Über allen Gipfeln ist Liebe - Stina Jensen - E-Book

Über allen Gipfeln ist Liebe E-Book

Stina Jensen

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Beschreibung

Die ersten drei Teile der erfolgreichen GIPFELfarben-Reihe jetzt zum Kennenlernpreis in einem Band.

GIPFELblau: Annika hat die perfekte Hochzeit geplant: In einer romantischen kleinen Kapelle in den Schweizer Bergen, umgeben von Wildblumenwiesen und dem Geläut von Kuhglocken, will sie ihrem Verlobten das Ja-Wort geben. Louis, ein wohlhabender Zermatter Hotelier, scheint ein wahrer Märchenprinz zu sein – bis Annika etwas über ihn erfährt, das ihre gemeinsame Zukunft ernsthaft in Frage stellt. Dabei sind schon die ersten Gäste unterwegs, und eine geplatzte Hochzeit wäre ein unglaublicher Skandal. Die ganze Sache wächst Annika endgültig über den Kopf, als plötzlich Felix vor ihrer Tür steht. Der Extremsportler mit den bergseegrauen Augen hat Annika vor einiger Zeit nicht nur auf die atemberaubendsten Gipfel mitgenommen, sondern auch gefühlsmäßig an ihre Grenzen gebracht. Doch ausgerechnet Felix rät ihr, Louis um jeden Preis zu heiraten ...

GIPFELgold: „Die Gasteiner Alpen sind wirklich ein Traum. Du kannst dich entspannen, Ski fahren und vielleicht sogar jemanden kennenlernen!“ Mit diesen Worten wird Mona in den Zwangsurlaub geschickt, nachdem sie sich als Eventmanagerin ein paar unverzeihliche Fehler geleistet hat. Dabei liebt sie ihren Job über alles, ganz im Gegensatz zum Skifahren. Oder zu David Brandner, ihrem Zimmernachbarn im Alpenhotel. Der Mann mit den kühlen grauen Augen behandelt Mona von der ersten Minute an so herablassend, dass sie ihn nicht ausstehen kann. Die Dinge ändern sich jedoch, als sie ihn eines Nachts weinen hört. Zaghaft kommen die beiden einander näher – bis Mona den erschreckenden Grund für Davids Verzweiflung erfährt …

GIPFELrot: Valerie ist am Boden zerstört. Ihr Traum vom Leben mit ihrer großen Liebe ist wie eine Seifenblase zerplatzt und auch einen anderen Herzenswunsch musste sie schmerzlich aufgeben. Was wäre da wohltuender, als ganz allein in die malerische Abgeschiedenheit Schottlands zu reisen, um wieder zu sich selbst zu finden? Doch ihre beiden Freundinnen wollen davon nichts wissen und reisen spontan mit. Als auch noch der kernige Schotte Matt auftaucht, ist es endgültig vorbei mit der Ruhe.

Weitere Bände der Reihe:
GIPFELpink (Susa, Teneriffa)
GIPFELglühen (Sebastian, Allgäu)

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Über allen Gipfeln ist Liebe

Drei Gipfelromane in einem Band

Stina Jensen

Sótano

Inhalt

Vorwort

GIPFELblau

Das Buch

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Vier Monate später

GIPFELgold

Das Buch

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Zehn Wochen später

GIPFELrot

Das Buch

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Epilog

Leseprobe zu INSELtürkis

Alle Bücher von Stina Jensen

Über die Autorin

Plätzchen, Tee und Winterwünsche

Misteln, Schnee und Winterwunder

Sterne, Zimt und Winterträume

Vorwort

Liebe LeserInnen!

Dieses eBook-Bundle enthält die ersten drei Teile der GIPFELfarben-Reihe.

Am besten, Sie lesen die Reihe in der chronologischen Reihenfolge.

Sie werden in den jeweiligen Folgebänden lieb gewonnene Figuren wiedertreffen und sollten sich dieses Vergnügen nicht nehmen. Grundsätzlich ist aber jeder Roman in sich abgeschlossen – wenn Sie eine andere Reihenfolge wählen möchten, ist das ohne Weiteres möglich.

Für jeden meiner Romane reise ich an die Orte, an denen meine Geschichten spielen. Obwohl ich mir Mühe gebe, bei den Ortsbeschreibungen so exakt wie möglich zu bleiben, komme ich nicht darum herum, die örtlichen Gegebenheiten teilweise den Erfordernissen der Handlung anzupassen. Sollten Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen bestehen, wären diese rein zufällig.

Viel Freude mit meinen Romanen

wünscht

Stina Jensen

Das Buch

Annika hat die perfekte Hochzeit geplant: In einer romantischen kleinen Kapelle in den Schweizer Bergen, umgeben von Wildblumenwiesen und dem Geläut von Kuhglocken, will sie ihrem Verlobten das Ja-Wort geben. Louis, ein wohlhabender Zermatter Hotelier, scheint ein wahrer Märchenprinz zu sein, bis Annika etwas über ihn erfährt, das ihre gemeinsame Zukunft ernsthaft in Frage stellt. Dabei sind schon die ersten Gäste unterwegs, und eine geplatzte Hochzeit wäre ein unglaublicher Skandal. 

Die ganze Sache wächst Annika endgültig über den Kopf, als plötzlich Felix vor ihrer Tür steht. Der Extremsportler mit den bergseegrauen Augen hat Annika vor einiger Zeit nicht nur auf die atemberaubendsten Gipfel mitgenommen, sondern auch gefühlsmäßig an ihre Grenzen gebracht. 

Doch ausgerechnet Felix rät ihr, Louis um jeden Preis zu heiraten …

Ein Roman, bewegend wie ein Sonnenaufgang in den Bergen.

1

2. Juli – morgens

»Ich kann es noch immer nicht fassen, dass du in knapp drei Wochen heiratest, Annika«, vernahm ich Mamas Stimme durchs Telefon. »Du und Louis müsst doch inzwischen furchtbar aufgeregt sein!«

»Das kannst du laut sagen«, bestätigte ich mit betonter Leichtigkeit, in der Hoffnung, dass meine Mutter nicht wahrnahm, wie es mir wirklich ging. Sie hatte, was meine Gefühlszustände betraf, sehr feine Antennen.

»Papa wird auch immer nervöser«, fuhr sie fort. »Wer hätte gedacht, dass du und dein Vater mal eine Doppelhochzeit zusammen feiern würdet? Und auch noch in den Schweizer Bergen!«

Auf diese Idee wäre in der Tat niemand gekommen. Immerhin war ich in Binz auf Rügen aufgewachsen. Meine Eltern waren schon lange getrennt – wenn auch erst seit einem Vierteljahr geschieden. Dass Papa sich mit Mitte fünfzig noch einmal verlieben, geschweige denn heiraten würde, hätte ich bis letztes Weihnachten für ausgeschlossen gehalten. Doch dann hatte er Amanda kennengelernt, eine Kalifornierin, die seine verschlossene Austernschale knackte. Dass seine Hochzeitsfeier nun zusammen mit meiner eigenen platzen würde, würde er mir niemals verzeihen – Amanda freute sich doch so sehr darauf. Genau genommen waren die beiden schon verheiratet – die Trauung hier zu vollziehen, hätte nach zu viel Papierkram verlangt. Aber gemeinsam feiern wollten wir dennoch. ErundAmanda saßen in San Diego bestimmt schon auf gepackten Koffern.

Ich sah aus der geöffneten Balkontür des Schlafzimmers zum strahlend blauen Himmel, vor dem heute das Matterhorn mit seinem schneebedeckten Gletscher wie eine Pfeilspitze emporragte. Man bekam das Horn nicht oft so zu sehen. An manchen Tagen blieb es komplett hinter Wolken verborgen, und es gab Touristen, die es während ihres gesamten Aufenthalts in Zermatt nicht ein einziges Mal zu Gesicht bekamen. Aber heute, an diesem sonnigen Dienstagmorgen, zeigte es sich in seiner vollen Pracht, und man konnte davon ausgehen, dass Scharen von Reisegruppen in diesem Moment auf der Kirchbrücke, die über die Vispa führte, Spalier standen, um das beste Foto unseres Hausbergs zu schießen. Und auch ich selbst konnte mich nach nun fast drei Jahren in diesem Ort nicht sattsehen an diesem Berg. Ich mochte den Anblick so sehr. Er übte normalerweise eine beruhigende Wirkung auf mich aus – eine Ruhe, die ich in diesem Augenblick jedoch vergeblich in mir suchte.

Mein Blick glitt zu den saftig grünen Wiesen, die sich hinter dem Zaun unseres Grundstücks zum Ortsrand hin erstreckten. Die Gondel zum Furi verließ eben die Talstation und brachte die ersten Besucher nach oben, die meisten von ihnen wollten ganz hinauf zum Matterhorn glacier paradise, von wo aus man bei guter Sicht einen Rundumblick auf alle Viertausender des Mattertals bekommen kann. Allen voran das Matterhorn, das die Welt von der Toblerone-Verpackung kennt. Als ich das erste Mal dort oben stand, übermannte mich ein solches Glücksgefühl, dass ich verstohlen ein paar Tränen abwischte.

Ich lächelte in mich hinein. Man sollte erwarten, dass über den Gipfeln absolute Stille herrscht, doch das Gegenteil ist der Fall. Im Winter, zur Ski-Hauptsaison, dröhnt Musik aus den Lautsprechern, im Sommer, wenn dort oben noch immer Schnee liegt, nur weniger Ski gefahren wird, bereitet einem das Geschnatter der asiatischen Reisegruppen, die sich vor dem Gipfelkreuz mit einer Toblerone-Packung ablichten lassen, bald Kopfschmerzen.

Unten am Ortsrand, wo Louis‘ Haus stand – von dem ich bis zum Vortag gedacht hatte, dass ich noch viele Jahre mit meinem Bräutigam darin verbringen würde – hörte man lediglich das Geplätscher der Vispa, das Gerumpel der Gondel oder die Zahnradbahn, die nicht weit von hier über die Brücke hoch zum Gornergrat fuhr. Darüber hinaus vernahm man das Summen der Insekten.

Diese köstliche, friedvolle Natur. Dieser Geruch nach Grün und reiner Alpenluft. Allein der Gedanke, mich mit Nevio, meinem acht Monate alten Sohn, auf einer Decke in den Halbschatten zu legen und wegzudösen, all das auszublenden, was ich gestern Abend erfahren hatte, kurz nachdem Louis zu einer Geschäftsreise aufgebrochen war, von der er erst am Freitagabend zurückkehren würde …

»Wird Mariella denn auch kommen?«, unterbrach Mama meine Gedanken. »Spricht sie endlich wieder mit dir?«

»Leider hat sie auf meine Einladung und meine Nachrichten noch immer nicht geantwortet«, erwiderte ich niedergeschlagen. »Ich vermute, für Mariella bin ich endgültig gestorben.«

Nun, da alles in Scherben lag, hätte sie zwar ohnehin nicht mehr zur Hochzeit kommen können. Aber ich hätte sie mehr denn je als Freundin hier vor Ort gebraucht.

»Ich verstehe das einfach nicht«, meinte Mama. »Du hast ihr doch gar nichts getan.«

Nein, das hatte ich wahrhaftig nicht. Im Gegenteil. Ich hatte seit meiner Ankunft in Zermatt vor bald drei Jahren alles dafür getan, um meine Schweizer Freundin nicht zu verlieren. Doch dass ich mit Louis, einem der bekanntesten und wohlhabendsten Zermatter, zusammengekommen war, hatte sie mir offenbar so übel genommen, dass sie vor anderthalb Jahren jeden Kontakt mit mir abgebrochen hatte. Ghosting nannte man so etwas. Man verabschiedete sich aus dem Leben des anderen ohne ein Wort der Erklärung oder des Abschieds.

In diesem Moment regte sich mein Sohn in seinem Bettchen. Ich wandte den Kopf und betrachtete wehmütig seine feinen Gesichtszüge und die langen Wimpern, die auf den rosigen Bäckchen ruhten. Die feinen Linien seiner blonden Augenbrauen sahen aus wie gemalt. Die zitternden Lippen saugten im Halbschlaf vermutlich noch an einer Mahlzeit. Ich würde mit dem Abblasen der Hochzeit meinem Kind nicht nur den Vater nehmen, den er so sehr vergötterte, sondern auch eine Zukunft als millionenschwerer Hotelerbe. Louis und seiner Mutter gehörte das OberwalliserGrandhotel.

»Du, Mama«, flüsterte ich ins Telefon, »ich muss Schluss machen. Nevio wird gerade wach, und wenn er nicht sofort seine Milch bekommt …«

Mamas Stimme nahm einen zärtlichen Tonfall an. »Wie ich mich darauf freue, den kleinen Schatz wiederzusehen. Jetzt müssen wir nur noch hoffen, dass das Wetter mitspielt.«

Um das Wetter sorgte ich mich am allerwenigsten. Mit fast dreihundert Sonnentagen im Jahr war Zermatt einer der sonnigsten Orte der Schweiz. Als ich vor drei Jahren von Rügen zum Arbeiten hierher zog, hatten mich diese Sonnentage besonders gelockt. Was ich dabei vergaß, waren die Monate, in denen hier meterhoch Schnee lag. Und die monatelange Kälte. Selbst jetzt, im Juli, wurden es selten über zwanzig Grad. Sogar im Mai hatte sich auf manchen Wiesen noch der Schnee gehalten. Doch das riesige Skigebiet mit seinem atemberaubenden Bergpanorama und diese betörenden Sommer mit Wiesen voller Wildblumen und tanzender Insekten entschädigten für die lange Durststrecke. Ich konnte mich an dieser Landschaft kaum sattsehen. Was meinen Weggang von der Küste in die Berge betraf, hatte ich meine Entscheidung noch keine Sekunde bereut.

Ich verabschiedete mich von Mama, trat von der offenen Balkontür zurück und legte das Handy auf dem Nachttisch ab. Dann eilte ich hinunter in die Küche, um Nevios Morgenfläschchen zuzubereiten. Ich musste mich unbedingt zusammenreißen, um meinem Baby nicht zu zeigen, wie es mir ging. Dabei war mir danach, mich ins Bett zu legen und mir die Decke über den Kopf zu ziehen. Aber es half nichts, ich musste mein Kind versorgen. Das wollte ich nicht vor mich hin weinend tun; Nevio sollte eine fröhliche Mama haben.

Während ich nach dem Milchpulver griff und in geübten Handgriffen Nevios Flasche zubereitete, fragte ich mich, wie ich alles nur so weit hatte kommen lassen können. Vielleicht sollte ich doch noch einmal versuchen, mit Mariella zu sprechen. Bei diesem Notfall konnte sie mich doch nicht abweisen? Würde sie mir endlich sagen, was letztes Jahr an Louis' fünfzigstem Geburtstag im Dornrösli geschehen war, als ich diesen entsetzlichen Filmriss hatte und am nächsten Morgen mit klatschnassen Haaren zu mir kam? Hing ihr Groll gegen mich vielleicht allein mit diesem Abend zusammen? Bisher hatte sie mir nur vorgeworfen, sich wohl unendlich in mir getäuscht zu haben. Dass ich mich an nichts erinnerte, hatte sie mir nicht geglaubt.

Mir schwante nichts Gutes.

Dabei hatte alles so vielversprechend begonnen, als ich nach Zermatt kam.

Mit Louis kam ich übrigens nicht gleich zusammen. Zuvor verliebte ich mich nämlich in einen anderen.

Daran, dass ich mich heute in dieser Situation befand, war er nicht ganz schuldlos.

2

Vor drei Jahren

Schon als kleines Mädchen träumte ich davon, eines Tages in den Bergen zu leben. Ich weiß nicht, ob es an den »Heidi«-Filmen lag, dass ich mit den Alpen ein Gefühl von Heimat verband, das ich auf Rügen vergeblich suchte. Es war, als sei ich falsch in all dieser Weite und Freiheit, die die See ausstrahlt. Ich suchte ein Tal, in dem die Berge mich umarmen – ein Gefühl von Geborgenheit, das mir in meiner Familie manchmal fehlte. Meine Eltern waren damals mit ihrem eigenen Klan zerstritten, und nachdem auch Mama und Papa sich getrennt hatten, blieben mir lediglich Bella, unser Labrador, und Mona, die bis heute meine Freundin ist.

Meine Eltern taten aber ihr Bestes, um mich aufzufangen: Papa zog in ein Haus direkt nebenan, er und Mama »teilten sich die Verantwortung« für mich, und doch fühlte ich mich dabei wie ein Koffer, der hin- und hergereicht wurde. Als ob keiner mich wirklich bei sich haben wollte. Oder als ob jeder der beiden dem anderen zu beweisen versuchte, dass er oder sie besser für mich sorgte. In Wahrheit ging es nicht um mich oder darum, wie ich mich fühlte.

Mama fing mich immerhin auf, wenn ich mal wieder mit Papa nicht klarkam. Er mäkelte ständig an mir herum, obwohl er auf den ersten Blick immer so ausgeglichen scheint. Wenn ich beschreiben müsste, wie mein Vater Ben aussieht, würde ich sagen: »Denk an den Jever-Mann aus der Werbung.« So lässig und verwegen und gleichzeitig erfolgreich und gut aussehend. Außerdem hat mein Vater lange Zeit als Barkeeper gearbeitet, wofür er sich in Smoking und Fliege schmiss, was ihm ebenfalls ausgezeichnet stand. Er kann alles tragen, er sieht immer cool aus. Ist er aber nicht. Er ist total verbohrt. Auch hinsichtlich meiner männlichen Freunde. Jedem, der auch nur Interesse an mir zeigte, unterstellte er, dies allein wegen meines Aussehens zu tun. Ich habe – bis auf die blonden Haare – eine gewisse Ähnlichkeit mit Natalie Portmann. Außerdem überrage ich mit meinen Einssechsundsiebzig viele meiner weiblichen Mitmenschen. Aber dass sich allein deswegen ein Junge für mich interessieren sollte, kränkte mich eher, als dass es mir schmeichelte.

Meine Mutter, sie heißt Sonja, hat versucht, zwischen uns beiden zu vermitteln. Mama betreibt einen Dekorationsladen in Bergen auf Rügen, sie verkauft »hochwertige Inneneinrichtungsgegenstände, die ein Haus in ein Heim verwandeln«, und mit diesem Spruch hat sie die Kunden auch schon an der Angel. Sie kann gut mit Leuten, Papa gut mit Tieren. Denen kann man Kommandos erteilen, die sie schwanzwedelnd ausführen. So etwas gefällt ihm.

Jedenfalls wollte mein Vater, dass ich beruflich dem Tourismusgewerbe fern bleibe. Er war zu Zeiten der DDR auf Rügen aufgewachsen und der festen Meinung, dass der über unsere Insel hereinbrechende Tourismus nach der Wende nicht besonders toll war. Das hatte auch mit meinem Onkel Sven zu tun, der ein Hotel betreibt – aber diese Details würden jetzt zu weit führen. Jedenfalls absolvierte ich nach dem Abitur eine Ausbildung zur Röntgenassistentin in der Berufsfachschule für Medizinisch Technische Assistenten, da ich mich für Anatomie interessiere und gern mit Menschen zu tun habe. Es macht mir nichts aus, andere zu berühren, und ich habe ein Gespür für ihre Ängste – was ein großer Vorteil in diesem Beruf ist. Nach meinem Staatsexamen arbeitete ich ein paar Jahre im Klinikum Bergen auf Rügen, gab mir jedoch innerlich das Versprechen, mir irgendwann meinen Traum zu erfüllen und in die Berge zu gehen. Mit meinem Beruf hatte ich gute Voraussetzungen dafür. Bei meinen Recherchen von Stellenanzeigen im Internet stieß ich eines Tages auf die Annonce einer Unfallpraxis in Zermatt. An die Schweiz hatte ich natürlich – insbesondere wegen der Verdienstmöglichkeiten – schon gedacht. Sie suchten jemanden mit meiner Qualifikation und dem Schwerpunkt auf Röntgendiagnostik.

Mehr oder weniger aus Jux, und weil Mona mich dazu ermunterte, rief ich an, berichtete von meinen bisherigen Tätigkeiten, beantwortete Fachfragen, und man lud mich zum Gespräch ein. Es war fast eine Tagesreise, doch die Praxis übernahm Fahrtkosten und Übernachtung. Und dann, wir hatten kaum eine Stunde geredet, unterbreitete Frau Dr. Kälin mir ein Jobangebot und offerierte mir so viel Gehalt, dass mir schwindelig wurde. Ich konnte nichts anderes tun, als spontan zuzusagen.

Das Gefühl, das sich dabei in meinem Magen ausbreitete, ist kaum zu beschreiben: als ob eine Kanne warmes Öl im Bauch ausläuft. Ich würde in den Bergen leben!

Papa war entsetzt, Mama todtraurig. Ich rang mit mir, weil ich mir kaum zugestehen mochte, glücklich zu sein, wo ich andere doch so unglücklich machte. Doch schließlich gewöhnten sich meine Eltern an den Gedanken, dass ihre Tochter die erste eigenständige Entscheidung ihres Lebens getroffen hatte.

Papa stichelte zwar unentwegt weiter, sobald wir uns zu den wenigen Gelegenheiten seit meinem Fortgehen sahen. Besonders, als er feststellte, dass ich mit Louis mit einem Mann zusammengekommen war, der nur wenige Jahre jünger war als er selbst. Von meinem Bergsteiger, an den ich zuvor mein Herz verlor, hatte er gar nichts mitbekommen. Aber das alles kam erst später. Nach dem Vorfall bei Frau Dr. Kälin, der dazu führte, dass ich meinen Job verlor.

Nach meinem Weggang von Rügen besserte sich zunächst das Verhältnis zwischen Papa und mir. Nachdem alle Formalitäten erledigt waren und meine neue Chefin mir ein möbliertes Zimmer mit Kochnische und Bad auf dem Flur unweit der Praxis vermittelt hatte, brachten Mama und Papa mich mit ein paar persönlichen Dingen wie meiner Bettwäsche und einem Bücherregal nach Zermatt.

Es war ein regnerischer, nasskalter Tag im September. Das Matterhorn war wolkenverhangen und die Heizung in meiner Unterkunft kaputt. Papas Blicke sprachen Bände.

Von Anfang an fühlte ich mich wohl in diesem Team aus Ärzten, Arzthelfern und Medizinisch Technischen Assistenten. Ich war für das Röntgen zuständig. Wie gesagt lag es mir, Patienten zu beruhigen und ihnen die Angst vor Schmerzen zu nehmen, ihnen das Vertrauen zu vermitteln, dass sie bei uns in allerbesten Händen waren. Mir ging die Arbeit leicht von der Hand, es stellte sich rasch Routine ein, und ich integrierte mich gut in das Team aus Schweizern, Deutschen, Italienern und Franzosen. Überhaupt ist dieses Dorf ein internationales Pflaster. Natürlich gibt es Zermatter, die hier geboren sind – aber in dieser ersten Zeit lernte ich schnell, dass es ebenso viele Ausländer gibt, die hier leben und arbeiten.

Über meine Chefin lernte ich Mariella kennen, die in einer Kletterschule mit angrenzendem Outdoorladen auf der Bahnhofstraße arbeitete. Mariella und Frau Dr. Kälins Tochter Linda, die inzwischen in Zürich lebt, waren zusammen zur Schule gegangen. Mariella und ich waren uns auf Anhieb sympathisch. Ihre Mutter stammte aus Sardinien und hatte ihrer zierlichen Tochter eine wilde, schwarze Lockenmähne und sehr dunkle Augen vererbt. Mariella und ich mit meiner nordischen Körpergröße, den blonden, glatten Haaren und den grauen Augen, die bei Sonnenschein auch mal wie blau wirken können, hätten nicht unterschiedlicher aussehen können. Mariella war ebenso wie ich drahtig und wendig, doch im Gegensatz zu mir, die früher nur gelegentlich am Strand joggte und stattdessen viel lieber segelte, hatte sie schon als Kleinkind Skilaufen gelernt und kraxelte auch gern über Berge. Sie nahm mich mit zum ersten Skifahren.

Frau Dr. Kälin sah das nicht gern, da sie befürchtete, ich könnte bald selbst Patientin ihrer Praxis werden, doch glücklicherweise stand ein Verbot nicht in meinem Arbeitsvertrag. Ich hatte noch nie auf Brettern gestanden und war anfangs recht wacklig unterwegs, doch Mariella war eine hervorragende Lehrerin, die mir schnell beibrachte, ohne Verletzungen die Berge hinunter zu kommen. Sie half mir mit ihrer offenherzigen Art, mich bald heimisch zu fühlen, und sorgte dafür, dass sich immer mehr Schweizer Begriffe in meinen Sprachgebrauch mogelten – was meine Eltern und Freunde auf Rügen bei meinem ersten Besuch in der Heimat an Weihnachten belustigt zur Kenntnis nahmen. Grüezi gehört übrigens nicht dazu. Der Walliser sagt »Güeten Tag« und bereits nach zwölf Uhr mittags »Güete Abu«. Solche Dinge verinnerlicht man schnell.

Die ersten Monate nach meiner Ankunft arbeitete ich ohne Pause. Es war Hochsaison, doch die Skiverhältnisse waren nicht optimal, es gab viel Eis, die Verletzungsrate war hoch. In meiner wenigen Freizeit litt ich unter der Kälte, die trotz Sonnenscheins herrschte, doch Mariella half mir über die kalten Monate hinweg, indem sie mich mit zu Aprés-Ski-Partys ins Dornrösli oder ins Broken mitnahm und mich ihren Freunden vorstellte – aber das Eis wollte bei den anderen nicht so recht brechen. Für sie war ich eine auf der Durchreise.

3

Vor zwei Jahren – Juni

Als es nach der Schneeschmelze im Juni endlich etwas wärmer wurde und nach der Skisaison die ersten Bergsteiger-Touristen in den Ort kamen, nahm Mariella mich mit zum Klettern. Glücklicherweise ließ ich mich von ihr dazu überreden, mir festes Schuhwerk zuzulegen. Immerhin arbeitete sie dafür im richtigen Laden, und bald zierten meine Füße fesche rote Bergschuhe.

In dieser Zeit erzählte Mariella mir erstmals von Felix.

Wir befanden uns gerade auf einer Wanderung vom Schwarzsee aus hinauf zur Hörnlihütte – ein herausfordernder Marsch auf einem schmalen, steinigen Pfad und nur für schwindelfreie Personen geeignet. Bis dahin hatte sie den Namen ihres Chefs nie genannt – ich wusste lediglich, dass er der Sohn des Seniorchefs war, der sich zur Ruhe gesetzt hatte. Mein Kenntnisstand war, dass dieser Juniorchef sich in Kanada aufhielt, um dort den letzten Teil seiner Bergführer-Ausbildung zu absolvieren, die es vorsah, dass die Aspiranten auch im Ausland ihre Klettererfahrung machten. Ich hatte mir einen Mann im Alter meines Vaters vorgestellt, wenn sie von ihrem Chef sprach, und nicht von einem Typen unseres Jahrgangs, mit dem sie und Linda Kälin die Schulbank gedrückt hatten. Dass Felix' Vater sich schon mit Sechzig zur Ruhe gesetzt hatte, war für hiesige Verhältnisse ungewöhnlich.

Wir waren gerade außer Atem bei der Hörnlihütte angekommen und wurden von einem grandiosen Ausblick aufs vor uns liegende Matterhorn belohnt. Ich fand es unvorstellbar, dass geübte Bergsteiger an einem einzigen Tag dort hinauf und auch wieder hinabstiegen.

»Warum hast du mir noch nie etwas von diesem Felix erzählt, wenn er doch deine große Liebe ist?«, fragte ich meine Freundin, nachdem sie mir gestanden hatte, dass sie vor Nervosität über Felix Obermatts bevorstehende Rückkehr kaum mehr ein Auge zubekam.

»Weil ich eigentlich die Hoffnung aufgegeben hatte, dass er sich etwas aus mir macht«, gestand sie.

Mariella gab sich mir gegenüber immer Mühe, Hochdeutsch zu sprechen, damit ich auch alles verstand. Dennoch knackten die Silben am Ende, wie wenn man ein Stück Schokolade bricht. Und sie rollte das R so spielend, wie es mir niemals gelingen würde.

»Aber jetzt hat er mir eine Karte geschrieben«, fuhr sie fort, »und darauf steht, dass er sich auf mich freut. Das lässt mich hoffen. So etwas hat er noch nie gesagt.«

Zuerst einmal musste sie mir erklären, wie es überhaupt dazu gekommen war, dass sie für ihren ehemaligen Schulkameraden arbeitete – und nicht, wie man hätte annehmen können, in der elterlichen Pizzeria. Allerdings gab es dafür keinen anderen Grund als den, aus dem ich aus Rügen fortgegangen war: Zwischen Mariella und ihren Eltern kriselte es, weil sie – ebenso wenig wie ihr Bruder Toni – kein Interesse am Restaurant von Vater und Mutter zeigte. Stattdessen waren beide Geschwister sportversessen, was bei Toni dazu geführt hatte, dass er in Bern irgendetwas mit Sport studierte. Mariella hingegen hatte in dem Geschäft, das Felix nun leitete, eine Ausbildung absolviert, die man in Deutschland wohl Einzelhandelskauffrau nennen würde – und seither arbeitete sie dort. Ihre sportlichen Aktivitäten verfolgte sie lediglich privat.

Aber zurück zu Felix: Bei Mariella war in der Pubertät die Kinderfreundschaft in Liebe übergegangen. Dass Felix eines Tages ihr Chef werden könnte, daran hatte sie vor ein paar Jahren noch gar nicht gedacht. Sie hatte ihn lediglich aus der Ferne angehimmelt, denn er schien ihr – bis auf ein paar Momente, in denen sie meinte, dass er sie verstohlen ansah – nie ein Zeichen gegeben zu haben. Im Gegenteil: Er hatte Freundinnen gehabt, sie Freunde. Sie sahen sich nicht einmal oft, da Felix aufgrund seiner Bergführertätigkeit meist draußen unterwegs war, und sie war im Laden, für den es einen separaten Eingang sowie eine Filialleitung gab, die Mariellas Ansprechpartnerin war. Und dann kam diese Postkarte von ihm.

Meine Zweifel, ob man eine Karte als Hoffnungsschimmer nehmen konnte, behielt ich auf unserer Wanderung für mich.

Ich hatte mich schon eine Weile gefragt, warum Mariella Single war, denn es gab immerhin einige attraktive Männer unseres Alters in Zermatt. Allein wenn ich an die ganzen Skilehrer und Bergführer dachte, die die Kletterschule neben dem Outdoorladen beschäftigte.

Jedenfalls sollte Felix demnächst zurückkehren, und Mariella dachte über eine neue Frisur nach. Ihr Haar war sehr lockig und dick, sie vermochte es kaum zu bändigen, band es immer zu einem Knoten zusammen, aus dem einzelne Strähnen in ihre Stirn fielen. Ich hätte natürlich alles für diese Haare gegeben.

»Es gibt eine Möglichkeit, das Haar dauerhaft zu glätten«, sinnierte sie. »Wie eine Dauerwelle, weißt du – nur umgekehrt.«

Ich hob die Schultern. Das klang nach einer Chemiekeule fürs Haar. Mona, die regelrechte Korkenzieherlocken in einem hellen Rot hatte, wäre niemals auf diese Idee gekommen.

»Meinst du nicht, dass das vielleicht etwas übertrieben ist?«, fragte ich zweifelnd. »Soll er sich in deine Haare verlieben oder in dich?«

Es stellte sich schnell heraus, dass dieser Felix ein sensibles Thema war, das ich nicht so einfach abhandeln konnte. Also fuhren wir mit der Bahn ins knapp eine Stunde entfernte Visp, und dort ließ sie sich die Haare glätten. Ihre Löwenmähne verwandelte sich in eine ansehnlich schimmernde Fläche, die sich um Kopf und Schultern legte, doch schon auf der Rückfahrt schlang sie das Haar wieder zu einem Dutt, weil sie sich in den Scheiben der Matterhorn-Gotthard-Bahn nicht wiedererkannte.

Und dann kehrte Felix Obermatt aus Kanada zurück. Es war Juli. Zwei Jahre ist es her, dass ich ihn zum ersten Mal sah. Mariella hatte mir Fotos gezeigt – im Übrigen hing auch eines von ihm auf einem Bild im Shop, das alle Mitarbeiter zeigte. Ein großer, schlaksiger und durchtrainierter Bursche mit Grübchen und Dreitagebart. Sympathisch. Wie alle diese Kerle hier, die den Touristinnen die Köpfe verdrehten. Mir natürlich nicht. Ich stand außerdem – so dachte ich – auf eine andere Art von Männern. Ich war jedenfalls nicht auf einen Bubi aus, der noch nicht wusste, wer er war. Abgesehen davon, dass ich gar nicht auf der Suche war. Ich fand meine Unabhängigkeit ziemlich gut.

Jemand hätte mich vorwarnen sollen, dass der leibhaftige Felix mich umwerfen würde.

Mariella stellte ihn mir vor, als ich sie wie üblich in meiner Mittagspause im Laden besuchte. Sie hatte rote Flecken im Gesicht vor Aufregung.

»Annika, das ist Felix Obermatt, Felix, das ist Annika Lülow von der Insel Rügen, sie arbeitet bei Lindas Mutter in der Praxis.«

Felix und ich sahen uns an, und es machte klick.

Okay, ich hätte mir das auch einbilden können. Wenn es bei einem selbst klick macht, muss es das beim anderen noch lange nicht tun. Aber ich wusste, dass es ihm genauso ging. Es war, als hätte uns der Blitz getroffen. Seine Augen und meine gingen miteinander eine Verbindung ein, die sagte: »Aha. Du bist das also. Wo warst du die ganze Zeit?«

Ich war so perplex, dass ich sagte: »Mariella hat erzählt, dass du ganz gut kletterst. Könnten wir vielleicht mal zu dritt eine Tour unternehmen?«

»Selbstverständlich können wir das«, antwortete Felix und hielt meinem Blick stand. Und Mariella klatschte in die Hände.

Als sie und ich außer Hörweite waren, dankte sie mir überschwänglich für meinen Einfallsreichtum, hätte sie selbst doch niemals gewagt, Felix so kurz nach seiner Rückkehr zu vereinnahmen. Kichernd wiederholte sie: »Ich habe gehört, dass du ganz gut kletterst.« Sie verdrehte die Augen. »Das war eigentlich eine Unverschämtheit. Als würdest du einem Gehirnchirurgen sagen: Ich habe gehört, dass Sie ganz gut operieren.« Sie lachte abermals gackernd.

Ich fiel in ihr Lachen ein, dabei war mir gar nicht danach. Dieser Mann hatte etwas ausgestrahlt, das mir hochgefährlich werden konnte: eine Mischung aus Kraftprotz, Athlet und Teddybär. Plante ich etwa, meiner einzigen Zermatter Freundin den Liebsten auszuspannen? Das durfte auf keinen Fall geschehen.

Wir verabredeten uns also zu einer Bergwanderung, doch ich wich Felix' Blick aus, der immer wieder auf mir ruhte, als wollte er in mein tiefstes Inneres schauen und alles von mir erfahren. Und genauso ging es mir mit ihm. Dabei hatten wir uns doch gerade erst getroffen. Ich frage mich: Was führt dazu, dass man einen Menschen in der Sekunde attraktiv findet, in der man ihn das erste Mal sieht? Ist es eine Kleinigkeit, wie die Augen, die einem gefallen? Die Stimme? Die Hände, die Art, sich zu bewegen? Dinge, die man gemeinsam witzig findet? Die winzigen Härchen auf dem Handrücken, die golden in der Sonne schimmern und die man berühren möchte? Das Grübchen auf der Wange, der Schmiss in der Augenbraue? Ich könnte hundert Dinge nennen, die mir an Felix Obermatt gefielen. Vor allem sein Geruch. Er roch wie ein nie gekanntes Zuhause. Wann immer er in meine Nähe kam, reckte ich das Näschen nach ihm, wie ein Hund, der die Witterung aufnimmt.

Als er mir bei meinen ersten Kletterversuchen an einer Übungswand die Hand reichte, gingen mir seine Berührungen unter die Haut. So sehr, dass ich irgendwann nur noch albern herumgackerte. Ich führte mich unmöglich auf. Abwechselnd wünschte ich mich auf einen anderen Planeten und mit Felix allein in eine abgelegene Berghütte.

Und so etwas in der Art besuchten wir bald darauf.

»Ich würde euch beiden gern den Ort zeigen, den ich bei meinem Aufenthalt in Kanada wohl am allermeisten vermisst habe«, sagte er, als ich das nächste Mal mit klopfendem Herzen bei Mariella im Laden vorbeischaute.

»Jetzt bin ich aber gespannt«, neckte Mariella, »meinst du vielleicht die Pizzeria meiner Eltern?«

Immerhin ging er auf ihren Ton ein, wenn er auch wieder nur mich anschaute. »Dahin könnten wir danach gehen. Deine Eltern machen die beste Pizza der Welt.«

»Was hast du mit uns vor?«, fragte ich, nachdem wir uns darauf geeinigt hatten, es genau so zu machen.

Diesmal fragte Mariella: »Willst du etwa ins Himmelreich?«

Felix runzelte die Stirn. »Nein, dort war ich schon lange nicht mehr. Wir waren da immer zum Feiern. Ich weiß nicht, wie du auf so eine Idee kommst.«

Ich sah fragend von einem zum anderen.

Felix erklärte grimmig: »Das Himmelreich ist eine kleine Pension in Findeln, sie gehörte meinem besten Freund, der auf einer Tour in Graubünden bei einem Bergsturz letztes Jahr ums Leben kam. Und mit ihm seine ganze Familie.« Er schluckte und hob die Schultern. »Er hat mir das Himmelreich vermacht. Das kam mal aus einer Bierlaune heraus.« Er senkte betrübt den Kopf. »Niemals hätten wir gedacht, dass es mal zu so etwas kommt.«

»Warst du seither nicht mehr dort?«, hakte Mariella nach. Sie schien nicht zu bemerken, dass er das Thema meiden wollte.

Felix schüttelte den Kopf. »Ich würde gern mit euch zum Schwarzsee wandern und die Kapelle besuchen.« Er grinste verlegen und sah dabei ein bisschen aus wie Peter aus Heidi, wenn er etwas ausgefressen hatte. »Ich hatte es versprochen, dass ich mich blicken lasse, wenn ich heil aus Kanada zurück bin.«

»Blicken lässt, bei wem?«, fragte Mariella.

Mir musste er es nicht erklären. Auch ich hatte magische Orte auf Rügen. Plätze, an die ich immer wieder ging, um Rückschau zu halten, im Zwiegespräch mit mir selbst. In der Binzer Bucht gab es eine Stelle, die Teufelsschlucht. Besonders zur blauen Stunde war es dort wunderschön. Den Plan, nach Zermatt zu gehen, hatte ich dort gefasst. Und an Silvester war ich ebenfalls hingegangen, nur um dann festzustellen, dass Papa und Amanda bereits dort waren.

Felix blieb Mariella eine Antwort schuldig und fragte noch einmal: »Kommt ihr mit?«

Ich nickte zögernd, während meine Freundin die Augen verdrehte. »Klar, warum nicht? Aber nicht, dass du von mir ein Gebet erwartest, Felix Obermatt.«

Er grinste und zwinkerte mir zu.

Am nächsten Sonntag gingen wir los. Wir hatten uns wegen eines Picknicks abgestimmt, Felix trug die Getränke, sodass wir für den Aufstieg gerüstet waren und auf unserem Marsch jederzeit eine Pause einlegen konnten. Währenddessen unterhielten wir uns. Felix erzählte von Kanada, von den Globetrottern, die er dort getroffen hatte, von zwei alleinreisenden Spanierinnen, die sich ihm und einem Amerikaner eine Weile angeschlossen hatten. Das Quartett hatte anscheinend etliche Gipfel gemeinsam erklommen.

»Dabei kommt man sich doch irgendwann näher«, neckte Mariella, vermutlich um ihm zu entlocken, ob sie sich Hoffnungen machen durfte.

Doch Felix sagte nur: »Eine Frau, die mir gefällt, muss nicht zwangsläufig Bergsteigerin sein.«

Danach verstummte sie für mindestens eine halbe Stunde, während mir das Herz raste. Zielte diese Bemerkung auf mich ab?

Als wir ein Picknick einlegten, wollte Felix von mir wissen, ob man auf Rügen klettern könnte.

Ehe ich ihm etwas antworten konnte, sagte Mariella: »Für dich wäre es dort die Hölle. Nur Hochseilgärten und Kletterhallen für Anfänger.« Das wusste sie aus einem Gespräch mit mir.

Felix sah sie irritiert an, und Mariella bekam einen roten Kopf. Dann schwieg sie wieder. Am Restaurant Schwarzsee sagte sie: »Geht ihr mal weiter zum See und zur Kapelle, ich habe genug.«

Felix und ich sahen ihr verblüfft hinterher. Dann hob er die Schultern und brummte: »Sie ist schon manchmal komisch, die Mariella.«

Wir gingen eine Weile schweigend weiter, bis der Schwarzsee in Sicht kam, den ich zuletzt bei meiner Wanderung mit Mariella zur Hörnlihütte gesehen hatte. An jenem Tag hatte ich den See gar nicht richtig wahrgenommen, weil mich der Aufstieg zur Hütte so in Anspruch genommen hatte. Möglicherweise war es auch bedeckt gewesen. Oder es herrschte Wind, und die Oberfläche des Sees lag nicht so spiegelglatt wie heute. Die Kapelle würden wir nicht für uns alleine haben, so viel stand jedenfalls fest. Schon jetzt waren zahlreiche Gruppen von Wanderern hier unterwegs.

Als Felix die Tür zur Kapelle öffnete, waren nur zwei Leute darin zu sehen. Ein Pärchen saß einträchtig nebeneinander in der ersten Reihe vor dem Altar. Es war kühl und roch nach altem Gemäuer, Kerzenwachs und Weihrauch. Das Sonnenlicht brach sich in den Scheiben und erhellte das Innere.

Felix und ich glitten in die hinterste Bank, und er erklärte mir im Flüsterton, dass die Kapelle eine Art Wallfahrtsort für Bergsteiger war. Früher hatte es hier angeblich eine Marienfigur am See gegeben, die dann durch die Kapelle ersetzt wurde. Jährlich fand hier ein Gottesdienst statt, in dem man der Todesopfer gedachte, die der Berg im Jahr gefordert hatte.

»Hast du beim Klettern eigentlich nie Angst?«, fragte ich Felix.

»Angst nicht«, erklärte er. »Aber Respekt vor dem Berg. Und vor der Witterung. Du musst bei jedem Schritt, den du tust, bereits ganz genau wissen, wie deine nächsten Aktionen aussehen werden. Sonst geht es schief und du verlierst an Kraft.«

»Wow«, sagte ich.

Er lächelte. »Was?«

Ich hob die Schultern. »Für mich wäre das eine echte Herausforderung. Ich bin eher spontan. Lasse die Dinge auf mich zukommen.«

»Aber was du anfängst, ziehst du auch durch, oder?«

Ich nickte überrascht.

»Das heißt, jetzt bleibst du eine Weile in Zermatt?«

Meinte er die Frage so, wie ich sie verstand? Vorsichtig antwortete ich: »Solange es mir gefällt.«

Er stupste mich mit dem Ellbogen in die Seite. »Dann hoffe ich, dass es das noch sehr lange wird.« Er warf mir einen vielsagenden Blick zu und berührte meine Hand.

Ich zwang mich, sie ihm zu entziehen und murmelte: »Wir sollten dann mal wieder zurück zu Mariella gehen.«

Fast stolperte ich aus der Kapelle ins Sonnenlicht und fragte mich verzweifelt, wie ich es nur anstellen sollte, diesem Mann zu entkommen.

Als wir zum Restaurant zurückkehrten, war Mariella bereits gegangen. Wir vermuteten, dass sie die Kabinenbahn genommen hatte, und wir taten dasselbe, nachdem wir im Restaurant noch einen Kaffee getrunken und einen köstlichen Aprikosenkuchen gegessen hatten. Allerdings hatte ich beides nicht mehr richtig genießen können. Mein schlechtes Gewissen bummerte in meiner Brust – ich wollte so schnell wie möglich mit Mariella reden.

Natürlich hatte sie den Braten gerochen, sie war nicht dumm. Doch ich beteuerte ihr, dass ich überhaupt kein Interesse an ihrem Schwarm hatte. Dass ich es eben gewohnt sei, Menschen zu berühren und ihnen dabei in die Augen zu sehen. Und dass ich von seiner Seite überhaupt keine Annäherungsversuche wahrgenommen hätte. Das habe sie sich ganz sicher nur eingebildet.

Sie nahm es mir zähneknirschend ab, hatte vermutlich genug mit ihrer eigenen Enttäuschung zu kämpfen, dass Felix sie auf unserem Ausflug nahezu links liegen gelassen hatte.

Danach ging ich Felix aus dem Weg. Er war die unerfüllte Liebe meiner Freundin und damit für mich tabu. Ich wollte Mariella nicht verletzen – geschweige denn verlieren. Ich konzentrierte mich auf meinen Job, ging direkt nach der Arbeit nach Hause und nicht wie zuvor bei Mariella im Laden vorbei. Stattdessen kam sie häufig zu mir.

Natürlich sah ich Felix ab und zu beim Ausgehen in einem der Lokale, in die auch die Einheimischen gingen. Ich vermutete sogar, dass er meinetwegen dort war, denn es dauerte meist nicht lange, dass er sich zu uns gesellte, doch ich wich den Gesprächen aus. In Wahrheit hätte ich mich ihm am liebsten an den Hals geworfen.

Nach einer Weile ließ er locker. Wir grüßten uns, das war’s. Wenn er zu mir sah, schaute ich schnell wieder fort.

4

Vor zwei Jahren – September

Im September – ich lebte inzwischen seit einem Jahr in Zermatt in meinem kleinen Zimmer über einem Uhrengeschäft in der Bahnhofstraße – kam Louis Buchli in die Praxis Kälin. Er war vor seinem Hotel übel umgeknickt und ins Stolpern geraten, hatte sich dabei am Knöchel verletzt, er musste geröntgt werden.

Louis ist ein attraktiver Mann. Wie mein Vater, den ich bereits als »Jever-Mann« bezeichnete, findet man für Louis schnell jemanden, dem er ähnelt, und das ist Hans Sigl. Ich kenne diesen Schauspieler, der sinnigerweise den »Bergdoktor« spielt, nur, weil er einmal bei »Verstehen Sie Spaß« hochgenommen wurde. Soviel ich weiß, ist er ein Frauenschwarm – vielleicht nicht gerade für ganz junge Frauen, aber er ist ohne Zweifel ein Hingucker.

Es war aber nicht Louis' Aussehen, das mir sofort gefiel, sondern seine herausragende Höflichkeit. Die Ruhe in seiner Stimme. Die Achtsamkeit in seinen Bewegungen. Nein, nichts Steifes oder Gezwungenes, er war einfach so respektvoll und umsichtig. Er behandelte mich von der ersten Sekunde, als wäre ich etwas Besonderes.

Er sorgte sich aufgrund seines Sturzes um seine Beweglichkeit, was ihn aber nicht davon abhielt, mich sofort zu fragen, woher ich käme und wie es sein könnte, dass wir uns noch nicht begegnet waren. Er fragte das nicht wie jemand, der holprige Flirtversuche unternimmt, sondern so, als sei ihm das wirklich ein Rätsel.

Jedenfalls machte er keinen Hehl daraus, dass ich ihm gefiel. Dabei überschritt er keine Grenze – anderen männlichen Patienten gelang das nicht immer. Es gab genügend übermütige Skifahrer, die vielleicht auch ein paar zu viel getrunken hatten, deren Hände ganz zufällig meinen Po streiften. Immerhin war mein Po genau auf einer Linie mit dem Röntgentisch, auf dem die Verletzten lagen. Louis hingegen hätte so etwas Plumpes nie getan.

Ich fühlte mich vom ersten Moment an von ihm angezogen und sah ihn keine Sekunde als den, der er war: Ein Mann, der mein Vater hätte sein können. Noch dazu ein millionenschwerer Hotelier und damit einer der gefragtesten Männer im ganzen Wallis. Meine Chefin erzählte mir, dass es Frauen gab, die sich allein deswegen tagelang im Oberwalliser Grand einmieteten, um von ihm wahrgenommen zu werden. Manche fragten ihn sogar, ob er sich mal ihr Knie oder ihre Schulter ansehen könnte, so sehr sahen sie in ihm den »Bergdoktor«, wie er mir später einmal erzählte. Ich lachte lauthals bei dieser Vorstellung. Frauen konnten manchmal so peinlich sein.

Es stellte sich heraus, dass Louis‘ Knöchel lediglich geprellt war, er musste ihn nur ein paar Tage schonen.

»Würden Sie mir bei einem Abendessen beim Mich-Schonen Gesellschaft leisten?«, fragte er mich nach dem Gespräch mit meiner Chefin, die seine Röntgenbilder betrachtet und nichts Bedrohliches festgestellt hatte. »Ich würde Sie zum Dank für Ihre hervorragende Behandlung gern einladen.«

Ich sagte zu. Warum auch nicht? Ich konnte eine Ablenkung von meinem Herzschmerz wegen Felix‘ Unerreichbarkeit gebrauchen. Neben Louis‘ Art mochte ich auch seine grauen Schläfen. Die feinen Lachfältchen, die ihm verdammt gut standen. Außerdem tat er mir wirklich leid. Dass er sich schonen sollte, war für einen Workaholic wie ihn nicht leicht.

Nachdem ich ihn an einem Abend besucht und im hoteleigenen Restaurant mit ihm gegessen hatte, lud er mich für den nächsten noch einmal ein. Wieder ins Hotel. Die Angestellten beäugten uns mit unverhohlener Neugierde, was Louis nicht zu jucken schien. Wir redeten viel und lachten. So ging es ab dann regelmäßig an ein paar Abenden pro Woche.

Als die Schwellung an Louis‘ Knöchel zurückgegangen war und er wieder gehen konnte, wanderten wir gemeinsam bis zur Gornerschlucht, die nur zwanzig Minuten entfernt lag. Ich bestaunte das türkisfarbene Wasser in der Grotte, und mir entging nicht, dass Louis mich nicht aus den Augen ließ. An einem anderen Tag liefen wir bis zum Restaurant Zmutt, tranken hausgemachten Eistee und aßen Rösti. Mir war klar, dass ein Hotelier mitten in der Hochsaison gar keine Zeit für solche Ausflüge hatte, aber er nahm sie sich, weil er mich mochte.

Felix sah ich in dieser Zeit gelegentlich aus der Ferne, und sein Anblick gab mir jedes Mal einen Stich.

Natürlich sprach ich mit Mariella über Louis. Sie konnte nicht fassen, dass ich im Begriff war, mir den begehrtesten Junggesellen des Ortes zu angeln, dabei hatte ich das gar nicht vor. Abgesehen davon verstand ich auch gar nicht, was er an mir fand.

»Das kann ich dir sagen«, erklärte Mariella. »Du bist jung und hübsch, und niemand hier kennt dich oder deine Familie. Selbst wenn es die Leute wollten, sie könnten sich nicht über dich das Maul zerreißen, so wie über seine Ex, die aus Saas Fee stammte – was ihm nie jemand hier verzieh. Bei dir wäre das anders – die meisten hier wissen vermutlich nicht einmal, wo Rügen überhaupt liegt. Und da du berufstätig bist und augenscheinlich keinen ausschweifenden Lebensstil führst, kannst du es nicht auf Louis‘ Geld abgesehen haben. Außerdem bist du umgänglich und freundlich, intelligent obendrein, hast ein bezauberndes Lächeln … das alles käme als Hoteliersgattin extrem gut an. Und Louis ist jetzt nicht so alt, als dass man nicht annehmen könnte, dass du Gefühle für ihn hegst.«

Ich errötete. So hatte mich noch nie jemand beschrieben. Aber hegte ich Gefühle für Louis? Ich war gern mit ihm zusammen, ja. Und es war wahrscheinlich schön, ihn zu küssen. Seine Lippen sahen einladend aus. Nichts an ihm stieß mich ab, wirklich nicht. Aber warum wich ich seinem Blick aus, wann immer er mich so seltsam tiefgründig ansah, als wollte er mir jeden Moment seine Liebe erklären? Es fehlte dieses Quäntchen, das aus Zuneigung mehr macht. Oder zumindest das, was ich bei Felix in der ersten Sekunde gespürt hatte.

Was nicht ist, kann ja noch werden, sagte ich mir damals. Es drängte mich niemand, auch Louis nicht. Er investierte in andere Hotels innerhalb der Schweiz, war viel unterwegs. Wenn er von seinen Dienstreisen zurückkam, brachte er mir oft eine Kleinigkeit mit, irgendeine Spezialität aus der Gegend, einen Kuchen, einen Schinken, einen Käse. Wir futterten dann gemeinsam, irgendwann leistete uns sogar seine Mutter Adele Gesellschaft, die sich mir gegenüber sehr freundlich und aufgeschlossen gab. Sie schien mich sofort in ihr Herz zu schließen. Wenn wir uns mit Louis trafen, war dieser sogleich abgeschrieben. Adele war gleichermaßen beliebt bei ihren Angestellten wie bei den Gästen. Sie hatte für jeden ein offenes Ohr und nahm sich Zeit, plauderte mit jedem und gab ihm das Gefühl, wichtig zu sein. So auch mir.

Ich spürte schon, dass Louis mehr von mir wollte als nette Gespräche. Bedrängt fühlte ich mich dabei nie – ich denke, wenn ich nur ein einziges Mal gesagt hätte, er sollte das lassen, hätte er sich sofort zurückgezogen. Doch ich sagte nichts. Es gefiel mir ja.

Louis erzählte mir bei unseren Treffen und Spaziergängen alles über die Schweiz, was ich wissen wollte. So viel, bis er irgendwann sagte: »Den Einbürgerungstest würdest du wahrscheinlich jetzt schon bestehen. Andere benötigen dafür Jahre.«

5

Vor zwei Jahren – Oktober

Im Oktober kündigte Mariella aus heiterem Himmel ihren Job bei Felix. Sie hielt es nicht mehr aus, wollte nicht ständig dieses sie innerlich zerreißende Sehnen spüren. Trotz aller Hoffnung hatte er nach seiner harmlosen Karte aus Kanada keinerlei Annäherungsversuche unternommen und sogar zwei Einladungen von ihr mit der Begründung ausgeschlagen, er wolle Privates und Geschäftliches lieber nicht miteinander verbinden. Das war natürlich ein Schlag ins Gesicht, und sie tat mir leid. Zu dieser Zeit brauchten ihre Eltern Hilfe in der Pizzeria, ihre Mutter hatte einen Bandscheibenvorfall, und sie machten ihrer Tochter alle Zugeständnisse bezüglich Vollmachten und Arbeitszeiten. Also ergriff sie die Gelegenheit beim Schopf.

»Und was macht Felix ohne dich?«, fragte ich noch. Jetzt, wo die Skisaison anfing, war es wahrscheinlich nicht leicht, einen Ersatz zu bekommen.

Doch Mariella zuckte nur mit den Schultern und sagte: »Das ist Gott sei Dank nicht mein Problem.«

Was Louis betraf, war ich zu diesem Zeitpunkt mehr und mehr auf der Hut. Zwischen uns war eine Vertrautheit eingekehrt, die mir manchmal Unbehagen bereitete. Ich war nicht sicher, ob seine dauernden Einladungen letztendlich nicht doch darauf abzielten, mich ins Bett zu bekommen – dazu hingegen war ich nicht bereit. Ich hatte noch nie mit einem gestandenen Mann geschlafen, der zweifelsohne über viel mehr Erfahrung verfügte als ich, der vielleicht schon die dollsten Dinge im Bett ausprobiert hatte – damit meinte ich, nicht mithalten zu können. Normalerweise bin ich nicht schüchtern, doch Louis schüchterte mich ein.

Und nicht nur mich. Wie bereits erwähnt, gab es Patienten, die es sich nicht nehmen ließen, auf Tuchfühlung zu gehen, wenn sie in meinem Kämmerchen zum Röntgen landeten. Mir war nicht ganz klar, was manche Männer dazu hinreißt, anzügliche Bemerkungen gegenüber einer Frau loszulassen, die sie umsichtig und mit behutsamen Fingern behandelt, um ihnen nicht wehzutun.

Da wurden Dinge gesagt, wie: »Oh, das fühlt sich aber gut an, wie Sie das machen.« Oder: »Ihr Freund darf sich aber glücklich schätzen mit Ihren zarten Händen.« Oder: »Kann man Sie auch privat mieten?«

Ganz prekär wurde es, wenn eine Oberschenkelverletzung vorlag und sich beim Patienten etwas in der Hose regte, nachdem ich ihn vorsichtig in Position gebracht hatte. Wenn dann einer sagte: »Schauen Sie mal, was Sie mit mir anstellen«, als hätte ich eine erotische Massage angewendet, verstand ich keinen Spaß. Allerdings konnte ich einen solchen Patienten nicht fortschicken. Ich zog dann schweigend meine Arbeit durch und redete nur noch das Nötigste.

Doch eines Tages beging ich einen Fehler. So ein Kerl um die Sechzig kam humpelnd in die Praxis – er hatte sich im Skilift mit dem Bügel verhakt und beim Sturz übel wehgetan. Also half ich ihm, sich richtig hinzulegen, damit ich meine Aufnahmen machen konnte. Unversehens nahm der Kerl meine Hand und legt sie sich auf den Schritt.

Ich zog meine Finger fort und sagte: »Noch einmal, und ich zeige Sie an.«

Er zwinkerte und meinte: »Das war doch schön.«

Während der weiteren Behandlung wechselte ich kein Wort mehr mit diesem Mistkerl. Ich wollte meiner Chefin davon erzählen, doch sie und meine Kollegen waren zu beschäftigt. Und schließlich, nachdem der Patient die Praxis mit einem Rezept für Krücken und Schmerzmittel verlassen hatte, beruhigte ich mich wieder.

An jenem Abend beim Essen mit Louis entdeckte ich zwei Tische weiter ebendiesen Herrn mit seiner Angetrauten. Die Krücken lehnten am Stuhl, er saß mit ausgestrecktem Bein in unbequemer Haltung und sah missmutig aus. Verständlich, denn der Skiurlaub war für ihn gelaufen. Wenn man mich fragte, geschah es ihm ganz recht.

Ich stieß Louis an und raunte: »Schau mal da. Dieser Idiot. Stell dir vor, was er sich heute Mittag geleistet hat. Und jetzt diniert er hier mit seiner Frau.« Leise erzählte ich ihm, was vorgefallen war.

Mit Louis‘ Reaktion hatte ich nicht gerechnet. Es war offensichtlich, dass er innerlich kochte, nachdem ich ihm erzählt hatte, was sein Gast sich geleistet hatte.

Mit ernster Miene und hervortretenden Kieferknochen wischte er sich umständlich den Mund an seiner Serviette ab. Dann stand er auf und ging wie beiläufig zu dem Paar an den Tisch. Er stellte sich betont höflich vor, und sein Gegenüber hielt fragend den Kopf schräg. Louis sagte etwas zu ihm, wonach der Herr den Kopf in meine Richtung drehte, und auch die Frau reckte suchend den Hals.

Ich spürte, wie ich einen knallroten Kopf bekam. Oh Gott. Ich wusste nicht, was peinlicher war: die dumme Anmache des Patienten oder das jetzige Schauspiel. Louis forderte seinen Hotelgast offenbar auf, sich bei mir zu entschuldigen, was dieser mit einem Achselzucken, einem Fingerzeig auf sein Bein und mit einem Kopfschütteln beantwortete.

Nun sprach Louis mit der Frau, die entsetzt ihren Mann anstarrte und dann wieder zu mir sah. Der Mann hingegen tippte sich an die Stirn und schüttelte abermals den Kopf. Vermutlich stritt er ab, was vorgefallen war. Was erwartete Louis? Dass der Mann alles freimütig zugab?

Doch Louis ging noch weiter. Mit offenem Mund beobachtete ich, wie er den Mann und seine Frau aufforderte zu gehen. Wenn mich nicht alles täuschte, schickte er sie nicht nur aus dem Restaurant. So, wie der Dame die Kinnlade herunterfiel und wie entsetzt sie mich ansah, warf er die beiden gleich ganz aus dem Hotel.

Ich konnte nicht glauben, was vor sich ging und versuchte, Louis ein Zeichen zu geben – doch er sah mich gar nicht. Sein Gesicht war vor Zorn verzerrt.

Ich zog den Kopf ein. Dieser Eklat war nun wirklich nicht nötig, fand ich. Doch Louis zog die Sache durch. Inzwischen waren auch andere Gäste auf den Vorfall aufmerksam geworden, man tuschelte miteinander. Die Art und Weise, wie der Mann sich von seiner Frau mit den Krücken helfen ließ, wie er aus dem Speisesaal humpelte und dabei den Kopf zu mir umwandte und mir einen wutentbrannten Blick zuwarf … ich hätte im Erdboden versinken mögen.

Als Louis zu mir an den Tisch zurückkehrte, raunte ich: »So schlimm war es nun auch wieder nicht, dass du die beiden gleich rauswerfen musst. Das war jetzt wirklich unangenehm für alle.«

Louis platzierte die Serviette auf seinem Schoß und sah dem Kellner entgegen, der unser Essen brachte. Als es vor uns stand, sagte er: »Man fragt sich als Mann schon, wie man reagieren würde, wenn man mitbekäme, dass eine Frau sexuell belästigt wird. Und das war doch so?«

»Schon, aber …«

»Ich habe mir jedenfalls nach dieser ganzen Debatte in den Medien Gedanken darüber gemacht, was ich als Chef tun würde, wenn einer meiner Angestellten so etwas passiert. Eine unangebrachte Anmache von einem Kollegen oder einem Gast. Und da sagte ich mir: Derjenige müsste sich mindestens entschuldigen. Und es müsste eine Wiedergutmachung geben. Und wenn er es nicht täte, müsste er gehen. Solche Gäste oder Angestellten will ich nicht. Ich möchte, dass meine Mitarbeiterinnen sich wohlfühlen. Dasselbe gilt im Übrigen für Rassismus. Ich beschäftige Menschen mit einer anderen Nationalität oder dunkler Hautfarbe. Für die gilt das Gleiche. Ich will einen respektvollen Umgang mit und zwischen allen.«

Amen, dachte ich. Dabei hatte er ja recht. Zwar war ich keine Angestellte. Aber dass er sich eingemischt hatte, hatte vermutlich zumindest einen guten Nebeneffekt: Der Mann würde sich in Zukunft dreimal überlegen, was er tat oder sagte.

Also bedankte ich mich bei Louis für seinen Einsatz und begann zu essen. Die Leute rundherum beruhigten sich und widmeten sich wieder einander. Louis hatte eine Platte mit Walliser Spezialitäten bestellt, darunter Trockenfleisch, das ich sehr mochte. Es schmeckt wie ein sehr kräftiger und abgehangener roher Schinken. Dazu gab es Gommer Bergkäse und leckeres dunkles Brot mit einem herrlich frischen Salat. An das Essen hier hatte ich mich schnell gewöhnt. Zu einer meiner Lieblingsspeisen gehörten Rösti mit Spiegelei.

»Ich habe dich etwas gefragt«, sagte Louis in diesem Moment und lächelte mich an. »Bist du immer noch in Gedanken bei diesem Burschen?«

Ich kräuselte die Nase und entschuldigte mich. »Den hatte ich schon wieder vergessen.«

»Ich habe dich gefragt, ob du vielleicht Lust hättest, für ein paar Tage mit mir an die Ostsee zu fahren und mir deine Insel zu zeigen.«

Ich riss die Augen auf. Das kam überraschend. Natürlich hatte ich gelegentlich Heimweh. Oft fragte ich mich, wie die Menschheit vor der Erfindung von Skype und Whatsapp damit klar gekommen war, die Heimat zu verlassen.

»Ich werde wohl keinen Urlaub bekommen«, antwortete ich. Im Juni, als die Praxis zwei Wochen geschlossen war, hatte Mama mich besucht und wir hatten ein paar herrliche Tage mit Wandern verbracht. Auch Mariella war ab und zu mitgegangen. Weihnachten wollte ich unbedingt auch für ein paar Tage heim – ich hatte so lange unseren Hund nicht gesehen und natürlich auch Papa. Aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt.

Louis nickte. »Das dachte ich mir schon.«

Ohne nachzudenken, nahm ich seine Hand. »Das hat wirklich nichts mit dir zu tun. Ich wäre gern mit dir dort hingefahren. Es würde dir gefallen.«

Louis blickte auf unsere Hände und verschränkte seine Finger mit meinen. Dann sagte er: »Macht nichts. Ich kann warten.«

Es dauerte nur einen Tag, bis Frau Dr. Kälin mir die Kündigung überreichte. Fristlos.

»Was habe ich denn verbrochen?«, fragte ich verständnislos. Ich starrte auf das Schreiben in meiner Hand und konnte nicht fassen, was geschehen war.

»Sie haben mit Louis Buchli über einen Patienten gesprochen«, warf sie mir vor. »Damit haben Sie die Schweigepflicht verletzt. Ich kann niemanden beschäftigen, der meine Patienten ins Gerede bringt und ihnen Dinge unterstellt, die nie geschehen sind.«

»Das können Sie doch gar nicht beurteilen«, erklärte ich schwer atmend. »Der Mann hat mich bedrängt, das …«

»Und warum sind Sie damit nicht zu mir gekommen? Stattdessen haben Sie ihn gehen lassen – sollte wirklich etwas geschehen sein, ist Ihr Verhalten völlig unverständlich.«

»Das mag sein«, entgegnete ich, »aber Sie hatten keine Zeit. Ich wollte Sie ja ansprechen –«

Mit einer Handbewegung stoppte sie mich. »Wie auch immer – ich kann wohl davon ausgehen, dass das nicht das erste Mal gewesen ist, dass Sie mit Außenstehenden über Vorgänge in meiner Praxis gesprochen haben. Und das widerspricht unserer Vertraulichkeitsvereinbarung.«

Ich versuchte nicht einmal, sie umzustimmen. Wenn ich eines inzwischen in dieser Praxis gelernt hatte, dann war es, dass Frau Dr. Kälin keine Entscheidungen revidierte. Ich war nicht die erste, die gegangen war. Ein anderer Kollege hatte Behandlungspläne verwechselt – auch er musste gehen.

Als ich mit meinen Unterlagen, einem Beutel mit Schwesternkittel und weißen Birkenstockschuhen auf der Bahnhofstraße stand, wurde mir klar, dass ich mich umgehend nach einer neuen Stelle umschauen musste. An eine Reise nach Hause mit Louis Buchli war trotz meiner plötzlichen Arbeitslosigkeit nicht zu denken. Und wegen dieser Kündigung ganz nach Rügen zurückzukehren – das wollte ich auf keinen Fall. Dazu hatte ich Zermatt und die Menschen hier viel zu lieb gewonnen.

Und dann klingelte Felix eines Abends an meiner Wohnungstür.

»Was machst du denn hier?«, fragte ich ihn perplex, nachdem ich ihm geöffnet hatte.

Er kniff entschlossen die Lippen zusammen und sagte dann: »Wir beide müssen reden.«

Ich ließ ihn ein, nahm ihm den Anorak ab und zeigte auf einen der beiden Stühle an meinem winzigen Tisch vor der Kochecke.

»Normalerweise kündigt man sich vorher an, wenn man kommt, odr?«, fragte ich gespielt neckend, während ich seine Jacke aufhängte.

Felix sah mich nur ernst an. Was wollte er? Und warum, verdammt, raste mein Herz so sehr, dass ich glaubte, er müsste es hören?

»Bist du wegen Mariella hier?«, fragte ich, während wir uns setzten. »Weil sie gekündigt hat?« Wusste er um die Gefühle, die sie für ihn hegte? Sollte ich ihm reinen Wein einschenken?

»Nicht nur.«

»Was heißt das?«

Plötzlich sah er verlegen aus. »Ich wollte dich fragen, ob du für mich arbeiten möchtest.«

Ich lachte auf. »Wie bitte?«

»Na ja, ich habe gehört, dass du deine Stelle aufgegeben hast. Und da du sehr gut mit Leuten kannst und ich händeringend jemanden fürs Geschäft suche … dein Englisch ist auch gut, wie ich gehört habe …«

»Das qualifiziert mich noch nicht dazu, deinen Laden zu schmeißen, so wie es Mariella gemacht hat. Ich habe keine Ahnung von atmungsaktiver Kleidung und wer welche Größe braucht – geschweige denn von Schuhberatung. Ich wäre die schlechteste Mitarbeiterin, die du je hattest.«

»Nein, wärst du nicht. Das kannst du alles ganz schnell lernen. Du musst dich ja nicht mit Buchhaltung und solchen Dingen beschäftigen. Nicht mal die Kasse müsstest du machen – das kann ich abends tun.«

Das würde bedeuten, dass ich ihn jeden Tag sehen würde. Das hätte mich eigentlich freuen müssen. Stattdessen bekam ich feuchte Hände.

Ich stand auf und ging zum Kühlschrank, holte eine Flasche Weißwein heraus und goss uns zwei Gläser ein, ohne Felix zu fragen, ob er überhaupt eines wollte.

Meine Gedanken rasten. Abgesehen von meinen Gefühlen: Tatsache war, dass ich schon vor meinem Rauswurf aus der Praxis Kälin immer öfter gelangweilt gewesen war. In Deutschland hatte ich viel mehr Aufgaben zu erledigen als hier, wo ich den ganzen Tag Leute geröntgt hatte wie am Fließband. Ich war immerzu in meinem kleinen Arbeitsbereich, von dem aus es kein Fenster nach draußen gab, konnte den Feierabend manchmal kaum abwarten. In anderen Praxen war es ähnlich, ich hatte mich schon mit verschiedenen Kollegen unterhalten. In Felix‘ Laden würde ich dank der riesigen Schaufensterfront den ganzen Tag Tageslicht haben und ganz bestimmt auch mehr Abwechslung. Die Kunden würden sich über ihren Sport unterhalten wollen, nicht über ihre Verletzungen. Und noch einmal: Ich würde Felix jeden Tag sehen. Es würde sich kaum mehr vermeiden lassen, dass …

Ich schluckte und hielt ihm das Glas Wein hin.

»Du sagst ja?«, fragte er. »Stoßen wir darauf an?« Seine Augen strahlten ungläubig, grau-blau mit einem dunklen Ring. In diesem Moment fiel mir auf, dass ich gar nicht wusste, welche Augenfarbe Louis besaß.

»Nein, viel eher brauche ich auf diesen Schreck einen Schluck.« Ich ließ mich wieder auf meinen Platz sinken. »Ich glaube nicht, dass Mariella das für eine tolle Idee halten würde«, platzte ich heraus.

»Du kannst sie ja um Erlaubnis bitten.«

Klang da Spott aus seiner Stimme? Bevor ich ihn fragen konnte, wie er das meinte, nippte er am Wein und fragte über den Rand seines Glases hinweg: »Ist da eigentlich etwas am Gehen zwischen dir und dem Buchli?«

Ich verschluckte mich und setzte hustend mein Weinglas ab. »Wieso?«

»Man erzählt es sich.«

»Man? Wer genau?«

Er lachte. »Die Leute natürlich, Annika. Was glaubst denn du – wenn eine deutsche, hübsche Endzwanzigerin mit einem bald fünfzigjährigen Junggesellen anbandelt, der noch dazu Zermatter Millionär ist, dann ist das an jedem Stammtisch hier Thema.«

Ich spürte, wie meine Mundwinkel sanken. Wie hatte ich annehmen können, dass das niemanden interessierte? »Ich bandele mit niemandem an. Louis ist sehr nett, und ja, er macht mir irgendwie den Hof, aber …«

»Aber?«

»Wie du schon sagst, er ist fast fünfzig.«

Felix sah mich nachdenklich an. »Ich sag es nicht gern, aber …«

»Was?«

»Sei vorsichtig bei ihm. Der Buchli weiß immer genau, was er will. Und was er will, das kriegt er.«

»Aha«, entgegnete ich.

»Ohne Rücksicht auf Verluste«, fügte Felix hinzu.

Ich runzelte die Stirn. »Bei mir ist nichts zu holen, falls du das meinst. Auf meine Ersparnisse kann er es nun wirklich nicht abgesehen haben.«

»Tatsächlich kann ich mir nicht erklären, was er sonst von dir wollen könnte.« In seinem Blick war nicht das geringste bisschen Ironie zu erkennen. Natürlich hatte ich mich das selbst schon gefragt, und Mariella hatte mir eine schmeichelhafte Begründung geliefert. Aus Felix‘ Mund klang das aber ganz anders.

Ehe ich mich von meiner Verblüffung erholen konnte, hob Felix die Schultern und winkte ab, als wollte er die Dinge, die er im Kopf hatte, lieber unter den Tisch fallen lassen.

»Und du hast auf Rügen auch keinen Freund, der auf dich wartet?«, wechselte er das Thema.

Ich schüttelte sehr langsam den Kopf. »Nein.«

»Und du willst wirklich nicht wieder zurück?«

»Haben die Stammtischbrüder dich beauftragt, mir diese Fragen zu stellen, oder ist das dein eigenes Interesse?«, fragte ich und nahm einen Schluck Wein.

Felix stellte sein Glas ab und fuhr sich mit beiden Händen durchs dunkelblonde Haar. »Ich frage nur nochmal, weil … na ja. Ich dachte wirklich für einen Moment, dass da zwischen uns …« Er zwinkerte auf eine Weise, die mich an die Art männlicher Patienten erinnerte, mit denen ich schlechte Erfahrungen gemacht hatte.

Wieso war er denn so plump? Dazu diese vorherige dumme Äußerung – ging’s noch? »Wenn ich für dich arbeiten würde, wäre das ausgeschlossen«, stellte ich sachlich klar. Er selbst hatte mit dieser Begründung schon Mariellas Annäherungsversuche abgeblockt. »Bisher habe ich übrigens noch immer nicht vor, nach Rügen zurückzukehren, es gefällt mir hier sehr gut«, fuhr ich fort. »Ich finde bestimmt wieder etwas in einer anderen Praxis.«

Oder würde Frau Dr. Kälin dafür sorgen, dass ich woanders keine Stelle mehr bekam? Bisher gab es auf meine Bewerbungen noch keine Reaktionen. Was ich auf die hohe Arbeitsbelastung der Praxen geschoben hatte.

Felix sah mich zerknirscht an, als ahnte er, dass er zu weit gegangen war. Er griff über den Tisch hinweg nach meiner Hand und drückte sie, zog sie dann wieder fort. »Entschuldige bitte, ich meinte eigentlich nur, dass ich dich mag. Und das mit dem Buchli finde ich eben seltsam. Ich trau dem Mann nicht.«

»Dass er mich einfach nur nett findet, sich vielleicht sogar in mich verliebt haben könnte – das schließt du wohl aus?«, erwiderte ich gereizt.