Musikalische Meilensteine, Band 1 - Silke Leopold - E-Book

Musikalische Meilensteine, Band 1 E-Book

Silke Leopold

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Beschreibung

111 Werke - das ist ein winziger Bruchteil dessen, was die Musikgeschichte hervorgebracht hat. Aus dem riesigen Fundus von Kompositionen, der sich in mehr als einem Jahrtausend gebildet hat, ist zwar einiges zum Hören oder zum Lesen verfügbar, doch schon dieses überfordert den, der sich einen Überblick verschaffen möchte. Jeder kennt das Gefühl: Wo anfangen? Was ist wichtig? "Musikalische Meilensteine" ist eine allgemeinverständlich geschriebene kleine Musikgeschichte in Beispielen - eine Handreichung für den Anfang, eine erste Orientierung in der unübersehbaren Musikgeschichte. Sie fixiert Angelpunkte, von denen aus die Suche nach den nächsten 222 Werken leichter wird, und spornt dazu an, sich über die einzelne Komposition hinaus mit ihrem historischen, literarischen, kulturellen Umfeld zu befassen. Die beiden Bände sind ein Leitfaden, um sich im Labyrinth der Musikgeschichte zurechtzufinden. Die hier vorgestellten Werke stehen exemplarisch für bestimmte Epochen, G attungen, Schreibarten und Komponistenpersönlichkeiten, die die Musikgeschichte geprägt haben. Der Reigen der besprochenen Kompositionen beginnt mit Hildegard von Bingens "Ordo virtutum" aus dem 12. Jahrhundert und endet mit Sofia Gubaidulinas "Johannes-Passion" aus dem Jahr 2000. Knappe, zweiseitige Werkeinführungen betonen das Besondere der Komposition und ordnen sie in den historischen Kontext ein. Schaukästen mit Begriffserklärungen, Werkübersichten und Leseempfehlungen runden die Werkportraits ab.

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Seitenzahl: 340

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Bärenreiter BasiswissenHerausgegeben vonSilke Leopold und Jutta Schmoll-Barthel
Silke Leopold Dorothea Redepenning Joachim SteinheuerMusikalische Meilensteine111 Werke, die man kennen sollteBand 1: Von Hildegard von Bingens »Ordo virtutum« bis zu Haydns Streichquartett op. 33,1Bärenreiter Kassel Basel London  New York Praha
Gefördert durch die Landgraf-Moritz-Stiftung, KasselBibliograsche Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliograe; detaillierte bibliograsche Daten sind im Internet über www.dnb.deabrufbar.eBook-Version 2014© 2008 Bärenreiter-Verlag Karl Vötterle GmbH & Co. KG, KasselUmschlaggestaltung:+  Lektorat: Jutta Schmoll-BarthelRedaktion: Sara Springfeld, HeidelbergKorrektur: Caren Benischek, HeidelbergNotensatz: Joachim Linckelmann, MerzhausenInnengestaltung und Satz: Dorothea Willerding978-3-7618-7003-7103-03www.baerenreiter.comeBook-Produktion: rombach digitale manufaktur, FreiburgDie Bände dieser Reihe: Grundwortschatz Musik · 55 Begriffe, die man kennen solltevon Marie-Agnes DittrichMusikalische Meilensteine · 111 Werke, die man kennen sollte2 Bände · vonSilke Leopold, Dorothea Redepenning und Joachim SteinheuerMusik und Bibel · 111 Figuren und Motive, Themen und TexteBand 1: Altes Testament· Band 2: Neues Testament· von omas SchippergesMusikalische Formen · 20 Möglichkeiten, die man kennen solltevon Marie-Agnes DittrichKlaviermusik · 55 Begriffe, die man kennen solltevon Annegret Huber
In dem Meer der Informationen, die das Internet,die Enzy -klopädien, die wissenschaliche Spezialliteratur bereitstel len, fehlt vorallem eines: Orientierung. Woanfangen,woraufaufbauen? Welche Begrie muss ich kennen, um zu nden, wonach ich suche? Welche historischen und kulturellenGrund-lagen helfen mir, das schier unendliche Universum der Musikbesser zu verstehen? Was muss ich wissen und kennen,um zu neuen, unbekannten Ufern aufbrechen zu können? Bärenreiter Basiswissengibt auf diese Fragen Antworten.Die Bände sind Navigationsinstrumente: Sie helfen, sich in der Flut der verfügbaren Materialien zurechtzunden und Pöcke einzuschlagen,auf denen später Wissensgebäude errichtet wer den können. Sie vermitteln Grundlagenwissen und geben Tipps für die Erweiterungdes Bildungshorizonts. Komplexes Wissen wird knapp, aber fundiert zusammengefasst. Die Bände sind für Musikinteressierte jeden Alters geschrie-ben, vor allem aber für Schüler und Studierende, die trotz verkürzter Ausbildungszeiten solidesBasiswissen erwerben wollen. Sie erleichterndas Hören, Lesen, Studieren und Ver-stehen von Musik.Die ebook-Versionbietet neben denüblichen Verlinkungenvon Inhaltsverzeichnis und Querverweisen auch Verweise auf Band 2 der Musikalischen Meilensteine; sie sind unter Angabe der Seitenzahl mitgekennzeichnet.Bärenreiter BasiswissenEin Navigator durch die Wissenslandschaft
Band 1Einleitung101 Hildegard von Bingen  Ordo virtutum 122 Perotin  Sederunt principes 143 Walther von der Vogelweide  Palästinalied 164 Dies irae 185 Machaut  Messe de Nostre Dame 206 Machaut  Ma fin est mon commencement 227 Landini  Occhi dolenti mie 248 Dunstaple  Quam pulchra es 269 Binchois Tristre plaisir 2810 Dufay  Nuper rosarum flores 3011 Dufay  Missa Sancti Jacobi 3212 Buxheimer Orgelbuch  Selaphasepale 3413 Ockeghem  Requiem 3614 Isaac  Innsbruck, ich muss dich lassen 3815 Josquin  Illibata dei virgo nutrix 4016 Josquin  Missa L’homme armé 4217 Janequin  La guerre 4418 Lasso  Prophetiae Sibyllarum 4619 Palestrina  Missa Papae Marcelli 4820 Florentiner Intermedien von 1589 5021 G. Gabrieli  Canzon in echo duodecimi toni 5222 Marenzio  Solo e pensoso 5423 Dowland  Flow my tears 5624 Monteverdi  Cruda Amarilli 5825 Monteverdi  L’Orfeo 6026 Monteverdi  Marienvesper 6227 Marini  Affetti musicali 6428 Sweelinck  Mein junges Leben hat ein End 6629 Schütz  Musikalische Exequien 6830 Frescobaldi  Cento partite sopra passacagli 7031 Carissimi  Jephte 7232 Schütz  Verleih uns Frieden genädiglich 7433 Cavalli  Il Giasone 7634 Strozzi Sul Rodano severo 78Inhalt
35 Froberger Tombeau 8036 Biber  Rosenkranz-Sonaten 8237 LullyAtys 8438 Purcell  Three parts on a ground 8639 Corelli  Sonata op.1,1 8840 Charpentier TeDeum 9041 Purcell  The Fairy Queen 9242 Couperin  Pièces de clavecin 9443 Bach  Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen 9644 Bach  Das Wohltemperierte Klavier 9845 Händel  Giulio Cesare10046 Vivaldi  Die vier Jahreszeiten10247 Bach  Matthäus-Passion 10448 Pergolesi  La serva padrona 10649 Rameau Hippolyte et Aricie 10850 Telemann Tafelmusik 11051 Händel  Messias 11252 Scarlatti  Sonata K. 491 11453 C. Ph. E. Bach  Fantasie c-Moll 11654 Gluck  Orfeo ed Euridice 11855 Haydn  Streichquartett op.33,1 120 Lese- und  Hörempfehlungen 122Werkregister 132Über die AutorInnen 138Band 256 Mozart Dissonanzenquartett KV 465 15057 Mozart Klavierkonzert d-Moll KV 466 15258 Mozart Don Giovanni 15459 Mozart Jupiter-Symphonie 15660 Haydn  Militärsymphonie 15861 Haydn  Die Schöpfung 16062 Beethoven  Sonate cis-Moll op. 27,2 16263 Beethoven  3. Symphonie »Eroica« 16464 Rossini  Il barbiere di Siviglia 166
65 Weber  Der Freischütz 16866 Beethoven Streichquartett op. 130 / 133 17067 Schubert  Große C-Dur-Symphonie 17268 Schubert  Streichquintett C-Dur D 956 17469 Schubert DieWinterreise 17670 Berlioz  Symphonie fantastique 17871 Schumann  Kreisleriana 18072 Chopin  Préludes op. 2818273 Schumann  Dichterliebe 18474 Mendelssohn  Ein Sommernachtstraum 18675 Verdi  La traviata 18876 Liszt  Faust-Symphonie 19077 Wagner  Tristan und Isolde 19278 Mussorgsky  Boris Godunow 19479 Bizet  Carmen 19680 Verdi  Messa da Requiem 19881 Brahms  1. Symphonie 20082 Brahms Violinkonzert D-Dur 20283 Smetana MeinVaterland 20484 Offenbach  Hoffmanns Erzählungen 20685 Bruckner  8. Symphonie c-Moll 20886 Dvořák  Symphonie »Aus der Neuen Welt« 21087 Strauss  Also sprach Zarathustra 21288 Puccini  Madama Butterfly 21489 Debussy  La mer 21690 Ives  Central Park in the Dark 21891 Mahler  Das Lied von der Erde 22092 Schönberg  Pierrot Lunaire 22293 Strawinsky  Le Sacre du printemps 22494 Berg Wozzeck 22695 Gershwin Rhapsody in Blue 22896 Ravel Bolero 23097 Varèse  Ionisation 23298 Bartók  Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta 23499 Schostakowitsch 5. Symphonie d-Moll 236100 Messiaen Quatuor pour la fin du temps 238101 Hindemith  Ludus tonalis 240102 Webern  II. Kantate op. 31 242103 Cage  Music of Changes 244
104 Boulez  Le marteau sans maître 246105 Stockhausen  Gesang der Jünglinge 248106 Ligeti  Atmosphères 250107 Britten War Requiem 252108 Zimmermann  Die Soldaten 254109 Berio  Sinfonia 256110 Kurtág  Kafka-Fragmente 258111 Gubaidulina  Johannes-Passion 260
10In früheren Jahrhunderten war es leicht,sich in der Musikauszukennen: Gespieltwurde nur Zeitgenössisches, selten überdauerte ein Werk die Lebenszeitseines Komponisten im Repertoire. Notenblätteraus vergangenen Zeiten dämmer ten, wie Mozart einmal schrieb, »fast vonwürmern gefressen« auf den Dachböden dahin.Dann, an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, erwachte das Interesse an älterer Musik. Händel und Mozartwaren die ersten Komponisten, deren Werke über ihren Tod hinaus gespielt wurden. Im19. Jahr-hundert wurde das Bereitstellen von »verklungener«, d. h. im Konzert leben nichtmehr präsenter Musik in Editionen zu einem wichtigen Geschäder Musikwissenscha. Anfang des 20. Jahrhunderts kam die Schallaufzeichnung hinzu,und später dann die Wiederentdeckung der Alten Musikauch für die musikalische Praxis.Heute nun scheint nahezu alles, wasdie Musikgeschichte jemals hervorgebrachthat,in Noten, aber auch in Einspie-lungen verfügbar.Seitdem ist es nichtmehr so leicht, sich in der Musik auszukennen. Denn die gutgefüllten Noten-regale, die reichhaltigen CD-Kataloge, dasunendliche Internet und die Bibliotheken voller wissenschalicher Speziallitera tur haben zwar zu einer Erweiterung unseres Wissensgeführt,aber gleichzeitig auch zu der Schwierigkeit, sich zu orientie-ren – vorallem für jene,die einen Ausgangspunkt für ihreExpeditionen ins Reich der Musik suchen. »111 Werke, die mankennen sollte« will ein Leitfadensein, sich im Labyrinth der Musikgeschichtezurechtzunden. Die hier in zwei Teilbänden vorgestelltenWerke erheben nicht den Anspruch, die bedeutendsten, die schönsten, die wich-tigsten zu sein.Aber sie stehen exemplarisch für bestimmte Epochen, Gattungen, Schreibarten und Komponistenpersön-lichkeiten, die die Musikgeschichte geprägt haben.Sie sind Einleitung
11nicht als verbindlicher Kanon gemeint,sondern als Einstieg in ein schier unübersehbares Terrain, als Orientierungs-punkte für die Suche nachweiteren, vergleichbaren Werken, als Ansporn, sich über die einzelne Komposition hinaus mit ihrem histo rischen, lite rarischen,kulturellen Umfeld zu be-fassen. Sie sindso ausgewählt,dass es in jedem Falle möglich ist,sie in modernen Editionen zu lesen, in CD-Aufnahmen anzuhörenund sich durch wissenschaliche Literatur weiter darüber zu informieren.Das ist,ungeachtet der zunehmend unüberschaubarenFülle an Material, immer noch nicht selbst verständlich.Eine Debatte darüber,dass sich Musikgeschichtsschreibung nicht in der Präsentation von 111 Werken erschöpfen kann,ist müßig. Niemand würde dies beanspruchen wollen. Die 111 Werke sind eine Anregung, sich in dem Meer des Unbe-kannten kleine Inseln zu schaen, von deren festem Boden aus weitere Erkundungen und neue Inseln möglich werden, die dann vielleicht irgendwann zu größeren zusammenwachsen: Landgewinnung,das weiß man anden Küsten, ist ein müh-sames, aber einträgliches Geschä. Die ausgewählten Werke sollen dazu ermutigen, auf Entdeckungsreisezu gehen – nicht mehr, aber auch nicht weniger.Und wenn sich aus der Wahl der 111Werke eine Debatte darüber ergäbe, ob nichtvielleichteine andere Palestrina-Messe oder eine andere der Sym phonien Beethovenshätte besprochen werden müssen (und warum), ob nichtdas 14. Jahrhundertzu stiefmütterlich behandelt und das 20.Jahrhundertzu opulent vertreten sei (und warum), ob Domenico Scarlatti wichtig genug sei und nicht Eliott Carter zu Unrecht vernachlässigt werde (und wa-rum), so hätte dieses Buch ein wichtiges Ziel erreicht.
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12Hildegard von Bingen  Ordo virtutumAls langjährige Äbtissin eines Benediktinerinnenklosters in der Nähe von Bingen, als Seherin, Predigerin und Verfasse-rin zahlreicher Schrien zu theologischen, naturkundlichen, wirtschalichen und medizinischen emen wurde Hilde-gard von Bingen (1098–1179)zu Lebzeitenhoch geachtet und vielfach schonals Heilige verehrt. In jüngster Zeithat sie nicht zuletzt dank ihrer einstimmigen geistlichen Lieder unddes liturgischen Spiels Ordo virtutum – Spiel der Kräeein unge-wöhnlich breites Publikum gefunden.Obwohl von Hildegard mehr Musiküberliefert ist als von je-dem anderen Musiker vor Machaut,war sie keine Komponistin im heutigen Sinne. Ihre Gesänge sind ebenso einzigartig wie ihre Schrien und weniger Leistungen schöpferischer Indivi-dualität als Übertragungen ihrer konkret erfahrenen Got-tesschau. Für Hildegard bilden die Gesänge einen Ausschnitt aus der hörbaren himmlischen Harmonie, in der Kosmos und Menschin allumfassender Einheit aufeinander bezogen und von harmonischem Zusammenklang (»symphonia«) durch-drungen sind.Die Seele des Menschen ist zum Lob Gottes durch Gesang gestimmt (»anima symphonialis«), darin sind Menschen den beständig jubilierenden Engeln ähnlich.Got-tes Schöpfung (»compositio«) ging vom Schöpfungswort (»ver bum«)als erstem Klang (»primus sonus«)aus,daher sind Wort und Musik im Erklingen unauflöslich verbunden.In Ordo virtutum, dem frühesten bekannten geistlichenSpiel des Mittelalters,rufen 16 personizierteTugenden und die menschliche Seele in insgesamt 82 Gesängen Gott an, dem-gegenüber ist dem Teufel in seinen gesprochenenEinwürfen das Singen verwehrt.Ausgangspunkt des Stückes ist eineam Ende ihrer Schri Scivias – Wisse die Wegebeschriebene Vi-sion, die eine Kurzfassung des im Rupertsberger Riesen kodex mit musikalischer Notation versehenen Spiels darstellt. Hildegards letzter Sekretär Wibert von Gembloux sprach 1175 von »Melodien, die schöner sind als das, was menschlicher Musik normalerweise zur Verfügung steht.« Aufnahmen ihrer Lieder schafften es bis in die Popcharts, neuesteHöhepunkte des HildegardBooms sind eine Darstellung ihres Lebens in Margarethe von Trottas Film Visions sowie das HildegardMusical Ich sah die Welt als EINS.
13Die Handlung umrahmt ein Prolog mit Gesängen der Patriar-chen und Propheten sowie der Tugendkräe (Nr. 1–3)und ein exaltierter Schlussgesang mitausgedehnten Melismen (Nr.82). In den vier Szenenwird zunächst die menschliche Seele durch Verlockungen des Teufels auf ihrem Weg zu Gott schwankend, doch bieten die vielfältigen Tugendkräe ange-führt von der Demut (Humilitas) ihren Beistand an,stimmen in der dritten Szene in die Klagen der reuigen Seele ein und triumphieren dank der Tugendkra des Sieges (Victoria).Zwar sind die Melodien des Ordo virtutumstärker sylla-bisch als inHildegards liturgischen Gesängen, doch sind sie von Überbietungen der gängigen zeitgenössischen Ge-sangspraxisgeprägt.Dies zeigt sich gleichermaßen in einem großen, authentischen und plagalen Ambitus verbindenden Umfang (tonus mixtus), in einer o wenige Formeln variieren-den Melodiebildung,in der planvollen Hinführung zum Schlusston eines Modus (Finalis) oder zur Quinte darüber bei fast allen Zäsuren und Schlüssen sowie in der eigenwilligen Tonartenbehandlung etwa für den zentralen Modusmit Fina-lis e, der hier meist mit dem unüblichen Ambitus C–ceinher-geht.Nochungewöhnlicher sind der mit einem Septimsprung herbeigeführte Wechsel in den hochliegenden c-Modusfür Victorias Triumphgesang (Nr. 76) oder der den tonalen Raum überschreitende zweimalige Quintsprung in Nr. 80. Durch gezielte melodische Verweise zwischen den Gesängen, durch Wiederholungen oder Kontrastierung tonartlicher Bereichebzw. Stimmlagenwerden Möglichkeiten planvoller musi-kalischer Dramaturgie ausgelotet.Soa Gubaidulina greift in Aus den Visionen der Hildegard von Bingen 1994 ge zielt auf diesen zwei fachen Quintsprung zurück.  Davidson 1992, Richert Pfau 2005 Morent (Bayer 1997), Sequentia (HMD 1997)»Und wiederum ertönte jener harmonische Klang wie eine Menge Stimmen zur Ermunterung der Tugendkräfte, den Menschen beizustehen, und zum Widerspruch gegen die widerstrebenden teuflischen Listen in der Überwindung der Laster mit Hilfe der Tugenden, während die Menschen schließlich durch göttliche Eingebung zur Reue zurückkehren.« (Hildegard von Bingen, Scivias – Wisse die Wege, 13. Vision des 3. Teils)Anders als in Hildegards Liber vite meritorum(1158–1163), in dem personizierte Tugenden und Laster gegeneinander streiten, vertritt hier nur der Teufel die Gegenseite weltlicher Versuchungen.
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14Als die beiden vierstimmigen Organa (organa quadrupla), mit denen sich der Name Perotins verbindet,um 1200zum ersten Malerklangen, waren sie ein unerhörtes Novum. Das Organumaber konnte bereits auf eine lange Geschichte zu-rückblicken. Seine Basis ist prinzipiellder Gregorianische Choral, die auf das Kirchenjahr verteilten liturgischen Ge-sänge,wie sie im Frankenreich zur Zeit Karls des Großen verbindlich gewordenwaren. DieseGesänge gliedern sich in gleichbleibende Teile (Ordinarium) und nach Festtagen wechselnde Teile (Proprium). Für die mehrstimmige Aus-arbeitungzum Organum wählten die Komponisten die Pro-prien besonderer Tage – je höher das Fest,umso kunstvoller die Ausarbeitung. Als Krönung gelten die beiden vierstim-migen Weihnachts-Organa Perotins,Viderunt omnes für den 25. Dezember und Sederuntprincipesfür den 26. Dezember, zugleich Fest des Heiligen Stephanus.Konkret betri die zwei- und mehrstimmige Ausarbeitung nur die solistisch vorgetragenen Abschnitte,während mandie im Einklang vorgetragenen chorischen Teile unbearbeitet ließ.Solche mehrstimmigen Abschnitte entstanden an der Pariser Kathedrale Notre Dame in so großer Zahl, dass man sie im eigens dafürangelegten Magnus liber organi, im großen Buch des Organums, geordnet nach dem Kirchenjahr, sammelte.Diesen Einzelabschnitten gab man den NamenClausula.Perotins Vorgänger Leonin, dem die Initiative zum Magnusliberzugeschrieben wird,ist namentlich als Verfasser zwei-stimmiger Organa (organa dupla) bekannt,die sich durch eine bewusste Dierenzierung innerhalb der solistischen Choral-abschnitte auszeichnen: Sind sie syllabisch,so entfaltet sich von einem einzelnen, nun lang ausgedehnten Ton zum jeweilsnächsten eine reich ornamentierteMelismenkette,die man als besonderskunstvolle Organum-Technik begri (organale Perotin  Sederunt principesDer als Anonymus IV bekannt gewordene englische Theoretiker rühmte Leonin Ende des 13. Jahrhunderts als »optimus organista«, Perotin als »optimus discantor«.Die Pariser Kathedrale Notre Dame wurde zu einem so bedeutenden Zentrum, dass ihr Name für eine Schule, einen Stil und eine Epoche steht, die die Kunst geschichte als Gotik bezeichnet.
15Partien); sind die Abschnitteihrerseits schonmelismatisch, antwortet die Bearbeitung mit einem Discantus-Satz,d. h.einem Note-gegen-Note-Satz,in dem nur gelegentlich klei-nere Melismen vorkommen.Solche Discantus-Partien erfordern eine Koordinierung der Rhythmik und damit eine entsprechende Notation – an dieser Stelle vollziehtsich der Übergang von der Neumen- zur Modalnotation, die diese Abschnittenach gleichbleibenden rhythmischen Modellen, Modi genannt, regelt. Die dreistim-migen Organa (organa tripla) und die dreistimmigen Klau-seln der folgenden Generation konzentrieren sich vor allem auf diese Discantus-Partien, in denen die Komponisten eine Fülle von Möglichkeiten erproben, wie sich wiederholende rhythmische Formelnund melodische Ausschmückungenin den Oberstimmen kombinieren lassen. Textgrundlagefür den Choral,also auch für die Organa,sind poetisch ausgeschmückte Bibelstellen. In Sederuntprincipesist es der 23. Vers des 119. Psalms, dessen Glaubensbotscha sich zu einer mächtigen Klangapotheose steigert. Abhängigvon der Choralvorlage unterscheidet der Satz zwischen ex-trem langgedehnten Haltetönen, von denen jeder eine Silbe trägt (organale Partie), und den nun modalrhythmisch orga-nisierten ursprünglichen Melismen –hier etwa zu der Text-stelle »dominedeus meus« (»Herr,mein Gott«) –, die als modern und besonders kunstvoll empfunden wurden. Gibt man solchen Discantus-Partien, vor allem den vielen zwei-stimmigen separat gesammelten Klauseln,einen Text, der das zugrunde liegende Choralstichwort weiterdichtet, ent-steht eine Motette. Erst im frühen 20. Jahrhunderthat man die Organa wiederentdeckt und in opulenten Be setzungen mit Chor und Orchester aufgeführt.Die Ausarbeitung einer Melodie oder eines Textes durch nachdichtende und nachkomponierende Erweiterung nannte man im Mittelalter Tropus. Flotzinger 2000, Stenzl 2000 Hilliard (ECM1988), Orlando Consort (Archiv 2004)»Langsam und feierlich begann auf der ersten Silbe seein mächtiger Chor von Dutzenden und aberdutzenden tiefer Stimmen, deren gleichbleibender Grundton das Kirchenschiff füllte und sich hoch über unsere Köpfeerhob,wiewohl er aus dem Herzen der Erde zu kommen schien.« (UmbertoEco,Der Name der Rose, »Sechster Tag. Mette. Worin die Principes sederunt und Malachias zu Boden stürzt.«)
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16Kristen, juden unde heiden Christen, Juden und HeidenJehent daz diz ir erbe sî.erklären, dass dies ihr Erbe sei. Diese Worte, mitdenen der Minnesänger Walther vonder Vo-gelweide (ca. 1170–ca. 1230) die Schlussstrophe seines später PalästinaliedgenanntenNû alrêst lebe ich mir werde(»Nunerst lebe ich würdig«) beginnt,scheinen auch nach fast 800Jah -ren kaum etwas an Aktualität eingebüßt zu haben.Allerdings sah der Dichter die Ansprüche dreier Weltreligionen auf Palästinakeineswegs als gleichberechtigt an. ImGegenteil suchte er in seinem Gedichtden Nachweis zu führen, dassallein den Christen das Land rechtmäßig zustehe. Dies deutet bereits die erste Strophe an, in der das lyrische Ich das Erreichen jenes »reinen« Landes, in dem Gott Mensch gewordenwar,als Erfüllung einer lang gehegten Honungfeiert.Die folgenden neun Strophen verweisen auf sieben wun-derbare, mit dem dortigen Leben Christi zusammenhängende Stationen – auf die jungfräuliche Geburt (2.Strophe), auf Taufe und Verrat des Judas (4.), auf den Kreuzestodals das alle anderen übertreende Wunder (5.), auf die Höllenfahrt (6.), den Sieg über den Teufel und die Auferstehung (7.),auf Himmelfahrt und Pngstwunder (8.)sowie das zu erwartende Jüngste Gericht(9./10.). Diese in Palästina geschehenen sie-ben Wundersind dem Sänger Beweisdafür,dass Gottden rechtmäßigen Anspruch der Christen anerkennen werde.Walthers Gedicht,das in verschieden langen Versionen vondrei bis zu zwölf Strophen überliefert ist, dürfte wie auch zwei weitere seiner Dichtungen im Kontextdes auf päpst liches Drängen 1228/29zustande gekommenen Kreuzzugesunter Kaiser Friedrich II. zu sehen sein, auch wenn es keinenkon-kreten Aufruf dazu enthält.Wie weite Bereiche der mittelalterlichen Dichtung warenauch Walthers Lieder für einen gesungenen Vortrag be-Walther von der Vogelweide PalästinaliedAuch Vil süeze waere minne und Owê waz êren sich ellendet tiut schen landen behandeln das Thema der Kreuzzüge.
17stimmt.Wie im gesamten Repertoire üblich, korrespondiert die Melodie des Palästinaliedeseng mit der Textform.Die Strophen weisen durchweg sieben vierhebige Verse auf und gliedern sich nach Art einer provençalischen Kanzone in zwei zweizeilige Stollen und einen dreizeiligen Abgesang mitdem Reimschema ab/ab/ccc, im Deutschen wird dieser Typus als Barformbezeichnet.Abweichend davon wird jedoch in der Melodiebildung der letzte Vers erneut auf die Melodie der Verse 2 und 4 gesungen;somit entsteht das musikalische Schema αβ/αβ/γδβ, das speziell auf den Typus einer Rund-kanzoneverweist.Walther hatdie Melodie nichtselbst komponiert, sondern dabei auf ein wohl nur wenig früher entstandenes Modell des provençalischen TroubadoursJaufre Rudel zurückgegrien. Dessen Kanzone Lanquan li jorn son lonc en mai(»Wenn die Tage länger werden im Mai«)steht ebenfalls mit Kreuzzugs-thematik in Zusammenhang und ähneltin Versbildungund Strophenbau abgesehen von der im deutschen Versbau nicht festliegenden Silbenzahl dem Palästinalied. Nur der letzte Vers erhält bei Jaufre Rudel einen eigenen, in allen Strophenwie-derkehrenden Reim, wie er für eine Rundkanzone charakte-ristisch ist, und motiviert damit zugleich den musikalischen Rückgri am Strophenschluss auf das Ende des Stollens. Anders als mancheseiner deutschen Kollegen hat Walther jedoch die Melodie Rudels nicht unverändert übernommen, sondern in einem vielschichtigen intertextuellen Dialog gleichsam auf dem Amboss des Dichtersängers »umgeschmie-det«. Die Melodie ist daneben in einer seit dem 12. Jahrhundertüberlieferten Version der Antiphon Averegina celorumbelegt und ndet sich erneut1476in der BordesholmerMarienklage. Bei Friedrich von Hûsen (ca. 1150 bis 1190) etwa sind alle bekannten Lieder Kontrafakta französischer und provençalischer Modelle, also formal ähnlich gebaute Nachdichtungen mit gleicher Melodie.Die Notation der Melodien denierte zu dieser Zeit nur die Tonhöhe, nicht aber den Rhythmus.Das Bild des Dichters als »fabbro«, als Schmied von Versen, geht auf Dante zurück.Treitler 1992, Brunner u. a. 1996 I Ciarlatani (Christophorus 1995), Hillier / LawrenceKing (HMU 1998)Der mit der arabischen Kultur vertraute Staufer Friedrich II. gelangte nicht durch Eroberung,sondern durch einen Vertrag mit Sultan ElMalik in den Besitz Jerusalems und eines Landkorridors zur Küste; doch garantierte er darin den Muslimen weiterhin freien Zugang zu ihren heiligen Stätten, was allerdings in Europa umstritten blieb.
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18Die für ihr melodisch prägnantes Eingangsmotiv und ihre düstere Schilderung des Jüngsten Gerichts gleichermaßen be-rühmte Sequenzder lateinischen Totenmesse Dies irae(»Tag des Zorns«)entstand vermutlich in der ersten Hälfte des 13. Jahrhundertsim Umfeld des Franziskanerordens. Die Sequenz war eine erst in der Karolingerzeit »erfundene«, aus der Textierung verschiedener Alleluia-Melismen hervorge-gangene liturgischeGattung. Bis ins 13. Jahrhundert hinein hatte sie sich von einerweitgehend schmucklosen Prosadich-tung hin zu einer o sehr umfangreichen,durch Reime und Rhythmus kunstvoll organisierten Verslyrik entwickelt.Das Dies iraebestehtaus 17 Strophenmit je drei gereimten Versen in trochäischem Versrhythmus und zwei formal ebenso ge-bauten Zweizeilern. Ein weiteres, ungereimtes Couplet be-schließt die Sequenz.Der formalen Ordnung des Textes entspricht die Anlage der Melodie. Die 17 dreizeiligen Strophen werden nach dem Schema aabbcc aabbcc aabbcauf drei verschiedene Melodie-zeilen (a,b, c)vorgetragen. Diese sind dem Versschema ent-sprechend in jeweils drei melodische Abschnitte gegliedert und für eine Sequenz in ungewöhnlich hohem Maße moti-visch miteinander verwandt.Die drei folgenden Zweizeiler werden auf drei weitere Melodiezeilen (d,e, f) gesungen.Die für viele Sequenzen typischeParallelstruktur, in der immer zwei Strophen nacheinander die gleiche Melodie erhalten, weist darauf hin, dass Sequenzen üblicherweise alternatim von zwei sich gegenüberstehenden Chören aufgeführt wurden. Als im Zuge der Liturgiereform durch das Trienter Konzil(1545–1563)nahezu alle der mittlerweile einige Tausend zählen-den und damit sehr unübersichtlich gewordenen Sequenzen aus der katholischen Liturgie verbannt wurden, hatte sich das Dies iraebereits so sehr im Ritus der Totenmesse (Requiem)Dies iraeDas Trienter Konzil behielt neben dem Dies iraedie Sequenzen Vic ti mae paschali laudes (Ostern), Veni sancte spiritus (Pngsten) und Lauda Sion salvatorem (Fronleichnam) bei; das Stabat mater(7 Schmerzen Mariä) kam 1727 hinzu.´´ ´ ´xxxxxxxxVierhebiger Trochäus
19etabliert, dass manan ihm festhielt. Erst das 2. Vati kanische Konzil(1962–1965) hielt die im Dies iraevermittelte Gestalt eines zornigen Gottes für nicht mehr zeitgemäß und stellte den Gebrauch der Sequenz in der Totenmesse frei.Vor allem seitdem 17. und 18. Jahrhundertwurde der Text des Dies irae, der aufgrund seines dramatischen Inhalts und sei-ner suggestiven Bildsprache eine dankbare Vorlage für Kom-ponisten bot, häug neu vertont, zumeist im Rahmen von Requiem-Kompositionen(u. a. Mozart 1791, Berlioz 1837, Verdi 1874, Penderecki 1984), aber auch separat (z.B. Lully 1674, J. Chr. Bach 1757, Pärt 1986). Eine für eine mittelalterliche Choralmelodie beispiellose Kar-riere hatzweifelsohne die erste Melodiezeile des Dies iraevorzuweisen. Der erste, der ihren hohen Bekanntheits-und Wiedererkennungsgrad auch unabhängig vom Text nutzte, war Berlioz, dersie im Hexensabbatseiner Symphonie fan-tastique(1830)zitierte. Ihm folgten u. a. Liszt im Totentanz(1849), Saint-Saëns mit einer bis zur Unkenntlichkeit ver-zerrten Walzerversion in Danse macabre(1874) und vor allem Rachmaninowin zahlreichen Werken. Ausgehend davon hat das Dies iraeals Topos für Tod und Unheil auch Einzug in die Filmmusikgefunden und ist spätestens seit dem Vorspann zu StanleyKubricks Shining(1980) zu einem der meistzitierten musikalischen emen der Filmgeschichte geworden.Der Text des Dies iraekommentiertdie Verkündigung eines »Jüngsten Gerichts« durch den biblischen Propheten Zefanja (1, 14–18) und ergänzt sie um eine ehende Bitte um Gnade am »Tag des Zorns«.Vellekoop 1978, Nohl 2006 Deller (HMX1976), Randon (Naxos 1994)S. 
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20Aufgrund ihrer stilistischen Geschlossenheit ist Guillaume de Machauts vierstimmigeMesse de Nostre Damewohl die erste als Gesamtheitkonzipierte Vertonung des Ordinarium missae, also der unabhängig vomliturgischen Kalender in allen Messfeiern wiederkehrenden gesungenen TeileKyrie, Gloria,Credo, Sanctus und Agnus Dei – bei Machaut kommt noch ein Ite missa est hinzu.Generell sollte sich für die mehr-stimmige Vertonung des Messordinariums verkürzend der Terminus »Missa« oder »Messe« einbürgern.Die Messe de Nostre Dameentstand Anfang der 1360er-Jahrefür die Kathedrale Nôtre Dame in Reims, ander Machaut Ka-noniker war. Sie war oenbar in doppelter Funktion bestimmt als Votivmessefür die Kirchenpatronin Maria,zu deren Ehren an jedem Samstag an einem Seitenaltar nahe der dama-ligen Chorschranke eine festliche Messe zelebriert wurde, wie auch als eigene Gedenkmesse, denn in seinem Testament verfügte Machaut,für ihn und seinen Bruder Jean solle nachihrem Tod regelmäßig eine Gedenkmesse gesungen werden. Von den sechsTeilen der Messe de Nostre Damesind die text armen Sätze Kyrie, Sanctus, Agnus Dei und Ite missa est sowie das»Amen« des Credo isorhythmisch konzipiert.Isorhythmiebezeichnet ein seitden ersten Jahrzehnten des14. Jahrhunderts zunächst in der Motette ausgeprägtes Ver-fahren, bei dem ein bestimmter,zwei- oder mehrfach zu sin-gender Melodieverlauf (»color«) in der Tenorstimme in zwei oder mehr Abschnitteun terteilt und unabhängig von den Tonhöhen jeweils mit demsel ben ostinaten rhythmischen Sche ma (»talea«) verknüp wird.In Machauts Messe sind generell Tenor und Kontratenor als komplementäres Stimmpaar isorhythmisch behandelt, im »Amen« des Credo mitVertauschung der talea-Formeln zwi-schen den Stimmen. Im Sanctus sind die drei melismatischen Machaut  Messe de Nostre DameDer Terminus Isorhythmie stammt vom Beginn des 20. Jahrhunderts; die Begriffe color und talea wurden dagegen bereits im 14. Jahrhundert verwendet.Bei der etwas äl terendreistimmigen Messe de Tournai, die Machaut vermutlich kannte, wurden wohl voneinander unabhängig entstandene Einzelsätze zusammengestellt.
21»Sanctus«-Anrufungen als Introduktionden danach begin-nenden zehn talea-Durchläufenvorangestellt, während im Agnus Dei alle drei Teile erst ab den »qui tollis«-Einsätzen isorhythmisch organisiert sind. Auch die beiden meist rascher bewegten Oberstimmen werden partiell indie isorhythmische Dispositioneinbezogen: Im Christeweisen jeweils die drei mittleren der sieben Mensuren umfassenden taleae den glei-chen Rhythmus auf, im KyrieII/IIIwie im Sanctus markieren längere identischrhythmisierte Hoquetus-Passagen das bevor-stehende talea-Ende, im Agnus II/III ist bis auf den Anfangs-takt jeder talea Panisorhythmie in allen Stimmen erreicht.In den beiden textreichen Sätzen Gloria und Credo herrscht dagegen weitraschere Deklamation mit simultanem Text-vortrag vor, aus dem einzelne Passagen durch Beschleuni-gung zu textierten Semiminimen oder aber durch extreme Verbreiterung in Maxima-Notenwerten hervorgehoben sind. Abgesehen von den »Amen«-Abschnitten erreicht Machaut durch Verwendung von ähnlichem melodischem Material eine implizit strophische Anlage. Weitere Elemente der Bin-nengliederungsind in beiden Sätzen der Wechsel vonHalb- (ouvert)und Ganzschlüssen (clos)sowie die zweistimmigen Scharniertakteohne Text, wie sie sich in vergleichbarer Funktion bereits im Credoder Messe de Tournai nden.Mit ihrerdurchdachten formalen Konstruktion, der Einbin-dung vielfältiger Sat