MÜNCHNER BLUT: DAS DUNKLE PORZELLAN - Christian Dörge - E-Book

MÜNCHNER BLUT: DAS DUNKLE PORZELLAN E-Book

Christian Dörge

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Beschreibung

Am helllichten Tag und auf offener Straße wird in München eine geheimnisvolle Frau erschossen, die offenkundig alles daran setzte, ihr Äußeres zu verändern... Im Nymphenburger Schlosspark wird die Leiche einer jungen blonden Frau aufgefunden - erwürgt. Sie gleicht einer weiteren ermordeten Frau buchstäblich bis aufs Haar. Treibt ein Serientäter in München sein Unwesen? Eine Segelyacht verschwindet spurlos auf dem Starnberger See. An Bord: Viktor Zakharov, dem Verbindungen zu deutschen und russischen Geheimdiensten nachgesagt werden... Vier Frauen planen den Mord an dem untreuen Ehemann von Emilia Steinlein - und sie gehen dabei ausgesprochen raffiniert vor. Hauptkommissar Lazarus Eidinger übernimmt den Fall... Die Anthologie MÜNCHNER BLUT: DAS DUNKLE PORZELLAN von Christian Dörge, Autor u. a. der Krimi-Serien JACK KANDLBINDER ERMITTELT, EIN FALL FÜR REMIGIUS JUNGBLUT, DIE UNHEIMLICHEN FÄLLE DES EDGAR WALLACE und FRIESLAND, enthält 14 spannende und außergewöhnliche Kriminal-Erzählungen aus München, Starnberg und Garmisch-Partenkirchen.

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CHRISTIAN DÖRGE

 

 

MÜNCHNER BLUT:

DAS DUNKLE PORZELLAN

 

 

 

 

Erzählungen

 

 

 

 

Signum-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Impressum 

Das Buch 

Der Autor 

DAS DUNKLE PORZELLAN 

MÜNCHNER BLUT 

BESUCH VON ANTONIA 

MÜNCHNER VERSCHWÖRUNG 

DIE WINTERGÄSTE 

DER OPFERGANG 

EIN VERSUCH ÜBER DAS ATMEN 

KANDLBINDER UND DIE BLASSE FRAU 

KANDLBINDER UND DIE ZWEI GESICHTER 

DIE FRAU MIT DEN BLAUEN AUGEN 

DAS UNGEWISSE DUNKEL 

 EINE FRAGE DER MOTIVATION 

DER TOD AUF DEM SEE 

DER WINTERMORD 

Impressum

 

Copyright © 2023 by Christian Dörge/Signum-Verlag.

Lektorat: Dr. Birgit Rehberg

Cover: Copyright © by Mina Dörge.

 

Verlag:

Signum-Verlag

Winthirstraße 11

80639 München

www.signum-literatur.com

[email protected]

Das Buch

 

 

Am helllichten Tag und auf offener Straße wird in München eine geheimnisvolle Frau erschossen, die offenkundig alles daran setzte, ihr Äußeres zu verändern...

 

Im Nymphenburger Schlosspark wird die Leiche einer jungen blonden Frau aufgefunden - erwürgt. Sie gleicht einer weiteren ermordeten Frau buchstäblich bis aufs Haar. Treibt ein Serientäter in München sein Unwesen?

 

Eine Segelyacht verschwindet spurlos auf dem Starnberger See. An Bord: Viktor Zakharov, dem Verbindungen zu deutschen und russischen Geheimdiensten nachgesagt werden...

 

Vier Frauen planen den Mord an dem untreuen Ehemann von Emilia Steinlein - und sie gehen dabei ausgesprochen raffiniert vor.

Hauptkommissar Lazarus Eidinger übernimmt den Fall...

 

Die Anthologie Münchner Blut: Das dunkle Porzellan von Christian Dörge, Autor u. a. der Krimi-Serien Jack Kandlbinder ermittelt, Ein Fall für Remigius Jungblut, Die unheimlichen Fälle des Edgar Wallace und Friesland, enthält 14 spannende und außergewöhnliche Kriminal-Erzählungen aus München, Starnberg und Garmisch-Partenkirchen. 

Der Autor

 

Christian Dörge, Jahrgang 1969.

Schriftsteller, Dramatiker, Musiker, Theater-Schauspieler und -Regisseur.

Erste Veröffentlichungen 1988 und 1989:  Phenomena (Roman), Opera (Texte).  

Von 1989 bis 1993 Leiter der Theatergruppe Orphée-Dramatiques und Inszenierung  

eigener Werke,  u.a. Eine Selbstspiegelung des Poeten (1990), Das Testament des Orpheus (1990), Das Gefängnis (1992) und Hamlet-Monologe (2014). 

1988 bis 2018: Diverse Veröffentlichungen in Anthologien und Literatur-Periodika.

Veröffentlichung der Textsammlungen Automatik (1991) sowie Gift und Lichter von Paris (beide 1993). 

Seit 1992 erfolgreich als Komponist und Sänger seiner Projekte Syria und Borgia Disco sowie als Spoken Words-Artist im Rahmen zahlreicher Literatur-Vertonungen; Veröffentlichung von über 60 Alben, u.a. Ozymandias Of Egypt (1994), Marrakesh Night Market (1995), Antiphon (1996), A Gift From Culture (1996), Metroland (1999), Slow Night (2003), Sixties Alien Love Story (2010), American Gothic (2011), Flower Mercy Needle Chain (2011), Analog (2010), Apotheosis (2011), Tristana 9212 (2012), On Glass (2014), The Sound Of Snow (2015), American Life (2015), Cyberpunk (2016). 

Rückkehr zur Literatur im Jahr 2013: Veröffentlichung der Theaterstücke Hamlet-Monologe und Macbeth-Monologe (beide 2015) und von Kopernikus 8818 – Eine Werkausgabe (2019), einer ersten umfangreichen Werkschau seiner experimentelleren Arbeiten.  

2021 veröffentlicht Christian Dörge mehrere Kriminal-Romane und beginnt drei Roman-Serien: Die unheimlichen Fälle des Edgar Wallace, Ein Fall für Remigius Jungblut und Friesland. 

2023 erscheinen seine neuen Alben Kafkaland und Lycia, sich entfernen. 

 

Künstler-Homepage: www.christiandoerge.de 

  DAS DUNKLE PORZELLAN

 

 

Die Hauptpersonen dieser Erzählung

 

 

Josef Maulhardt: Inspektor bei der Münchner Polizei. 

Alexander Schrautenbach: Kommissar bei der Münchner Polizei. 

Theresia Heusinger: eine einsame Frau, die Opfer eines Mordes wird. 

 

 

Diese Erzählung spielt in München und Starnberg im Jahre 1970.

 

 

 

Fräulein Theresia Heusinger verließ am Sonntag um Dreiviertel sieben ihre Wohnung, um zur Kirche zu gehen. Sie hatte nur ihre alte kleine Handtasche und eine abgegriffene Bibel bei sich. Die Bibel war in Leder gebunden und hatte in Gold aufgeprägte Verzierungen auf dem Einband. Fräulein Heusinger ging an Werktagen jeden Abend zur Kirche. Die Samstage und Sonntage verbrachte sie beinahe ganz dort. Sie blieb still auf ihrem Platz sitzen bis zum nächsten Gottesdienst. Sie war dreiunddreißig Jahre alt, hochgewachsen und schlank, so einfach wie möglich gekleidet, und sie verwendete kein Make-up. Ihr von Natur aus goldblondes Haar war zu einem stumpfen Grauschwarz gefärbt; sie trug es in einem strengen Knoten. Ihre ganze Aufmachung wirkte so, als wolle sie die warme Schönheit ihres blassen Gesichts und der blauen Augen nicht zur Geltung kommen lassen. Ihre langen, wohlgeformten Beine waren unter dem bodenlangen Rock ihres unmodernen Kleides verborgen, zu dem sie noch altmodische Schnürschuhe trug.

Als Fräulein Heusinger den Eingang des bescheidenen Apartmenthauses in der Renatastraße verließ, in dem sie wohnte, bellte aus einem Wagen, der gegenüber auf der Straße geparkt hatte, eine Waffe auf. Der Knall des Schusses verklang sofort, und die Stille des Morgens war wiederhergestellt.

Fräulein Heusinger taumelte und fiel.  Die Kugel war glatt durch ihr Herz gegangen.

Der Wagen fuhr davon. Erst um acht Uhr entdeckte man die Leiche von Fräulein Heusinger.

 

In den Räumen der Polizeiinspektion 42 betrachtete Inspektor Josef Maulhardt das hübsche Gesicht beinahe eine halbe Stunde lang, bevor man den leblosen Körper in die Leichenhalle brachte. Er tat dies zum Teil deshalb, weil er nichts anderes zu tun hatte, in der Hauptsache jedoch, weil er von der Schönheit der Toten fasziniert war.

Über Inspektor Maulhardt wurde auf dem Revier zurzeit nachsichtig gelächelt. Er war zum Bürodienst verdonnert worden, ein Job, der ihn ebenso irritierte wie langweilte. Ursache für den Innendienst war, dass Josef Maulhardt durch Zufall in einen Überfall auf ein Spirituosengeschäft in Gern geraten war. Drei Ganoven hatten ihre Waffen auf Maulhardt leergeschossen, der seinerseits einen getötet und die beiden anderen verwundet hatte. Alles in allem waren neunzehn Schüsse auf Maulhardts hünenhaften Körper abgegeben worden, und irgendwie hatte es keines der Geschosse geschafft, das nicht zu übersehende Ziel zu treffen. Vor einer Batterie von Fernsehkameras im Büro des Polizeipräsidenten war er für seinen Einsatz feierlich befördert worden. Nachdem er seinem Vorgesetzten die Hand geschüttelt hatte, war er beim Weggehen über das Kabel einer TV-Kamera gestolpert und hatte sich bei dem Versuch, den Sturz zu vermeiden, einige Knochen in Schulter und Arm gebrochen.

Jetzt trug er einen Gipsverband von der Schulter bis zum Handgelenk und war zu leichtem Innendienst in der Polizeiinspektion in der Landshuter Allee verurteilt. Dieser ungewohnte Dienst verwirrte Josef umso mehr, als der Dienstraum klein und meist überfüllt war, so dass seine Schwergewichtlerfigur überall im Weg stand. Es war auch deshalb für ihn unangenehm, Büroarbeit tun zu müssen, weil er Linkshänder war. Außerdem gab es überhaupt wenig Arbeit, und deshalb schickte man ihn oft los, um Kaffee und belegte Semmeln für die Kollegen zu holen. Maulhardt machte es nichts aus, als Laufbursche eingesetzt zu werden. Ihn beunruhigte vielmehr, dass er auf diese Aufträge schon beinahe wartete, weil sie die einzige Möglichkeit waren, dem überfüllten Büro zu entkommen. Es half ihm auch nicht, dass sein Vorgesetzter, Kommissar Schrautenbach, jeden Tag sagte: »Sehen Sie mal, Maulhardt, hier herrscht ein Mordsbetrieb. Warum gehen Sie nicht ins Kino und bringen dort ein paar Stunden damit zu, nach vermissten Personen zu suchen oder dergleichen?«

Josef war ein viel zu gewissenhafter Mensch, als dass er die Zeit hätte totschlagen können – selbst wenn man es ihm dienstlich verordnete. Folglich erklärte er jetzt, als er Kaffee und Semmeln in Schrautenbachs Büro brachte, wobei er sich verzweifelt bemühte, das Tablett, das er mit der ungeschickten rechten Hand halten musste, einigermaßen ruhig durch die Gegend zu balancieren, seinem Chef: »Herr Kommissar, ich habe eben die Berichte über die Ermordung von Theresia Heusinger vor zwei Tagen gelesen.«

»Ach ja?«, sagte Schrautenbach etwas ungeduldig und las in dem Bericht über einen Autodiebstahl weiter. »Wir reihen die Sache in die Akte der ungelösten Fälle ein. Die Mordkommission ist ebenso wie ich der Meinung, dass es die Tat eines Verrückten war. Dieses Fräulein Heusinger hat allein gelebt, war so etwas wie eine religiöse Fanatikerin, hatte weder Verwandte noch Freunde, auch keinen Freund, und hat seit dreizehn Jahren als Stenotypistin im gleichen Büro gearbeitet. Absolut kein Motiv.«

»Aber für einen Mord muss es immer ein Motiv geben.«

»Nicht, wenn es die Tat eines Verrückten ist«, schnitt ihm Schrautenbach das Wort ab.

»Nun ja, Herr Kommissar, aber auch in diesem Fall muss ein Motiv vorhanden sein, wenn auch das eines Verrückten. Sollte es die Tat eines Unzurechnungsfähigen gewesen sein, müssten Erkenntnisse über ähnliche Fälle scheinbar sinnloser Morde vorliegen. Wir haben jedoch seit zwei Jahren in München keinen derartigen Fall mehr gehabt. Ja, und den Akten zufolge sogar seit sechs Jahren nicht mehr in Neuhausen. Herr Kommissar, ich würde mich gern ein wenig um diesen Fall kümmern.«

»Ausgezeichnet, ausgezeichnet! Gehen Sie und sehen Sie sich um und nehmen Sie sich ausreichend Zeit. Haben Sie irgendeinen besonderen Grund für Ihr Interesse an diesem Fall, Maulhardt?«

»Ich habe die Leiche gesehen, und dabei hat mich eine Sache besonders beeindruckt: Sie war eine Frau von wahrer Schönheit und hat alles darangesetzt, genau dies zu verbergen. Sie war so schön, dass sie auf eine Bühne gehört hätte, und doch hat sie sich schlicht und altmodisch gekleidet. Aus welchem Grund? Ich meine, dass dies unser einziger Anhaltspunkt ist und das Motiv für ihren Tod irgendwie damit zusammenhängt.«

»Sie nehmen sich der Sache an, Maulhardt. Es wird uns allen – nun – Ihnen guttun, wenn Sie für ein Weilchen aus dem Büro herauskommen«, seufzte Kommissar Schrautenbach vernehmlich, wobei er kaum weniger geräuschvoll seine Semmel aß und den Bericht auf seinem Schreibtisch weiterlas.

»Sie haben zweifellos recht, Herr Kommissar«, antwortete Maulhardt, und es klang beinahe ein wenig traurig.

 

Inspektor Maulhardt ging zu Fuß zum Haus der Ermordeten in der Renatastraße. Nachdem er dem alten Hausmeister seine Dienstmarke gezeigt hatte, ließ er sich die Tür zu Fräulein Heusingers Apartment öffnen.

Der Hausmeister erklärte: »Sie werden da drinnen nichts finden. Die anderen Polizisten haben schon alles durchsucht. Diese Fräulein Heusinger, na, die war schon eine komische Nudel.«

»Komisch?«, fragte Josef, als sie das Ein-Zimmer-Apartment betraten.

»Sehen Sie sich das doch selbst an. Beinahe wie eine Zelle. Nur dieses einfache Bett, der Tisch und ein Sessel. Keine Bücher, kein Radio, kein Fernseher. Keine Vorhänge, nur Jalousien.«

Josef sah sich in dem beinahe leeren Raum um und öffnete die Tür des Wandschranks. Außer einem alten Regenmantel, einem Paar Gummistiefel und einem ausgewaschenen gelben Kleid war der Schrank leer. »Sind das alle Kleider, die sie besaß?«

»Alle. Man sollte doch denken, dass eine junge Frau... ich meine, wenn ich daran denke, dass meine Tochter jeden Pfennig, den sie hat, dafür ausgibt, sich schöne Sachen zu kaufen. Und dabei hatte Fräulein Heusinger, wie ich höre, beinahe zehntausend Mark auf der Bank. Sie war so ruhig, dass es kaum auffiel, dass sie hier wohnte. Sie brachte immer, wenn sie abends von der Arbeit kam, etwas zu essen mit. So gegen sechs war das immer, und ungefähr eine halbe Stunde später ist sie in die Kirche gegangen. Etwa um neun kam sie wieder zurück. Die einzige Gelegenheit, überhaupt mit ihr zu sprechen, war, wenn sie am Ersten jedes Monats herunterkam, um ihre Miete zu zahlen. Immer in bar. Sie zahlte regelmäßig und pünktlich wie ein Kalender.«

»Hatte sie zu einem anderen Mieter freundschaftliche Beziehungen?«

»Nein, nichts dergleichen. Sie hat seit etwa zehn Jahren hier gewohnt und niemals mit irgendjemandem gesprochen. Sie ist immer ein und aus gegangen, als lebte sie in ihrer eigenen Welt ganz für sich allein. Sie hatte niemals Besuch, bekam keine Anrufe, weder von Frauen noch Männern, wie ich das den anderen Polizisten schon gesagt habe.« Der Hausmeister lächelte Maulhardt mit gelben Zähnen an. »Ihr müsst aber ziemlich knapp mit Leuten sein, wenn man einen mit einem eingegipsten Arm herschickt. Sind Sie angeschossen worden?«

»So ähnlich. Danke für Ihre Hilfe. Ich werde mich hier umsehen und den Schlüssel dann wieder abgeben.«

Als der alte Mann gegangen war, stellte sich Josef in die Mitte des Zimmers und sah sich langsam um, ob er irgendetwas finden könnte, das nicht hierher passte. Aber der Raum hatte nichts Persönliches, spiegelte nichts wider vom Wesen seiner letzten Bewohnerin.

Die Wände waren nackt, nicht einmal ein Heiligenbild gab es. Josef stellte fest, dass kein Telefon vorhanden war und sich im Wandkästchen im Bad nur Seife, Zahnpasta und eine Haarbürste befanden. Weiter gab es eine einfache Kommode, deren beide unteren Schubladen leer waren. Die obere Schublade enthielt Unterwäsche, eine Bluse, Strümpfe, ein Handtuch, zwei Bettlaken und einen Kissenbezug. Josef schob die Kommode zur Seite, fand aber weder ein Notizbuch oder sonst ein Buch noch einen alten Brief, eine Zeitschrift oder auch nur das Blatt einer Zeitung. Im Kühlschrank entdeckte er etwas altbackenes Brot, ein Stück Butter und eine Dose Milch. Im Küchenschrank standen ein Besen und eine kleine Schachtel Seifenpulver. Die einzige Schublade des Küchentisches enthielt eine Gabel, ein Messer und einen Löffel. Von ein paar Büchsen mit Bohnen und Ölsardinen abgesehen, waren die Fächer des Küchenschrankes leer. Sonst fand Josef nur noch einen Teller und eine Tasse.

Er schüttelte den Kopf. Ein wenig verwirrt, brummte er vor sich hin: »Beinahe so, als ob sie in einem Kloster gelebt hätte.« Es gab keine einzige Flasche Parfüm, und der einzige Spiegel war der im Bad. Warum führte eine junge Frau jahrelang ein solch tristes Leben?

Mit der rechten Hand schob Josef das Bett zur Seite, sah unter die dünne Matratze, tastete das Kopfkissen ab. Nachdem er an beiden Nachbarwohnungen geklingelt hatte, ohne dass jemand öffnete, verschloss er Fräulein Heusingers Wohnung und ging in die Halle hinunter. Ein Postbote war eben dabei, Briefe in die Hausbriefkästen zu stecken. Josef zog seine Dienstmarke und fragte: »Haben Sie diese Route schon lange?«

»Ja.«

»Hat Fräulein Heusinger viel Post bekommen?«

»Ist das die Frau, die man umgebracht hat?«

Josef nickte. »Haben Sie sie gekannt?«

»Hab sie nur ein einziges Mal gesehen, und das war auf dem Foto in der Zeitung. Mann, wenn alle Leute in diesem Zustellbereich so wenig Post bekämen wie sie, wäre meine Arbeit ein Kinderspiel. Sie hat niemals einen Brief bekommen, nicht einmal Prospekte, und schon gar keine Zeitschriften. Einfach nichts. Halt, alle zwei Monate hat sie die Stromrechnung bekommen, aber das war dann auch wirklich alles.«

»Wie war’s mit Paketen?«

»Keine. Sie hat nicht einmal zu Weihnachten Karten bekommen. Haben Sie sich am Arm verletzt?«

»Ja.« Josef ging in den Keller hinunter und gab dem Hausmeister den Schlüssel zurück. Dann stand er auf dem Gehweg, las die Notizen, die er sich aus den Berichten der anderen Polizisten über diesen Fall zusammengestellt hatte, und hatte Mühe, bis er sein Büchlein mit der ungeschickten rechten Hand wieder eingesteckt hatte.

In der St.-Clemens-Kirche, nur zwei Minuten zu Fuß entfernt, sprach Josef mit einem jungen Priester, Pfarrer Kilian.

»Jeder gewaltsame Tod ist erschütternd, aber der von Fräulein Heusinger... kaum zu fassen. Natürlich habe ich sie oft in der Kirche gesehen. Sie war eine seltsame junge Frau. Sie saß jeden Abend auf ihrem Platz. Manchmal betete sie, aber oft schien sie ihren Gedanken nachzuhängen. Die Samstage verbrachte sie ganz in der Kirche. Nicht einmal zum Essen ging sie fort. An den Sonntagen nahm sie an allen Gottesdiensten vom Morgen bis zum Abend teil. Zwischen den Gottesdiensten blieb sie einfach sitzen und starrte auf unseren Altar. Sie war stets bescheiden, aber ordentlich gekleidet und trug auf dem Haar eine alte Baskenmütze.«

»Herr Pfarrer, war sie in irgendeiner Sozialeinrichtung der Kirche aktiv?«

»Nein. Wir haben einige Male versucht, sie für unsere Wohltätigkeitsbasare oder als Lehrerin für den Kommunionunterricht zu gewinnen, aber sie hat immer nur mit dem Kopf geschüttelt. Offen gesagt, ich kann mich nicht erinnern, sie überhaupt einmal sprechen gehört zu haben.«

»War sie eine religiöse Fanatikerin?«

»Ich mag diesen Ausdruck nicht. Ich würde sagen, Fräulein Heusinger hat in unserer Kirche einen Zufluchtsort gefunden, was die Kirche schließlich für uns alle sein sollte. Manchmal hat sie gebetet, aber meist hat sie schweigend dagesessen und geradeaus geblickt. Sie schien mit der Welt im Frieden zu leben.«

»Hat sie der Kirche Geld gegeben, Pfarrer?«, fragte Josef weiter.

»Nein. Offen gestanden war ich erstaunt zu lesen, dass Fräulein Heusinger seit vielen Jahren eine feste Arbeit hatte und ein recht ordentliches Gehalt verdiente. Ihr Äußeres stand in erheblichem Gegensatz dazu.«

»Hat sie sich jemals mit einer anderen Person in der Kirche getroffen?«

»Nicht dass ich wüsste. Sie saß immer allein. Hat denn die Polizei keine Ahnung, wer sie ermordet haben könnte?«

»Noch nicht. Ich bin auf der Suche nach einem Motiv. Jedem Mord liegt ein Motiv zugrunde. Herr Pfarrer, ich verlange nicht, dass Sie eine Ihrer Berufspflichten verletzen, aber hat sie bei der Beichte, hat Fräulein Heusinger jemals...«

»Sie ist nie zur Beichte gegangen.«

Josef stand auf. Als sie sich die Hände schüttelten, sagte Pfarrer Kilian: »Es ist eine Zumutung, Sie mit einem gebrochenen Arm arbeiten zu lassen. Trotz Ihrer Jugend müssen Sie ein besonders pflichtbewusster Polizist sein.«

Josef zuckte bescheiden mit der rechten Schulter.

Er fuhr mit der U-Bahn nach Schwabing, aß eine Kleinigkeit in einem Lokal, wo er in dem Gedränge beinahe sein Tablett fallen gelassen hätte, und ging schließlich zum Personalchef der Versicherungsgesellschaft, bei der Theresia Heusinger angestellt gewesen war. Der Personalchef war eine elegant gekleidete rothaarige Frau, die mit einer goldenen Zigarettenspitze spielte und die Blicke ihrer strahlenden Augen ungeniert über Josefs eindrucksvollen Körper gleiten ließ, während sie erklärte: »Wie ich bereits Ihren Kollegen berichtet habe, war Theresia Heusinger schon acht Jahre lang bei uns, als ich die Personalabteilung übernahm. Sie war eine sehr tüchtige Kraft, fehlte nie und ließ sich den ihr zustehenden Urlaub ausbezahlen. Ein- oder zweimal habe ich ihr vorgeschlagen, sie solle sich etwas besser kleiden. Verstehen Sie richtig, sie war immer ordentlich und sauber angezogen, aber sie hatte absolut keinen Geschmack. Ich vermute, sie hat sich die altmodischen Sachen selbst genäht. Das Komische an der Geschichte war: Fräulein Heusinger hätte eine außergewöhnlich hübsche Erscheinung sein können, wenn sie sich nur entsprechend gekleidet hätte.«

»Ich weiß. Unterhielt sie freundschaftliche Beziehungen zu einem Mann in der Firma?«

Die Rothaarige seufzte. »Machen Sie Witze? Sie wusste wahrscheinlich nicht einmal, dass es hier Männer gibt. Sie war mit niemandem befreundet und nahm an keiner Party teil. Theresia hat nicht einmal zum Mittagessen die Firma verlassen. Sie kaufte sich von dem Jungen, der den Wagen mit dem Mittagsimbiss herumfährt, eine Semmel und eine Tüte Milch. Sie verließ ihren Schreibtisch auch während der Kaffeepausen nie. Offen gesagt, ich erinnere mich nicht, Theresia jemals auf der Toilette gesehen zu haben.«

»Welche Art von Tätigkeit übte sie aus?«

»Statistik. Und sie war eine unserer besten Mitarbeiterinnen in diesem Fach. Sie hat wie ein menschlicher Roboter gearbeitet. Ihre Arbeitsleistung war hervorragend. Wir haben ihr verschiedene Male eine leitende Position angeboten, aber das hat sie abgelehnt. Sie hatte keine Ambitionen. Eine wirklich merkwürdige Person.«

Josef schaffte es, sein Notizbuch herauszubekommen. »Wir haben keine Verwandten ermitteln können. Ihr Vater starb, als sie noch ein Kind war, und ihre Mutter ist vor ein paar Jahren verschieden. Das Haus, in dem ihre Mutter wohnte, ist 1959 abgerissen worden. Sind irgendwelche Verwandte von Fräulein Heusinger in ihrer Personalakte angegeben?«

»Nein. Das hat ein Kollege von Ihnen bereits überprüft. Es gibt sogar eine Versicherungspolice über zweitausend Mark im Rahmen unserer freiwilligen sozialen Leistungen, die zur Auszahlung ansteht. Jemand hat da nicht aufgepasst. Theresia hat keinen Begünstigten für den Fall ihres Ablebens angegeben. Ich werde ihre Akte kommen lassen.«

Theresia Heusingers Personalakte glich ihrem Leben: schlicht und karg. Sie hatte das Rupprecht-Gymnasium vor dem Abitur verlassen und mit siebzehn Jahren zu arbeiten begonnen. Als einzige Referenz war ein Fräulein Barbara Wallbrunn genannt, eine Lehrerin. Josef erhob sich. »Könnte ich vielleicht mit jemandem sprechen, der mit Fräulein Heusinger zusammengearbeitet hat?«

»Dürfte Zeitvergeudung sein. Sie war eine Einzelgängerin. Ein Kollege von Ihnen hat am Tag, an dem sie – äh – erschossen wurde, alle Mädchen befragt, die im Büro in der Nähe von Theresia Heusinger gearbeitet haben. Warten Sie mal, da fällt mir ein, dass an jenem Tag Frau Estravados nicht im Büro war. Ihr Schreibtisch steht neben dem von Theresia. Mit der können Sie sprechen. Kommen Sie mit.«

An der Tür wäre er beinahe mit der Rothaarigen zusammengestoßen, konnte aber im letzten Moment noch bremsen. Die Personalchefin lächelte. »Sie sind aber schnell auf den Beinen für einen so großen Mann. Ich wette, Sie sind ein hervorragender Tänzer.«

»Ich hab mir den Arm beim Tanzen gebrochen«, behauptete Josef und überlegte sich, was die Rothaarige wohl gemeint haben mochte.

Er wartete in dem Erholungsraum, an dessen Wänden Getränke- und Süßwarenautomaten standen. In dem riesigen Saal nebenan tippten an die fünfzig Damen auf ihren Schreibmaschinen. Als Frau Estravados, eine kleine, dickliche junge Frau hereinkam, begann sie sofort wie ein Wasserfall überzusprudeln: »Ich konnte damals nicht zur Arbeit kommen, als ich in der Zeitung las, was der armen Theresia zugestoßen war. Ich konnte es einfach nicht begreifen. Wer sollte denn ein Interesse daran haben, eine so harmlose Frau wie Theresia zu ermorden?«

»Das versuche ich herauszufinden. Waren Sie mit Theresia befreundet?«

»Sehen Sie, ich arbeite nun seit sechs Jahren neben ihr, und alles, was wir miteinander gesprochen haben, war Guten Morgen und Auf Wiedersehen. Aber das war nicht nur bei mir so, sondern sie sagte auch zu allen anderen nicht mehr. Während der Mittagspause blieb sie an ihrem Schreibtisch sitzen und aß dort. Sobald sie fertig war, arbeitete sie weiter. Sie ist nie mit den anderen Kolleginnen ausgegangen, auch nicht zum Einkaufen.«

»Hat sie jemals Männerbekanntschaften erwähnt?«

»Ach, ich wollte, sie hätte es getan. Ich dachte mir immer, dass sie einen Mann braucht. Aber sie hatte an nichts Interesse, auch nicht an Männern. Theresia war eine sehr seltsame Frau. Sie war von Natur aus blond, aber sie färbte sich das Haar grau. Manchmal, wenn ich sie betrachtete, musste ich denken, was für eine schöne Frau sie so leicht hätte sein können.«

Josef nickte. »Ist in der letzten Zeit irgendetwas Ungewöhnliches vorgefallen? Ich meine, wirkte sie aufgeregt oder verängstigt?«

»Nein. Sie hat sich nie geäußert. Ich hingegen... rede viel zu viel. Mein Mann sagt, dass ich... Moment mal, da fällt mir doch etwas ein! Letzte Woche – ich glaube, es war am Freitag – wirkte Theresia aufgeregt. Ich will damit sagen, dass sie sich anders als sonst verhielt. Während der Kaffeepause hörte sie tatsächlich zu tippen auf, saß an ihrem Schreibtisch und lächelte gedankenverloren vor sich hin. Sie sah wie ein Engel aus. Ich hatte sie früher kein einziges Mal lächeln gesehen. Ich fragte sie, ob alles in Ordnung sei, und sie lächelte mich tatsächlich an und flüsterte: Ein Wunder ist geschehen.«

»Ein Wunder? Was für ein Wunder?«

Frau Estravados zuckte mit den dicken Schultern. »Das war alles, was Theresia sagte. Man spricht schließlich nicht über religiöse Angelegenheiten. Aber ich möchte sagen, dass Theresia sehr glücklich zu sein schien.«

»Hat sie dieses Wunder noch einmal erwähnt?«

»Nein, Herr Inspektor. Das war wie gesagt am Freitag, am Sonntag wurde sie ermordet.«

Josef bedankte sich, stand von seinem Stuhl auf und überragte die kleine Frau Estravados wie einen Leuchtturm.

»Ach du meine Güte, Sie sind ja ein Riese!«, keuchte sie. »Was haben Sie denn mit dem Arm ge...«

»Ich bin beim Fußballspielen ausgerutscht.«

 

Als Josef fünf Minuten nach drei Uhr am Nachmittag das Rupprecht-Gymnasium erreichte, kamen ihm Gruppen von Schülern entgegen. Im Büro sagte eine weibliche Angestellte: »Ein Fräulein Barbara Wallbrunn? Wir haben keine Lehrerin dieses Namens. Sekunde mal.« Sie ging an einen Aktenschrank. »Ja, Fräulein Wallbrunn ist 1959 in Pension gegangen. Wollen Sie ihre Adresse wissen? Sie wohnt draußen in Starnberg.«

Als Josef seine Dienststelle anrief, fragte Kommissar Schrautenbach: »Machen Sie Urlaub, Maulhardt? Was? Ach so. Gehen Sie der Sache weiter nach. Sie brauchen sich hier morgen früh nicht zu melden, wenn Sie noch zu tun haben.«

Es war beinahe halb sechs am selben Nachmittag, als Josef die Straße mit den alten Wohnhäusern erreichte, von denen eins wie das andere aussah. Ein Mädchen von etwa dreizehn Jahren, mit goldblondem Haar, engen Jeans und einem Pulli öffnete die Tür und kicherte, als sie Josef sah: »Mit diesem Gipsarm werden Sie bestimmt keinen Staubsauger verkaufen wollen.«

»Ist Fräulein Barbara Wallbrunn zu Hause?«

»Großmama liegt im Bett. Sind Sie der Gasmann?«

Die braunen Augen des Mädchens weiteten sich einen Augenblick lang vor Schreck, als sie Josefs Dienstmarke sah. Dann kicherte sie wieder. »Mann, Sie haben die falsche Fräulein Wallbrunn erwischt! Oma hat ihren Wagen schon vor Monaten verkauft, also kann sie nicht an Ihrem gebrochenen Arm schuld sein, und außerdem liegt sie wegen ihres kranken Rückens schon seit Wochen im Bett.«

»Ich möchte sie gern wegen einer ehemaligen Schülerin sprechen.«

Das Mädchen lachte jetzt laut heraus. »Na hören Sie mal, Oma hat seit über Jahren keinen Unterricht mehr gegeben. Sagen Sie, sind Sie wirklich Polizist oder...?«

»Jetzt hör mir mal gut zu«, sagte Josef geduldig, »ich bin Polizeibeamter, und der Grund, weshalb ich deine Großmutter aufsuche, ist wichtig. Ich werde sie nur ein paar Minuten stören.«

»Na gut, ich denke, Sie sind okay. Hier entlang.«

Josef folgte dem Teenager eine Treppe hinauf und wartete dann im Flur. Durch eine offene Tür sah er eine Frau im Bett sitzen und fernsehen. Ihr Gesicht war faltig, das Haar eisgrau, aber sogar vom Flur aus konnte Josef die lebhaften Augen erkennen.

Nach einem Augenblick rief die Frau: »Kommen Sie doch herein, Herr Inspektor. Tina, schalte den Fernseher ab und nimm mein Kleid vom Sessel. Entschuldigen Sie den Zustand meines Zimmers und setzen Sie sich. Was ist denn mit Ihrem Arm passiert?«

»Ich bin gestürzt«, erklärte Josef, während er sich auf dem zerbrechlichen Stuhl niederließ. »Fräulein Wallbrunn«, sagte er dann, »erinnern Sie sich an eine Schülerin, die Sie vor etwa fünfzehn Jahren am Rupprecht-Gymnasium unterrichteten, an eine Theresia Heusinger?«

»Tina, du kannst jetzt hinuntergehen und deine Hausaufgaben fertig machen.« Als das Mädchen gegangen war, erwiderte die alte Dame: »Selbstverständlich erinnere ich mich an Theresia. Sie war ein süßes Mädchen. Hat sie wieder Kummer?«

»Wieder?«

»Nun, junger Mann, Sie sind doch Polizeibeamter! Was ist los mit Theresia? Schonen Sie meine Gefühle nicht.«

»Sie wurde vor einigen Tagen erschossen – ermordet. Es hat auf den Titelseiten der Zeitungen gestanden, Fräulein Wallbrunn.«

»Zeitungen lese ich nicht. Oh, mein Gott, wer hat denn die arme Theresia umgebracht?«

»Wir wissen es nicht. Deshalb bin ich hier.«

»Du meine Güte, ich habe Theresia seit so vielen Jahren nicht mehr gesehen. Ein nettes Mädchen, so hübsch und lebenslustig.«

»Welche Art von Kummer meinten Sie, Fräulein Wallbrunn?«

»Theresia kam, als sie siebzehn war, in andere Umstände. Ihre Mutter war eine von diesen prüden, dummen Frauen, und anstatt dem armen Kind zu helfen, tat sie so, als ginge die Welt unter. Sie verstieß das Mädchen.«

»Kennen Sie den Mann, der sie in diese... in diese Schwierigkeiten gebracht hat?«

»Es war wahrscheinlich irgendein dummer Junge. Ich habe sie nie nach ihm gefragt. Hätte Frau Heusinger ihre Tochter aufgeklärt, wäre all das nicht passiert. Stattdessen waren alle Gedanken der Mutter nur darauf gerichtet, wie sie ihre Tochter in irgendeinem Heim unterbringen, wie sie sie loswerden könnte. Theresia wurde hysterisch. Sie hatte niemanden, an den sie sich hätte wenden können. Ich besorgte für Theresia einen Platz in einem Heim für unverheiratete Mütter. Als das Baby geboren wurde, ein Mädchen, wurde es zur Adoption freigegeben. Einige Monate später erwartete mich Theresia vor der Schule und bat mich, meinen Namen als Referenz bei der Bewerbung um einen Arbeitsplatz angeben zu dürfen. Ich war dazu selbstverständlich bereit, und das war das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe. Und jetzt berichten Sie mir, dass man sie ermordet hat. Unsere Gesellschaft kann wahrlich grausam sein! Ich habe damals Frau Heusinger zu erklären versucht, dass Theresia aus Unkenntnis einen Fehler begangen habe, dass es falsch sei, das Kind wie eine Verbrecherin zu behandeln, aber sie weigerte sich, mich anzuhören. Eine richtige Tragödie! Als ich Theresia dieses letzte Mal sah, hatte sie sich bereits verändert. Sie hatte ihre Lebensfreude verloren, sie kam mir vor wie... wie eine lebende Tote. Die gewaltsame Trennung von Mutter und Kind ist barbarisch. Es muss für die arme Theresia ein fürchterlicher Schock gewesen sein.«

»Sie hat niemals erwähnt, wer der Vater ist?«

»Nein, niemals.«

»Erinnern Sie sich an den Namen des Heims für unverheiratete Mütter?«

»Nein, das war doch schon vor so vielen Jahren. Aber ich kann mich daran erinnern, wie ich Theresia in einem Taxi dorthin gebracht habe. Es war in Neuperlach, in der Kafkastraße, und es wurde von Nonnen geleitet. Die arme Theresia hatte nicht einmal Verwandte, zu denen sie hätte gehen können.«

»Ich danke Ihnen«, sagte Josef und stand auf, wobei er den leichten Stuhl beinahe umwarf. »Sie haben mir wirklich sehr geholfen.«

»Theresia Heusinger! Ach, sie kann nicht viel älter als dreißig gewesen sein. Wenn die Mutter des armen Kindes nur ein wenig verständnisvoller gewesen wäre – solche Fehltritte passieren nun einmal –, hätte Theresia Leben nicht ruiniert zu werden brauchen.«

 

Beim Rapport in der Dienststelle am nächsten Morgen geriet Josef in ein wüstes Gedränge. Es herrschte Hochbetrieb. Ein Scheckbetrüger hatte im Zuständigkeitsbereich des Reviers am Tag zuvor gearbeitet. Er hatte sich als Arzt ausgegeben und in vier Läden mit ungedeckten Schecks bezahlt. Josef versuchte, sich aus dem Gewühle herauszuhalten, während er darauf wartete, Kommissar Schrautenbach sprechen zu können. Endlich konnte er ihm die Erlaubnis abringen, im Fall Heusinger in Neuperlach etwas klären zu dürfen. Schrautenbach entließ Josef mit den Worten: »Klar, tun Sie das. Und lassen Sie sich Zeit.«

Das Gefühl, überflüssig zu sein, störte Josef heute nicht mehr so wie früher. Er begab sich auf direktem Wege zum Heim für unverheiratete Mütter in der Kafkastraße. Eine weißgekleidete Schwester mit blassem, aufgedunsenem Gesicht erklärte ihm: »Ja, aus unseren Unterlagen geht hervor, dass wir tatsächlich vor sechzehn Jahren eine Theresia Heusinger bei uns hatten.«

»Haben Sie irgendwelche Angaben über den Namen des Vaters des Kindes?«

»Nein. Entweder hat ihn das Mädchen nicht gekannt, oder sie wollte ihn uns nicht nennen.«

»Dann möchte ich gern wissen, wer das Baby adoptiert hat.«

Die Schwester bedachte Josef mit einem dünnen Lächeln. »Das alles geschah, bevor ich hierherkam. Aber nicht nur aus diesem Grund kann ich Ihnen keine Auskunft geben. Sie müssen wissen, dass wir absichtlich sämtliche Unterlagen vernichten. Die Kindesmutter erfährt niemals den Namen der Adoptiveltern, und umgekehrt wissen diese nichts von der ledigen Mutter. Allzu oft wollen die Mädchen, nachdem sie einer Adoption zugestimmt haben, später, wenn sie geheiratet haben, die Kinder wiederhaben. Daraus könnten sich natürlich alle möglichen Komplikationen für alle Beteiligten ergeben. Also vernichten wir jegliche Unterlagen über die Adoption.«

»Ich verstehe das, Schwester. Aber hier handelt es sich um einen Kriminalfall, um Mord. Eine Adoption läuft doch über die Gerichte, also muss es auch irgendwo Unterlagen geben.«

»Es tut mir leid. Ich würde Ihnen gern helfen, aber nach wie vor bleibt die Tatsache bestehen, dass alle Unterlagen vernichtet worden sind.«

 

Gegen Mittag war Josef wieder in der Polizeiinspektion. Kommissar Schrautenbach telefonierte gerade. Es ging um einen gestohlenen Wagen. Als er Josef sah, legte er eine Hand über die Sprechmuschel und sagte: »Josef, holen Sie mir eine Leberkässemmel mit viel Senf. Und eine Tasse Kaffee ohne Zucker.«

Als Josef zurückkam, schob Schrautenbach einige Papiere auf seinem Schreibtisch beiseite und begann zu essen. Josef stand daneben, und nach einer Weile ließ Schrautenbach vernehmen: »Maulhardt, was stehen Sie hier noch rum? Ich dachte, Sie wären mit irgendetwas beschäftigt?«

»Ich glaube, ich habe ein Spur im Mordfall Heusinger, Herr Kommissar«, sagte Josef, berichtete von der Adoption und schloss mit den Worten: »Ich glaube nicht, dass die Gerichte alle Unterlagen vernichtet haben. Könnten Sie das Gericht veranlassen, uns den Namen der Familie zu nennen, die Theresia Heusingers Kind adoptiert hat?«

»Wozu denn das, zum Teufel? Das ist doch eine Ewigkeit her. Mit diesem Mord hat das doch gar nichts zu tun.«

»Dessen bin ich mir nicht ganz sicher. Vielleicht gibt es keine Verbindung. Aber es ist der einzige Fehltritt, den sich Theresia Heusinger in ihrem Leben geleistet hat, und ich denke mir, da könnte es vielleicht doch einen Zusammenhang geben. Die ganze Zeit hat Theresia Heusinger wie eine Nonne gelebt, beinahe so, als wollte sie sich selbst bestrafen. Letzte Woche aber hat sie einer Kollegin im Büro gegenüber geäußert, ein Wunder sei geschehen. Sie schien aufgeregt und glücklich zu sein.«

»Na und?«

»Wenn man das eintönige Alltagsleben betrachtet, das Theresia Heusinger geführt hat, was könnte denn mit einem Wunder anderes gemeint sein, als dass sie ihre Tochter gesehen hatte?«, sagte Josef.

»Maulhardt, Sie spinnen. Diese Theresia war eine verrückte Heilige, also kann Wunder bei ihr alles Mögliche bedeutet haben. Sie hat ihr Baby gleich nach der Geburt weggegeben, und nun wollen Sie mir erzählen, dass sie das Kind nach sechzehn Jahren wiedererkannt haben soll?«

Josef zuckte die rechte Schulter. »Ich behaupte nicht, dass das eine Tatsache ist, sondern lediglich eine Spur. Vielleicht sieht das Mädchen jetzt genauso aus wie Theresia mit sechzehn ausgesehen hat?«

»Das ist zwar eine an den Haaren herbeigezogene Theorie, aber angenommen, es wäre so, dann fehlt uns trotzdem jeder Hinweis darauf, dass Theresia Heusinger versucht hat, mit irgendjemandem Kontakt aufzunehmen. Im Grunde wissen wir nur, dass Fräulein Heusinger jeden Samstag in der Kirche verbracht hat. Und einmal angenommen, Theresia hat mit dem Mädchen gesprochen, weshalb sollte ihre Tochter sie dann erschossen haben?«

»Kommissar Schrautenbach, wie Sie schon gesagt haben, das mag alles Spekulation sein. Aber Theresia Heusinger ist nur zweimal in ihrem Leben aus der Reihe getanzt – das eine Mal, als sie ihr uneheliches Kind bekam, und das zweite Mal, als sie ermordet wurde. Ich glaube, das wäre wert, überprüft zu werden. Ich gehe der Sache nach und bitte Sie, mir zu helfen.«

Schrautenbach trank seinen Kaffee und hob dann den Kopf. »Sind Sie sicher, dass Sie sich da nicht Unannehmlichkeiten einhandeln, Maulhardt? Hören Sie zu: Ich habe mehr als genug am Hals. Da ist dieser Scheckbetrüger, und jetzt dieser gestohlene Wagen. Wenn ich also im Präsidium anrufe, kostet mich das wertvolle Zeit. Ich schlage vor, Sie gehen selbst hin, erzählen den Leuten Ihre Geschichte und hören sich mal an, was die denken.«

 

Keine Stunde später saß Inspektor Maulhardt einem anderen Kommissar gegenüber: »Ich kann nicht behaupten, Herr Kommissar, dass da wirklich ein Zusammenhang besteht. Das kann ich erst, wenn wir der Sache nachgehen. Angenommen, jene Leute, die das Baby adoptiert haben, haben dem Mädchen verschwiegen, dass es adoptiert wurde. Sie ist jetzt sechzehn, und wir wollen annehmen, sie sieht genauso aus wie Theresia mit sechzehn Jahren. Vielleicht hat Theresia das Mädchen in der U- Bahn gesehen, ist ihr nachgegangen, hat versucht, mit ihr zu sprechen oder mit den Adoptiveltern. Der Vater hat Angst bekommen, die Sache könnte die Tochter aufregen, und als einziger Ausweg fällt ihm ein, Theresia zu töten.«

»Das wäre doch ein ganz und gar verrückter Gedanke!«

»Schon, Herr Kommissar, aber er könnte bei dem Gedanken, seine Tochter zu verlieren, durchgedreht haben. Es ist mir klar, dass es eine ausgesprochen delikate Angelegenheit ist, das Gericht zu veranlassen, vertrauliches Material herauszugeben. Aber wir können die Angelegenheit doch diskret behandeln, so dass niemandem ein Schaden entsteht, sofern keine Verbindung festgestellt werden kann.«

»Ich werde mal mit dem Polizeipräsidenten sprechen, hören, wie er über die Sache denkt. Kommen Sie in einer Stunde wieder, Maulhardt.«

Als Josef eine Stunde später zurückkehrte, fragte der Kommissar: »Verstehen Sie was von Architektur, Maulhardt?«

Josef schüttelte seinen großen Kopf.

»Ich habe den Namen des Ehepaares erfahren, welches das Baby adoptiert hat, und habe gleich einige telefonische Erkundigungen eingezogen. Die Leute haben bis vergangene Woche in Nürnberg gewohnt und sind in eine der neuen Wohnanlagen in München umgezogen, nicht weit von Fräulein Heusingers Wohnung entfernt. Sie könnten also mit Ihrer Vermutung richtig liegen. Wie Ihnen bekannt ist, handelt es sich hier um eine vertrauliche Information. Sollten wir einen Fehler machen, wird es einen Riesenstunk geben. Aber da wir es hier mit Mord zu tun haben, denke ich, dass es ein Risiko ist, das wir eingehen müssen. Auf jeden Fall muss die ganze Sache mit äußerster Vorsicht behandelt werden.«

»Selbstverständlich, Herr Kommissar.«

»Glücklicherweise sehen Sie mit Ihrem Gipsarm nicht aus wie ein Polizist. Ich schlage deshalb vor, Sie geben sich für einen Gebäudeinspektor aus. Das Ehepaar heißt Robert und Anita Niedermeyer. Besuchen Sie die Wohnanlage in der Klarastraße heute Nachmittag und geben Sie vor, Sie kämen vom Stadtbauamt und müssten eine Materialkontrolle durchführen. Besuchen Sie auch andere Wohnungen, nicht nur die der Niedermeyers. Das wirkt glaubhafter. Auf diese Weise können Sie sich die Niedermeyers ansehen. Beschränken Sie sich darauf. Wie schon gesagt, ein zu forsches Vorgehen würde nur Problemen nach sich ziehen. Verstanden?«

Josef nickte.

»Ich werde Ihnen von der Gebäudeverwaltung einen Ausweis besorgen und einen Mann herholen, der Ihnen die nötigen Fachausdrücke beibringt.«

 

Die Wohnanlage war eine jener modernen, terrassenförmig angelegten Konstruktionen, mit Blick auf den Hirschgarten. Bemerkenswert waren auch die Sicherheitsvorkehrungen. Josef kam um halb fünf hin und musste erst über eine Haussprechanlage mit dem Hausmeister sprechen, bis sich eine Glasschiebetür lautlos öffnete und Josef die farbenfreudig ausgestaltete Eingangshalle betreten konnte. Er zeigte dem Hausmeister seinen Ausweis von der Städtischen Baubehörde, worauf man ihm sagte, er solle auf den Gebäudeverwalter warten. Josef sah sich inzwischen die Hausbriefkästen an. Die Niedermeyers bewohnten Apartment 6 D. Es schien einige Schwierigkeiten zu machen, den Verwalter aufzutreiben, und Josef ging zu Fuß in den sechsten Stock hinauf. Er läutete bei 6 C, wo ihm nicht geöffnet wurde. Dann drückte er den Knopf von 6 D und hörte gleich eine kindliche Stimme rufen: »Vati kommt!«

Das schlanke Mädchen, das die Wohnungstür öffnete, hatte langes blondes Haar, hellblaue Augen und einen vollen roten Mund. Josef starrte sie an und musste beinahe nach Luft schnappen: Das Mädchen war ein lebendes Abbild von Theresia Heusinger! Das Kind sagte ein wenig verwirrt: »Oh, ich dachte, Sie wären...« Die Stimme klang warm und freundlich.

Josef hatte Mühe, mit seiner ungeschickten rechten Hand den Ausweis der Baubehörde aus der Tasche zu ziehen. »Uns sind Beschwerden zu Ohren gekommen, dass die Fenster auf der dem Hirschgarten zugewandten Seite nicht richtig schließen. Ich würde gern mal die Rahmen ansehen.« Er hatte die ganze Zeit auf das Gesicht des Mädchens gestarrt, und bemerkte erst jetzt den hellblauen Pullover, den das Mädchen trug, und den weißen Minirock. Die schlanken Beine steckten in Kniestrümpfen und sportlichen Schuhen. Sie war zwar erst sechzehn, hatte jedoch schon die Rundungen einer Frau.

»Kommen Sie herein.« Und zur Seite tretend, fügte sie hinzu: »Passen Sie auf Ihren Arm auf. Großer Gott, ich hoffe, es ist nicht ein ganzes Haus darauf gefallen.«

»Fast«, flunkerte Josef und folgte ihr in das geschmackvoll möblierte Wohnzimmer, dessen große Glasschiebetür sich zur Terrasse hin öffnete. Alles wies darauf hin, dass die Niedermeyers ein gutes Einkommen hatten.

Die Stimme einer Frau kam aus einem anderen Zimmer: »Wer hat denn geläutet, Liebling?«

»Ein Mann von der Baubehörde, Mama. Er will die Fenster nachsehen.« Flüsternd fügte sie hinzu: »Meine Mutter fühlt sich nicht recht wohl.« Jetzt, in ihrer Nähe, bemerkte er, dass das Mädchen ein leichtes, aber gutes Parfüm verwendete.

Josef trat auf die Terrasse hinaus und inspizierte die Fensterrahmen. »Ist Ihnen vielleicht aufgefallen, Fräulein, dass es durch die Fenster und die Schiebetür zieht?«

»Bis jetzt nicht. Wir sind erst letzte Woche eingezogen und hatten alle Hände voll zu tun, die Wohnung einzurichten. Vater ist noch in Nürnberg und regelt dort einige geschäftliche Angelegenheiten. Ich dachte, es wäre er, als Sie läuteten.«

Josef ging wieder ins Wohnzimmer hinein, dann durch einen kurzen, breiten Flur. Er öffnete die Türen verschiedener Wandschränke, offensichtlich um zu überprüfen, ob sie klemmten und fragte dann: »Dann sind Sie also neu hier in München. Gefällt Ihnen unsere Stadt?«

»Großartig! Eine tolle Stadt!«

»Sind Sie in Nürnberg geboren?«

»Ja.«

»Ich vermute, Sie haben in München Verwandte und Freunde, oder?«, fragte Josef und öffnete einen Wandschrank, in dem Kartons voll Medikamente standen. »Hat Ihr Vater eine Apotheke?«

»Nein. Er arbeitet für eine pharmazeutische Firma und ist befördert worden. Er ist Verkaufsleiter für ganz Oberbayern geworden, und das ist auch der Grund, weshalb wir nach München gezogen sind. Nein, ich kenne niemanden hier. Unsere Verwandten leben alle in Nürnberg. Allerdings... ich finde schnell Freunde.«

Josef kam in die moderne Küche. Als er nach oben langte, um ein Wandschränkchen über dem Kühlschrank zu öffnen, fiel eine Flasche heraus, zerbrach auf dem Boden und bespritze Josef mit ihrem weißen Inhalt. »Tut mir leid«, entschuldigte sich Josef.

»Ist nicht schlimm. Wir haben das Zeug einfach hineingestellt, wo gerade noch Platz war. Warten Sie, ich hole einen Schwamm und mache Ihren Anzug sauber.«

Eine hochgewachsene Frau mit einem auffallend ernsten Gesicht erschien in der Tür. Sie trug ein blaues Kleid und Hausschuhe. Ihr schwarzes Haar war in Unordnung. Sie fragte: »Was ist passiert, Franzi?« Ihre Augen lagen tief in den Höhlen und hatten dunkle Ringe. Die Gesichtshaut war beinahe wächsern. Sie hätte vierzig sein können, aber genauso gut sechzig.

»Meine Schuld. Ich habe den Schrank geöffnet, und da ist das Fläschchen herausgefallen. Entschuldigen Sie«, sagte Josef. »Ich wollte nur überprüfen, ob die Türen in Ordnung sind.«

»Ist nicht schlimm. Das war nur Möbelpolitur«, wiegelte die Frau mit etwas schriller Stimme ab. »Ich hoffe, dass es auf Ihrem Anzug keine Flecken gibt.« Sie nahm einen Schwamm aus dem Waschbecken und begann Josefs Jacke abzuwischen, wobei sie hinzufügte: »Mit einem Arm schaffen Sie das nicht. Ich bin sicher, es wird keine Flecken geben...« Sie hörte plötzlich zu sprechen auf und befeuchtete die Lippen. Franzi war eben dabei, die Scherben vom Boden aufzuheben, als die Frau rasch drängte: »Geh und wasch dir im Bad die Hände. Das hier mache ich schon.«

»Aber Mutti, du sollst dich doch ausruhen.«

»Tu, was ich dir gesagt habe, Franzi.«

»Ja, Mama. Aber überanstrenge dich nicht.«

Als das Mädchen den Raum verlassen hatte, beendete die Frau eilig die Reinigung von Josefs Jacke, warf den Schwamm in das Becken und schien sich einen Augenblick lang am Becken festzuhalten.

»Wenn Sie sich nicht wohl fühlen, dann...«, begann Josef.

»Nur Kopfweh. Ich bin froh, dass Sie die Wohnung besichtigen. Ich möchte gern, dass Sie sich den Abfluss auf der Terrasse ansehen. Er scheint verstopft zu sein, und obwohl es bis jetzt noch nicht geregnet hat, glaube ich, dass die Terrasse unter Wasser stehen wird, sobald wir schweren Regen bekommen. Das wäre reichlich unangenehm.«

Josef folgte ihr auf die Terrasse hinaus, wo sie sagte: »Wenn Sie sich über das Geländer beugen, werden Sie feststellen, dass der Abfluss auch viel zu klein ist. Genügt das denn?«

Als Josef sich über das Geländer beugte, um sich den Abfluss anzusehen, hörte er, wie sich von hinten leise Schritte näherten. Die Frau wollte ihn über das Geländer stoßen, aber seine zweihundertvierzig Pfund waren zu viel für sie. Während er sich also mit der rechten Hand am Geländer festhielt, drehte er sich um und packte die beiden Hände der Frau mit seiner Rechten. Durch die Glaswand sah er einen kahlköpfigen Mann in das Zimmer kommen, seinen Koffer fallen lassen und auf sie zueilen. Der Mann griff nach seiner Frau mit der einen Hand und schlug mit der anderen auf Josef ein. Maulhardt fing den Schlag mit der rechten Schulter ab und keuchte: »Ich bin Gebäudeinspektor, und Ihre Frau hat versucht...«

»Er ist von der Polizei!«, kreischte Frau Niedermeyer. »Ich habe seine Waffe unter dem Jackett gespürt, als ich die Flecken wegwischte!«

»Ruhig, Anita, es ist alles in Ordnung. Beruhige dich, Liebling«, sagte der Mann und führte seine Frau ins Wohnzimmer, wo er sie auf eine Couch setzte. Sie flüsterte etwas, worauf ihr Mann ganz weiß im Gesicht wurde. Dann wandte er sich an Josef, der inzwischen ebenfalls ins Wohnzimmer gegangen war. »Hören Sie mal, falls Sie wirklich ein Kriminalbeamter sind, bin ich derjenige, den Sie suchen. Meine Frau können Sie ruhig aus dem Spiel lassen.«

»Nein, Robert, es hat keinen Sinn, dich für mich zu opfern. Ich habe sie erschossen!«

»Was?«, sagte Robert Niedermeyer mit zitternder Stimme. »Anita, du weißt nicht, was du sagst. Wen hast du erschossen?« Er blickte Josef an und fügte hinzu: »Meine Frau ist in letzter Zeit ziemlich nervös und weiß dann nicht...«

»Robert, hör doch auf«, unterbrach ihn seine Frau. »Am Donnerstagabend sind Franzi und ich spazieren gegangen, und da wollte ich mir eine Kirche ansehen. Und dort... dort saß sie und starrte unentwegt Franzi an. Mir war sofort klar, wer diese Frau war. Es war mein ständiger Alptraum, der plötzlich wahr wurde! Ich schickte Franzi nach Hause mit der Bitte, meine Pillen zu holen, und folgte der Frau bis zu ihrer Wohnung. Sonntagfrüh fuhr ich hin und erschoss sie mit deinem Gewehr. Ich will mein Kind nicht verlieren! Ich will nicht! Ich will nicht!«

Niedermeyer drückte seine Frau, die in hysterisches Schluchzen ausgebrochen war, fest an sich. Franzi Niedermeyer kam hereingelaufen und umarmte ihre Mutter. »Mama, was redest du denn? Ich hab' dich doch lieb! Ich werde dich niemals verlassen!«

Robert Niedermeyer streichelte das blonde Haar des Mädchens. Franzi wiederholte immer wieder: »Und jetzt Mutti, musst du dich beruhigen. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.«

Frau Niedermeyer sah das Mädchen an, dann blickte sie zur Seite und sagte leise: »Verzeih mir, Liebling, aber wir haben dir niemals die Wahrheit gesagt. Ich konnte es nicht ertragen, sie dir zu erzählen und dich dann vielleicht...«

»Mir sagen, dass ihr mich adoptiert habt?« fiel ihr Franzi ins Wort und küsste das nasse Gesicht der Frau. »Oh, Mama, das habe ich schon seit Jahren gewusst, habe es oft gehört, wenn du und Tante Ruth darüber miteinander gesprochen habt.« Sie wandte ihren Kopf Robert Niedermeyer zu: »Kannst du nicht verstehen, Vati, dass ich euch nur noch mehr lieb habe, seit ich das weiß?«

Einen Augenblick lag tiefe Stille über dem Raum, nur vom hysterischen Schluchzen der Frau unterbrochen, die das Mädchen fest an sich presste.

Herr Niedermeyer wandte sich an Josef. »Meine Frau hat eine schwere Zeit durchgemacht. Die Wechseljahre. Sie hat keine Ahnung, was sie getan hat.«

»Das zu entscheiden, wird Sache des Gerichts sein. Ich muss Ihre Frau wegen Mordes verhaften.«

»Ja – das Gericht, natürlich. Franzi war das schönste Ereignis in unserem Leben und... es wird wahrscheinlich besser sein, wenn ich dafür sorge, dass Anita sich anzieht. Darf ich unseren Arzt anrufen und einen Anwalt?«

»Natürlich. Aber darf ich zuerst Ihr Telefon benutzen?«

»Ja. Der Apparat steht auf dem Tischchen in der Ecke.«

Josef wählte eine ihm nur allzu vertraute Nummer.

Kommissar Schrautenbach meldete sich: »Maulhardt? Rufen Sie später an oder morgen. Ich habe einen Fall am Hals, der...«

»Ich fasse mich kurz, Herr Kommissar«, sagte Josef und gab ihm die Adresse und Nummer der Wohnung der Niedermeyers. »Bitte schicken Sie einen Dienstwagen, ich habe die Mörderin von Fräulein Heusinger gefunden.«

»Sie haben – Junge, das ist wohl wieder einer von Ihren verrückten Einfällen?«

»Nein. Ich habe das mündliche Geständnis der Mörderin.«

»Bleiben Sie dort, Sie einarmiger Sohn einer Jahrmarktsschützin! Ich komme persönlich rüber!«

Schrautenbachs Aufregung tat Josef ungemein wohl. Aber als er auflegte, sah er die bekümmerten Gesichter der Niedermeyers. Das Wort Mörderin schien noch im Zimmer zu hängen. Und alle waren sich klar über die Schrecken und die Auswirkung in der Öffentlichkeit, die sie erwarteten. Josef fühlte sich schlagartig hundsmiserabel. Einen kleinen Augenblick lang wünschte er sogar, er wäre kein so eifriger und erfolgreicher Inspektor gewesen.

 

 

 

ENDE

 

 

 

 

 

 

  MÜNCHNER BLUT

 

 

 

 

 

Die Hauptpersonen dieser Erzählung

 

 

Lazarus Eidinger: Hauptkommissar bei der Münchner Polizei. 

Alois Krüger: Polizeibeamter. 

Friedrich Löwenstein: Leiter des Kriminal-Labors. 

Josefine Gaiß: Freundin der ermordeten Silvia Gregori. 

Julius Breithecker: Inhaber der Firma Verabredung. 

Karl Fischbach: ein Kunde der Firma Verabredung. 

Luise Höpfner: ein Kundin der Firma Verabredung. 

Erwin Bauer: Portier im Hotel Bayerischer Hof. 

 

 

Diese Erzählung spielt im Dezember 1985 in München.

 

 

 

---ENDE DER LESEPROBE---