hüllen für weit mehr als bloß Kunststoffe?

„Darf ich mich einen Augenblick ins Nebenzimmer verziehen?“ fragte Hanna und holte das Mobiltelefon aus ihrer Tasche, „Ich möchte meinem Vorgesetzten von diesem Verdacht berichten.“

„Natürlich.“ Brigitte erhob sich geschmeidig. „Kommen Sie mit. Im Schreibzimmer können Sie ungestört reden.

Sie führte Hanna in ein großzügiges Arbeitszimmer. Der Geruch von Zigarrenrauch hing noch schwer in den Vorhängen. An den Wänden entdeckte