Möwenschuld - Stina Jensen - E-Book

Möwenschuld E-Book

Stina Jensen

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Beschreibung

Eine Finca inmitten der mallorquinischen Berge. Levke Sönkamp will dort in einem Workshop endlich zur Ruhe kommen. Doch was vielversprechend beginnt, mündet in einen Albtraum. Eine Teilnehmerin kehrt vom morgendlichen Yoga nicht zurück. Kurz darauf ist eine weitere Person verschwunden.
Levke wendet sich an Chefinspektor Barceló. Der ermittelt gerade in einem rätselhaften Todesfall, der sich in einer Finca ganz in ihrer Nähe zugetragen hat. Gibt es eine Verbindung?
Was haben der Therapeut und die anderen Gruppenteilnehmer zu verbergen?
Als eine der Vermissten grausam zugerichtet aufgefunden wird, bröckelt nicht nur Levkes sorgsam errichteter Schutzschild, sondern auch für Jordi Barceló wird der Fall mit einem Mal persönlich …

NEUAUFLAGE!
Bei diesem Kriminalroman handelt es sich um eine Neuauflage des Romans »Serra de Tramuntana – blutrot« der Autorin Stina Jensen.

Privatermittlerin mit stolperndem Herzen
Nach einer persönlichen Tragödie ist Levke Sönkamp auf Mallorca gestrandet. Seither wird sie regelmäßig Zeugin von Verbrechen. Das gefällt weder ihr noch Chefinspektor Jordi Barceló. Dennoch schafft es eine merkwürdige Anziehung zwischen ihnen. Hat das Schicksal die beiden zusammengeführt? Eines steht jedenfalls fest: Mit jedem neuen Fall werden sie ein besseres Team.
Spannung und Gefühl vor bedrückender Küstenkulisse.

Mehr von Keller & Jensen:
Möwentrauer – Levke-Sönkamp 1
Möwenschuld – Levke-Sönkamp 2
Jeder Teil der Reihe ist in sich abgeschlossen und kann unabhängig von den anderen gelesen werden.

Thriller:
Vater Mutter Kind
Hirngespenster
Klirrende Stille

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INHALT

Neuauflage

Keller & Jensen

Das Buch

Mittwoch

Freitag

Levke

Inmaculada

Jordi

Samstag

Levke

Jordi

Pfingstsonntag

Inmaculada

Jordi

Levke

Inmaculada

Pfingstmontag

Levke

Jordi

Levke

Inmaculada

Levke

Jordi

Levke

Inmaculada

Levke

Jordi

Levke

Jordi

Inmaculada

Levke

Jordi

Levke

Jordi

Dienstag

Levke

Jordi

Inmaculada

Jordi

Levke

Jordi

Levke

Jordi

Levke

Jordi

Inmaculada

Jordi

Levke

Jordi

Levke

Epilog

Nachwort

Kostenloses eBook

Weitere Krimis von Keller & Jensen

NEUAUFLAGE

Bei diesem Kriminalroman handelt es sich um eine umfänglich überarbeitete Neuauflage des Romans »Serra de Tramuntana – blutrot« der Autorin Stina Jensen.

Sollten Sie dieses eBook versehentlich doppelt erworben haben, wenden Sie sich bitte unter [email protected] an die Autorin.

Hinter dem Autorennamen Keller & Jensen verbirgt sich die aus Hessen stammende Autorin Ivonne Keller. Ihr besonderes Interesse beim Schreiben gilt Menschen in psychischen Extremsituationen. Ihre Kurzkrimis sind in zahlreichen Anthologien deutscher Verlage zu finden.

Unter dem Pseudonym Stina Jensen verfasst sie romantische Insel-, Gipfel- und Winterromane, in denen neben der Liebe auch Familiengeheimnisse und persönliche Krisen Thema sind.

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DAS BUCH

Stell dir vor, du willst dir was Gutes tun.

Fährst zur inneren Einkehr zu einem Selbstfindungsworkshop.

Doch statt Entspannung wartet ein Verbrechen auf dich.

Eine Finca inmitten der mallorquinischen Berge. Levke Sönkamp will dort in einem Workshop endlich zur Ruhe kommen. Doch was vielversprechend beginnt, mündet in einen Albtraum. Eine Teilnehmerin kehrt vom morgendlichen Yoga nicht zurück. Kurz darauf ist eine weitere Person verschwunden.

Levke wendet sich an Chefinspektor Barceló. Der ermittelt bereits in einem Todesfall, der sich ganz in der Nähe zugetragen hat. Gibt es eine Verbindung?

Was haben der Therapeut und die anderen Gruppenteilnehmer zu verbergen? War das Ganze mehr als nur ein Workshop?

Als eine der Vermissten grausam zugerichtet aufgefunden wird, bröckelt nicht nur Levkes sorgsam errichteter Schutzschild, sondern auch für Jordi Barceló wird der Fall mit einem Mal persönlich …

MITTWOCH

Das Zimmer lag im Halbdunkel. Nur durch die defekte Jalousie drang ein Sonnenstrahl ins Innere und fiel genau auf Kai Richters Nasenspitze. Alles war ruhig, man hörte lediglich das Brummen der Fliegen, die über seinem Körper schwirrten. Eine von ihnen flog über das Wasserglas und das leere Tablettenblister auf dem Nachttisch hinweg. Eine andere tastete seine geschlossenen Lider mit ihrem Saugrüssel ab. Ihre Artgenossin landete auf dem von der Sonne erleuchteten Fleck seiner Nase und krabbelte ihm in das linke Nasenloch. Kai Richter bewegte sich nicht.

Schabende und klopfende Geräusche drangen gedämpft ins Schlafzimmer, darunter mischten sich leise fluchende Stimmen. Jemand machte sich an der Eingangstür des Hauses zu schaffen.

Eben gab das Schloss nach, und die Tür sprang auf.

Zwei dunkelhaarige, mittelgroße Männer steckten die Köpfe in die Diele.

»Hallo? Jemand da?«, rief einer von ihnen auf Mallorquín. Dann murmelte er: »Es riecht komisch.«

Als sich nichts rührte, rief er noch einmal. Diesmal lauter.

»Mierda«, sagte der Zweite und hielt sich die Nase zu. »Wir rufen die Polizei.«

»Warte doch mal.« Der andere ging einen Schritt in den Hausflur hinein. »Lass uns erst mal nachschauen. Vielleicht ist es nur eine vergammelte Pizza.«

FREITAG

LEVKE

»Gefällt dir die Wohnung?« Max umarmte Levke zärtlich von hinten. Er hauchte ihr einen Kuss aufs Ohr.

Die Mädchen rangelten miteinander auf dem zerschlissenen Sofa, das die Vormieterin ihnen überlassen würde. Die blonden Zöpfe der Zwillinge waren im Begriff, sich aufzulösen, erhitzt strahlten die beiden Levke an. »Hier wollen wir bleiben, Mama. Für immer!«

»Frau Sönkamp, haben Sie mich gehört?«

Levke schrak zusammen. »Ja, die Wohnung ist wirklich sehr hübsch.« Sie nickte der Maklerin zu und sah sich noch einmal im Wohnzimmer um. Es war hell gefliest so wie auch der Rest des Apartments. Die Wände waren frisch gekalkt und leuchteten weiß. Die Vormieterin wollte den Nachmietern neben dem durchgesessenen Sofa auch einen Schrank aus Olivenholz überlassen, in dem Levke ihren gesamten Besitz würde unterbringen können. Auf dem Boden lag ein abgewetzter Orientteppich.

Vom Wohnzimmer aus konnte man auf einen schmalen Balkon treten. Den hätte Levke nicht gebraucht, sie ging nicht mehr auf Balkone. Die Aufforderung der Maklerin, doch hinauszukommen und die noch angenehm kühle Luft zu genießen, ignorierte sie. Stattdessen hielt sie sich am Türrahmen fest und spähte über das schmiedeeiserne Geländer hinweg, sah hinunter in die kleine Gasse, die in Richtung Plaça Major führte. Nicht weit von dort befand sich auch der Market Olivar, die Kleinmarkthalle, die Levke so mochte. Zentraler ging es kaum. Dafür hatte das Apartment allerdings auch seinen Preis. Knapp tausend Euro für zwei Zimmer, Küche und Minibad. Wenn sie nur zwei, drei Kilometer weiter in den Randbezirken Palmas etwas suchen würde, wäre dieselbe Wohnung nur noch halb so teuer. Aber das wollte sie nicht. Hier war es am authentischsten.

»Und?« Die Maklerin sah sie erwartungsvoll an. »Soll ich Sie vormerken?«

»An wievielter Stelle auf Ihrer Warteliste wäre ich denn diesmal?«

Die Maklerin blätterte in ihren Unterlagen. »An dreizehnter.«

»Wow.« Heute schien Levkes Glückstag zu sein. So weit vorn war sie noch nie gewesen. Sie konkurrierte vor allem mit anderen Ausländern, die sich ebenfalls in der pittoresken Altstadt niederlassen wollten. Das benachbarte Viertel Santa Catalina lag bereits fest in schwedischer Hand. Hier, in Sa Calatrava lebte man wenigstens noch unter ein paar Einheimischen.

»Einen Job haben Sie immer noch nicht, nehme ich an?« Die Maklerin klopfte mit dem Kuli auf den Bewerbungsbogen, den Levke bei der allerersten Besichtigung ausgefüllt hatte. »Das würde nämlich enorm helfen.«

Levke wandte den Blick ab und sah aus dem Fenster. Die meisten Balkone hingen voll bunter Wäschestücke. Dazwischen ein paar Topfpflanzen. Die Spanier saßen nicht auf Balkonen herum, allerhöchstens spätabends, wenn Levke meistens schon schlief. An den spanischen Rhythmus hatte sie sich allein deshalb noch nicht richtig gewöhnt, weil Inmaculada Mayol, bei der sie derzeit noch zur Untermiete wohnte, auch immer früh zu Bett ging. Komischerweise half Levke der Lärm, der von den Flanierenden und dem Partyvolk in den Gassen nach oben in ihr Zimmer drang, beim Einschlafen. Wenn es zu leise war, fanden die Stimmen ihrer Mädchen zu leicht in ihren Kopf.

Rafael, Inmaculadas Sohn, versuchte zwar immer wieder, Levke zum Ausgehen zu überreden, aber ihr fehlte noch immer die Power. Zwar gab es zwischendurch auch mal bessere Tage, an denen sie sich fit fühlte, aber dann ging es wieder bergab. Das war der beschissene Rhythmus ihres neuen Lebens.

»Ich suche nach wie vor Arbeit«, beantwortete sie die Frage der Maklerin. »Aber wenn die Zahlen auf meinen Bankauszügen bei der Entscheidung für mich als Mieterin nicht helfen, dann weiß ich es auch nicht.«

Sie hatte knapp Dreihundertzwanzigtausend auf dem Konto, die Lebensversicherung von Max und ihr eigenes Erspartes. Damit würde sie sich eine Weile über Wasser halten können. Aber ein Job wäre trotzdem besser, vor allem um einen geregelten Tagesablauf zu haben. Inmaculada lag ihr seit Wochen damit in den Ohren. Inzwischen schien sie Levke als eine Art Tochterersatz adoptiert zu haben – seit sie augenscheinlich akzeptiert hatte, dass zwischen ihrem Sohn Rafael und Levke niemals etwas laufen würde.

»Diesmal stehen die Chancen jedenfalls gar nicht mal schlecht«, sagte die Maklerin. »Der Vermieter wünscht sich nämlich am liebsten eine alleinstehende junge Frau.«

Levke sah sie überrascht an.

»Nicht wie Sie denken. Die Wohnung hat zuletzt seine Tochter bewohnt, die nach Barcelona gegangen ist. Und er hat erlebt, welche Schwierigkeiten sie dort hatte, eine Bleibe zu finden.«

»Das ist aber nett«, murmelte Levke. Obwohl. Hätte er nicht der Gerechtigkeit wegen nur junge Spanierinnen in die Auswahl nehmen sollen? Aber vielleicht hatte sich ja keine beworben.

Sie ging noch einmal zurück in den Flur und von dort in das zweite Zimmer, das zum Innenhof zeigte. Hier könnte sie ihr Schlafzimmer einrichten und auch noch einen kleinen Schreibtisch unterbringen, vor dem Fenster zum Patio vielleicht. Sie mochte die palmerischen Innenhöfe, die oft so eng waren, dass es höchstens mittags ein paar vereinzelte Sonnenstrahlen bis ganz nach unten schafften. Dort gediehen in Kübeln prächtige Farne und blühende Pflanzen, die kein direktes Sonnenlicht vertrugen.

Levke trat näher ans gekippte Fenster. Im Hof saß ein Mann in kurzen Hosen und Segelschuhen in einem Beachchair, die Beine übereinandergeschlagen. Auf seiner dunklen Naturkrause thronte ein lederner, breitkrempiger Hut. Er las eine deutsche Tageszeitung. Eben griff er nach einem Longdrinkglas auf dem Beistelltisch neben sich. Er ließ die Eiswürfel in der klaren Flüssigkeit klirren und schlürfte am Strohhalm.

»Wohnt der hier?« Levke reckte sich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können, und die Maklerin stellte sich neben sie.

In diesem Moment klingelte das Handy des Mannes. Eilig stellte er sein Glas ab und zog das Gerät aus der Gesäßtasche.

»Das ist Waldemar«, raunte die Wohnungsvermittlerin. »Er ist Psychologe und nennt die Vierzimmerwohnung samt Terrasse dort unten sein Eigen.« Sie grinste. »Er bietet irgendwelche Selbstfindungs-Workshops in den Bergen an. Danach kommen alle geheilt zurück.«

Der Mann runzelte die Stirn, dann klappte sein Mund auf und er griff sich an den Kopf. Offenbar hatte er keine guten Nachrichten erhalten.

Levke sah die Maklerin an. »Meinen Sie das ironisch?«

»Was denn sonst?« Die Frau hob lachend die Schultern. »Würde ich vermutlich auch behaupten, wenn ich so viel Geld bezahlt hätte. Waldemar lässt sich seine Methoden gut entlohnen.« Sie hob die Finger zu Anführungszeichen in der Luft. »Er nennt sein Konzept ›Raus aus den alten Schuhen, rein in neue‹ oder so ähnlich.«

Levke sah sich den Mann genauer an. Immerhin wirkte er zugänglich. Sie hatte in den letzten Wochen schon drei Psychotherapeuten konsultiert. Aber sie war einfach nie warm geworden mit denen, hatte immer diese Distanz gespürt. Und alle hatten ihr in Aussicht gestellt, dass das Ganze »ein langer Prozess« werden könnte. Levke mochte keine langen Prozesse. Sie wollte endlich vorankommen. Max und die Mädchen waren jetzt seit über einem Jahr tot, und sie steckte immer noch knietief im Morast ihrer Trauer. Immerhin ließ sie inzwischen die Gedanken an sie zu. An manchen Tagen kam sie dennoch kaum aus dem Bett. Aus alten Schuhen rauszukommen, klang verlockend.

Inmaculada hatte sie ein paar Mal zu einer Gruppe ihrer Kirchengemeinde Santa Eulàlia eingeladen, in der man sich zur Trauerbewältigung traf. Die meisten hatten ihre Partner durch altersbedingte Krankheiten verloren, waren selbst schon entsprechend betagt. Levke mochte sich diesem Kreis nicht anvertrauen. Und vor allem hatten die Leute keine Trauer bewältigt, sondern andauernd nur darüber geredet, wie Gott ihnen angeblich Trost spendete. Dass Gebete helfen würden und so. Was schwierig war, wenn man nicht an Gott glaubte. Schon gar nicht nach so einer Geschichte wie der ihrigen.

»Wie heißt der Herr denn weiter? Waldemar –?«

Die Wohnungsvermittlerin blies die Wangen auf. »Warten Sie mal, er hat auch eine Praxis, die er mit einer anderen Psychologin zusammen betreibt. Ich laufe doch immer an dem Schild vorbei.« Ihre Gesichtszüge hellten sich auf. »Kreiling. Er heißt Waldemar Kreiling.«

Levke machte sich innerlich eine Notiz und folgte der Maklerin in die Küche. Ein winziges Räumchen mit doppelter Kochplatte und einem schmalen Fenster, dessen Griff lose in den Angeln hing.

Die Frau zerrte ärgerlich daran. »Das wollte er doch längst repariert haben.«

»Für wie lange fahren die denn immer so in die Berge?«, hakte Levke wegen des Psychologen nach.

Die Maklerin musterte sie. »Das interessiert Sie wirklich, was? Na ja, bei Ihrer Geschichte …« Sie hob die Schultern. »Eine Woche intensiv, soviel ich weiß.« Sie gingen zurück in den Flur, Levke hatte alles gesehen.

»Ich melde mich bei Ihnen.« Die Maklerin öffnete die Wohnungstür und ließ Levke den Vortritt. »Ich denke, der Vermieter wird sich kommende Woche entscheiden.«

So bald schon? Levke wandte sich zu ihr um. »Ich könnte sofort einziehen. Legen Sie ein gutes Wort für mich ein, ja?«

Es wurde wirklich Zeit, dass sie auf eigenen Füßen stand. Sie und Inmaculada saßen zu sehr aufeinander. Rafaels Mutter fragte sie ständig, wohin sie ging und wann sie wiederkam. Im Grunde hätte die Gute einen Job genauso nötig wie sie selbst. Ihre einzigen Hobbys waren Levke, Rafael und die Kirche. Und wem sollte diese Kombination auf Dauer guttun?

Levke jedenfalls sträubte sich immer mehr gegen diese Überwachung, besonders, seitdem sie ihr Ablenkungsprogramm gestartet hatte. Sie kam sich vor, als würde sie etwas Verbotenes tun, dabei war sie eine erwachsene Frau.

Sie schüttelte der Maklerin die Hand, da fiel ihr noch etwas ein. »Sind die Fenster eigentlich einigermaßen gut isoliert?«

»Wie meinen Sie das?«

»Gegen Geräusche.«

Als die Maklerin sie noch immer fragend ansah, schob sie hinterher: »Geräusche von außen.« Was hätte sie denn sonst sagen sollen?

»Ach so. Ja, ich denke schon.«

Beim Abschied auf der Gasse gaben sie einander die Hand. Levke hatte kein gutes Gefühl. Sie verhielt sich einfach nicht normal genug.

INMACULADA

»Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir. Du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus. Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen.«

Inmaculada Mayol bekreuzigte sich und zog sich mit beiden Händen an der Gebetsbank hoch zum Stehen. Verstohlen reckte sie die schmerzenden Glieder und bog den steifen Rücken durch, bis es knackte. Zwar war sie nicht so alt wie ihre Iglesia Santa Eulàlia – eine der ältesten Kirchen der Stadt –, aber manchmal fühlte sie sich so.

Leise seufzend plumpste Inmaculada in die Kirchenbank. Sie sollte nicht mehr so lange knien. Der Doktor hatte ihr wegen ihrer Arthrose dringend davon abgeraten. Aber wie das so war mit alten Gewohnheiten: Sie ließen sich nur schwer ablegen. Und ein Ave Maria im Stehen …

Inmaculada faltete die Hände zum Gebet und sah hinauf zu dem Bildnis der Heiligen, hoch oben im Hauptportal über dem Altar.

Nun würde sie sich mit ihren Sorgen direkt an Ihn wenden und eine Fürbitte für Rafael beten. Ihr Junge bereitete ihr Kummer. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Es war doch nicht normal, wenn ein Mann in seinem Alter – mit Ende zwanzig – noch immer alleine war. Er hatte ihr noch niemals eine Frau vorgestellt. Dabei wünschte sie sich nichts sehnlicher. Obwohl, es würde ihr schon genügen, wenn er öfter vorbeikommen würde. Zu ihr und Levke. Die hatte Inmaculada in den knapp sieben Wochen, seit sie bei ihr wohnte, so sehr ins Herz geschlossen – fast wie eine eigene Tochter.

Die junge Frau hatte es wirklich nicht leicht. Die Arme hatte Mann und Kinder bei einem Unfall in Deutschland verloren und war nach Mallorca gekommen, um sich hier das Leben zu nehmen. Inmaculada bekreuzigte sich. Aber bevor sie den Plan ausführen konnte, war ihr gottlob in letzter Sekunde Rafael begegnet. Dieser hatte augenblicklich erfasst, dass sie jemanden brauchte, der sich um sie kümmerte. Und da war ihm sofort seine alte Mutter eingefallen. Der gute Junge.

Inmaculada wusste natürlich allzu genau, dass diese Zimmervermittlung nicht ganz uneigennützig geschehen war. Zuerst hatte sie zwar gehofft, aus ihrem Rafa und Levke würde ein Paar werden. Doch dazu hatte Rafael viel zu wenig Interesse an ihr gezeigt. Leider. Was Inmaculada betraf, war Levke nicht nur Tochterersatz, sondern die ideale Schwiegertochter. Eine Frau im besten gebärfähigen Alter. Doch dann hatte Inmaculada verstanden, dass Rafael lediglich darauf aus war, seine Mutter zu beschäftigen, damit sie ihm nicht dauernd wegen einer Frau in den Ohren lag. Er hatte sie mit Levke ablenken wollen. Was ihm sogar gelungen war. Aber das änderte nichts an der Tatsache, dass ihre größte Sorge noch immer ihm galt.

Vater im Himmel, lass mich nicht mehr allzu lange auf Enkelkinder warten.

Was das betraf, waren auch ihre beiden Töchter eine einzige Enttäuschung. Warum zogen Frauen heutzutage den Kindern die Karriere vor? Taten es den Männern gleich.

Die Welt stand Kopf.

Als Inmaculada sich erhob und noch einmal bekreuzigte, nickte sie Carlos zu, der die Kirche für die Messe um zwanzig Uhr vorbereitete. Der Ministrant war beinahe so alt wie sie selbst, er verrichtete seine Arbeit routiniert und gewissenhaft. Er trug bereits seine Albe, die blütenweiß aus dem Dunkel des Kirchenschiffs hervorstach und bald mit dem Gold der siebenarmigen Leuchter, die den Altar flankierten, um die Wette strahlen würde.

Sie selbst nahm heute nicht am Gottesdienst teil, denn Rafa hatte sich endlich einmal wieder zum Abendessen angekündigt, und sie musste sich beeilen. Sie würde heute sein geliebtes Conejo al forno zubereiten. Zum Kaninchen gab es Reis und Gemüse. Zur Vorspeise hatte sie Jamón Serrano besorgt und Albóndigas vorbereitet, die Fleischbällchen in Tomatensoße liebte er sehr. Zuletzt hatte sie Levke und einem Chefinspektor der hiesigen Mordkommission so reichlich aufgetischt, sie hatte gehofft, dass dieser Jordi Barceló Rafael vielleicht zukünftig bevorzugen könnte, wenn es um relevante polizeiliche Informationen für die Presse ging. Doch da hatte sie sich getäuscht. So leicht ließ ein so wichtiger Mann wie er sich wohl nicht bestechen.

Egal. Inmaculada kochte jedenfalls für ihr Leben gern. Jeder, der einmal in den Genuss ihrer Kochkunst gekommen war, schwärmte davon. Besonders Alberto, Gott hab ihn selig, hatte ihr Essen geliebt. Und sie selbst mochte es natürlich auch, das Essen. Rafael hatte mal zu ihr gesagt, sie hätte eine Figur wie ein gewisser »Spongebob«. Natürlich hatte Inmaculada gar nicht gewusst, wer das war, und hatte in der katholischen Bücherei am Computer nachgeschaut, und ach ja, der Vergleich lag nahe. Ihr kompakter Oberkörper, der kurze Hals, dazu ihre fast storchenhaft dünnen Beine … Aber sie war nicht Köchin, sondern Friseurin geworden wie einst ihre Mutter. Haare schneiden konnte sie fast ebenso gut wie kochen. Allerdings war sie nicht mehr ganz auf dem aktuellen Stand, was die neuesten Techniken betraf. Dass sie in einem Salon gearbeitet hatte, war einige Jahre her. Das letzte Mal in Madrid. Seit sie jedoch wegen Rafa nach Palma gezogen war, schnitt sie höchstens privat die Haare der Nachbarinnen.

Inmaculadas Schritte hallten auf ihrem Weg durch die Bankreihen von den schlicht geschmückten Wänden der Kirche wider. Bevor sie das Gotteshaus verließ, wandte sie sich noch einmal um und nahm Abschied von dem schützenden Raum, sah zum Kruzifix im Seitenportal und bekreuzigte sich ein letztes Mal.

Als sie die Tür öffnete und nach draußen trat, blendete sie gleißender Sonnenschein. Sie kniff die Augen zusammen und ging die wenigen Stufen hinab. Vor der Kirche, deren sandsteinfarbene Fassade aus der Neogotik Inmaculada in ihrer Bescheidenheit viel besser gefiel als die überladene Ansicht der berühmten Kathedrale, hielten sich nicht viele Menschen auf. Der schmale Platz ohne Besonderheiten lud nicht zum Verweilen ein. Von ihm führte eine Gasse zur Einkaufsstraße des Viertels, wo erheblich mehr los war.

Sie mochte die Altstadt von Palma. Nicht unbedingt die typischen Sehenswürdigkeiten der Stadt wie Kathedrale und Königsschloss, die überließ sie gern den Touristen. Aber sie liebte es, durch die mittelalterlichen engen Gassen zu bummeln und einen Blick in die Buch-Antiquariate oder die Antiquitätengeschäfte mit ihren dunklen spanischen Möbeln zu werfen, in die exklusiven Schuhläden oder auch in die zahlreichen Geschäfte für Schnäppchenjäger.

Inmaculada war am Ende der Gasse angelangt. An der Ecke gab es leckeres, hausgemachtes Eis. Einmal in der Woche gönnte sie sich den Luxus, auf ihrem Nachhauseweg zwei Kugeln zu kaufen und die süße Köstlichkeit mit Andacht aufzuschlecken. Heute entschied sie sich für zwei Bällchen Schokoeis.

Anschließend bahnte sie sich den Weg durch die Menschentrauben und lugte, in den Genuss ihres Eises vertieft, in die Auslagen eines exklusiven Schuhgeschäfts. Ihre Füße würden in keines dieser hochhackigen Glitzerpaare hineinpassen. Sie mochte es bequem und dezent.

Auf einmal hörte sie hinter sich eine weibliche Stimme ihren Namen rufen. Sie blickte sich um. Es war Levke.

Schwer atmend kam sie bei ihr an. In den letzten Wochen hatte sie dank Inmaculadas guter Küche ein bisschen was auf die Rippen bekommen. Sie sah nun nicht mehr wie ein abgemagertes Kind aus, und auch das einstmals verhunzte Haar hatte Inmaculada wieder in Form gebracht. In dicken, goldenen Wellen reichte es Levke bis knapp auf die Schultern. Die Zweiunddreißigjährige sah nicht älter aus als Mitte zwanzig. Aber was ihre Kondition betraf – die war in etwa so gut wie Inmaculadas eigene, nämlich miserabel.

»Das trifft sich ja prima, dass ich dich hier treffe.« Levke legte schnaufend die Hand auf ihren Brustkorb. »Ich würde dich nämlich gern jemandem vorstellen.«

Levkes Spanischkenntnisse waren inzwischen so fortgeschritten, dass man sich problemlos mit ihr unterhalten konnte. Noch dazu hatte sie kaum Akzent – was man von den wenigsten Deutschen behaupten konnte.

Inmaculada kaute den Rest ihrer Eiswaffel und schluckte. »Mich jemandem vorstellen? Wem denn?«

Sollte Inmaculadas letztes Fünkchen Hoffnung auf ein doch noch gutes Ende zwischen Levke und Rafael heute endgültig zerschlagen werden? Bei ihrer Einladung an Levke und den Chefinspektor hatte sie den Eindruck gewonnen, dass die beiden sich gefielen. Aber seither war sein Name aus Levkes Mund nicht mehr gefallen. Was erneut Inmaculadas Erwartungen hinsichtlich Rafael geschürt hatte.

Das Mädchen hakte sich bei ihr unter und zog sie mit sich fort. »Hast du ein paar Minuten für ein Getränk? Ich lade dich ein und erzähle dir, worum es geht.« Sie zeigte auf einen freien Tisch in einem Straßencafé.

Inmaculada wand sich. »Rafael kommt doch nachher, ich muss noch einiges vorbereiten. Du bist doch dabei?«

Levke stand schon im Café und rückte ihr einen Stuhl zurecht. Zögernd folgte Inmaculada ihr, ließ sich nieder und blinzelte gegen die Sonne an. Levke stemmte den Sonnenschirm ein wenig zur Seite, sodass Inmaculada im Schatten saß, dann setzte sie sich.

»Natürlich komme ich dazu, ich schaue mir vorher nur noch zwei Wohnungen an, aber das wird wohl nicht lange dauern.« Ihre Untermieterin streichelte ihr zärtlich über den Arm und warf ihr einen warmherzigen Blick zu. »Jetzt schau doch nicht so zerknirscht. Ich brauche allmählich etwas Eigenes. Das wusstest du doch von Anfang an.«

Natürlich wusste sie das. Zu Beginn ihrer Bekanntschaft war sogar nur von zwei Wochen die Rede gewesen. Aber jetzt hatte Inmaculada sich so sehr an das Mädchen gewöhnt. In letzter Zeit war sie abends allerdings öfters nicht zu Hause, sodass Inmaculada den Verdacht hegte, es könnte ein Mann dahinterstecken. Und wenn Inmaculada sie fragte, wo sie gewesen war, antwortete sie ausweichend. Wie ein Ehepartner, der fremdging. Dabei sorgte sich Inmaculada doch nur. Und jetzt noch mehr. War sie bald wieder allein? So allein wie ihr Rafa?

Nachdem ein Kellner ihre Getränkewünsche entgegengenommen hatte, erkundigte sie sich ängstlich: »Wen möchtest du mir denn nun vorstellen?«

Levke legte beide Hände auf dem glänzenden Metalltischchen ab. »Jemanden, der eine Arbeit für dich hat.«

»Eine Arbeit?«

»Genau. Und zwar in den Bergen.«

Inmaculada schnaubte. »Was soll ich dort tun? Holz hacken?«

»Unsinn.« Levke fasste nach Inmaculadas Hand. »Du und Rafael, ihr sagt mir doch dauernd, ich solle endlich etwas gegen meine Trauer unternehmen. Damit es mir besser geht.«

»Schon, ja.« Worauf lief das jetzt hinaus?

»Ich habe heute einen Therapeuten kennengelernt.« Levke rutschte auf der Sitzfläche ganz nach vorn und setzte sich aufrecht hin.

Einen Therapeuten also. Und was hatte der mit Inmaculada zu tun? Ihre Therapie war die Kirche. Deshalb hatte sie ihren Schützling ja auch zu ihrer Gruppe mitgenommen. Damit Levke dort Gleichgesinnte treffen sollte, die ebenfalls jemanden verloren hatten. So aufgeweckt wie gerade eben hatte sie das Mädchen dort allerdings nie erlebt. So voller Energie. Die war neu.

Levke beugte sich näher zu Inmaculada. »Dieser Therapeut bietet in einer Finca in der Abgeschiedenheit der Tramuntana eine Heilwoche an. Mit Yoga und Gesprächsgruppen, Körperarbeit, Meditation …« Ihre Augen leuchteten.

»Und ich soll Yoga machen?« Inmaculada hatte den Faden verloren. War nicht von einer Arbeit die Rede gewesen?

»Dem Veranstalter ist leider die Köchin abgesprungen«, erklärte Levke. »Neben dem Kochen sollte sie auch im Haus ein bisschen nach dem Rechten sehen. Und da habe ich dich vorgeschlagen. Du bist die ideale Besetzung. Und du bekommst für die Woche fünfhundert Euro!«

Inmaculada blies die Wangen auf. Ein solcher Betrag würde ihre Rente diesen Monat enorm aufbessern. Damit konnte sie sich problemlos auch einmal einen ganzen Eisbecher gönnen. Allerdings wollte sie keine sieben Tage mit Leuten verbringen, die kurz davor standen, aus dem Fenster zu springen, so wie es bei Levke vor einigen Wochen der Fall gewesen war.

»Lieber nicht.« Sie sah auf ihre Hände, die den schwarzen Rock glatt strichen. »Ich habe hier auch viel zu tun.«

Der Kellner brachte die Getränke, und Levke nippte an ihrem Kaffee. Inmaculada nahm einen Schluck Mandellikör. Levke wusste, dass sie den mochte und hatte ihn einfach für sie bestellt. Nach dem Eis schmeckte er nochmal so gut.

»Ich weiß nicht, ob du genau verstehst, um was es bei diesem Job geht«, fuhr Levke unnachgiebig fort. »Du denkst vielleicht, dass du involviert werden würdest, aber das wäre gar nicht so. Nur kochen und ein bisschen sauber machen. Niemand wird dich behelligen. Und da die anderen Teilnehmer auch alles Deutsche sind, wirst du noch nicht einmal viel verstehen.«

»Gar nichts, könnte man sagen.«

»Genau. Das war sozusagen auch die Voraussetzung für diese Stelle. Weil ja alles ganz vertraulich ist. Niemand kennt den anderen, alle kommen ganz jungfräulich dort an.«

Inmaculada drehte das Likörgläschen zwischen ihren Fingern und betrachtete die goldgelbe Flüssigkeit darin. »Aber ich kenne dich.«

Levke winkte ab. »Das habe ich dem Therapeuten natürlich gesagt. Und da macht er eine Ausnahme.«

Wieder trank sie einen Schluck Kaffee, verzog das Gesicht und schob die Tasse von sich. »Was ist das denn für ein Gebräu? Ich hätte mir eine Cola bestellen sollen.«

Inmaculada leerte ihr Glas in einem Zug und sah sich nach dem Kellner um. »Ich müsste wirklich los.«

Levke griff nach ihrer Hand. »Bitte, mach es. Für mich. Ich muss es einfach versuchen. Der Mann erwartet uns. Ich hab ihm versprochen, dass wir zumindest mal bei ihm vorbeischauen. Viel Zeit habe ich doch selbst nicht. Bitte, tu mir den Gefallen!«

Inmaculada seufzte. Wie sollte sie dem Mädchen diesen Wunsch abschlagen? Und wenn sie doch eines Tages ihre Schwiegertochter werden sollte? Dann könnten sie diese Geschichte möglicherweise noch den Enkelkindern erzählen.

Beim Abendessen zwinkerte Rafael Levke dann auch bedeutungsvoll zu. »Aber das ist doch eine ausgezeichnete Idee. Dann kommst du endlich mal hier raus, Mamá.«

Ihr Sohn löste ein Stück Fleisch vom Knochen. Das Kaninchen war ihr wieder einmal vortrefflich gelungen. Die Sauce hatte sie mit Portwein verfeinert.

Rafael steckte sich den Bissen in den Mund und stöhnte genießerisch. Levke tat es ihm gleich. Die beiden waren inzwischen ein gutes Team, um Inmaculada um den Finger zu wickeln. Sie hatten sie sogar davon überzeugt, das Kruzifix in Levkes Raum in eine Schublade zu verbannen, weil Levke sich damit nicht wohlfühlte. Seitdem betete Inmaculada immer drei Rosenkränze extra, damit Gott ihr diese Sünde vergab. Jedenfalls schienen die beiden jungen Leute sich heute besonders gegen sie verschworen zu haben.

»Ich will gar nicht hier raus.« Inmaculada legte ihrem Sohn ein weiteres Stück Kaninchen auf den Teller. »Der Pastor braucht mich außerdem. An Pfingsten kümmere ich mich um den Blumenschmuck vor dem Altar.«

Wie sich bei der kurzen Stippvisite bei dem Therapeuten, für den sie arbeiten sollte, herausgestellt hatte, würde es bereits am Sonntag in aller Frühe losgehen. Übermorgen! So kurzfristig konnte sie doch gar nicht weg. Für eine Reise brauchte man Vorbereitung. Wie stellten die Zwei sich das denn vor?

»Aber der Pastor zahlt dir nichts dafür, Mamá«, versuchte Rafael ihre Bedenken zu zerstreuen. »Im Gegensatz zu diesem Waldemar. Ich finde fünfhundert Euro bei Vollverpflegung und Logis ziemlich gut.«

»Wo würde ich denn überhaupt schlafen?« Inmaculada hatte ganz vergessen diese Frage zu klären. »Du weißt, ich schlafe nur gut im eigenen Bett.«

Levke tippte auf den Tisch. »Das bringe ich umgehend in Erfahrung. Ich werde dafür sorgen, dass du das beste Bett der ganzen Finca bekommst, in Ordnung?«

»Schlafe ich in einem Einzelzimmer oder mit dir zusammen?«

Levkes Augen weiteten sich. »Ich gehe davon aus, dass jeder ein eigenes Zimmer haben wird.«

Schnell unterdrückte Rafael ein Grinsen. »Wie viele Teilnehmer sind das denn überhaupt? Kommen die alle von hier?« Er sah Levke an.

»Diese Details kenne ich alle gar nicht. Morgen trifft sich die ganze Gruppe zu einem ersten Kennenlernen. Wir stellen einander vor und erzählen, warum wir bei dem Workshop mitmachen wollen. Dieser Waldemar hat mir einen Bogen zum Ausfüllen mitgegeben. Jetzt fehlt nur noch die Zustimmung deiner Mutter.«

Die beiden sahen sie an wie Schulkinder, die darum bettelten, länger aufbleiben zu dürfen.

Inmaculada schüttelte bekümmert den Kopf. Sie würde die Pfingstmesse versäumen!

»Diese Gruppe ist wirklich wichtig für Levke«, drängte Rafael. »Stell dir vor, aus der Sache wird nichts, weil sie keine Köchin haben. Ich könnte mir vorstellen, dass Levke dann in ein Loch fällt. Du weißt, wie schlecht es ihr ging. Die Aussicht auf den Workshop gibt ihr gerade mal wieder Hoffnung und Auftrieb. Ich hätte zwar auch gedacht, dass Einzelstunden erst mal das Beste für sie wären, aber wenn es diese Gruppe sein soll …«

Levke warf Rafael einen nachdenklichen Blick zu. Seine Worte hatten ihrer Euphorie den Schwung genommen. Sie rieb sich die Schläfen. »Du hast recht. Im Grunde brauche ich wirklich Einzeltherapie. Wahrscheinlich ist das Ganze eine völlig blöde Idee.«

Rafael sah seine Mutter alarmiert an. »Unsinn. Das wird dir guttun.«

»Nein, nein.« Levke malte mit dem Zeigefinger unsichtbare Linien auf die Tischplatte. »Ich hab nicht richtig nachgedacht. Ich kenne ja weder den Therapeuten noch die anderen Teilnehmer. Und Gruppentherapie … Das ist doch gar nichts für mich. Ich suche lieber nach etwas anderem.« Ehe Inmaculada etwas erwidern konnte, wedelte sie mit den Händen. »Vergiss, was ich gesagt habe, Inmaculada. Pfleg du mal in Ruhe die Altarblumen. Die sollen sich eine andere Köchin suchen oder die Sache abblasen.«

Rafaels Augen verengten sich vorwurfsvoll in Inmaculadas Richtung. Er zückte sein Handy. »Wie heißt der Knabe noch mal? Vielleicht gibt es irgendwelche Bewertungen.«

Inmaculada beugte sich zu Rafaels modernem Telefon und schaute mit den jungen Leuten aufs Display. Die Unternehmensseite der Praxis des Mannes sah in der Tat vielversprechend aus. Sie war in Pastellfarben gehalten, mit Buddhas und blühenden Mandelbäumen dekoriert. Hübsch. Und die Fotos der Finca, die wenige Kilometer hinter dem Ort Orient in der Serra de Tramuntana lag, waren ansprechend. Eine gemütliche Einrichtung mit Therapieraum, Yogaaußenbereich und großer Küche. Es gab sogar einen Pool. Und hier stand es auch: Das Haus verfügte über acht Zimmer. Da würde sie wohl ein eigenes bekommen?

»Ob ich das Schwimmbad auch benutzen dürfte?«, spekulierte Inmaculada. Es war lange her, dass sie schwimmen gegangen war. Sie ging kaum ins Meer. Noch seltener in einen Pool.

Rafael klickte weiter zu den Bewertungen. »Guckt mal, nur begeisterte Stimmen.« Er tippte auf den Eintrag. »Hier steht: ›Ich konnte ganz ich selbst sein und zu meinen Wurzeln zurückfinden.‹ Das klingt doch gut.«

Levke knabberte auf ihrer Lippe. »Trotzdem. Ich glaube, ich mache einen Rückzieher.« Sie versteckte das Gesicht in den Händen und schüttelte den Kopf. »Wie soll es mir denn nach einer Woche in den Bergen besser gehen? Das ist doch Blödsinn.«

Weinte sie etwa schon wieder? Inmaculada seufzte. Auch, wenn sie selbst nicht besonders wild darauf war, und der Pastor enttäuscht wäre, Rafael hatte schon recht. Sie konnte die gebeugten Schultern ihres Schützlings nicht länger mit ansehen. Es musste etwas geschehen.

JORDI

Er saß an seinem Schreibtisch in der Jefatura de la Policía Nacional von Palma, strich sich mit beiden Händen über den blanken Schädel und dann über den dunklen Vollbart. Müde schweifte sein Blick über den Computerbildschirm, auf dem zahllose, nummerierte Dateiordner und Dokumente aufgelistet waren.

---ENDE DER LESEPROBE---