Nachts, wenn du schläfst - Ruth Gogoll - E-Book

Nachts, wenn du schläfst E-Book

Ruth Gogoll

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Beschreibung

Braungebrannt auf einem Segelschiff - Jachtunternehmerin Val scheint die Personifizierung ihres Berufes zu sein. Als Kira die große, dunkle Frau in einer Bar kennenlernt, fühlt sie sich sofort von ihr angezogen. Kiras Liebe ist jedoch für eine andere Frau reserviert. Als Kira bei Val einzieht, stellt sie fest, dass Val nachts oft abwesend ist. Warum, bleibt ihr Geheimnis. Schließlich sind sie beide ja kein Liebespaar ... Statt dessen gehen sie getrennte Wege - Kira versucht ihre Jugendliebe Melanie zurückzuerobern, Val scheint hundert Geliebte zu haben. Aber sind es wirklich nur andere Frauen, die Val nachts so oft von Kira fernhalten? Und ist Liebe zwischen Kira und Val tatsächlich kein Thema?

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Ruth Gogoll

NACHTS, WENN DU SCHLÄFST

Roman

Originalausgabe: © 2011 ePUB-Edition: © 2013édition el!es

www.elles.de [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-029-5

Coverillustration:

1

»Darf ich Sie vielleicht zu etwas einladen?«

Kira hob erstaunt den Blick von ihrem Cocktailglas, in das sie die ganze Zeit gestarrt hatte.

»Nicht?« Die große Frau in dem eleganten Anzug, die sie angesprochen hatte, schien zu schmunzeln. »Sie werden mir so eine bescheidene Bitte doch nicht abschlagen, oder?«

Nun hob Kira zusätzlich zu ihrem Blick noch die Augenbrauen.

»Sie sind hinreißend, wissen Sie das? Ich beobachte Sie schon die ganze Zeit, während Sie hier an der Theke sitzen.« Dunkle Augen tauchten in Kiras ein, versuchten sie zu durchdringen. »Zuerst dachte ich, Sie warten auf jemanden, aber wenn das so war, dann . . .«, ein diskretes Räuspern, »hat er Sie wohl versetzt.«

Kira spitzte leicht die Lippen. »Niemand hat mich versetzt. Ich war nicht verabredet.«

»Wie erstaunlich. Eine schöne Frau wie Sie . . .« Lange Beine schoben sich auf den Barhocker neben Kira.

»O bitte . . .« Kira verzog das Gesicht.

»Schon gut.« Die Frau mit der südländisch dunkel erscheinenden Haut hob leicht lachend die Hände. »Das war etwas zu viel Schmalz, ich gebe es zu. Aber man weiß ja nie, was eine Frau hören will.«

»Ich bin überzeugt, Sie haben viel Erfahrung darin, das auszuprobieren«, erwiderte Kira und nippte an ihrem Cocktail.

»Das streite ich nicht ab.« Ein amüsiertes Lachen nahm Kiras Aussage die Schärfe. »Ich heiße Val. Und Sie?«

Kira warf einen Blick auf die ihr entgegengestreckte Hand, nahm sie aber nicht.

»Sie wollen mir Ihren Namen nicht verraten?« Val zog ihre Hand zurück und winkte dem Barmann. »Bringen Sie mir einen Brandy, bitte. Spanischen.«

»Valerie?« fragte Kira. »Ist Val die Abkürzung davon?«

»Nein.« Val verzog die Mundwinkel. Sie stand auf und machte eine galante Verbeugung vor Kira wie ein Chevalier bei Hofe. »Valentina Velázquez de Cuéllar. Zu Ihren Diensten.«

»Ach, deshalb der spanische Brandy«, sagte Kira.

»Tja.« Val zuckte die Schultern. »An gewissen Dingen hängt man.« Sie beugte sich leicht zu Kira. »Wen muß ich töten, damit Sie mir Ihren Namen verraten?« Sie setzte sich wieder auf den Barstuhl neben Kira.

»Niemand«, sagte Kira. Sie verzog die Lippen. »Aber ich will nicht für den Tod eines unschuldigen Menschen verantwortlich sein, falls Sie das nicht glauben sollten. Kira.«

»Kira. Wie die russische Großfürstin. Sind Sie Russin?« Val wirkte interessiert.

»Nein.« Kira lachte. »Nein, wirklich nicht. Ich habe nichts mit Rußland zu tun. Meine ganze Familie ist urdeutsch, soviel ich weiß.«

»Hm.« Val nippte an ihrem spanischen Brandy, den der Barmann mittlerweile diskret vor sie auf den Tresen geschoben hatte. »Schwarze Haare wie Ihre habe ich nicht gleich mit urdeutsch in Verbindung gebracht, verzeihen Sie mir.«

»Was für ein Vorurteil«, sagte Kira. »Muß man blond und blauäugig sein, um als deutsch zu gelten?«

»Nein, überhaupt nicht.« Val betrachtete sie mit einem tiefen Blick. »Ich finde Ihre Haarfarbe wunderbar. Und Ihre Augenfarbe paßt dazu. Wie dunkle Bernsteine.«

»Hatten wir uns nicht darauf geeinigt, daß der Schmalztopf bereits überläuft?« fragte Kira.

Val warf den Kopf zurück und lachte. »Na gut«, sagte sie. »Dann wie dieser wunderbare Brandy hier.« Sie drehte den Cognacschwenker im Licht und ließ die Farbe leuchten. »Sie stellen mich vor eine schwierige Aufgabe«, fuhr sie schmunzelnd fort. »Sie nehmen kein Kompliment an. Bald gehen sie mir aus.«

»Das glaube ich nicht.« Kiras Mundwinkel zuckten spöttisch. »Sie haben bestimmt genug davon in Ihrer Datenbank gespeichert.«

»Oh.« Val tat betroffen. »Sie unterstellen mir, daß ich nicht originell bin? Daß ich mir das nicht spontan ausdenke, sondern sozusagen vorgefertigte Textbausteine benutze?«

»Ja«, bestätigte Kira. »Ich glaube, Sie haben eine Menge davon, für jede nur denkbare Situation.«

»Unabhängig von der Frau?« fragte Val. »Uh, das ist hart.«

»Überzeugen Sie mich vom Gegenteil«, schlug Kira vor. »Sagen Sie mir etwas Originelles.«

»Wie wäre es mit: Was macht eine –« Val bemerkte, wie Kiras Augenbrauen sich erneut anfingen zu heben. »Okay, streichen Sie das. Textbaustein. Versuchen wir es mit etwas Unverfänglicherem: Was hat Sie hier in diese Bar verschlagen?« Sie grinste. »Auch nicht originell, aber es interessiert mich wirklich.«

Kira seufzte. »Kann ich nicht einfach nur hier sitzen und etwas trinken?«

»Wollen Sie mir wirklich nicht den Gefallen tun, sich mit mir zu unterhalten?« Val legte ihre Stirn in tiefunglücklich erscheinende Falten.

Kira schmunzelte. »Das machen Sie mir nicht weis. Geben Sie sich keine Mühe.«

»Und ich dachte, ich wäre so gut.« Val lachte leicht. »Was kann ich noch tun? Wie kann ich Ihr Interesse erwecken, ohne daß Sie alles gleich abschmettern?«

»Warum wollen Sie überhaupt mein Interesse erwecken?« Kira hob die Augenbrauen.

Val neigte leicht den Kopf. »Liegt das nicht auf der Hand?«

»Ja, wahrscheinlich schon.« Kira wandte sich ab und betrachtete Val aus dem Augenwinkel im Spiegel hinter der Bar. Sie hatte die Ausstrahlung eines charmanten, sieggewohnten Piratenkapitäns, der jede Blockade durchdringen konnte. Wahrscheinlich war sie es nicht gewöhnt, eine undurchdringliche zu akzeptieren. »Und wenn ich nicht daran interessiert bin?« Sie wandte sich zu Val zurück.

»Ich gebe nicht so leicht auf.« Vals Mundwinkel hoben sich schmunzelnd.

Kira rührte nachdenklich mit dem Strohhalm in ihrem Cocktail. »Das habe ich mir schon gedacht.«

»Was kann es schon schaden, sich zu unterhalten?« Vals Augenbrauen hoben sich fragend. »Haben Sie dabei so schlechte Erfahrungen gemacht?«

»Ich hatte gerade eine . . . Unterhaltung, die nicht sehr angenehm war«, bemerkte Kira abweisend. »Für eine Weile habe ich von Unterhaltungen genug.«

»Stress mit Ihrem Freund oder . . . Mann?« fragte Val. Sie schaute sich im Lokal um. »Ist er hier?«

»Würde Sie das stören?« Kiras Mundwinkel zuckten. »Hätten Sie Angst vor ihm?«

»Ich? Angst? Vor einem Mann?« Val nahm einen großen Schluck von ihrem Brandy und lachte. »Niemals.«

»Das glaube ich Ihnen sogar.« Kira betrachtete Vals entschlossenes Gesicht. »Ihnen macht sicher nichts so leicht Angst.«

»Da haben Sie recht.« Auch Val betrachtete Kiras Gesicht. »Mit einer Ausnahme: einer Frau, die weiß, was sie will.«

Kira lachte. »Das ist wieder einer Ihrer Textbausteine.«

»Nicht so ganz.« In Vals Augenwinkeln bildeten sich kleine Fältchen, die das mutwillige Blitzen ihrer Augen noch mehr unterstrichen. »Zum Teil meine ich das völlig ernst. Kein Mann kann so gefährlich sein wie eine Frau.«

Kira spitzte nachdenklich die Lippen. »Momentan würde ich Ihnen da vielleicht sogar zustimmen.«

»Also war es kein Mann.« Val musterte Kira mit einem zufriedenen Lächeln.

Kiras Lippen zuckten heftig. »Das wollten Sie nur herausfinden, oder?«

»Selbstverständlich. Obwohl ich es schon vermutet habe.« Val grinste. »Aber es hätte mich auch nicht gestört, wenn es ein Mann gewesen wäre.«

»Auch das glaube ich Ihnen unbesehen.« Kira atmete tief durch. »Aber es ändert nichts an meinem Desinteresse an . . . näherer Bekanntschaft«, fuhr sie fort. »Ich hoffe, Sie respektieren das.«

»Jederzeit.« Val betrachtete sie eher freundlich als beleidigt. »Ich habe noch nie eine Frau zu irgend etwas gezwungen. Sie haben es alle immer freiwillig getan.« Ihre Augen blitzten erneut belustigt.

»Wissen Sie«, sagte Kira, »daß es kaum etwas gibt, was mich im Augenblick weniger interessiert?«

Val nippte an ihrem Brandy und behielt das Glas in der Hand. »So schlimm?« fragte sie nach einer Weile, während sie Kira nicht ansah, sondern nur ihr Abbild im Spiegel.

»Was auch immer Sie an mir interessiert, die Geschichte meines Lebens ist es bestimmt nicht«, erwiderte Kira sarkastisch. »In all ihren langweiligen Einzelheiten.«

Val wandte den Blick zu ihr. »Gelangweilt sehen Sie gerade nicht aus, eher . . . traurig. Enttäuscht vielleicht.«

»Oh, die große Frauenversteherin. Was habe ich nur für ein Glück«, schnappte Kira. »Nicht nur, daß ich nicht mal in Ruhe hier mein Glas austrinken kann, ich muß auch noch Rhett Butler in weiblich treffen.«

»Na, na«, entgegnete Val friedlich. »So furchtbar bin ich nun auch wieder nicht, oder?«

»Doch«, erwiderte Kira heftig und starrte sie an. »Ich habe genug von Frauen, die –« Sie brach ab und preßte die Lippen zusammen.

Val hob fragend die Augenbrauen. »Die . . . Sie enttäuschen?« Sie lächelte leicht spöttisch. »Oder belügen? Das kann ich verstehen. Aber so bin ich nicht. Ich halte immer, was ich verspreche. Und ich verspreche nie mehr, als ich halten kann.«

»Wie edel«, sagte Kira. Ihre Stimme triefte vor Sarkasmus.

»Nein, gar nicht.« Val blieb ganz locker. »Nur praktisch. So erspare ich mir viel Ärger. Denn Vorwürfe hasse ich. Ich will sie nicht machen müssen und auch nicht bekommen.«

»Sie machen es sich wirklich leicht.« Kira verzog abschätzig das Gesicht.

Val betrachtete sie einen Moment sehr genau. »Wohingegen Sie es sich offensichtlich schwer machen«, bemerkte sie dann ruhig. »Was ist das Problem?« Sie lächelte. »Glauben Sie mir, es ist besser, wenn man darüber spricht.«

»Mit einer Wildfremden?« Kira starrte sie mit zusammengezogenen Augenbrauen an. »Davon träumen Sie wohl. Sie wollen mich nur ins Bett kriegen, deshalb tun Sie so, als interessierten Sie sich für meine Probleme. Ein Tauschgeschäft sozusagen. Tut mir leid, solche Geschäfte mache ich nicht.«

Val lachte amüsiert auf. »Sie sind ja wirklich sehr genervt. Und selbstverständlich haben Sie recht. Mir liegt sehr viel daran, Sie ins Bett zu bekommen. Sie reizen mich.« Sie beugte sich vor. »Sie reizen mich ungeheuer«, fügte sie leiser und mit einem intensiven Blick hinzu.

Kira starrte sie immer noch an, dann hob sie mit einer ruckartigen Bewegung ihr Glas und schüttete Val den Rest ihres Cocktails ins Gesicht. »Wie Sie sehen, ist genervt gar kein Ausdruck«, bemerkte sie trocken.

Nach einem ersten überraschten Blinzeln, als der Cocktail sie traf, begann Val zu lachen. Ihr Lachen klang so übermütig, daß Kira, obwohl sie sich dagegen wehrte, gegen ihren Willen mitlachen mußte.

»Entschuldigung.« Kira lachte immer noch und schluckte das Lachen mühsam herunter, um sprechen zu können. »Ich hatte wirklich keinen guten Tag heute.«

»Das merke ich.« Val griff nach einer Serviette auf der Bar und wischte sich das Gesicht ab. »Das haben Sie sehr eindrücklich zu verstehen gegeben.«

»Es tut mir leid, ich – Sie hätten mich einfach in Ruhe lassen sollen.« Kira runzelte bedauernd die Stirn. »Ich bin keine gute Gesellschafterin zur Zeit.«

»Kann ich irgendwie dazu beitragen, Ihre Stimmung zu heben?« fragte Val.

»Ich weiß schon, woran Sie dabei denken«, entgegnete Kira abweisend, »aber auch wenn ich für heute nacht ein Bett brauche, bin ich für solche Tauschgeschäfte immer noch nicht zu haben.«

»Sie brauchen ein Bett?« Val hob fragend die Augenbrauen. Flüchtig ließ sie ihren Blick über Kiras Gestalt schweifen, aber Kira hatte das Gefühl, sie nahm jede Kleinigkeit in sich auf. »Haben Sie denn keine Wohnung?«

»Bis vor . . .«, Kira schaute auf die Uhr, »zwei Stunden hatte ich eine. Dachte ich jedenfalls. Jetzt sitze ich auf der Straße, ohne Geld, ohne Wohnung, ohne Job, ohne alles. Ich kann mir nicht einmal mehr ein Hotelzimmer leisten.« Sie schaute auf das leere Cocktailglas. »Dafür habe ich meine letzten Münzen zusammengekratzt. Damit ich wenigstens hier sitzen konnte. Aber schlafen werden sie mich hier wohl nicht lassen.«

»Es ist ja möglich, daß Sie die Bahnhofsmission vorziehen«, sagte Val, »aber ich könnte Ihnen auch eine Unterkunft anbieten. Mein Haus ist groß genug, daß Sie über keinerlei Tauschgeschäfte nachdenken müssen. Ich habe ein Gästehaus im Garten.«

Kira verzog spöttisch die Lippen. »Wenn ich mit zu Ihnen nach Hause gehe, brauche ich wohl tatsächlich über kein Tauschgeschäft mehr nachzudenken, dann habe ich es bereits gemacht. Ich bin heute wirklich nicht in der Stimmung dafür. Dann lieber die Bahnhofsmission.«

Val stützte einen Arm auf der Theke auf und legte ihr Kinn in die hochstehende Hand. »Ich weiß, Sie kennen mich nicht, aber glauben Sie mir, was ich vorhin gesagt habe? Daß ich immer halte, was ich verspreche?«

Kira musterte sie lange. »Ja«, antwortete sie dann fast erstaunt. »Merkwürdigerweise glaube ich Ihnen das.«

»Also . . .« Val ließ die Hand wieder sinken und schaute Kira an. »Das Gästehaus steht leer. Wenn Sie tatsächlich eine Bleibe brauchen – ohne Kosten und Verpflichtungen selbstverständlich –, sind Sie herzlich eingeladen, es mit Leben zu füllen.«

Kira dachte über dieses verführerische Angebot nach. Die Aussicht, wo sie die heutige Nacht verbringen sollte, hatte sie zwar nicht wirklich beunruhigt – vielleicht wäre sie nach ein paar Stunden in dieser Bar auch einfach nach Hause gegangen, ohne darüber nachzudenken, daß –

Sie erstarrte plötzlich innerlich. Ein Zuhause gab es nicht mehr. Jedenfalls nicht im Moment. Und nicht für sie.

Nachdenklich betrachtete sie Val. Eindeutig war sie nicht gerade der häusliche Typ, und was sie wollte, lag so klar auf der Hand, daß es Kira fast ansprang, aber war das wirklich so schlimm? Mit einer Frau zu schlafen, die – das mußte Kira zugeben – einen ganz eigenen Reiz auf sie ausübte?

Zumindest fand Kira Val nicht unsympathisch, was ja schon einmal keine so schlechte Voraussetzung für nähere Beziehungen war. Und heute – Der ganze Tag war ohnehin ein Desaster. Was konnte darüber hinaus noch schiefgehen?

»Warum nicht?« antwortete sie, und sie merkte, daß Val von ihrer Antwort überrascht war. Wahrscheinlich hatte sie sich schon den nächsten Textbaustein zurechtgelegt, um Kira bei einer Ablehnung doch noch zu überzeugen.

»Haben Sie Hunger?« fragte Val. »Wenn Ihr letztes Geld nur für einen Cocktail gereicht hat, hatten Sie doch sicher noch kein Abendessen.«

Kira blickte sie erstaunt an. »Nein, hatte ich nicht«, sagte sie.

»Was mögen Sie gern?« fragte Val. »Welche Art Restaurant bevorzugen Sie?«

»Eins, das ich bezahlen kann«, erwiderte Kira.

Val lachte. »Heute können Sie offenbar noch nicht einmal in einer Imbißbude bezahlen, also sollte das kein Kriterium sein.« Sie betrachtete Kira kurz. »Russisch oder . . . französisch. Das paßt zu Ihnen.«

Kira hob die Augenbrauen.

»Oh, nein, das war gar nicht anzüglich gemeint.« Val lachte erneut. Sie fühlte sich anscheinend sehr wohl in Kiras Gegenwart.

Und Kira mußte zugeben, daß das umgekehrt zunehmend auch für sie selbst zutraf. Val war so lässig, so gewandt und zwanglos. Nichts schien sie zu erschüttern oder aufzuhalten. Sie strahlte eine Art von Selbstsicherheit aus, die Kira im Moment fehlte.

»Damit Sie mir glauben, würde ich sagen: russisch«, entschied Val nun. »Und auch, um Ihrem Namen die Ehre zu geben.«

»Wie ich schon sagte, ist das reiner Zufall«, erinnerte Kira sie. »Meiner Mutter gefiel der Klang so gut. Sie hat glaube ich gar nicht darüber nachgedacht, woher der Name stammt.«

Val schmunzelte gutgelaunt. »Dann danke ich Ihrer Mutter dafür, daß sie so ein gutes Gespür für Klänge hat.« Sie machte eine einladende Handbewegung. »Wollen wir?«

Kira zögerte kurz, dann ließ sie sich von Val aus der Bar hinausbegleiten.

2

»Und Sie wollen mir immer noch nicht verraten, was Sie heute abend in die Bar verschlagen hat?« fragte Val, während sie dem Ober zunickte, der gerade ihre Bestellung aufgenommen hatte, und ihn damit entließ. »Die Frage haben Sie mir vorhin nämlich nicht beantwortet.«

»Ich weiß«, sagte Kira.

»Wie ich aus dem wenigen, das Sie gesagt haben, entnehmen konnte, hatten Sie eine . . .«, Val schaute Kira fragend an, »Auseinandersetzung?«

Kira nippte an ihrem Wein. Val hatte ihn ausgesucht, und er war hervorragend. Sie fühlte eine wohlige Wärme in ihren Kopf steigen. »Hm.« Sie nickte.

»Nicht sehr angenehm«, fuhr Val fort.

Kira atmete tief durch. »Nein, nicht sehr angenehm«, bestätigte sie zurückhaltend.

»Ich will Sie wirklich nicht zwingen, darüber zu reden«, sagte Val, »aber daß jemand wie Sie seine Wohnung verliert . . .« Sie nahm ebenfalls einen Schluck Wein und betrachtete Kira neugierig.

»Jemand wie ich?« Kira verzog leicht spöttisch das Gesicht. »Ich könnte die Kleider gestohlen haben und schon lange auf der Straße leben.«

Val lachte leicht. »Nein. Ganz sicher nicht.« Sie beugte sich vor. »Es sind nicht nur die Kleider. Sie würden sich nie damit abfinden, auf der Straße zu leben. Sie würden da wieder rauskommen.«

Kira hob skeptisch die Augenbrauen. »Sind Sie da so sicher?«

»Absolut«, sagte Val. »Sie sind eine sehr durchsetzungsfähige Person. Das haben Sie ganz klar bewiesen.« Sie lachte.

»Das mit dem Cocktail tut mir leid.«

»Muß es nicht.« Val lächelte immer noch. »Sie hatten ganz recht. Ich habe Sie zu sehr bedrängt. Das tue ich manchmal, wenn eine Frau mir . . . sehr gefällt.« Sie betrachtete Kira angelegentlich.

»Hm.« Kira gab nur ein undeutliches Geräusch von sich. Was vor allem daran lag, daß diese wohlige Wärme in ihrem Kopf zunahm. Der Wein schmeckte wunderbar, und das Essen war immer noch nicht gekommen.

Val bemerkte es. »Sie sollten vielleicht auf das Essen warten, bevor Sie weitertrinken. Der Wein ist nicht ganz ohne. Vierzehn Komma fünf Prozent Alkohol.« Sie wies auf das Etikett.

»Das macht mir nichts«, sagte Kira. »Ich habe schon mal Wein getrunken.«

Val hob leicht die Augenbrauen. »Auch auf leeren Magen?«

»Sind Sie mein Kindermädchen?« Kiras Stimme wurde erneut scharf.

»Alkohol löst keine Probleme«, sagte Val, »aber manchmal sind sie dann besser zu ertragen, das stimmt.«

Kira setzte ihr Glas ab. »Deshalb trinke ich nicht.«

»Dann lassen Sie es doch«, sagte Val auf eine Art sanft, die Kira ihr gar nicht zugetraut hätte.

Kira hob etwas hilflos die Arme. »Vielleicht halte ich mich nur an meinem Glas fest, weil ich nicht weiß, was ich sonst tun soll.«

»Ich würde vorschlagen, Sie unterfüttern das wenigstens mit ein bißchen Kaviar«, sagte Val, denn in diesem Augenblick brachte der Ober eine große Platte mit verschiedenen kalten und warmen Gerichten.

»Ach du meine Güte«, entfuhr es Kira erstaunt. »Was ist das denn alles?«

»Sakuski«, erklärte Val. »Vorspeisen.« Sie schmunzelte über Kiras Erstaunen.

»Das sind nur die Vorspeisen?« Kira schüttelte leicht den Kopf. »Wie soll man danach denn noch irgend etwas anderes essen? Das reicht doch schon für mehrere Personen.«

»Sie müssen ja nicht von allem nehmen«, schlug Val vor. »Den Kaviar würde ich auf jeden Fall probieren, und dazu vielleicht ein paar Piroggen oder Bliny?« Sie wies auf die entsprechenden Speisen. »Oder lieber geräucherten Stör oder Lachs?«

»Ich bin schon erschlagen allein vom Anblick«, sagte Kira.

»Erlauben Sie, wenn ich –?« Val blickte fragend.

Kira nickte schwach.

Val stellte einige Vorspeisen für Kira zusammen und ließ den Kellner sie ihr servieren. Danach entschied sie für sich selbst, und der Kellner verschwand unauffällig.

»Normalerweise ißt man zuerst die kalten Vorspeisen, dann die warmen wie beispielsweise die Bliny«, erklärte Val. »Aber wir wollen mal nicht so streng sein.« Sie probierte eine winzige Portion Kaviar. »Gut«, sagte sie.

Kira aß immer noch nichts.

»Kommen Sie.« Val warf ihr einen auffordernden Blick zu. »Die Russen sagen: Wer lange ißt, lebt länger.«

»Länger als was?« fragte Kira.

Val lachte leicht. »Auf jeden Fall länger als die Mahlzeit dauert«, bemerkte sie. »Aber auch dafür muß man erst einmal mit dem Essen anfangen.«

Kira nahm ihre Gabel auf und testete vorsichtig die Piroggen. »Hm, gut«, sagte sie.

»Freut mich, daß ich das richtige ausgesucht habe«, entgegnete Val immer noch gutgelaunt.

»Es tut mir leid.« Kira legte die Gabel wieder hin. »Ich habe keinen Hunger.«

»Sie gehören zu den Leuten, die nicht essen, wenn es ihnen schlecht geht, hm?« vermutete Val, die sich langsam durch die Vorspeisen arbeitete, immer mit Blick auf Kira.

»Ich . . . Nein.« Kira lehnte sich zurück. »Es geht mir nicht schlecht. Ich bin nur etwas . . . durcheinander.«

»Das kann ich mir vorstellen«, sagte Val. »Wenn Sie nicht mehr in Ihre Wohnung zurückkönnen.«

Kira warf einen Blick auf ihr Weinglas, zögerte, nahm es dann aber doch. »Nein, kann ich nicht«, sagte sie. Sie trank den Rest des Weins fast aus.

Der Kellner trat sofort heran und füllte ihr Glas nach.

»Nehmen Sie ein bißchen Kaviar«, sagte Val. »Der paßt gut zu Wein.«

Kiras Mundwinkel zuckten. »Ist das bei den Russen nicht eher Wodka?« fragte sie.

»Stimmt.« Val nickte bestätigend. »Aber zu Wein paßt er auch.«

»Sie wollen nur, daß ich etwas esse.« Kira lachte leicht.

»Richtig.« Val nickte erneut. »Und außerdem können Sie doch den Koch nicht so beleidigen. Ich kann dieses Lokal nie wieder betreten, wenn Sie das tun.« Sie schmunzelte.

»Sind Sie denn so gut mit dem Koch bekannt?« fragte Kira.

Val zuckte die Schultern. »Mehr oder weniger«, sagte sie. »Der Koch ist der Besitzer – und er ist ein sehr stolzer Russe, der es nicht mag, wenn man seine Speisen verschmäht.«

»Drusja!« Ein lauter, dröhnender Baß tönte durch das Lokal.

Val drehte sich um und lächelte. »Dimitrij.«

»Pjotr sagt mir, du bist gekommen.« Ein großer Mann mit einem dicken Bauch, der eindeutig zeigte, daß die Kochuniform nicht nur Staffage war, trat auf ihren Tisch zu. »Warum du mir nicht gesagt?«

»Es war eine . . . spontane Entscheidung«, erwiderte Val immer noch lächelnd. »Aber du erfährst es ja ohnehin sofort, wie man sieht.«

»In meine Lokal ich weissen alles«, entgegnete Dimitrij stolz. Sein Blick verfing sich neugierig auf Kiras Gestalt. »Nur ich nicht weissen Name von dieses schöne Frau.«

»Darf ich vorstellen?« sagte Val. »Kira. Dimitrij.«

»Ah, Kira – eine Russin!« Dimitrij klatschte vor Begeisterung in die Hände.

»Nein –«, setzte Kira an, aber Dimitrij unterbrach sie sofort.

»Wir müssen trinken Brüderschaft.« Er winkte dem Kellner, der eine Flasche Wodka und drei Gläser brachte, als hätte er nur auf diese Gelegenheit gewartet.

»Ich bin keine –«, versuchte es Kira noch einmal.

»Wie ist Name von dein Vater?« fragte Dimitrij.

»Wie bitte?« Kira schüttelte verwirrt den Kopf.

»Du hast Vater?« fragte Dimitrij.

»Äh . . . ja . . .«, antwortete Kira irritiert.

»Wie sein Name?«

»Sein Vorname«, erklärte Val mit einem amüsierten Blick. »Er will nur den Vornamen.«

»Hans«, sagte Kira. »Er heißt Hans.«

»Ah – Kira Iwanowna . . .« Dimitrij schien zufrieden. »Wir jetzt stoßen an – auf russische Art.« Er reichte Kira ein Glas, schlug sein eigenes mit einem hellen Klang dagegen, trank es in einem schnellen Zug aus und zerschmetterte es dann auf dem Boden.

»Ich fürchte, Sie müssen es ihm nachmachen«, lachte Val. »Sonst ist er nicht zufrieden. Und wenn wir schon mal dabei sind . . .« Sie hob ihr Glas. »Brüderschaft?«

Kira war zu irritiert. Sie nippte an dem Glas, um Dimitrij zufriedenzustellen, Val umfing ihren Arm, und sie tranken beide gleichzeitig. Danach schmetterte Val ihr Glas auf den Boden und forderte Kira mit einem Blick auf, es ihr gleichzutun.

Kira schaffte es nur, das Glas fallenzulassen. Es zerbrach nicht.

»Das nicht gut.« Dimitrij nahm das Glas auf und zerschmetterte es. »Schlechtes Omen für Freundschaft, wenn Glas nicht zerbricht.« Er lachte laut. »Jetzt gut. Freundschaft hält ewig.«

»Wenn du es sagst«, bemerkte Val amüsiert. Ihre spöttisch blitzenden Augen suchten Kiras. »Was sagst du denn dazu?«

»Gar nichts«, sagte Kira. »Ich glaube, ich bin da nicht kompetent.«

3

»Ho, ho – langsam!« Val lachte leicht, während sie Kira die Tür zum Gästehaus öffnete.

Kira schien zu schwanken und fast in die Scheibe der Tür hineinzufallen.

»Das letzte Glas war definitiv zuviel«, sagte Val grinsend, hob sie hoch und trug sie zum Bett, wo sie sie vorsichtig niedersinken ließ.

»Ich trinke nie zu viel«, nuschelte Kira undeutlich. »Ich trinke eigentlich überhaupt nicht.«

»Aber sicher.« Val zog Kira die Schuhe aus und knöpfte ihre Jacke auf. Ihr Blick verweilte kurz auf Kiras Bluse, unter der sich ihre Brüste abzeichneten, dann griff sie nach der Decke und bedeckte Kira damit. »Ich glaube, du kannst dich selbst ausziehen«, sagte sie.

»Warum tust du es nicht?« Kira streckte ihre Arme aus, legte sie um Vals Nacken und versuchte sie zu sich herunterzuziehen.

»Weil ich nur mit betrunkenen Frauen schlafe, wenn ich selbst betrunken bin«, sagte Val. »Und das bin ich nicht.«

»Ich bin nicht betrunken.« Kira riß weit die Augen auf, als ob sie zeigen wollte, wie wach sie war.

»Doch, bist du.« Val lächelte. »Ein russisches Restaurant ist definitiv nicht das richtige für dich. Zu viel Wodka. Und deine Anwesenheit ist definitiv zuviel für mich«, fügte sie leise hinzu, so daß Kira es nicht hören konnte, und trat einen Schritt vom Bett zurück. »Gute Nacht«, sagte sie lauter. »Schlaf deinen Rausch aus. Über alles andere reden wir morgen.«

»Nicht . . . Val . . . bitte . . . geh nicht.« Kira streckte erneut einen Arm nach Val aus. »Ich will nicht allein sein.«

Val schien zu zögern. Dann beugte sie sich zu Kira hinunter. »Hast du Angst im Dunkeln? Ich kann das Licht brennen lassen.«

»Ich habe keine Angst im Dunkeln.« Diesmal gelang es Kira ihre Lippen auf Vals zu pressen, während sie ihren Nacken umfaßte.

Val schien für einen Moment unentschlossen, dann öffneten sich ihre Lippen und sie küßte Kira.

Es war ein langer Kuß, und als Val sich von Kira löste, flüsterte Kira leise: »Du willst doch gar nicht gehen.« Sie betrachtete Vals Gesicht so nah vor ihrem eigenen.

»Das würde ich lieber mit klarem Kopf entscheiden«, bemerkte Val und richtete sich auf. »Ich glaube, ich habe doch zu viel getrunken.« Sie warf noch einen kurzen Blick auf Kira und verließ das Gästehaus.

4

»Ich . . . Tut mir leid, wenn ich störe«, sagte Kira, als sie am nächsten Morgen ins Haupthaus kam und Val beim Frühstücken vorfand. »Ich habe zwar eine Kaffeemaschine im Gästehaus gefunden, aber leider keinen Kaffee.«

Val betrachtete sie lächelnd. »Ich hatte nicht mit Gästen gerechnet. Willst du mit mir frühstücken?« Sie wies auf einen Stuhl am Tisch.

Kira verzog schief das Gesicht. »Ich bin ein ziemlicher Kaffeejunkie, muß ich zugeben. Ohne Kaffee ist mit mir morgens nichts anzufangen.«

»Dann setz dich«, sagte Val. »Kaffee habe ich genug. Mir geht es ähnlich wie dir. Ich brauche das morgens.«

Kira setzte sich, und Val schenkte ihr Kaffee ein. »Ich . . .« Kira räusperte sich. »Ich muß mich bei dir entschuldigen für mein Benehmen letzte Nacht. Das ist nicht . . . das übliche – falls du mir das glaubst.«

Vals Mundwinkel zuckten. »Du erinnerst dich? Ich dachte, du wärst zu betrunken gewesen.«

Kira hob die Augenbrauen und atmete tief durch. »O ja, ich erinnere mich – an alles. Leider nur zu gut. So betrunken war ich denn auch wieder nicht. Ist mir furchtbar peinlich.«

Val lächelte. »Kopfschmerzen?«

»Ja.« Kira verzog das Gesicht.

»Dagegen habe ich was.« Val schob ihr eine Packung hin. »Ich dachte mir schon, daß du das brauchen könntest.«

Kira löste eine der Tabletten in Wasser auf. Während sie zuschaute, wie die Tablette im Glas immer kleiner wurde, sagte sie nichts. »Ich werde deine Gastfreundschaft nicht mehr lange in Anspruch nehmen«, erklärte sie dann, nachdem sie das Glas ausgetrunken hatte. »Nach ein paar Tassen Kaffee bin ich fit genug zu gehen.«

»Weißt du denn wohin?« fragte Val.

»Es wird sich schon etwas finden«, sagte Kira. »Jetzt, bei Tageslicht.«

»Du kannst gern hierbleiben«, bot Val an. »Ich werde die nächsten Tage nicht dasein. Geschäftsreise. Nimm alles aus dem Haupthaus, was du brauchst, Kaffee, Lebensmittel . . . Nachher kommt meine Haushälterin. Wenn du willst, daß sie etwas für dich einkauft, mußt du es ihr einfach nur sagen. Sie besorgt es dann.«

»Ich habe immer noch kein Geld«, sagte Kira.

»Die Geschäfte setzen es auf meine Rechnung«, erklärte Val gelassen. »Keine Sorge. Ich bezahle auch erst später.«

Kira legte zweifelnd den Kopf schief.

»Wenn du unbedingt darauf bestehst, kannst du es mir ja zurückzahlen«, sagte Val. »Irgendwann.«

Langsam wurde Kiras Kopf klarer. Die Tablette wirkte. Sie lehnte sich im Stuhl zurück und betrachtete Val nachdenklich. »Du hättest heute nacht schon eine Anzahlung haben können, aber du hast sie nicht genommen. Warum?«

Val hob leicht spöttisch die Mundwinkel. »Das habe ich dir im Gästehaus schon erklärt. Du warst zu betrunken und ich nicht genug.«

»In der Bar dachte ich –« Kira zuckte die Schultern. »Ich hatte den Eindruck, du findest mich attraktiv.«

»Das ist auch so.« Val musterte sie. »Du bist eine der attraktivsten Frauen, die ich seit langem getroffen habe.« Sie schmunzelte. »Und du weißt es. Du weißt, daß du attraktiv bist.«

»Deshalb –« Kira räusperte sich. »Deshalb fand ich dein Verhalten ja so ungewöhnlich. Aber du hast recht, es gibt keinen Grund, darüber zu reden. Es ist nicht wichtig.«

Vals Lippen zuckten verdächtig. »Du bist es gewöhnt, daß alle Welt dir zu Füßen liegt, nicht wahr?«

Kira runzelte die Stirn. »Wie meinst du das?«

»Ich meine . . .«, Val beugte sich vor, »daß die Unschuld vom Lande dir nicht steht.«

»Du bist unmöglich«, sagte Kira. »Du kennst mich überhaupt nicht.« Sie griff nach der Kanne und goß sich eine weitere Tasse Kaffee ein.

Val lehnte sich zurück und schlug ihre langen Beine in den maßgeschneiderten Hosen übereinander. »Du bist eine Prinzessin, die ihr Schloß verloren hat. Aber das hält dich nicht davon ab, weiterhin Prinzessin zu sein.«

»So ein Unsinn«, sagte Kira und musterte Val unwillig. »Ich bin nicht adlig.«

»Vielleicht nicht mit einem von vor deinem Namen«, sagte Val. »Aber ich möchte wetten, du bist nicht in Armut aufgewachsen.«

»Ist das eine Schande?« Kiras herablassender Blick streifte Val ungnädig.

Val lachte und verbeugte sich ironisch. »Aber nein, Eure Hoheit.«

»Hör auf damit.« Kiras Stimme zeigte, daß ihr Vals ironische Art nicht angenehm war. »Das ist lächerlich.«

»Ja, vielleicht«, sagte Val, ließ ihren Blick noch einmal über Kira schweifen und stand dann auf. »Und außerdem habe ich leider auch gar keine Zeit mehr, hier weiterhin so nett mit dir zu plaudern. Wie sehr ich das auch bedauere. Aber ich muß weg.« Sie machte eine weitumfassende Geste. »Mein Schloß ist Euer Schloß, Majestät. Wenn es auch ganz sicher kein Ersatz ist.«

Kira griff nach einem Apfel, der in einer Schale auf dem Tisch lag, und warf ihn wütend nach Val.

Val duckte sich ein wenig, damit er sie nicht traf, und fing den Apfel geschickt auf. »Danke«, sagte sie, »für die Wegzehrung.« Ihre Augen blitzten Kira noch einmal vergnügt an, dann biß sie in den Apfel und ging lachend hinaus.

»Na toll.« Kira lehnte sich in ihren Stuhl zurück, während sie die Stirn runzelte und etwas abwesend in die Richtung starrte, wo Val verschwunden war – was allerdings nur für den Augenblick ein wenig Entspannung brachte, das Grundproblem war damit immer noch nicht gelöst.

Sie hörte, wie draußen ein Wagen über den Kies der Auffahrt davonfuhr. Es knirschte wie in einem alten Film. Sie stand auf und ging zum Fenster. Ein Jaguar – was auch sonst? Sie mußte zugeben, daß dieser Wagen zu Val paßte. Ein Raubtier für das Raubtier.

Warum dachte sie, daß Val ein Raubtier war? Sie hatte nichts Raubtierhaftes getan. Im Gegenteil. Sie hatte sich wie ein Gentleman verhalten. Dennoch hatte Kira das Gefühl, daß dieses Verhalten antrainiert war, nur wie Lack auf der Oberfläche, um ganz andere Dinge darunter zu verdecken. Was geschah wohl, wenn man an diesem Lack kratzte?

»Was geht mich das an?« Sie schüttelte unzufrieden den Kopf. »Ich habe jetzt wirklich andere Sorgen.«

Als sie zum Tisch zurückging, hörte sie eine Tür schwer ins Schloß fallen. Val war doch gerade weggefahren, wer –?

»Guten Morgen.« Eine ältere Frau stand im Türrahmen und schaute Kira an.

»Morgen.« Kira wußte nicht so recht, was sie sagen sollte.

»Soll ich abräumen?« Die Augenbrauen der Frau hoben sich fragend.

Die Haushälterin. Jetzt fiel es Kira wieder ein. Val hatte davon gesprochen. »Ich . . . Ja. Ja, bitte.«

Die Frau kam an den Eßtisch herüber und warf einen Blick darauf. »Haben Sie gar nichts gegessen? Es tut mir leid, aber ich wußte nicht – ich hatte nicht so viel eingekauft.«

»Schon gut. Ich hatte ein opulentes Abendessen gestern.« Kiras Mundwinkel zuckten leicht. »Da war Kaffee heute morgen mehr als genug.«

»Dann räume ich jetzt ab.« Vals Haushälterin blickte fragend auf Kira. »Werden Sie zum Mittagessen hier sein?«

»Oh, ich . . . ich weiß nicht.« Kira runzelte nachdenklich die Stirn.

»Nur damit ich weiß, ob ich noch etwas einkaufen muß.« Die kleine Frau mit den grauen Haaren griff nach einem Tablett, das auf der Anrichte stand, und setzte es auf den Tisch, stapelte die Teller darauf.

»Kaufen Sie immer für Vals . . .«, Kira zögerte leicht, »Gäste ein?«

»Wenn sie mir rechtzeitig Bescheid sagt.« Vals Haushälterin hob das Tablett an. »Leider wußte ich nichts davon, daß jemand in ihrer Abwesenheit hiersein würde. Die nächste Woche habe ich eigentlich frei. Ich wollte nur noch einmal durchputzen.« Sie bewegte sich mit dem Tablett auf die Tür zu. »Sind Sie in einem der oberen Schlafzimmer?«

»Nein, im Gästehaus.« Kira antwortete abwesend.

Die Frau blieb stehen und schaute Kira erstaunt an. »Im Gästehaus? Das heißt, Sie bleiben länger?«

»Ähm . . .« Kira fühlte sich etwas überrumpelt. »Ich weiß nicht. Heißt es das üblicherweise?«

»Ja, üblicherweise heißt es das.« Vals Haushälterin verließ nun endgültig das Eßzimmer. »Sagen Sie mir bitte Bescheid, wenn Sie sich entschieden haben, ob Sie hier essen wollen? Ich bin in der Küche.«

Wo auch immer die ist, dachte Kira. Neben dem Eßzimmer war sie jedenfalls nicht, wie man das hätte erwarten können.

Kira ging zum Fenster und schaute hinaus. Vertrackte Situation. Sie konnte nicht hierbleiben – nein, das war einfach unmöglich –, aber wo sollte sie sonst hin?

Sie konnte noch nicht einmal telefonieren, denn ihr Handy war seit gestern abend leer. Das Netzteil hatte sie nicht dabei, sie hatte es bei ihren Eltern vergessen. Bevor sie es ihr nachschickten, konnte sie das Gerät also nicht einmal aufladen.

Sie biß sich auf die Lippe. Wie ärgerlich, jetzt darüber nachdenken zu müssen. Selbst die einfachste Sache der Welt schien zu einem Problem geworden zu sein.

Aber Probleme waren dazu da, gelöst zu werden. Sie schaute sich nach einem Telefon um. Hier im Eßzimmer war keins, kaum eine Überraschung, aber irgendwo im Haus mußte sicherlich eins sein. Sie konnte die Haushälterin fragen . . . wenn sie die Küche fand.

Sie verließ das Eßzimmer, kam an einem großzügigen Wohnzimmer vorbei, das aber offenbar eher repräsentativen Charakter hatte, und stand dann vor einer verschlossenen Tür. Die Küche?

Sie öffnete die massive Eichentür – das Haus schien alt zu sein und alle Einrichtungsgegenstände schwer und solide – und schob sie langsam auf.

Nein, nach einer Küche sah das nicht aus. Eher eine Art Arbeitszimmer oder Bibliothek.

Sie betrat den Raum. Hier gab es bestimmt ein Telefon.

Im selben Moment, als sie an den ebenfalls soliden und eher altertümlich erscheinenden Schreibtisch trat, beschlich sie ein ganz merkwürdiges Gefühl. Sie war in Vals Allerheiligstes eingedrungen, davon war sie jetzt überzeugt. Alles hier in diesem Raum atmete Vals Gegenwart. Die Bücher, der Tisch, die tiefen Ledersessel – wie der Hauch eines vergangenen Jahrhunderts. Es waren keine neuen Möbel, das sah man sofort. Erbstücke vielleicht?

Komisch. Wenn überhaupt, dann hätte sie sich Val in einem chromglitzernden Büro mit einer Glasfront hoch über der Stadt vorgestellt. Das hier erschien geradezu bescheiden dagegen.

Das Telefon. Im Gegensatz zu der restlichen Einrichtung des Raumes war es ganz modern, kein Relikt vergangener Zeiten. Sie nahm es aus der Ladestation, zögerte kurz, aber wählte dann mit entschlossenem Gesichtsausdruck eine Nummer.

Während der Klingelton ertönte, setzte sie sich in den alten, ledernen Schreibtischsessel. Dunkelbraun mit leicht abgewetzten Messingbeschlägen, ein weitausladendes Prunkstück und dazu bequem. Für einen winzigen Moment sah sie Val gemütlich mit einer Zigarre in diesem Sessel sitzen wie ihren eigenen Vater. Aber Val rauchte nicht. Jedenfalls hatte sie es nicht getan, als sie mit Kira zusammen war.

Am anderen Ende meldete sich eine Stimme. Nachdem Kira sich gemeldet hatte, herrschte für eine Sekunde Stille.

»Was ist passiert?« fragte ihre Mutter dann.

»Was soll denn passiert sein? Ich wollte nur kurz anrufen.« Kira tat harmlos.

»Du bist gerade erst gefahren«, erwiderte ihre Mutter, »nachdem du zwei Wochen hier warst. Wir haben uns gestern noch gesprochen.«

»Ich wollte nur Bescheid sagen, daß ich gut angekommen bin«, behauptete Kira.

Sie konnte sich den Gesichtsausdruck ihrer Mutter vorstellen, als sie antwortete: »Auch wenn wir uns sehr viel Mühe mit deiner Erziehung gegeben haben, das hast du noch nie getan.« Sie seufzte. »Ich habe dich gestern abend angerufen, aber ich konnte dich nicht erreichen.«

»Mein Akku ist leer«, gab Kira zu. »Tut mir leid. Ich wollte dich bitten, mir das Netzteil zu schicken. Es muß noch in meinem Zimmer liegen.«

»Deshalb rufst du an?« fragte ihre Mutter.

»Ja, auch . . .«, sagte Kira.

Beängstigende Stille breitete sich erneut im Hörer aus. »Also?« fragte ihre Mutter dann.

»Ich . . .« Kira schluckte. »Ich stehe auf der Straße . . . sozusagen.«

»Wie bitte?«

»Ja.« Kira schluckte erneut. »Sibylle hat die Wohnung verkauft, ich kann nicht mehr rein und sie ist weg. Mit meinem Auto.« Sie machte eine kleine Pause. »Ich stehe ziemlich dumm da«, fügte sie dann etwas kleinlaut hinzu.

Das schien ihre Mutter weniger zu überraschen, als es Kira überrascht hatte. »Ich habe dir immer gesagt, du verschwendest deine Zeit mit ihr. Sie ist nichts wert. War es noch nie. Ich habe nie verstanden, was du von ihr wolltest.«

Ich wollte sie haben, dachte Kira. Was auch immer ihre Mutter eingewendet hatte, es hatte sie nicht interessiert, wie schlecht Sibylles Ruf auch immer gewesen war. Sie wollte ihren Kopf durchsetzen, und das hatte sie getan.

»Aber es hat ja keinen Sinn, über verschüttete Milch zu klagen«, seufzte ihre Mutter. »Das hatte noch nicht einmal Sinn, als du noch ein Kind warst und tatsächlich nur Milch verschüttet hast. Wie schlimm ist es?«

Kira schluckte. »Ich . . . äh . . . ich fürchte, sehr schlimm.«

»Wieviel ist noch da?« fragte ihre Mutter.

»Ähm . . .« Kira schluckte erneut. »Nichts, fürchte ich.«

»Dein ganzes Erbteil?« Kira konnte in Gedanken sehen, wie ihre Mutter die Hände über dem Kopf zusammenschlug.

»Ja, ich . . . ich meine, ich weiß nicht. Aber ich denke schon. Sie hat mir am Telefon gesagt – Ich glaube kaum, daß noch etwas übrig ist.« Kira fühlte sich ausgesprochen elend, daß sie ihrer Mutter all das gestehen mußte, aber diesmal hatte sie keine andere Wahl.

»Ja, wahrscheinlich«, stimmte ihre Mutter zu, erstaunlich ruhig in Anbetracht der Umstände. Aber ihre Mutter hatte es immer verstanden, auch in den unangenehmsten Situationen die Ruhe zu bewahren. Dafür hatte Kira sie stets bewundert und wäre so gern gewesen wie sie, so ausgeglichen. Aber das war sie nicht.

»Meine . . . meine Karte wurde eingezogen, als ich damit am Automaten Geld holen wollte«, fügte Kira, jetzt freimütig, weil ihre Mutter es so gelassen zu tragen schien, hinzu. »Unser gemeinsames Konto –«

»– dürfte wohl ebenso leer sein wie vermutlich dein Portemonnaie«, beendete ihre Mutter resigniert den Satz. »Kind, Kind. Sie hat die Zeit, in der du nicht da warst, gründlich genutzt.«

»Ich konnte doch nicht wissen –« Kira fühlte Empörung in sich aufsteigen. Immer hatte sie Sibylle gegen ihre Eltern verteidigen müssen, besonders gegen ihre Mutter, und ganz automatisch fiel sie in dieses Verhalten zurück. Aber dann fiel ihr ein, daß das diesmal vielleicht unangebracht war. »Tut mir leid, Mutter. Ich hätte besser aufpassen sollen.«

»Liebe macht eben blind«, sagte ihre Mutter. »Aber wenn es um Geld geht, sollte man die rosa Brille abnehmen.«

»Du hast ja so recht.« Kira atmete tief durch. »Aber was soll ich jetzt tun? Ich habe noch nicht einmal genug Geld, um mir eine Fahrkarte zu kaufen.«

»Wo hast du denn die Nacht verbracht?« fragte ihre Mutter plötzlich besorgt. »Wenn du nicht in die Wohnung konntest und auch kein Geld hattest?«

»Äh . . . Bahnhofsmission«, murmelte Kira undeutlich. Ihrer Mutter jetzt auch noch von Val zu erzählen, war dann doch etwas zu viel.

»O Gott«, sagte ihre Mutter. »Dann bleib da, wo du bist, am Bahnhof. Dein Vater holt dich ab.« Ohne auf Kiras Antwort zu warten, legte sie auf.

Kira wußte, daß sie ihre Mutter in eine viel größere Aufregung versetzt hatte, als sie es sich anmerken ließ. Eine Dame blieb immer kühl und gelassen, auch unter den schrecklichsten Umständen. Und ihre Mutter war eine Dame. Ihr Vater dagegen – er würde Kira vielleicht besser verstehen. Eigentlich hatte er das immer getan. Er kam nicht aus einer angesehenen, alteingesessenen Familie, sondern hatte sich selbst hochgearbeitet. Seine rauhe Art schien nie in die Umgebung zu passen, in der er heute lebte.

Kira schloß die Augen und lehnte sich in den bequemen Sessel zurück. Es war, als wäre da der Hauch eines Duftes, der sie an ihren Vater erinnerte. Eine Mischung aus Holz, Weinbrand und Zigarrenrauch. Schon, wenn sie sich als Kind an seine Brust geschmiegt hatte, hatte sie das gerochen und es geliebt.

Ihr Vater war wie das Salz der Erde. Unerschütterlich. Ein Fels in der Brandung. Und immer verständnisvoll bezüglich menschlicher Schwächen. Denn er wußte um seine eigenen. »Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen«, bemerkte er nur augenzwinkernd, wenn er seine wilde Tochter zurechtweisen sollte, weil sie wieder etwas angestellt hatte.

Er würde auch diesmal verständnisvoll sein, davon war Kira überzeugt. Aber Verständnis allein genügte wohl nicht, um die ganze Misere wieder ins Lot zu bringen. Vor allem brauchte man dazu Geld.

5

»Mäuschen, wirklich, wie konntest du Mutter so etwas antun?« Ihr Vater begrüßte Kira mit einem mißbilligenden Stirnrunzeln.

»Ach, Papa . . .« Kira machte ein schuldbewußtes Gesicht.

»Ich bin froh, daß du wenigstens nicht weinst«, sagte er und zog sie an sich. »Aber das hast du ja noch nie getan. Noch nicht einmal, wenn du dir als Kind das Knie aufgeschlagen hast und überall das Blut herunterlief. Ganz anders als deine Schwestern.« Er hauchte einen Kuß auf ihr Haar. »Mutter hat also recht behalten, hm?« Mit beiden Armen hielt er sie ein Stückchen von sich. »Und du wolltest nicht hören.«

»Vielleicht . . . vielleicht habe ich das alles ja auch nur falsch verstanden«, versuchte Kira abzuwiegeln. »Allerdings . . . war ich heute bei der Bank . . .«

»Und das Geld ist weg.« Er nickte grimmig. »Die Wohnung, die wir dir gekauft hatten, das Auto?«

Kira nickte beschämt.

»Wie hat sie das gemacht?« fragte er, winkte aber im gleichen Moment ab. »Ach, ich will es gar nicht wissen. Ich werde mich darum kümmern, wenn ich Zeit dafür habe. Aber habe ich dir nicht immer gesagt, du sollst immer genügend Geld im Strumpf verstecken, damit du einen Notgroschen hast, wenn es mal hart auf hart kommt?«

Kira lachte. »Im Sommer trage ich keine Strümpfe.«

»Na gut.« Er räusperte sich. »Was nun? Mutter hat gesagt, ich soll dich mit nach Hause bringen, aber ist das auch das, was du willst?«

Kira verzog das Gesicht. »Ich war gerade zwei Wochen zu Hause, eigentlich –«

»Eigentlich bleibst du lieber in der Stadt, ist mir schon klar«, sagte er. »Aber hier von jetzt auf gleich eine Wohnung zu finden ist sicher auch nicht so leicht. Und vor allem: Wovon willst du das bezahlen? Ein Einkommen hast du ja auch nicht mehr – wenn du je eins hattest.«

»Ja, ich fürchte . . .«, Kira seufzte, »ich fürchte, wir haben die ganze Zeit von meinem Geld gelebt und nichts verdient, auch wenn es so aussah. Ich hätte ihr nicht die ganzen Geldsachen überlassen sollen. Aber ich finde das so lästig.«

»Geld ist niemals lästig«, sagte ihr Vater. »Insbesondere dann nicht, wenn man keins hat.«

»Aber Papa . . . Papilein . . .« Kira schmiegte sich an ihn und schaute ihn von unten herauf durch lange Wimpern an.

»Oh, diesen Ton kenne ich.« Er atmete tief durch. »Aber das nützt dir diesmal auch nichts. Ich habe nämlich keins. Jedenfalls nichts, was ich dir geben könnte.«

»Was?« Kira starrte ihn erstaunt an.

»Die Baubranche läuft nicht gut«, sagte er, »und außerdem . . . hm, außerdem bist du nicht nur meine Tochter, ich bin auch dein Vater.«

Kiras Gesichtsausdruck veränderte sich. »Du hast wieder gespielt?«

»Mutter weiß nichts davon, und bitte, sag es ihr nicht«, bat ihr Vater, »ich bringe das schon wieder in Ordnung, nur leider . . . im Moment . . . könnte ich selbst einen Kredit gebrauchen.«

»Papa!«

»Also bitte, spiel dich nicht so auf. Du hast ja schließlich auch nicht gerade gut auf dein Geld aufgepaßt. Ob man es im Casino oder an der Börse verspielt oder im Bett –«

Ein erneutes »Papa, bitte!« unterbrach ihn.

»Ist doch wahr«, sagte er. »Meinst du, ich wüßte nicht, wie das ist mit den Frauen? Mir mußt du da nichts erzählen. Ich mache dir ja auch gar keine Vorwürfe, nur kann ich dir beim besten Willen nicht helfen. Es wird dir wohl nichts anderes übrigbleiben, als mit mir nach Hause zu kommen.«

»Und was soll ich da tun?« fragte Kira und kaute auf ihrer Unterlippe herum. »Kindermädchen spielen?«

»So klein sind deine beiden Schwestern auch nicht mehr«, sagte ihr Vater.

»Du weißt, was ich meine«, sagte Kira. »Ich halte es einfach nicht lange aus auf dem Land. Das macht mich verrückt.«

Er lächelte. »Das habe ich auch gesagt, als ich jung war. Aber glaub mir, Land ist das einzige, was zählt. Es bedeutet Heimat und die Möglichkeit, sich fest zu verwurzeln. Das bietet eine Stadt dir nicht. Wenn du älter bist, wirst du das verstehen.«

»Ich glaube, ich bin alt genug.« Kira verzog trotzig den Mund.

»Nun ja, um etwas in den Sand zu setzen allemal«, erwiderte er trocken. »Dafür gibt es wohl keine Altersbeschränkung. Ich kaufe noch etwas für deine Mutter ein, und dann fahren wir, hm?«

Kira schaute ihn an und schüttelte dann langsam den Kopf. »Nein, ich nicht. Ich bleibe hier.«

Ihr Vater hob strafend die Augenbrauen. »Und was soll ich deiner Mutter sagen?«

»Einfach nur, daß ich eine Möglichkeit gefunden habe, hierzubleiben. Und ich werde mir einen Job suchen. So schwer kann das doch nicht sein.«

Er schüttelte zweifelnd den Kopf. »Ich glaube, das ist keine so gute Idee. Einen Job kannst du dir auch von uns aus suchen, und dann kostet es dich nichts, bei uns zu wohnen und zu essen. Hier in der Stadt . . . ich kann dir einen Hunderter geben, aber damit kommst du nicht weit.«

»Ein Hunderter würde mir schon weiterhelfen, für den Moment«, sagte Kira. »Du bist doch der Beste, Papa.« Sie strahlte ihren Vater an, zog sich an ihm hoch und gab ihm einen Kuß auf die Wange.

»Wer kann dir schon widerstehen?« Ihr Vater grummelte, zog sein Portemonnaie heraus und gab ihr den Schein. »Aber mehr habe ich wirklich nicht. Eigentlich wollte ich davon deiner Mutter ein Geschenk kaufen.«

»Damit sie nicht merkt, daß du wieder gespielt und verloren hast?« fragte Kira. »Glaub mir, es ist besser, du kommst ohne Geschenk zurück. Sonst weiß sie gleich Bescheid. Du machst das nämlich immer so.«

»Ach, ihr Frauen . . .« Ihr Vater brachte ein schiefes Grinsen zustande.

»Sag ihr, du hast mir Geld gegeben und ich habe eine Unterkunft gefunden, die nicht so viel kostet, und morgen lese ich als erstes sämtliche Jobanzeigen in sämtlichen Zeitungen durch. Das wird sie beruhigen.«

»Na, ich weiß nicht . . .«, sagte ihr Vater. »Ich glaube, sie hätte dir lieber persönlich eine Standpauke gehalten.«

»Dafür hat sie ja dich geschickt.« Kira grinste, und wenn man genau hinsah, sah es genauso aus wie bei ihrem Vater, abgeschwächt durch ein paar Grübchen, die ihre Wirkung selten verfehlten. »Du kannst ihr ja mitteilen, daß ich ganz zerknirscht bin, weil du mich so zusammengestaucht hast, und daß ich jetzt weiß, daß ich so etwas nie wieder tun darf.«

»Das wirst du auch kaum können«, sagte ihr Vater, »denn mehr als ein Erbteil hattest du nicht zu verschenken. Und das ist jetzt weg.«

»Ja, ich weiß.« Kira sah wirklich zerknirscht aus. »Aber dann muß es eben ohne gehen.«

»Ich habe da einen Tip bekommen . . .«, sagte ihr Vater nachdenklich und strich sich über das Kinn.

»Oh, nicht, bitte nicht, Papa.« Kira griff nach seiner Hand. »Nicht spekulieren oder sonst etwas. Ich brauche kein Geld. Ich kann für mich selbst sorgen. Ganz bestimmt.«

Er schaute auf sie hinunter. »Ich hatte immer gehofft, du übernimmst das Geschäft, aber ehrlich gesagt möchte ich dir das jetzt gar nicht anbieten. Ich weiß nicht, was daraus wird.«

»So schlimm?« Auf einmal bemerkte Kira die Falten im Gesicht ihres Vaters, und es kam ihr so vor, als wären sie tiefer geworden. »Warum hast du nichts gesagt? Soll ich nach Hause kommen, um dir zu helfen?«

»Ich fürchte, das kannst du nicht«, sagte er. »Es geht da um . . . höhere Mächte.«

»Wie meinst du das?« Kira runzelte die Stirn. So ernst hatte sie ihren Vater selten erlebt.

Auf einmal lächelte er wieder. »Gar nichts. Du hast genügend Sachen, um die du dich jetzt sorgen mußt. Denkst du wirklich, du kommst zurecht?«

»Ja.« Kira nickte. »Wird schon irgendwie gehen.«

»Dann werden wir jetzt einmal das Glück versuchen«, sagte er und zog eine einzelne Münze aus der Tasche.

»Nicht –«, setzte Kira an, aber er war schon in der Bahnhofswirtschaft verschwunden.

Kira seufzte und folgte ihm.