Nataly von Eschstruth – Gesammelte Werke - Nataly von Eschstruth - E-Book

Nataly von Eschstruth – Gesammelte Werke E-Book

Nataly von Eschstruth

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Beschreibung

Neue Deutsche Rechtschreibung Nataly von Eschstruth war eine deutsche Schriftstellerin und eine der populärsten und berühmtesten Erzählerinnen der Gründerzeit. Null Papier Verlag

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Nataly von Eschstruth

Gesammelte Werke

Romane und Geschichten

Nataly von Eschstruth

Gesammelte Werke

Romane und Geschichten

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 1. Auflage, ISBN 978-3-962811-01-3

null-papier.de/493

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Der Irr­geist des Schlos­ses

Der Stern des Glücks

Der ver­lo­re­ne Sohn

Die Bä­ren von Ho­hen-Esp

Die Erl­kö­ni­gin

Früh­lings­stür­me

Gän­se­lie­sel

Ha­zard

Hofluft

Jung ge­freit

Katz’ und Maus

Frie­den

In­dex

Dan­ke

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Der Irrgeist des Schlosses

Widmung

Mei­ner lie­ben Freun­din Fräu­lein Na­ta­lie Kal­nass von Kal­nas­sy zur Erin­ne­rung an fröh­li­che, in ei­nem al­ten »Ge­s­pens­ter­schloss« ver­leb­te Stun­den

Die Ver­fas­se­rin

1.

Die Blü­te fiel, mir blieb der schar­fe Dorn, Noch im­mer aus der Wun­de quillt das Blut; Es sind das Weh, die Sehn­sucht und der Zorn Mein ein­zig Gut.

Gei­bel.

Es war im Juni. Blen­den­de Son­nenglut lag auf dem weit ge­dehn­ten Häu­ser­kom­plex der Ka­det­ten­an­stalt, flim­mernd, wie ein un­ab­seh­ba­res Strah­len­netz, wel­ches mit tau­send fei­nen Gold­ma­schen Him­mel und Erde um­spon­nen hält. Die jun­gen Gar­ten­an­la­gen stan­den matt und welk, ein­zel­ne Schmet­ter­lin­ge hin­gen an den Blu­men, und die Flie­gen blitz­ten wie über­mü­ti­ge Ge­dan­ken durch die Luft, eben­so bunt und schil­lernd wie der Son­nen­staub, in wel­chem sie sich tum­mel­ten. Hin­ter dem Haupt­ge­bäu­de dehn­te sich der Reit­platz aus, da war Schat­ten.

»Durch die Mit­te der Bahn chan­giert!« klang die Sum­me des un­ter­rich­ten­den Ka­val­le­rie­of­fi­ziers. Er ließ die Reit­peit­sche sin­ken, stemm­te die Arme in bei­de Sei­ten und ließ die er­hitz­ten Pfer­de an sich vor­über de­fi­lie­ren. Mit glü­hen­dem Ge­sicht führ­ten die jun­gen Rei­ter das Ma­nö­ver aus, mit fast pein­li­cher Ge­nau­ig­keit, und den­noch war kein ein­zi­ger bei der Sa­che. Zur Sei­te des Plat­zes näm­lich, dicht an der Bar­riè­re, stand ein klei­ner Kreis sehr ele­gan­ter Zuschau­er; die hohe, im­po­san­te Ge­stalt ei­nes Herrn mit dem Band des ei­ser­nen Kreu­zes im Knopf­loch, mit weißem Schnurr­bart und hel­len Hand­schu­hen, und ihm zur Sei­te die Frau Ma­jo­rin, sei­ne Ge­mah­lin, klein, kor­pu­lent, mit der Lor­gnet­te vor den Au­gen.

»Dag­mar!« wand­te sie sich plötz­lich mit stren­gem Blick zur Sei­te, »geh’ von dem Ge­län­der her­un­ter! Du bist nicht al­lein hier!«

Dag­mar war ein Back­fisch­chen, gra­zi­ös, ko­kett, von Kopf bis zu Fü­ßen rosa. Die klei­ne Nase mit ih­rem ke­cken, auf­wärts stre­ben­den Spitz­chen wand­te sich halb zur Sei­te. »Da un­ten sehe ich nichts, Tan­te!« rief sie mit leicht ge­fal­te­tem Münd­chen, »und Frie­da und Herr von San­gers ste­hen ja vor mir!« Und ohne nur die min­des­te No­tiz von dem miss­bil­li­gen­den Ge­sicht der Ma­jo­rin zu neh­men, rück­te sie sich noch über­mü­ti­ger auf ih­rem Sitz zu­recht und warf die wil­den Kraus­haa­re in den Na­cken zu­rück.

»Sa­gen Sie mir doch, Herr von San­gers, wer ist je­ner ent­setz­lich häss­li­che Mensch dort auf dem Schim­mel!« lach­te sie plötz­lich laut auf, ihre tief­dun­keln Au­gen zu dem jun­gen Küras­sier­of­fi­zier he­bend, wel­cher lä­chelnd mit dem Blick der Rich­tung folg­te, die ihm die klei­ne Hand un­ge­niert an­gab, »nein, das ist ja haar­sträu­bend! Wie eine Lei­che sieht er aus und hängt auf dem Pfer­de wie ein Ham­pel­mann! Ha­ha­ha! Fritz!« Und sie wand­te sich jäh zu ei­nem rot­wan­gi­gen, zehn­jäh­ri­gen Kna­ben zu­rück, wel­cher dicht hin­ter ihr stand: »Dass Du mir nie­mals solch einen Rit­ter von der trau­ri­gen Ge­stalt ab­gibst, sonst ver­leug­ne ich Dich bei Gott vor al­ler Welt!«

»Da kannst Du ru­hig sein, Dag­mar!« schüt­tel­te Fritz mit weg­wer­fen­dem Na­se­rümp­fen den Kopf, »ich glau­be, wir Bei­de rei­ten jetzt schon bes­ser wie all’ die Kerls da zu­sam­men!«

»Aber Kin­der, bit­te, me­na­giert Euch!« wand­te sich die Ma­jo­rin mit stra­fen­dem Bli­cke um, und auch Frie­da schüt­tel­te ganz ver­le­gen ihr acht­zehn­jäh­ri­ges Blond­köpf­chen und sag­te in ent­schul­di­gen­dem Flüs­ter­ton zu Herrn von San­gers: »Die bei­den Klei­nen sind gar zu wild, das kommt von dem ewi­gen Land­auf­ent­halt bei uns; ich bin recht ban­ge, wie Fritz sich hier ein­le­ben wird!«

Der schö­ne Of­fi­zier strich lä­chelnd sei­nen glän­zen­den Schnurr­bart. »Un­be­sorgt, mein gnä­di­ges Fräu­lein, las­sen Sie den klei­nen Vet­ter erst ein paar Mo­na­te bei uns sein, und Sie wer­den Ihre Freu­de er­le­ben, wel­che Wun­der das Ka­det­ten­korps be­wirkt. – Wie be­fah­len Sie, Fräu­lein Dag­mar?«

»Ich be­fahl, dass Sie mir nun end­lich sa­gen, wer je­nes jun­ge Scheu­sal auf dem Schim­mel ist!« klang es mit grau­sa­mer Be­to­nung von den fri­schen Lip­pen und Dag­mar zupf­te ko­kett an der dun­kel­ro­ten Rose, wel­che, weit­hin leuch­tend, in ih­rem Knopf­loch stak, »jetzt kommt er eben hier an­ge­rit­ten, der drit­te – hei­li­ger Lau­ren­ti­us, wenn er doch ein­mal her­un­ter­fie­le!« Und mit hel­lem Ge­läch­ter strich sie das schwe­re Haar aus der Stirn und häm­mer­te aus­ge­las­sen mit dem spit­zen Stie­fel­ha­cken ge­gen die höl­zer­ne Bar­riè­re.

»Bit­te, nicht so laut, Fräu­lein Dag­mar!« raun­te ihr San­gers mit leicht­ge­fal­te­ter Stirn zu, »Graf Ech­ters­loh ist un­ser zu­künf­ti­ger Molt­ke, klug, streb­sam, sehr brav und tüch­tig.«

»Aber häss­lich! Häss­lich über alle Be­grif­fe!« Laut und scharf klang die Stim­me Dag­mars über den Platz, ein spöt­ti­scher Aus­druck um­spiel­te ihre ro­ten Lip­pen, fest und groß haf­te­ten ihre Au­gen auf dem Ge­sicht des Ka­det­ten, ein fast her­aus­for­dernd trot­zig mo­quan­ter Blick, wel­cher je­doch den Zau­ber des pi­kan­ten Ge­sichts eher er­höh­te als ver­nich­te­te.

Wie von ei­nem Dolch ge­trof­fen schrak Graf Ech­ters­loh em­por, mo­men­tan ruh­te Auge in Auge, je­der Bluts­trop­fen wich aus sei­nen an und für sich schon sehr blei­chen, groß­ge­schnit­te­nen Zü­gen, starr wie das Ant­litz ei­nes To­ten schau­te er zu ihr her­über.

»In ab­ge­kürz­tem Tem­po Ga­lopp – Marsch!« klang das Kom­man­do des Of­fi­ziers dicht ne­ben ihm. Der Schim­mel zuckt auf, mit jä­her Be­we­gung setzt er sich in das ra­sche Tem­po sei­ner Vor­gän­ger, und Graf Ech­ters­loh, über­rascht, ver­wirrt, wie aus tie­fem Traum er­wa­chend, sucht schwan­kend die Balan­ce zu hal­ten – um­sonst, mit schnel­ler Wen­dung kün­digt der Schim­mel den Ge­hor­sam und sein Rei­ter fliegt vorn­über in schwe­rem Sturz aus dem Sat­tel.

»Nun ha­ben Sie ja Ihren Wil­len ge­habt, Fräu­lein Dag­mar«, flüs­ter­te San­gers zwi­schen den Zäh­nen, und ein fast fins­te­rer Blick streift die Klei­ne, wel­che mo­men­tan leicht er­blei­chend auf das her­ren­los da­hin­tra­ben­de Pferd starrt. »Das hät­te leicht recht schlimm ab­lau­fen kön­nen. Aber Gott sei Dank, un­ser bra­ver Se­lek­ta­ner scheint sich nicht er­heb­lich ver­letzt zu ha­ben! Sie schei­nen sehr viel Ge­wicht auf das Äu­ße­re zu le­gen, Fräu­lein von der Ropp, für Sie exis­tiert nur die Schön­heit?«

»Na­tür­lich!« Dag­mar warf ihr rei­zen­des Köpf­chen in den Na­cken: »Es gibt drei Din­ge auf der Welt, wel­che mir ver­hasst sind: Käl­te, Dun­kel­heit und häss­li­che Ge­sich­ter, und wenn Ihr Graf Ech­ters­loh auch ein wah­rer Aus­bund von Klug­heit und Geist wäre, er ist für mei­ne Be­grif­fe ein Mon­strum von Häss­lich­keit, und das ge­nügt, um ihn für mich aus dem Re­gis­ter der Exis­tie­ren­den zu strei­chen!«

»Du über­treibst, Dag­mar«, warf Frie­da mild ein, »es ist nur sei­ne auf­fal­lend blei­che Ge­sichts­far­be, wel­che ihn auf den ers­ten Blick un­schön er­schei­nen lässt, sei­ne ein­zel­nen Züge sind nicht häss­lich, im Ge­gen­teil, sie sind fast zu re­gel­mä­ßig aus­ge­prägt für das ha­ge­re Ge­sicht!«

»Ge­sicht! Wie kann man einen sol­chen To­ten­kopf nur Ge­sicht nen­nen!« zuck­te die Klei­ne ge­ring­schät­zend die Ach­seln, »wenn nicht sei­ne zwei großen Rä­d­erau­gen dar­in flamm­ten, wäre es eine Wachs­mas­ke, puh, und die­se Au­gen, ich fin­de sie schreck­lich, seht doch, wie er jetzt wie­der hier­her starrt, als ob er mich ver­schlin­gen woll­te!«

»Ist Graf Ech­ters­loh lei­dend?« frag­te Frie­da teil­neh­mend.

»Nein, mein gnä­di­ges Fräu­lein, aber zu über­trie­ben flei­ßig«, nick­te San­gers mit freund­li­chem Blick auf den Ge­nann­ten, »die jun­gen Leu­te prä­pa­rie­ren sich für das Of­fi­ziersex­amen, und ich hof­fe, dass die un­er­müd­li­chen Stu­di­en Ech­ters­lohs als­dann ihre glän­zen­den Früch­te tra­gen!« –

Ma­jor von der Ropp be­sich­tig­te mit viel In­ter­es­se die in­ne­re Ein­rich­tung der ge­wal­ti­gen. Ge­bäu­de; er schritt an der Sei­te des Kom­man­dan­ten, und es dreh­te sich die Un­ter­hal­tung der Her­ren haupt­säch­lich um den an­ge­mel­de­ten Ka­det­ten Fritz, wel­cher heu­te von sei­nem Vor­mund mit dem zu­künf­ti­gen Auf­ent­halt be­kannt ge­macht wur­de.

Dag­mar und Fritz von der Ropp wa­ren Ge­schwis­ter, früh ver­waist und bei dem On­kel Ma­jor auf ein­sa­mem Land­gut er­zo­gen, bei­de auf­ge­wach­sen in zü­gel­lo­ser Frei­heit, wel­che sich hart­nä­ckig ge­gen al­les sträub­te, was nur im min­des­ten ei­nem Zwan­ge ähn­lich sah.

»Nun sieh Dir mal an, Dag­mar, Ret­ti­ge, Brot und Bier gibts hier zum Abendes­sen!« raun­te Fritz ins Ohr der Schwes­ter, mit fast feind­se­li­gem Blick den ge­wal­ti­gen Saal über­flie­gend, in wel­chem, eng ge­deckt, Ta­fel an Ta­fel zu­sam­men­stand, »das ist ja scheuß­lich, das esse ich nicht, und wenn sie sich auf den Kopf stel­len!«

Dag­mar war neu­gie­rig an die lan­gen Ess­ti­sche ge­tre­ten. »Wer sitzt denn hier un­ten vor, Herr von San­gers?« rief sie über die Schul­ter.

»Ein Se­lek­ta­ner, um die jün­ge­ren zu über­wa­chen!« war die kur­ze Ant­wort.

»Von de­nen, die vor­hin rit­ten?«

»Ja!«

Ein jä­her Ge­dan­ke blitz­te durch das Köpf­chen der klei­nen Dame, eben­so über­mü­tig und keck wie all sei­ne tol­len Ge­schwis­ter. Un­be­merkt blieb sie ein paar Schrit­te zu­rück, lös­te schnell die Rose aus ih­rem Knopf­loch und leg­te sie heim­lich un­ter die ers­te bes­te Se­lek­ta­ner­ser­vi­et­te. »Der soll sich mal wun­dern, der die­ses Abendes­sen fin­det!« dach­te sie, »ich wet­te, er macht ein sen­ti­men­ta­les Ge­dicht dar­auf! Wenns nur nicht das Mon­strum ist, des­sen Ver­se wür­den ge­wiss eben­so häss­lich sein, wie sein Ge­sicht, pfui, wenn ich nur an den Men­schen den­ke!« Und Dag­mar dreh­te sich auf den Ha­cken um und zog das Näs­chen kraus; im nächs­ten Au­gen­blick gab es schon wie­der an­de­res zu se­hen und zu den­ken. Und als nach ei­ner hal­b­en Stun­de die Equi­pa­ge mit Ma­jors nach Ber­lin zu­rück­s­aus­te, da träum­te Dag­mar be­reits von dem Ver­gnü­gungs­re­gis­ter der nächs­ten Tage, und hat­te Rose und Ka­det­ten­korps längst ver­ges­sen.

Dro­ben an ei­nem Fens­ter des Korps­ge­bäu­des aber lehn­te ein blei­ches, schmerz­be­weg­tes Ant­litz und mur­mel­te mit zu­cken­den Lip­pen: »Häss­lich! Häss­lich über alle Be­grif­fe!« Und an den dun­keln Wim­pern zit­ter­te es feucht und roll­te lang­sam, fast un­be­wusst über die ein­ge­fal­le­ne Wan­ge. Eine rote Rose lag in sei­ner Hand und stets von neu­em kehr­te sein Blick zu ihr zu­rück, dann wars wie ein se­li­ges Auf­flam­men in dem erns­ten Ge­sicht und er nick­te lei­se und träu­mend vor sich hin, »und den­noch ist es ihre Rose, ich ken­ne sie ja aus Tau­sen­den her­aus! Wa­rum hat sie mir ge­ra­de die­se Blü­te auf den Tel­ler ge­legt? Aus Mit­leid! Es tut ihr leid, dass ich weiß, wie bit­ter häss­lich sie mich fin­det!« – Und der Mond­schein husch­te durch die Schei­be und küss­te die rote Blu­me in sei­ner Hand, da sah sie so mild und lieb­lich aus, und tat dem Auge nicht mehr so weh wie im hel­len Son­nen­brand auf dem Reit­platz drau­ßen.

»Wie kann ich Dich ewig so frisch und schön er­hal­ten, klei­ne Rose?!« flüs­ter­te der Jüng­ling, »dass Du nicht stirbst und ver­gehst wie Dei­ne Schwes­tern?« – –

»Bist Du schon fer­tig mit Dei­nen Ar­bei­ten, Ech­ters­loh?« frag­te je­mand hin­ter ihm.

Er schau­te wirr auf. »Ar­bei­ten? Ich ar­bei­te nicht!«

»Du woll­test ja Dei­ne Ma­the­ma­tik heu­te Abend noch vor­neh­men!« fuhr der An­de­re er­staunt fort. Wie geis­tes­ab­we­send starr­te ihn Ech­ters­loh an.

»Das hat ja Zeit! Ma­the­ma­tik? Was ist Ma­the­ma­tik? Zäh­le zu­sam­men wie viel Wun­der ein Ro­sen­kelch birgt, wie viel grau­sa­me Wor­te zwei rote Lip­pen sa­gen kön­nen, wie viel Elend schon ein häss­lich Ge­sicht in der Welt ge­stif­tet hat, dann hast Du die Ma­the­ma­tik, und wenn Du sie nicht hast, dann viel­leicht et­was An­de­res, den Wahn­sinn!« Und Ech­ters­loh lach­te gell auf, und schritt has­tig aus der Tür.

Mo­na­te ver­gin­gen.

»Ech­ters­loh ist ver­rückt ge­wor­den!« flüs­ter­ten sich die Ka­det­ten in die Ohren, wi­chen ihm scheu aus und nick­ten sich nur ver­ständ­nis­voll zu, wenn der jun­ge Mann, schwan­kend wie in tie­fem Traum, ein­sam ein­her­schritt, lei­se vor sich hin­lä­chelnd, oder die Stirn in schwe­re Fal­ten ge­legt, als grü­b­le er über Uner­gründ­li­ches. – Ech­ters­loh ar­bei­te­te nicht mehr, er sah sei­ne Bü­cher nicht mehr an, er lach­te ge­heim­nis­voll, wenn sei­ne Ka­me­ra­den frag­ten, was er oft so heim­lich an dem Fens­ter trei­be. »Ich fin­de mich sel­ber!« ant­wor­te­te er kurz.

Die Leh­rer schüt­tel­ten die Köp­fe und re­de­ten ihm ernst in das Ge­wis­sen: »Ar­bei­ten Sie, Ech­ters­loh, es sind nur noch we­ni­ge Wo­chen bis zu dem Ex­amen!« Aber der Graf hör­te nicht. San­gers nahm ihn bei Sei­te und be­schwor ihn, Auf­schluss über sein selt­sam ver­än­der­tes We­sen zu ge­ben. Er mein­te es gut mit ihm, er hat­te ihn auf­rich­tig lieb. Der jun­ge Mensch ward rot und ver­le­gen, re­de­te wir­res Zeug, und stot­ter­te mit angst­vol­lem Blick: »Ich kann nicht Of­fi­zier wer­den, ich weiß es jetzt!«

»Soll­te ihm der Sturz von dem Pfer­de ge­scha­det ha­ben, ist es mög­lich, dass der Un­glück­li­che eine Ge­hirn­er­schüt­te­rung er­lit­ten hat?« frag­te man den Arzt. Die­ser un­ter­such­te den ver­meint­lich Kran­ken, be­ob­ach­te­te ihn scharf und ent­geg­ne­te kopf­schüt­telnd: »Er ist eben­so ge­sund wie frü­her, aber den­noch scheint er an der fi­xen Idee zu lei­den, kein Of­fi­zier wer­den zu wol­len!«

Das Ex­amen kam; Ech­ters­loh, der Stolz des gan­zen Korps – fiel durch. Er lä­chel­te und at­me­te auf: »Ich muss heim!« rief er mit aus­ge­brei­te­ten Ar­men. Wo­hin? Zu sei­ner Stief­mut­ter in die Re­si­denz? Nim­mer­mehr! »Nach Cas­ga­ma­la, in das lie­be Rui­nen­schloss! Da ist’s still und ru­hig, da gibt es wei­te wun­der­li­che Gär­ten voll blü­hen­der Ro­sen, zer­fal­le­ne Säu­len und mo­dern­de Pracht, da bin ich ganz al­lein, nur das Mond­licht huscht durch die bun­ten Schei­ben und leuch­tet mir, da will ich ar­bei­ten!«

2.

Und Ne­bel­bil­der stei­gen, wohl aus der Erd’ her­vor. Und tan­zen lust’­gen Rei­gen in wun­der­li­chem Chor, Und blaue Fun­ken bren­nen, an je­dem Blatt und Reis, Und rote Lich­ter ren­nen, in ir­rem, wir­rem Kreis.

Aus dem Lied: Aus al­ten Mär­chen winkt es.

»Zum Teu­fel, Laub­mann, man sieht nicht die Hand vor Au­gen in die­ser Dun­kel­heit! Das ist ja ein Ge­hol­pe­re und Ge­sto­ße, als füh­ren wir auf ei­ner Wüs­te von Fels­blö­cken, an­statt auf kö­nig­li­cher Chaus­see! Wo sind wir ei­gent­lich? Ich glau­be, Al­ter, über­all an­ders, nur nicht auf dem rich­ti­gen Wege!«

»Auf dem Wege sind wir schon, Ew. Gna­den, aber ’s geht hier halt ein bis­sel übers Ge­röll, eh’ wir in die Hai­de kom­men, und da ist’s halt schon bes­ser, ein bis­sel vor­sich­tig zu fah­ren, denn wenn man in solch’ stock­dunk­ler Nacht lus­tig drauf los kut­schiert, dann könnt’s halt ein bis­sel um­kip­pen, Ew. Gna­den!«

Ein lei­ser Fluch war die Ant­wort, dann herrsch­te aber­mals Stil­le.

Erde und Him­mel ver­schwam­men im schwar­zen Dun­kel, kein Stern, kein Mond­strahl be­leuch­te­te den Weg, nur die letz­te, halb er­lo­sche­ne La­ter­ne, wel­che Laub­mann an die Deich­sel­spit­ze des leich­ten Ca­brio­lets ge­bun­den hat­te, warf hie und da einen un­si­chern Flacker­schein über den tief aus­ge­wa­sche­nen Feld­weg, des­sen stein­be­sä­e­te Fur­chen das Ge­fährt wie auf Mee­res­wo­gen schwan­ken ließ. Zu bei­den Sei­ten dehn­te sich fla­che Ebe­ne aus, sehr sel­ten un­ter­bro­chen durch eine ver­wil­der­te Brom­beer­he­cke, wel­che, wie ein schwar­zer Klum­pen, mit aben­teu­er­lichs­ten For­men im Ne­bel­meer auf­tauch­te.

Im Wa­gen blitzt ein Streich­holz auf, eine wei­ße, ring­ge­schmück­te Hand hebt es em­por, um eine neue Ci­gar­re in Brand zu ste­cken.

Es ist ein schö­nes Männer­ge­sicht, wel­ches die rote Flam­me mo­men­tan be­leuch­tet. Ein schwar­zes Bärt­chen kräu­selt sich keck auf der Ober­lip­pe, zwei große stol­ze Au­gen leuch­ten un­ter re­gel­mä­ßig ge­wölb­ten Brau­en, Wan­gen und Kinn sind halb ver­deckt durch den em­por­ge­schla­ge­nen Kra­gen ei­nes Of­fi­zier­pa­le­tots.

»Jetzt sind wir halt auf der Hai­de, Herr Graf«, wand­te sich Laub­mann von sei­nem ho­hen Kut­scher­sitz zu­rück, »nun braucht’s noch ein bis­sel Ge­duld, und wir sind wie­der auf der Chaus­see, dann ist’s halt noch ein’ Pfeif Ta­bak lang und wir se­hen Cas­ga­ma­la vor uns!«

Der jun­ge Of­fi­zier strich ein zwei­tes Streich­holz an und sah nach der Uhr.

»Drei­vier­tel auf elf schon! Wir kom­men nicht vor Mit­ter­nacht an, Al­ter!« ant­wor­te­te er un­ge­dul­dig, »hol’ der Sa­tan Eure ver­damm­ten Step­pen hier, die kaum einen Fahr­weg, ge­schwei­ge eine Ei­sen­bahn auf­zu­wei­sen ha­ben!«

»Bscht! – wenn der Herr Graf so gnä­dig sein woll­ten und lie­ber nicht so laut hier flu­chen!« wand­te sich der Kut­scher mit scheu­em Flüs­ter­ton zu­rück, »wir sind halt auf der Hai­de jetzt, Ew. Gna­den, und da muss man ein bis­sel vor­sich­tig sein, möch­te auch Ew. Gna­den gar nicht ra­ten, sich hier so scharf um­zu­schau­en; man sieht oft mehr, als man halt wünscht und ei’m lieb ist!«

Graf Ech­ters­loh lach­te laut auf. »Ich glau­be bei Gott, al­ter Maul­wurf, Er will mich ein bis­sel grau­lich ma­chen!« rief er, über­mü­tig die Arme auf die Bar­riè­re des Kut­scher­bockes le­gend, »es spukt wohl hier, Laub­mann, he?« Der Alte nick­te ge­heim­nis­voll.

»Und was für ein ge­spens­ti­ges We­sen hat sein Reich auf die­ser Hai­de auf­ge­schla­gen, wenn man fra­gen darf? Wenn es eine idea­le Fee voll Zau­ber und Schön­heit ist, soll sie mir je­der­zeit auf mei­nem Bo­den will­kom­men sein, der Frau Ve­nus er­las­se ich so­gar Steu­er und Miet­zins!« Sein hel­les La­chen hall­te laut über die Hai­de und weck­te fern über dem Moor ein paar me­lan­cho­li­sche Un­ken­stim­men, der Wind pfiff durch das strup­pi­ge Gins­ter­kraut und ra­schel­te in den lan­gen Schleh­dorn­zwei­gen, wel­che am Stra­ßen­hang in dich­ten Bü­schen wu­cher­ten.

Laub­mann zog den Man­tel hoch über die Ohren und schau­te nicht rechts noch links.

»Was es für ein Spuk ist, der hier um­geht, weiß halt kein Mensch zu sa­gen, Herr Graf«, mur­mel­te er fast grim­mig in den Bart, »aber sie nen­nen ihn den Irr­geist von Cas­ga­ma­la!«

»Alle Wet­ter! Irr­geist von Cas­ga­ma­la! Wenn der Trä­ger dem Na­men ent­spricht, so ist es we­nigs­tens ein poe­ti­sches Un­ge­heu­er, das et­was auf wohl­lau­ten­de Vi­si­ten­kar­ten gießt! Hm – und in wel­cher Wei­se macht sich be­sag­tes We­sen ohne Fleisch und Blut be­merk­lich?«

Der Alte schau­der­te un­ter dem Klang der leicht­fer­ti­gen Män­ner­stim­me ne­ben ihm.

»Der Irr­geist von Cas­ga­ma­la ist halt nur ein Licht, Ew. Gna­den!« flüs­ter­te er.

»Ein Licht?!«

Laub­mann be­jah­te. »Eine grell­ro­te Feu­er­flam­me, wel­che ur­plötz­lich vor ei­nem auf­taucht und Au­gen und Sin­ne blen­det; das Vieh ist ta­ge­lang wie im Du­sel hin­ter­her, wenn’s sie ge­se­hen hat, und die Men­schen – ja, die zit­tern halt an al­len Glie­dern, weil es stets ein Un­glück gibt, wenn sich der Geist bli­cken lässt!«

»Hol ihn der Hen­ker! Na, und?« Er fragt, »Laub­mann, hier auf der Hai­de trei­be sich der fre­che Ge­sel­le her­um?«

Der Ge­frag­te neig­te sich dicht zu dem Ohr sei­nes jun­gen Herrn. »Nicht al­lein hier, Herr Graf, über­all spukt er her­um! Im Schlos­se sel­ber, im Park, auf der Hai­de hier, und vor­nehm­lich bei recht dun­keln stür­mi­schen Näch­ten in der Nähe der Mar­mor­brü­che. Dort links, wir wer­den gleich hin­kom­men! Es war ei­gent­lich lan­ge Jah­re Ruhe, man kann­te den Irr­geist von Cas­ga­ma­la halt nur wie eine Sage im Dorf, denn seit der alte Herr Graf ge­stor­ben wa­ren und de­ren Frau Mut­ter sich nie mehr um das Schloss be­küm­mert hat, von der Re­si­denz aus, da ist al­les zer­fal­len und ver­mo­dert bei uns, und wenn nicht der lah­me Chri­stoph, der Kas­tel­lan, den die Frau Ex­zel­lenz-Grä­fin ins Schloss ge­setzt hat, hie und da in den Spinn­stu­ben die Ge­schich­te von dem ge­spens­ti­gen Lich­te er­zähl­te, dann hät­te halt kei­ne See­le mehr an den Spuk ge­dacht, Ew. Gna­den! Wie aber ei­nes schö­nen Ta­ges dero gnä­digs­ter Herr Bru­der aus dem Ka­det­ten­korps zu­rück­kam und sich in den al­ten zer­fal­le­nen Turm im Park ein­lo­gier­te, und kein Mensch aus dem son­der­ba­ren We­sen des Herrn Gra­fen klug wur­de, da fing ur­plötz­lich auch wie­der der Spuk an, und seit den sie­ben Jah­ren ist wohl kaum eine Wo­che oder höchs­tens ein Mo­nat ver­gan­gen, dass nicht die rote Flam­me über­all um­her­ge­huscht wäre!«

»Mein Bru­der De­si­der wohnt also nicht im Schlos­se selbst?« frag­te Graf Ech­ters­loh nach­denk­lich.

»Nein, Ew. Gna­den; wie schon ge­sagt, er kam ei­nes schö­nen Ta­ges an, such­te sich den al­ten Le­brecht, sei­nes Va­ters ehe­ma­li­gen Kam­mer­die­ner im Dor­fe auf, ließ sich das Schloss auf­schlie­ßen und durch­wan­der­te schwei­gend alle Zim­mer, dann streif­te er mit dem Le­brecht kreuz und quer durch den Park, ließ sich den al­ten Turm oder Kiosk, wie man’s heißt, öff­nen und blieb wohl eine halb Stun­de lang dar­in. Dann wur­den ein paar Zim­mer­leu­te aus dem Dor­fe ge­holt, die ha­ben einen Tag lang dar­in um­her ru­mort und hier­auf ist kei­ne Men­schen­see­le wie­der in den Park ge­kom­men. Der Graf hat ein Git­ter mit­ten durch ihn hin­ge­zo­gen, das die An­la­gen samt dem Kiosk von dem mo­der­nen Schloss­gar­ten trennt und da­hin­ter hat er nun ge­haust, Tag für Tag mit dem al­ten Le­brecht zu­sam­men, ohne dass ein Men­schen­au­ge mal bei ihm hät­te hin­ein schau­en dür­fen.«

»Selt­sam! Mein Stief­bru­der ist eben ver­rückt! Er hat­te das Un­glück im Ca­det­ten­corps von dem Pfer­de zu stür­zen und sich das Ge­hirn zu er­schüt­tern –«

»Hal­ten zu Gna­den, Herr Graf, er re­det aber ganz ver­nünf­tig und bei Sin­nen. Hie und da ist er mal ein paar Ar­bei­tern auf dem Fel­de be­geg­net, und die konn­ten gar nicht ge­nug rüh­men, wie gut und freund­lich Graf De­si­der mit ih­nen ge­spro­chen hat, ein bis­sel selt­sam ist er wohl schon, das mag sein, aber –«

»Un­sinn! Mein Bru­der ist un­heil­bar geis­tes­krank!« un­ter­brach Graf Lo­thar fast barsch, »das bes­te Zeug­nis da­für ist wohl sein gan­zes Ge­ba­ren, wel­ches mit ge­sun­dem Men­schen­ver­stand nichts mehr ge­mein hat. Mei­ne Mut­ter hat mir bis jetzt nur sehr flüch­ti­ge Mit­tei­lun­gen über ihn ge­macht, da der lie­bens­wür­di­ge Sohn in den gan­zen drei Mo­na­ten ih­rer An­we­sen­heit kaum fünf Mi­nu­ten Zeit für sie ge­habt hat. Er ist ver­schol­len und ver­ges­sen in sei­ner Ein­sam­keit, und ich hal­te es dar­um für mei­ne Pf­licht, mich sel­ber von dem gan­zen Stand der Din­ge zu über­zeu­gen. De­si­ders Un­zu­rech­nungs­fä­hig­keit macht mich zum Ma­jo­rats­herrn und Haupt der Fa­mi­lie!« Es lag ein schar­fer Klang in der Stim­me des schö­nen Of­fi­ziers und die Wor­te: »Mein Bru­der ist un­heil­bar geis­tes­krank« tru­gen den Cha­rak­ter ei­nes Be­feh­les, da gab es kein Wi­der­spre­chen mehr. »Be­wohnt mei­ne Mut­ter das gan­ze Schloss?« fuhr er nach kur­z­er Pau­se fort, den Rest der glim­men­den Ci­gar­re mit nach­läs­si­ger Hand­be­we­gung über den Wa­gen­schlag auf den Weg schlen­dernd: »Sie schrieb mir, dass das gan­ze Ge­bäu­de be­deu­ten­der Re­pa­ra­tu­ren be­dür­fe!«

»Das be­darfs halt schon, Ew. Gna­den, der lin­ke Schloss­flü­gel ist na­he­zu am Zu­sam­men­fal­len und wenn ihm nicht bald ein bis­sel auf­ge­hol­fen wird, dann dau­erts nicht lan­ge mehr, und er schaut eben­so wa­cke­lig drein, wie die al­ten Ge­mäu­er, die noch rings im Par­ke stehn! Die Frau Grä­fin Mut­ter be­wohnt den gan­zen Neu­bau und auf Wunsch der Com­tes­se Do­lo­res sind auch die ver­sie­gel­ten Zim­mer ge­öff­net, wel­che zu der Ka­pel­le füh­ren!«

Graf Lo­thar lach­te lei­se und iro­nisch auf: »Na­tür­lich, die Ka­pel­le, die hat mei­ne from­me Schwes­ter zu­erst aus­ge­fegt! Es gibt doch recht vie­le Hei­li­gen­bil­der und Bet­sche­mel dar­in und grau­si­ge Fe­ge­feu­er, wel­che die gläu­bi­gen See­len nach Mög­lich­keit ängs­ti­gen?«

Der alte Mann ver­stand nicht den fri­vo­len Spott in der Fra­ge des Gra­fen, er nick­te eif­rig mit dem Kopf und schi­en froh zu sein, das Ge­spräch auf ein we­ni­ger ge­fähr­li­ches The­ma ge­lenkt zu se­hen.

»Das will ich mei­nen, Ew. Gna­den, wie ein wah­res Schmuck­käst­chen schaut die klei­ne Kir­che aus. Rings an den Wän­den ver­gol­de­te Bil­der, Mär­ty­rer und edle Her­ren und Frau­en aus dem Ge­schlecht der Gra­fen von Ech­ters­loh mit vie­ler­lei Wap­pen und Waf­fen dar­um her, und ho­hen Denk­stei­nen von Mar­mor, im­mer da, wo der Sarg in der Gruft dar­un­ter steht. Nur ein ein­zi­ges Schild ist um­ge­kehrt und mit ei­nem schwar­zen Vor­hang be­deckt, da soll kein Mensch hin­ter schau­en, Ew. Gna­den, weils der Grab­stein der schö­nen Grä­fin Cas­ga ist!« fuhr er mit ge­dämpf­tem Flüs­ter­ton fort, »der Chris­ti­an hats aber doch ein­mal ge­tan, na – und da sah er eben – der Herr wis­sen doch –!«

»Gar nichts weiß ich, Al­ter! – am Ende gar mei­ne schö­ne Ahn­frau sel­ber?«

Laub­mann hob die Hand an den Mund und blick­te sich scheu um. »Gott be­hü­te, Ew. Gna­den, aber eine hohe Feu­er­flam­me, wel­che auf den schwar­zen Grund ge­malt ist, und über de­ren Spit­ze eine rote Rose schwebt, das ist eben der Irr­geist von Cas­ga­ma­la, und dar­um sind auch die Ro­sen und die Flam­men zum Schick­sal der Gra­fen von Ech­ters­loh ge­wor­den!«

Graf Lo­thar lach­te schal­lend auf. »Der Irr­geist von Cas­ga­ma­la! Gut, dass Du mich wie­der an den in­ter­essan­ten Ge­sel­len er­in­nerst, Laub­mann! Du sag­test vor­hin, wir sei­en nicht mehr weit von den Mar­mor­brü­chen ent­fernt, he? wie lan­ge dau­ert es noch, bis wir hin­kom­men?«

»Still, Herr Lieu­ten­ant, bei al­lem, was Ih­nen lieb ist, hier dicht zur Sei­te sind sie schon, wir fah­ren halt eben dar­an vor­über.« Der Alte leg­te wie be­schwö­rend sei­ne zit­tern­de Hand auf den Arm des jun­gen Of­fi­ziers, »trei­ben Sie kei­nen Scherz da­mit, Graf Lo­thar, erst wenn man den Scha­den hat, wird man klug, sag­t’s Sprich­wort!«

»Ha­sen­fuß Er!« spot­te­te Graf Ech­ters­loh mit lau­ter Stim­me, »eine Schan­de ist’s, dass solch ein al­ter Kerl noch an blöd­sin­ni­ge Am­men­mär­chen glaubt, mein Bru­der scheint Ihn an­ge­steckt zu ha­ben mit sei­ner Ver­rückt­heit! Auf­ge­passt, Mon­sieur Grau­kopf! Ich will Ihm be­wei­sen, dass der Irr­geist von Cas­ga­ma­la nur in den Köp­fen dum­mer Bau­ern spukt!« Und sich hoch im Wa­gen em­por­stel­lend, rief Graf Lo­thar mit über­mü­ti­ger Stim­me durch Wind und Hai­de­land in die schwar­ze Nacht hin­aus: »Irr­geist von Cas­ga­ma­la, En­gel oder Teu­fel, Flam­me oder Rose, sü­ßes Weib oder gräu­li­cher Un­hold, her­an zu mir und nei­ge Dich vor Dei­nem zu­künf­ti­gen Meis­ter, dem Er­ben und Ma­jo­rats­herrn von Cas­ga­ma­la, Gra­fen Lo­thar von Ech­ters­loh!«

Schau­er­lich hall­te es durch die Dun­kel­heit, der Wind saus­te um den Wa­gen und die Grä­ser am Wege ra­schel­ten auf, Laub­mann aber saß bleich wie der Tod auf sei­nem Kut­scher­bock und um­klam­mer­te mit zit­tern­den Hän­den die Zü­gel.

»Schläfst Du, Irr­geist von Cas­ga­ma­la?!« don­ner­te die Stim­me Lo­thars aber­mals durch den Sturm, »her­an. Du fre­cher Ge­sel­le – – ha! – – was ist das?!«

Wie ein Blitz stamm­te es ur­plötz­lich durch die Dun­kel­heit, dicht vor dem Wa­gen glüh­te ein grel­les Licht auf, fla­ckernd in blu­ti­gem Rot, und die gan­ze Ge­gend in blen­den­de Hel­le tau­chend, als stün­de der fri­vo­le Geis­ter­be­schwö­rer auf lo­hen­dem Feu­erthron. Ei­nen Au­gen­blick – dann schlug die Fins­ter­nis wie­der über ihm zu­sam­men.

Mit wahn­wit­zi­gem Auf­schrei war Laub­mann auf die Erde her­ab ge­sprun­gen, um das Ge­sicht auf dem Erd­bo­den zu ber­gen, Lo­thar aber stand starr, mit weit auf­ge­ris­se­nen Au­gen im Wa­gen, stumm, un­fä­hig sich zu rüh­ren; doch nur eine Se­kun­de lang, dann stieg der Ap­fel­schim­mel mit schnau­ben­den Nüs­tern pfeil­grad in die Luft und ras­te wie von Fu­ri­en ge­peitscht über das wei­te Feld … Nach we­nig Mi­nu­ten biegt der Weg scharf in die Chaus­see ein. Lo­thar neigt sich schwan­kend vor und hascht nach den Zü­geln … um­sonst – der Mond bricht jäh durch die Wol­ken – dort – kaum zwan­zig Schrit­te noch, ra­gen die Mar­mor­brü­che und sen­ken sich mit schwar­zer Un­tie­fe hin­ab – schnur­ge­ra­de auf sie zu don­nert das Ge­fährt, Fun­ken sprü­hen un­ter den Hu­fen des da­hin­stür­men­den Tie­res.

Schwin­del er­fasst den jun­gen Of­fi­zier, er schwingt sich über den Wa­gen­rand und will her­nie­der sprin­gen, da kra­chen auch schon die Rä­der an auf­ge­türm­tem Fels­ge­röll, schnau­fend bricht der Schim­mel in die Kniee und schleu­dert das leich­te Ge­fährt schmet­ternd ge­gen die schar­fen Mar­mor­blö­cke. – –

3.

Und suchst Du Dei­nen Trau­ten so geh zum Wal­des­grund, wo zwi­schen Moos und Stei­nen die ro­ten Nel­ken wei­nen, da liegt er to­des­wund!

Al­tes Lied.

Grä­fin Ech­ters­loh schlug das Ro­man­buch zu und warf es klat­schend auf den Tisch, ein är­ger­li­cher Blick streif­te die Uhr, wel­che so­eben mit zwölf lang­zit­tern­den Schlä­gen Mit­ter­nacht ver­kün­de­te.

»Es ist un­be­greif­lich, wo sie blei­ben!« klang es in har­ten, we­nig sym­pa­thi­schen Tö­nen von den blas­sen Lip­pen, wel­che sich knapp und schmal über die au­ßer­ge­wöhn­lich star­ken Vor­der­zäh­ne leg­ten, so knapp, dass das grel­le Weiß be­stän­dig her­vor­leuch­te­te und dem Ge­sicht der al­ten Dame einen un­ge­wöhn­lich schar­fen Aus­druck ver­lieh. »Eben schlägt es zwölf und der Zug kommt be­reits um sechs Uhr in Bier­ach an; ich fin­de es un­be­greif­lich rück­sichts­los von Lo­thar, uns so lan­ge war­ten zu las­sen, um so mehr als er weiß, wie sehr ich mich auf sei­ne An­kunft freue!« Mo­men­tan herrsch­te Schwei­gen, dann fuhr die Grä­fin im ge­reiz­ten Tone fort: »Nun? hält es kei­ne von Euch der Mühe wert, mir zu ant­wor­ten? Wie die Stock­fi­sche sitzt Ihr stun­den­lang am Tisch und küm­mert Euch viel dar­um, ob sich Eure Mut­ter ängs­tigt oder nicht! O Du ewi­ges Schick­sal, warum strafst Du mich mit lau­ter teil­nahm­lo­sen Kin­dern, die für nichts Sinn und In­ter­es­se ha­ben als für ihr ei­ge­nes lie­bes Ich.« Und Ex­cel­lenz warf den ge­wal­ti­gen Fä­cher, wel­chen sie ner­vös auf- und zu­ge­klappt, mit ei­nem Aus­druck tiefs­ter Ver­ach­tung zu dem Ro­man­ban­de auf den Tisch.

Com­tes­se Do­lo­res hob lang­sam ihr blas­ses Ge­sicht: »Was sol­len wir denn ant­wor­ten, Mut­ter? Du fragst seit drei Stun­den un­un­ter­bro­chen das­sel­be«, klang es in fast dump­fem Tone, »vor­hin schlug es elf, jetzt Mit­ter­nacht, es wird viel­leicht auch noch ein Uhr wer­den, bis der Bru­der kommt. Ab­war­ten und ge­dul­dig sein, das ist nun ein­mal die Be­stim­mung des Chris­ten, ob hier oder dort«, und Do­lo­res hob lang­sam die ma­ge­re Hand zum Him­mel und füg­te sal­bungs­voll hin­zu: »Wer be­har­ret bis ans Ende, der wird se­lig!«

Ein fast feind­se­li­ger Blick aus den hel­len Au­gen der Grä­fin streif­te die Spre­che­rin: »Amen!« per­si­flier­te sie, mit hohn­vol­ler Kopf­nei­gung, die Hän­de über der Brust kreu­zend, »dan­ke ge­hor­samst für den er­bau­li­chen Vor­trag, Hoch­wür­den! Es ist doch wirk­lich et­was wert, wenn man from­me Töch­ter hat!« fuhr sie mit schnei­den­dem Auf­la­chen fort, »man kann dann we­nigs­tens er­le­ben, dass das Ei der Hen­ne geist­tö­ten­de Wie­der­ho­lun­gen in der Un­ter­hal­tung re­pri­man­diert! O Him­mel, warum bin ich un­glück­li­ches Weib dazu ver­dammt, mein bi­schen Le­ben in die­ser Ein­öde zwi­schen Tu­gend­spie­geln und Ver­rück­ten zu ver­küm­mern. Ge­bet­bü­cher und Al­tar­de­cken, das ist die Au­gen­wei­de, wel­che mir hier ge­bo­ten wird, jede Mi­nu­te ist ver­geu­det, wel­che ich in die­sem le­ben­di­gen Gra­be aus­hal­ten muss, und wie kurz ist solch ein Men­schen­le­ben ver­flat­tert!«

»Und wie ernst ist die Stun­de, in wel­cher wir über die­ses nich­ti­ge Da­sein ab­rech­nen müs­sen!« Com­tes­se Do­lo­res ließ die schwarz­sammt­ne De­cke sin­ken, auf de­ren Mit­te sie mit Gold­fa­den Kreuz und Po­kal stick­te und rich­te­te ihr grau­es Auge scharf auf die Mut­ter: »Ich däch­te, Du hat­test Dein Le­ben ge­nos­sen, Mama; mehr viel­leicht, als Du ver­ant­wor­ten kannst!«

Die Grä­fin schnell­te von ih­rem Sitz em­por und ball­te die wei­ße Hand auf der Ses­sel­leh­ne. »Das wagst Du mir, mir, Dei­ner Mut­ter, zu sa­gen??!« rang es sich fast zi­schend von den schma­len Lip­pen. »Un­er­hört! Ver­lass die­ses Zim­mer, elen­de Ko­mö­di­an­tin, komm mir nicht wie­der un­ter die Au­gen, oder – beim ewi­gen Him­mel, ich ver­ges­se mich und leh­re Dich mit die­sen Hän­den die De­mut, wel­che ein Kind den El­tern schul­det! Du er­dreis­test Dich, mich zur Re­chen­schaft zu zie­hen, Du –«

»Ge­nug der Wor­te, Mut­ter, er­ei­fe­re Dich nicht!« schnitt die mo­no­to­ne Stim­me der Com­tes­se einen wei­te­ren Aus­bruch der Hef­tig­keit ab. Hoch und schmal stand ihre ha­ge­re Ge­stalt im Lam­pen­schein, um­flos­sen von ein­tö­nig grau­en Wol­len­fal­ten, schlicht und schmuck­los wie das Ge­wand ei­ner Non­ne. »Du zürnst mir als Toch­ter, ich ver­ge­be Dir als Jün­ge­rin des Herrn! Du zeihst mich der Pf­licht­ver­ges­sen­heit und wei­sest mich in die Schran­ken kind­li­cher De­mut, ich aber ent­geg­ne Dir, dass jetzt nur die Chris­tin zur Chris­tin, die Magd Got­tes zu ih­rer Glau­bens­schwes­ter spricht! Ich durch­schaue Dich, Mut­ter, und sehe die brei­ten Wege der Hof­fahrt und Ei­tel­keit, wel­che Du wan­delst, ich habe den ei­teln Tand und Flit­ter mit eig­nen Au­gen ge­se­hen, wel­cher un­ser Ver­mö­gen un­ter­gra­ben hat! Ich lern­te den Glanz ver­ach­ten, hin­ter des­sen grin­sen­der Lar­ve die ewi­ge Nacht lau­ert. Wo wan­der­ten die Bank­no­ten und Gold­rol­len hin in der Re­si­denz? Auf den Markt ver­gäng­li­chen Plun­ders, auf den grü­nen Tisch des Las­ters, wel­chen tücki­sche Freun­de auf das Par­quet der ele­gan­ten Welt scho­ben! Wer hat dort ge­ses­sen und Un­sum­men in den Pfuhl der Höl­le ge­streut? Du! – wer hat Pa­ri­ser Sam­met und Sei­de kom­men las­sen? Du! Wer hat sich sel­ber die Sch­lin­ge um den Hals ge­wor­fen und auf den Pfad ge­steu­ert, wel­cher in die­ser Ein­sam­keit hier en­de­te? Du! – und dar­um er­tra­ge auch Dein Schick­sal mit Ge­duld und Er­ge­bung und dan­ke dem ewi­gen Him­mel, dass er Dich nicht schwe­rer heim­ge­sucht hat! Du nennst mich ver­rückt und schein­hei­lig? Was bleibt mir an­ders üb­rig als der Him­mel, wenn mir mei­ne ei­ge­ne Mut­ter die ehr­li­che Exis­tenz in der Welt un­ter­gra­ben hat! Du hast Dei­ne Kin­der um ihr Le­ben be­tro­gen! Und Dir dies frei und rück­halts­los in das Ge­sicht zu sa­gen, das ist die ein­zi­ge Ra­che, die ih­nen da­für ge­blie­ben ist!« Es lag eine grau­sa­me Ruhe in der Stim­me der jun­gen Dame und der er­bar­mungs­lo­se Blick der Au­gen wirk­te wie läh­mend auf die Sin­ne der Grä­fin.

Mit ner­vös zu­cken­den Glie­dern sank sie in die Ses­sel­pols­ter zu­rück. »Sie mor­det mich mit ih­rem Wahn­sinn!« klang es er­schöpft von ih­ren Lip­pen. »Und das ist der Dank für all’ mei­ne Lie­be und Auf­op­fe­rung. Was ich ge­tan habe, tat ich für mei­ne Kin­der, um Euch mit dem vol­len Glanz Eu­res Na­mens in die Welt ein­zu­füh­ren, gab ich al­les da­hin, was ich be­saß, viel warf ich in die Wag­scha­le des Le­bens, in der Hoff­nung, viel da­für zu ge­win­nen; um mei­ne Töch­ter glän­zend zu ver­sor­gen, mach­te ich mich selbst zur Bett­le­rin und das ist der Dank, das Mit­leid, wel­ches ich ern­te!«

»Nein Mut­ter, ich ken­ne kein Mit­leid mehr!« er­wi­der­te Do­lo­res kalt, »we­nigs­tens nicht für Feig­heit. Wa­rum ver­suchst Du es, Dei­ne Schuld jetzt auf uns zu wäl­zen in der sinn­lo­ses­ten Wei­se, über wel­che je­der­mann nur la­chen kann? Je­sabell und mich hast Du in die Welt ge­führt, nach­dem un­se­re Finan­zen be­reits rui­niert wa­ren. Ich habe zwei Jah­re ge­tanzt, mei­ne arme Schwes­ter nur einen ein­zi­gen kur­z­en Win­ter, in wel­chem be­reits die zahl­lo­sen Rech­nun­gen und Dei­ne ge­reiz­te Stim­mung ein je­des Ver­gnü­gen ver­gäll­ten; Je­sabell ist jetzt acht­zehn Jah­re alt, un­ser Ver­mö­gen aber ha­ben die ers­ten zehn Jah­re Dei­ner Witt­wen­schaft ver­schlun­gen, in wel­chen wir noch ver­ges­sen in dem Stift er­zo­gen wur­den und es nur aus Dei­nen flüch­ti­gen Brie­fen er­fuh­ren, wie himm­lisch es sei, zu le­ben und zu ge­nie­ßen.« Eine lei­den­schaft­li­che Bit­ter­keit klang durch die mo­no­to­ne Stim­me des jun­gen Mäd­chens, die Grä­fin aber press­te mit schnei­den­dem La­chen die Hän­de ge­gen die Ohren.

»Ge­nug, Do­lo­res, ge­nug; warum musst Du ar­mes Kind in ei­nem Zeit­al­ter le­ben, wel­ches den öf­fent­li­chen Pran­ger ab­ge­schafft hat und den Kin­dern nur noch die Zun­ge ge­las­sen hat, um die ei­ge­ne Mut­ter zu gei­ßeln, o Lo­thar – Lo­thar, mein Lieb­ling, warum kommst Du mir nicht zu Hil­fe!« und Grä­fin Ech­ters­loh warf ihr Ge­sicht auf die Pols­ter und brach in kon­vul­si­vi­sches Schluch­zen aus.

Re­gungs­los stand Do­lo­res und blick­te auf sie her­ab, ein küh­les Lä­cheln neig­te ihre Mund­win­kel, dann setz­te sie sich ge­las­sen wie­der nie­der und fuhr fort, die Gold­fä­den durch den schwe­ren Sam­met zu ziehn. Ihr ge­gen­über aber er­hob sich has­tig eine jun­ge Dame und trat an den Ses­sel der Grä­fin.

»Mama, lie­be Mama, wei­ne doch nicht!« bat eine wei­che Stim­me, und Je­sabell neigt ihr ro­si­ges Ge­sicht­chen zu der Wan­ge der al­ten Dame, »dass es doch auch ewig zu sol­chen Sze­nen zwi­schen Euch bei­den kom­men muss, kein Tag ver­geht mehr, ohne dass Ihr Euch ver­un­ei­nigt.«

»Du hast es ja sel­ber ge­hört, Kind, wie Do­lo­res mich ge­reizt hat!« fuhr Ex­cel­lenz em­por.

»Ich konn­te sie nicht un­ter­bre­chen, Mama, weil ich über der Wirt­schafts­ab­rech­nung saß und alle mei­ne Ge­dan­ken zu­sam­men­hal­ten muss­te! Du kennst ja die stren­gen An­sich­ten der Schwes­ter und darfst nicht al­les so pein­lich auf­fas­sen, Ihr ver­steht Euch nun ein­mal nicht.«

»Das weiß Gott!« seufz­te Grä­fin Ech­ters­loh mit feind­se­li­gem Blick auf die be­we­gungs­lo­sen Züge ih­rer Äl­tes­ten.

»Und nun seid wie­der gut zu­sam­men und schmollt nicht Tage lang. Was soll Lo­thar sa­gen, wenn er Euch in sol­cher Stim­mung an­trifft, es ver­lei­det ihm ja von vorn­her­ein sei­nen gan­zen Auf­ent­halt hier!«

Die Grä­fin zog ein Fla­con aus der Ta­sche und netz­te sich die Schlä­fen mit Eau der Co­lo­gne »Was hast Du eben ge­tan, Je­sabell?« frag­te sie ru­hi­ger, »Wirt­schafts­rech­nung durch­ge­sehn, hör­te ich recht?«

Das rei­zen­de Ge­sicht­chen der Com­tes­se er­glüh­te bis lief un­ter die schwar­zen Haar­lo­cken.

»Ja, Mama, ich habe die Füh­rung des Haus­hal­tes sel­ber über­nom­men, seit die Mam­sell fort ist«, sag­te sie leicht­hin, »es lässt sich man­ches viel spar­sa­mer ein­rich­ten und au­ßer­dem macht es mir auch viel Ver­gnü­gen.«

Die Grä­fin seufz­te auf. »Du sel­ber die Wirt­schaft füh­ren? Mon Dieu, es ist ent­setz­lich – eine Com­tes­se Ech­ters­loh!« rief sie, den Fä­cher has­tig vor dem Ge­sicht auf und nie­der be­we­gend. »So weit muss­te es also kom­men! Und die Mam­sell? Was fällt der Per­son denn ein, uns zu ver­las­sen?«

»Sie hat seit ei­nem Jah­re kei­nen Lohn be­kom­men, Mama!« flüs­ter­te das jun­ge Mäd­chen mit ge­neig­tem Haupt, »und da sich doch schließ­lich je­der selbst der Nächs­te ist, so hat sie uns ge­kün­digt!«

»Na­tür­lich, was kann man auch an­ders von sol­chem Ge­sin­del er­war­ten!« Die Lip­pen der Ex­cel­lenz kräu­sel­ten sich ver­ächt­lich. »Von An­häng­lich­keit ist da kei­ne Rede, und wie viel Güte hat die Per­son von mir ge­nos­sen! Wenn ich al­lein be­den­ke, all die kost­ba­ren Toi­let­ten, die ich ihr in der Re­si­denz schenk­te, hier auf dem Lan­de wür­de ich sie ru­hig wei­ter ge­tra­gen ha­ben, bei Hofe war es nicht mög­lich. Was wür­de ich jetzt dar­um ge­ben, wenn ich mei­nen Sam­me­t­rock mit der fran­zö­si­schen Sti­cke­rei noch hät­te, da­mals schenk­te ich ihn fort, weil mei­ne Jung­fer einen klei­nen Fle­cken mit Ben­zin ge­rei­nigt hat­te und der Ge­ruch mir so un­be­schreib­lich odi­ös war«, und die Grä­fin über­flog mit schnel­lem Blick ihre fa­den­schei­ni­ge Sei­den­ro­be, wel­che mit un­ech­ten Spit­zen gar­niert war. »Nun, Gott sei Dank, Kin­der­chen, in vier­zehn Ta­gen ge­hen wie­der neue Zin­sen ein, und wenn Lo­thar kommt und hof­fent­lich dem ver­rück­ten Men­schen im Kiosk drü­ben den Ma­jo­rats­herrn ab­ge­winnt, dann hat es vollends ein Ende mit all un­se­rer Not, dann gießt For­tu­na noch ein­mal ihr Füll­horn über uns aus.«

»Gott soll mich be­wah­ren, je­mals die­ses Sün­den­geld zu be­rüh­ren!« klang es fros­tig von Do­lo­res her­über.

Ein spöt­ti­scher Sei­ten­blick war die ein­zi­ge Ant­wort der Mut­ter, Ex­cel­lenz war plötz­lich gu­ter Lau­ne.

»Rei­che mir ein­mal den Kar­ton von der Kom­mo­de, lie­be Je­sabell!« rief sie mit schar­fer Be­to­nung dem jun­gen Mäd­chen nach, wel­ches an den Flü­gel trat und ihn öff­ne­te. »Lass jetzt Dein Spie­len, ich wün­sche nach­her mit Dir Pa­ti­ence zu le­gen. Ah, da ist ja die Sen­dung, Ger­son wird hof­fent­lich auch Dei­ne Zufrie­den­heit er­wer­ben!« und Grä­fin Ech­ters­loh schlug die Sei­den­pa­pie­re aus­ein­an­der und ent­fal­te­te zwei köst­li­che Wei­ße Spit­zens­hawls. »Herr­lich! ex­cel­lent!« rief sie mit leuch­ten­den Au­gen, die glän­zen­den Fal­ten über dem dunklen Tisch­tep­pich zu­sam­men­raf­fend, so­dass sich die wei­ßen Sei­dendess­ins noch mehr her­vor­ho­ben, »und den­ke Dir, Lieb, bei­de Fi­chus zu­sam­men nur ein­hun­dertzwan­zig Mark, das ist doch ein Spott­preis, man darf es wirk­lich gar nicht bei an­dern Men­schen sa­gen.«

»Ein­hun­dertzwan­zig Mark?« wie­der­hol­te Com­tes­se Do­lo­res wie mit Gra­bes­s­tim­me, »für ein paar Tüll­fet­zen, die hier auf dem Lan­de im Schrank ver­gil­ben wer­den? Das nen­ne ich ein Sün­den­geld, da­für hät­test Du lie­ber die drin­gends­te For­de­rung Dei­ner Mo­dis­tin be­frie­di­gen sol­len.«

»Das nächs­te Mal wer­de ich Dich um Rat fra­gen, mei­ne Toch­ter!« Die Lip­pen der Grä­fin schürz­ten sich noch hö­her über die Zäh­ne, »apro­pos, Je­sabell, die Sa­chen hier sind be­reits be­zahlt, ich habe das Geld so­fort mit der Be­stel­lung ein­ge­sandt.«

»Und wo hat­test Du das Geld her, Mama?« Do­lo­res rich­te­te die grau­en Au­gen durch­drin­gend auf das Ant­litz der Ge­frag­ten, »es wa­ren vor acht Ta­gen noch sie­ben Mark in un­se­rer Kas­se.«

»Hat­test Du ge­spart, Ma­ma­chen?« Je­sabell zwang sich zu ei­nem hei­te­ren Ton, um die bei­ßen­de Schär­fe der Schwes­ter zu mil­dern, »oder hast Du hier viel­leicht einen: ›Se­sam, Se­sam öff­ne Dich‹ ent­deckt, in wel­chem noch un­er­mes­se­ne Schät­ze ru­hen?«

Die Grä­fin lä­chel­te. »Nein, Klei­ne, das könn­te höchs­tens der Kiosk des Ma­jo­rats­herrn sein, in wel­chem al­ler­dings das Ver­mö­gen der Ech­ters­lohs schlum­mert; aber da­hin­ein dringt kein Sterb­li­cher, am we­nigs­ten Dei­ne Mut­ter! Wo­her ich das Geld habe, geht kei­ne na­se­wei­se Fra­ge­rin et­was an, we­nigs­tens ist es mir noch un­be­kannt, dass Fräu­lein Do­lo­res zu mei­nem Vor­mund ein­ge­setzt ist.«

Um die Lip­pen der jun­gen Dame zuck­te es, aber sie neig­te schwei­gend das blon­de Haupt und zog ru­hig die Na­del durch den Sam­met – vol­ler und leuch­ten­der trat das Kreuz dar­aus her­vor, und auf sei­nem Stamm be­gann Do­lo­res die Wor­te ein­zu­sti­cken: »Nehmt auf euch Sein Joch und ler­net von Ihm.«

»Gib die Kar­ten her­über, Je­sabell, wir wol­len eine Pa­ti­ence le­gen, ob Lo­thar bald kom­men wird«, rief Ex­cel­lenz über den Tisch, und press­te das Bat­tist­tuch ge­gen den ge­öff­ne­ten Mund; sie be­gann mit der Zeit müde zu wer­den.

Die Lam­pe brann­te mit ge­dämpf­tem Licht auf dem run­den Ti­sche von Eben­holz, einen un­si­chern Schein über das Turm­zim­mer wer­fend, wel­ches die Grä­fin zu ih­rem Bou­doir be­stimmt hat­te. – Hohe, mit schwe­rem Da­mast be­klei­de­te Wän­de tru­gen den kost­ba­ren Pla­fond, über wel­chen sich ein kunst­voll ge­ar­bei­te­tes, von der Zeit al­ler­dings in sei­nen Far­ben ge­dun­kel­tes Netz üp­pigs­ter Blu­men­ge­win­de zog, an al­len vier Ecken aus gol­de­nem Füll­horn strö­mend, wel­ches paus­bä­cki­ge En­gel lä­chelnd über die Lo­cken­köpf­chen em­por­hiel­ten.

Kor­re­spon­die­rend mit De­cke und Wand­be­klei­dung war das über­aus wert­vol­le Mo­bi­li­ar, des­sen ge­fäl­li­ge For­men den Ge­schmack der Re­naissance­zeit ver­rie­ten, dun­kel­grü­ne At­las­pols­ter, de­ren auf­stei­gen­de Leh­nen in ova­len Me­dail­lons zier­lichs­te Pas­tell­ma­le­rei zeig­ten. Fast plump und ge­schmack­los in die­ser Um­ge­bung nahm sich der mo­der­ne Flü­gel aus, wel­cher mit sei­nem po­lier­ten Drei­eck weit in das Zim­mer rag­te, fremd und ab­son­der­lich, wie ein Stück nüch­ter­ne Kul­tur, wel­ches ein Sturm­wind in einen Mär­chen­win­kel ver­schla­gen. – Es war aber der aus­drück­li­che Be­fehl der Grä­fin ge­we­sen, ihr ge­lieb­tes In­stru­ment in nächs­ter Nähe zu wis­sen, denn welch eine Zer­streu­ung war ihr noch in die­ser Ein­öde ge­blie­ben, als wie die weiß glän­zen­den Tas­ten, wel­chen sie al­ler­dings auch mit Meis­ter­schaft die vol­len Klän­ge ent­lock­te. Grä­fin Ech­ters­loh be­saß nur die­ses ein­zi­ge Ta­lent, aber sie hat­te es ge­wis­sen­haft aus­ge­bil­det, und wenn die lan­gen, ring­ge­schmück­ten und sehr knö­cher­nen Fin­ger über die Tas­ten glit­ten, wüh­lend in brau­sen­den Ak­kor­den, und wie­der­um lei­se, schmach­ten­de Me­lo­di­en dar­auf her­vor­lo­ckend, dann ver­stumm­te rings­um das Zi­scheln und Höh­nen, und die bos­haf­te Men­ge hat­te es ver­ges­sen, dass je­nes Weib vor dem Kla­vier die Grä­fin Ech­ters­loh sei, dass die Bril­lan­ten an ih­rem Hal­se falsch, der schlep­pen­de At­las um sie her noch nicht be­zahlt war …

Die Zei­ten aber wa­ren vor­bei, wo Frau Leon­ti­ne im Glanz von hun­dert Flam­men an den Flü­gel ge­führt wur­de, wo Sei­ne Kö­nig­li­che Ho­heit sel­ber ihr den Arm bot, und dann sich schwei­gend an das In­stru­ment lehn­te, um ein Ant­litz zu stu­die­ren, in wel­chem man kei­nen ein­zi­gen Zug schön nen­nen konn­te, und wel­ches den­noch der Ma­gnet ei­nes jeg­li­chen Fes­tes war, die Son­ne, um wel­che das Ster­nen­heer der Jeu­nes­se dorée kreis­te!

Grä­fin Leon­ti­ne woll­te schön sein, und dar­um war sie es auch. Was die Na­tur ver­sag­te, er­setz­te die Kunst, was nicht ver­steckt wer­den konn­te, bril­lier­te un­ter der Gla­sur ei­ner zau­be­ri­schen Lie­bens­wür­dig­keit, wel­che un­ter­stützt von Geist und Gra­zie das Wun­der voll­brach­te, die jun­ge Witt­we als ge­fei­erts­te Schön­heit der Re­si­denz gel­ten zu las­sen. – Man um­schwärm­te sie, such­te ihre witz­sprü­hen­de Un­ter­hal­tung, be­wun­der­te die oft raf­fi­nier­te Pracht ih­rer Toi­let­te, sag­te sich voll tiefs­ter Über­zeu­gung, dass die schö­ne Grä­fin recht ko­kett sei, und we­der ihre Au­gen, noch ihr Mund An­spruch auf Schön­heit ma­chen könn­ten, den­noch küss­te man ihr die klei­nen Hän­de und dach­te: »Alle Welt ver­ehrt sie, und die große Men­ge hat im­mer recht, al­lons don­c, schwim­men wir also mit dem Strom!« – Jah­re lang flat­ter­te die strah­len­de Er­schei­nung Leon­ti­nens über das Par­quet der Re­si­denz, sie lach­te, tanz­te und amü­sier­te sich, und wenn die Re­ve­nu­en nicht Schritt hal­ten woll­ten mit all’ den enor­men Aus­ga­ben, dann griff sie zum Ka­pi­tal, und als die­ses mehr und mehr zu­sam­men­schmolz, da ließ sie Rech­nun­gen schrei­ben. O se­li­ge Näch­te, wenn die Grä­fin von Spiel und Tanz zu­rück­kam, Sei­de und Crê­pe­wo­gen um sie her, Oran­gen­duft und Gold­staub, und wenn sie dann auf den Kla­vier­ses­sel nie­der­sank, das Haupt in süßem Traum zu­rück­ge­neigt, die dunkle Haa­re­spracht noch zu­sam­men­ge­hal­ten von ent­blät­tern­dem Kran­ze, und nun in die Tas­ten griff, um ein sü­ßes Bild der Erin­ne­rung in Tö­nen zu ma­len, zu­sam­men­ge­webt aus den Tri­um­phen der letz­ten Stun­den, aus Hass und Lie­be, Han­gen und Ban­gen, tau­send Rät­seln ei­nes lei­den­schaft­li­chen Wei­ber­her­zens! – – Ja, das war eine won­ni­ge Zeit, das wa­ren die Tage der Ro­sen! … und was ist von ih­nen üb­rig ge­blie­ben? … Dort in dem ein­sa­men Turm­zim­mer von Cas­ga­ma­la, ge­dul­det nur auf dem Grund und Bo­den des ge­hass­ten Stief­soh­nes, sitzt Grä­fin Leon­ti­ne und flucht ih­rem Schick­sal.

Ihr Schei­tel ist er­graut un­ter Ent­täu­schung und her­ein­bre­chen­der Rot, den­noch wiegt sich auf ihm ein ko­quet­ter Spit­zen­auf­schlag mit rosa Band­schleif­chen, und auf dem Toi­let­ten­tisch ver­steckt sich ein klei­nes Fla­con fast er­rö­tend hin­ter dem La­voir: »Haar­fär­be­mit­tel« steht voll echt deut­scher Un­ge­schlif­fen­heit dar­auf. – Ha­ger und ge­zerrt er­schei­nen die ein­zel­nen Züge ih­res Ge­sich­tes, wie ver­gilb­tes Per­ga­ment zieht sich die Haut dar­über, na­ment­lich seit letz­ter Zeit, wo Pu­der und Rou­ge all­zu großer Lu­xus für die­se Ein­öde und das ver­ständ­nis­lo­se Bau­ern­volk sind, und die Zäh­ne, wel­che man frü­her zwi­schen den pur­pur­nen Lip­pen be­wun­der­te und sie vor­wit­zi­ge klei­ne Per­len nann­te, die star­ren jetzt un­an­ge­nehm aus dem blas­sen Mund, eben­so un­schön wie der schar­fe Blick des Au­ges, in wel­chem sich die gan­ze Er­bit­te­rung ei­nes tief ent­täusch­ten Ge­mü­tes spie­gelt.

Den­noch wol­len die Lip­pen noch im­mer lä­cheln, und die ha­ge­ren Schul­tern dra­pie­ren sich gar zu gern mit duf­ti­gen Spit­zen, auch jetzt zit­tern Band­schlei­fen und Blon­den dar­um her, und an der ein­ge­sun­ke­nen Brust leuch­ten drei grell­far­bi­ge Nel­ken.

Grä­fin Ech­ters­loh ist Mut­ter von drei Kin­dern, Do­lo­res, Lo­thar und Je­sabell.

Lo­thar, ihr Stolz, ihr Lieb­ling! Er steht bei den Gar­de-Dra­go­nern in der Re­si­denz, schön wie ein Gott, flott und über­mü­tig wie ein ech­ter Sohn der Frau Leon­ti­ne: »Mein He­li­os!« nennt ihn die ent­zück­te Mut­ter. Mit ihm har­mo­niert sie voll­stän­dig, sei­ne Pas­sio­nen sind die ih­ren, sei­ne An­sich­ten sind das Echo der ei­ge­nen, in der Schön­heit des Soh­nes lebt das An­den­ken der Mut­ter noch ein­mal auf. – Wa­rum muss­te Lo­thar der zweit­ge­bor­ne Sohn sein? Wa­rum stellt das Schick­sal je­nen häss­li­chen ver­rück­ten Men­schen im Kiosk als wi­der­wär­ti­ges Hemm­nis auf sei­nen tri­um­phrei­chen Le­bens­weg, ihm durch die­se ver­schol­le­ne Exis­tenz das Ma­jo­rat ent­zie­hend, in des­sen Schoß der Se­gen des Reich­tums schlum­mert? – De­si­der hat ja ein be­deu­ten­des müt­ter­li­ches Ver­mö­gen, warum wird ge­ra­de er noch mit all’ die­sen Glücks­gü­tern über­schüt­tet, er, der wie ein To­ter zwi­schen Rui­nen und ein­sa­men Wäl­dern lebt? – – – Oh, nur Ge­duld mein Lo­thar, mein Lieb­ling, es ist noch nicht al­ler Tage Abend!

Do­lo­res wird ge­hasst von ih­rer Mut­ter; wie Feu­er und Was­ser ste­hen sich bei­de Frau­en ge­gen­über. Wie kommt Grä­fin Leon­ti­ne über­haupt zu ei­ner sol­chen Toch­ter? – Es ist un­fass­lich; starr und streng wan­delt die Com­tes­se ih­ren Weg. Ihr Auge ist grau und er­bar­mungs­los, ihre Lip­pen ken­nen kei­ne Scho­nung, wie ein stei­ner­nes Bild­nis sieht sie aus, auf des­sen jun­ge Stirn das Schick­sal ein un­heim­li­ches Mal ge­zeich­net: dicht ver­wach­se­ne Au­gen­bo­gen, hin­ter de­ren schar­fer Wöl­bung Hass und maß­lo­se Er­bit­te­rung woh­nen. – Do­lo­res ist fa­na­ti­sche Ka­tho­li­kin; stun­den­lang liegt sie in der Grab­ka­pel­le auf den Kni­en und mur­melt Ge­be­te, ein grau­es Wol­len­kleid, lang und schmuck­los wie ein Talar, fließt in wei­chen Fal­ten von ih­ren Hüf­ten, zur Sei­te schau­kelt sich der Ro­sen­kranz, und wei­che Soh­len ma­chen ih­ren Gang un­hör­bar, als schwe­be sie wie die Frau Sor­ge aus der Fa­bel, über den Weg ih­rer Mit­menschen. In schlich­ten Schei­teln legt sich das asch­blon­de Haar an ihre Schlä­fen, und ver­schlingt sich am Hin­ter­kopf zum spär­li­chen klei­nen Kno­ten, wel­chen Bru­der Lo­thar zum Amü­se­ment der Grä­fin, »das hei­li­ge Zwie­bel­chen« ge­tauft hat. – Lo­thars Wit­ze sind oft un­be­zahl­bar!

Com­tes­se Je­sabell, die jüngs­te der drei Ge­schwis­ter, war der Lieb­ling des so früh ge­schie­de­nen Va­ters. – Dun­kel­lo­cki­ges Haar um­rahmt ihr ro­si­ges Ge­sicht­chen, so frisch und lieb­lich wie eine jung er­schlos­se­ne Knos­pe, um wel­che die ers­ten Son­nen­strah­len zit­tern, zwei große reh­brau­ne Au­gen leuch­ten dar­in, um­rahmt von sei­den­wei­chen Wim­pern, wel­che ihre lan­gen Schat­ten auf den Sam­met der Wan­gen ma­len. – Seit kur­z­er Zeit je­doch liegt oft eine erns­te Wol­ke auf der kla­ren Stirn, das Münd­chen fal­tet sich seuf­zend und re­det so klug und über­legt, als hät­te es sein Le­ben­lang wie ein klei­nes Haus­müt­ter­chen über But­ter, Eier und Wirt­schafts­sor­gen ver­han­delt. – O hät­te nur die Frau Grä­fin Mut­ter zeit­wei­se hin­ab in das küh­le Milch­ge­wöl­be schau­en kön­nen, um es mit Ner­ven­schüt­teln an­zu­se­hen, wie ihre jüngs­te Toch­ter im hoch ge­schürz­ten Kat­tun­kleid­chen und Druck­schür­ze zwi­schen den spär­li­chen Vor­rä­ten han­tiert und die Trag­kör­be der bra­ven Mut­ter Laub­mann mit ge­schick­ten Händ­chen fül­lend, end­lich einen fle­hen­den Blick in das run­de Ge­sicht der Al­ten wirft, um ihr ge­heim­nis­voll zu­zu­flüs­tern: »Aber vor­sich­tig, Si­byl­le, dass ja kein Mensch merkt, dass ich et­was auf dem Mark­te ver­kau­fen las­se – gib es in Got­tes Na­men noch um einen Gro­schen bil­li­ger hin, wie das letz­te Mal, nur bring’ Geld heim, Si­byl­le, ich weiß ja sonst nicht wie ich aus­kom­men soll! …«

Und wel­cher Ju­bel, wenn Frau Si­byl­le dann zu­rück kommt aus der Stadt, schmun­zelnd ihr schma­les Le­der­beu­tel­chen in die Hand Je­sabells schüt­telt und, mit wohl­ge­fäl­li­gem Ni­cken be­rich­tet: »Hier, mei­ne lie­be gnä­di­ge Com­tes­se, heu­te sin­d’s noch fünf­zig Pfen­ni­ge mehr wie das letz­te Mal!«

Fünf­zig Pfen­ni­ge, wel­cher Reich­tum! Da­für be­zahl­te Je­sabell so­fort das letz­te Paar Tau­ben im Dorf, wel­ches Grä­fin-Mut­ter jüngst zum Früh­stück be­foh­len hat­te. – Jetzt sitzt sie ne­ben Frau Leon­ti­ne im Turm­bou­doir und mischt die Kar­ten.

»Es will ab­so­lut nicht auf­ge­hen, Mama!« sag­te sie end­lich auf­bli­ckend, »wir ha­ben alle Pa­ti­encen durch­pro­birt, weißt Du, was ich glau­be?« – die Grä­fin schau­te sie fra­gend an – »Lo­thar kommt heu­te über­haupt nicht und Laub­mann bleibt auf der Sta­ti­on bis zu dem Früh­zug! Es ist gleich ein Uhr; ich däch­te, Du gin­gest jetzt zur Ruhe, Mama, und be­grü­ßest den Bru­der lie­ber mor­gen mit fri­schen Kräf­ten! Do­lo­res und ich kön­nen ja noch ein Weil­chen hier blei­ben!«

Grä­fin-Mut­ter nick­te schläf­rig: »Du hast recht, pe­ti­te, es ist eine schreck­li­che Zu­mu­tung, die­ses: War­ten, und ich hof­fe, Lo­thar ist nicht so rück­sichts­los es zu ver­lan­gen! Ich wer­de denn in mein Schlaf-Zim­mer ge­hen – schel­le der Lore, dass sie mir be­hilf­lich ist!«

Je­sabell er­hob sich und schritt zu der Tür. Noch aber leg­ten sich ihre schlan­ken Fin­ger nicht auf die Klin­ke, als die schwe­ren Ei­chen­flü­gel auch schon has­tig auf­ge­sto­ßen wur­den, und Frau Si­byl­le Laub­mann lei­chen­blass auf der Schwel­le stand, hin­ter ihr er­schi­en Lore mit ge­run­ge­nen Hän­den.

»Ach, Frau Grä­fin, ach du all­mäch­ti­ger Gott!« – rang es sich müh­sam von den Lip­pen der kor­pu­len­ten klei­nen Frau – »ach die­ser Schre­cken, die­ses Un­glück! – o du hei­li­ger Cle­mens, ich glau­be, mich rührt noch nach­träg­lich der Schlag!« – Und jeg­li­chen Re­spekt hint­an­set­zend sank Si­byl­le auf den nächs­ten Stuhl, die Arme in die Hüf­ten ge­stützt, mit weit ge­öff­ne­ten Au­gen Luft schnap­pend.

Je­sabell wich er­schro­cken zu­rück. – »Was ist ge­sche­hen, Si­byl­le? Um al­les in der Welt, ist ein Un­glück pas­sirt?« – Und mit zwei Schrit­ten stand sie ne­ben der Kut­scher­frau, und um­klam­mer­te ih­ren Arm – »kom­m’ zu Dir Si­byl­le, ich be­schwö­re Dich« –

»Ach Frau Grä­fin … ach gnä­digs­te Com­tes­se …«

Do­lo­res hat­te sich lang­sam er­ho­ben, sie wand­te sich von der Mut­ter zu­rück, wel­che zit­ternd, re­gungs­los in ih­rem Ses­sel ver­harr­te – »Sie bringt eine Hiobs­post, Frau Laub­mann!« sag­te sie mit stei­ner­nen Zü­gen, »Ihr Mann und Lo­thar ha­ben ein Miss­ge­schick ge­habt – der Wa­gen ist zer­bro­chen?«

»Ach, wenn’s nur das wäre – Com­tes­se – ach der un­glück­li­che Herr Graf – so jung noch … und doch schon …« Und Si­byl­le schlug die brei­ten Hän­de vor das Ge­sicht und schluchz­te herz­zer­rei­ßend.

Wie elek­tri­sirt sprang die Grä­fin em­por. – »Mein Sohn, mein Lo­thar?« – schrie sie gel­lend auf – »er ist tot, Si­byl­le – sage – er ist tot!« – und sie wühl­te die Fin­ger in ihr tou­pier­tes Haupt­haar und lief wie eine Irr­sin­ni­ge im Zim­mer auf und nie­der.

»Tot! das wol­le Gott ver­hü­ten!« – Je­sabell fass­te be­schwö­rend die klei­ne Frau an bei­den Schul­tern – »Sprich, Si­byl­le, mar­te­re uns nicht län­ger!«

Do­lo­res reg­te sich nicht, nur ihre Äu­gen folg­ten mit fast iro­ni­schem Blick der Ex­cel­lenz, wel­che mit thea­tra­lisch ver­zwei­fel­tem Weh­kla­gen auf der Cau­seu­se zu­sam­men­ge­sun­ken war.

»Eben kommt mein Mann …« be­ginnt Si­byl­le mit sto­cken­der Stim­me – »ganz ur­plötz­lich … ich sit­ze ge­ra­de und fli­cke ihm noch sei­ne alte graue Ja­cke zu­recht … und den­ke ge­ra­de so in mei­nen dum­men Ge­dan­ken, na jetzt wird ja der Wa­gen bald kom­men … und du lie­ber Gott … wel­che Freu­de … wenn der jun­ge Herr Lieu­ten­ant erst im Haus ist … dann gibt es ein bi­schen Le­ben hier … und die Frau Ex­cel­lenz … wird dann so alle Kin­der um sich ha­ben … und … und …«

»Laub­mann kam al­lein?« frag­te Je­sabell mit blei­chen Lip­pen – »schnell doch, Si­byl­le … warum denn al­lein?«

»Und wie ich das also ge­ra­de eben den­ke, da pol­tert et­was auf dem Gang drau­ßen und tappt ge­gen die Türe wie ein Be­trun­ke­ner … und wie ich schon ganz er­schro­cken auf­schrei­en will … da steht auch schon mein Al­ter auf der Schwel­le … ach du mein Herr Je­sus, wie sah der aus! – Zer­fetzt und über und über mit Schmutz be­spritzt, und kei­ne Müt­ze mehr auf dem Kopf, und so weiß, als wäre kein Bluts­trop­fen mehr in dem gan­zen Ge­sicht drin … Und da schwankt er nur noch so auf sein Bett zu und stöhnt wie ein Ster­ben­der … ›Si­byl­le … lauf in’s Schloss … der jun­ge Graf‹ … –« Frau Laub­mann hielt aber­mals inne und schlug die stei­fe Kat­tun­schür­ze knis­ternd vor die über­strö­men­den Au­gen.

»Was ist mit ihm? – er ist tot!« gell­te es von den Lip­pen Leon­ti­nens.

»Ach Frau Grä­fin … der jun­ge Herr hat es ja nicht ge­wusst mit dem Irr­geist von Cas­ga­ma­la, und da hat er sei­nen Scherz ma­chen wol­len und hat sich im Wa­gen auf­ge­stellt und ihn ganz laut in die Nacht be­schwo­ren, dass er ihm er­schei­nen sol­le! Und kaum, dass er nur das Wort über die Lip­pen ge­bracht hat, da blitzt es auch schon vor ih­nen auf, so grell und schau­er­lich, dass man es gar nicht be­schrei­ben kann! – Mein Al­ter hat ge­ra­de noch so viel Zeit ge­habt aus dem Wa­gen zu sprin­gen, dann ist aber der Schim­mel auch schon wie toll und wild quer­feld­ein ge­rast, di­rekt auf die Stein­brü­che zu … ach du mein Herr Je­sus … wo mag der arme Lieu­ten­ant jetzt lie­gen!« … Und Lore und Frau Laub­mann er­ho­ben a tem­po ein solch kläg­li­ches Schluch­zen, dass selbst der Angst­schrei der Grä­fin da­von über­tönt wur­de.

»Er hat den Irr­geist be­schwo­ren?« frag­te Do­lo­res kalt. »Dann hat er sei­nen ge­rech­ten Lohn emp­fan­gen, der leicht­sin­ni­ge Pa­tron!« – Und sie fass­te ge­las­sen ihre Sti­cke­rei zu­sam­men und wand­te sich zur Tür.

»Fühl­lo­se Schlan­ge!« knirsch­te es zwi­schen Leon­ti­nens Zäh­nen.

Je­sabell ver­trat der Schwes­ter er­regt den Weg. »Wo willst Du hin, Do­lo­res? – Wir müs­sen hin­aus und den Bru­der su­chen!« – rief sie mit trä­nen­ge­füll­ten Au­gen – »wer weiß, wo der Un­glück­li­che mit zer­bro­che­nen Glie­dern liegt!«

»Da, wo ihn die Ver­gel­tung hin­ge­schleu­dert hat!« klang es voll grau­sa­mer Här­te zu­rück, »geht hin und seht, ob ihr den Leib noch ret­ten könnt, ihr Klein­gläu­bi­gen; ich wer­de ver­su­chen, ob ich die See­le dem Him­mel­reich er­hal­ten kann, ich wer­de für den ge­wis­sen­lo­sen Spöt­ter – be­ten!« – Und die Com­tes­se wand­te sich ab und ver­schwand laut­los durch die Tür.

»Es ist un­glaub­lich!« stöhn­te die Grä­fin mit ge­ball­ter Hand, Je­sabell aber rich­te­te sich re­so­lut in die Höhe.

»So wol­len wir ihn al­lein su­chen, Mama!« rief sie has­tig, »schnell, Lore, lauf hin­über zu dem Päch­ter und klopf ihn her­aus! Es soll so­fort ein Wa­gen an­ge­spannt wer­den, und wenn Herr Kir­sch­ner sel­ber mit­fah­ren woll­te, so wä­ren wir zu großem Dank ver­pflich­tet!«

Lore stürm­te mit dick­ver­wein­ten Au­gen da­von und Frau Laub­mann sprang eben­falls eif­rig von ih­rem Stuhl em­por.

»Ich habe es be­reits dem Chris­ti­an ge­sagt, Com­tes­se«, rief sie, das nie­der­ge­sun­ke­ne Kopf­tuch wie­der un­ter dem Kinn schlin­gend, »er hat schon Alarm ge­macht auf dem Hofe! Wenn nur mein Al­ter mit könn­te, aber Du lie­ber Hei­land, der liegt ja wie ein Stück Holz und regt sich nicht! Der Schreck ist ihm zu ge­wal­tig in die Kno­chen ge­fah­ren, und dann hat er fast ein und eine hal­be Stun­de die Kreuz und die Quer in der Dun­kel­heit her­um­ge­sucht, bis er den rech­ten Weg hier­her ge­fun­den hat!«

»Ich hole mir einen Shawl, Mama«, rief Je­sabell er­regt, »was darf ich Dir mit­brin­gen? Die Nacht ist kühl und stür­misch!«

Die Grä­fin schnell­te mo­men­tan aus ih­ren Pols­tern em­por. »Ich? Ich soll doch etwa jetzt in mei­nem ner­vö­sen Zu­stand nicht mit in die Nacht hin­aus? Jetzt, wo all’ mei­ne Glie­der wie im Fie­ber zit­tern? Du bist rück­sichts­los ge­nug, es mir zu­zu­mu­ten, Je­sabell!« Und Frau Leon­ti­ne sank wie­der weh­kla­gend auf die Cau­seu­se zu­rück. »Gib mir mein Fla­con, es dreht sich mir al­les im Krei­se wie eine Ohn­macht! oh, Mon Dieu, es ist zu viel für mich un­glück­li­ches Weib! Je­sabell, wenn wir jetzt Lo­thar ver­lo­ren hät­ten, all’ mei­ne Plä­ne wä­ren ver­nich­tet, das Ma­jo­rat fällt an den Vet­ter – und wir – o mein Gott, es ist gar­nicht aus­zu­den­ken, ver­lo­ren, für ewi­ge Zei­ten der Ar­mut preis­ge­ge­ben!«

Die Com­tes­se wand­te sich fast un­ge­stüm zu­rück. »Wie ist es nur mög­lich, Mama, dass Du jetzt an uns den­ken kannst, wo der un­glück­li­che Bru­der viel­leicht mit dem Tode ringt!« rief sie au­ßer sich, »wenn Du mich nicht be­glei­ten willst, gehe ich al­lein! Sei ein­mal et­was re­so­lut, Mama, bei­ße die Zäh­ne zu­sam­men, hier ist Dein Fla­con, su­che al­lein fer­tig zu wer­den, un­se­re Hil­fe ge­hört Lo­thar!«

»Ja, hilf ihm, pe­ti­te, hilf ihm!« hauch­te Ex­cel­lenz matt, »ich kann nicht mit, der An­blick ei­nes Ver­wun­de­ten ist mir un­er­träg­lich, ich habe noch nie einen To­ten ge­se­hen. Aber ich bit­te Dich, Je­sabell, wenn er wirk­lich schon eine Lei­che ist, lass ihn in das Pacht­er­haus schaf­fen, nicht hier­her in das Schloss, sonst habe ich kei­ne ru­hi­ge Mi­nu­te mehr!«

Die jun­ge Com­tes­se press­te die Lip­pen zu­sam­men, Si­byl­le aber rich­te­te ihre ro­bus­te Fi­gur stramm em­por und maß die Grä­fin mit fast feind­se­li­gem Blick. »Wenn die Ex­cel­lenz Grä­fin Sie nicht be­glei­ten will, lie­bes Fräu­lein Bel­la­chen, dann müs­sen Sie schon er­lau­ben, dass ich mit Ih­nen gehe, denn so mut­ter­see­len­al­lein kann doch eine jun­ge Dame mit dem Manns­volk vom Pacht­hof nicht in den Ne­bel hin­aus! Ho­len Sie sich schnell ein Tuch her­bei, ich ste­cke in­deß noch eine La­ter­ne an und dann wol­len wir in Got­tes Na­men se­hen, wo wir den jun­gen Herrn fin­den wer­den!« – Sie schob das jun­ge Mäd­chen am Arme mit sich durch die Tür und drück­te ihr has­tig die klei­ne Hand. »Um Sie soll­te es mir leid sein, wenn er in den Mar­mor­brü­chen läg’, Com­tes­se, die bei­den an­dern aber« – und sie wies grim­mig mit dem Dau­men nach dem Zim­mer zu­rück, »die ver­dien­ten’s, dass Graf Lo­thar ins Pacht­haus ge­tra­gen wür­de!«

4.

Im tie­fen Wal­des­dun­kel Da steht ein al­tes Schloss: Ein Bild ver­gan­ge­ner Zei­ten, War präch­tig einst und groß Doch heu­te ist’s zer­fal­len. Und Ra­ben hau­sen drin, Die schö­nen al­ten Hal­len Sind wie die Zeit da­hin!

Ber­nard

Nun lässt der Him­mel sei­ne Pur­pur­glu­ten In vol­len Strö­men um die Trüm­mer flu­ten Und von den Zin­nen seh ich Epheu­ran­ken, Ver­gäng­lich­keit, Dein grü­nes Wap­pen schwan­ken.

Gei­bel.

Die Mit­tags­son­ne strahl­te über Cas­ga­ma­la. Wie ein frem­des, wun­der­li­ches Fel­sen­nest hing das grü­ne Ge­mäu­er auf dem pla­teau­ar­ti­gen Vor­sprung des Berg­kam­mes, wel­cher jäh zu dem Flach­land ab­fal­lend, sei­ne pit­to­res­ken Gra­nit­for­men scharf ge­gen die blau ver­schwim­men­de Him­mels­luft ab­zeich­ne­te. Weit vor ihm dehn­te sich die Ebe­ne aus, öd’ und ein­sam, wech­selnd zwi­schen rot­schim­mern­der Hai­de und end­los ge­dehn­ten Wal­dun­gen, de­ren dunkle Fär­bung der gan­zen Ge­gend einen düs­te­ren, fast me­lan­cho­li­schen Cha­rak­ter ver­lieh. Plötz­lich aber von dem Ge­birgs­zug be­grenzt, des­sen ge­wal­ti­ge Fels­mas­sen wild und klüf­tig em­por­rag­ten, ein schwin­deln­der Horst dem Gei­er, eine raue Wie­ge dem to­ben­den Berg­was­ser, wel­ches brau­send aus en­ger Kluft her­vor­schießt. Hoch über­ragt von za­cki­gen Fir­nen liegt Cas­ga­ma­la, ein Rät­sel dem Wan­de­rer, eine ver­weh­te Blü­te spa­ni­scher Herr­lich­keit, wel­che fern an deut­scher Berg­wand Wur­zel ge­schla­gen.

Rings um­her at­met deut­sches Le­ben, weht deut­sche Luft und strahlt der deut­sche Him­mel, Cas­ga­ma­la aber steht fremd und un­ver­stan­den in­mit­ten und war­tet gleich dem ver­zau­ber­ten Dorn­rös­chen auf den hei­ßen Lie­bes­kuss sei­nes Er­ret­ters, um noch ein­mal in lang ver­sun­ke­ner Mär­chen­pracht auf­le­ben zu kön­nen. Es ist sehr sel­ten, dass ein Frem­der durch die­se Ge­gend streift, es müss­te denn ge­ra­d’ ei­ner von den tau­send wun­der­li­chen Ge­lehr­ten sein, wel­cher hin­auf in die Fel­sen klet­tert und al­ler­lei Kraut und Pflänz­lein zwi­schen dem Ge­röll her­vor­sticht; wenn er aber ta­ge­lang über die Hai­de, durch ein­tö­ni­gen Wald und fla­che Fel­der ge­fah­ren ist und nun end­lich die ma­je­stä­ti­schen Rie­sen­häup­ter vor sich zum Him­mel ra­gen sieht, dann rich­tet er sein Glas plötz­lich ganz er­staunt auf einen weiß schim­mern­den Punkt, und je nä­her er kommt, de­sto grö­ßer wird sein In­ter­es­se, bis es sich end­lich in Wor­ten kund gibt.

»Ist das ein Schloss oder eine Rui­ne da oben?« fragt er den Kut­scher, und der nimmt für einen Au­gen­blick die Pfei­fe aus dem Mun­de und ent­geg­net in sei­ner la­ko­ni­schen Wei­se: »Das ist halt Cas­ga­ma­la, Ew. Gna­den!«

»Cas­ga­ma­la? Welch son­der­ba­rer Name, wie kommt der ur­plötz­lich in die­se deut­sche Ein­öde?« Und der Wiß­be­gie­ri­ge nimmt sein Rei­se­buch zur Hand und schlägt auf: »Cas­ga­ma­la, al­tes Schloss auf der öst­li­chen Sei­te des †††Ge­bir­ges (zum Teil Rui­ne); 600 Fuß über dem Mee­res­s­pie­gel, ver­mut­lich aus dem drei­zehn­ten Jahr­hun­dert, mit teil­wei­se re­stau­rier­tem Neu­bau ver­schie­de­ner Jahr­hun­der­te, Über­res­ten ori­en­ta­li­scher Bau­ten und Park­an­la­gen, wor­un­ter be­mer­kens­wert ein Obe­lisk mit spa­ni­scher In­schrift, so­wie eine noch wohl­er­hal­te­ne Ekle­sia ver­schie­den­ar­tigs­ter Skulp­tur und De­cken­ma­le­rei. Das Schloss ist im Be­sitz des Gra­fen von Ech­ters­loh, un­be­wohnt.« Das war al­les, was in dem al­ten Schrift­chen zu fin­den war. Ent­we­der fuhr der Rei­sen­de un­be­küm­mert wei­ter, oder er mach­te den klei­nen Um­weg über Cas­ga­ma­la, ließ sich von dem lah­men Kas­tel­lan trepp­auf und trepp­ab füh­ren, hör­te kopf­schüt­telnd das »Mär­chen von der schö­nen Grä­fin, dem Irr­geist des Schlos­ses«, wan­del­te stau­nend durch die wun­der­li­che Gar­ten­wild­nis voll ran­ken­der Ro­sen, ge­stürz­ter Säu­len und wu­chern­den Un­krauts und at­me­te auf, wenn sich end­lich wie­der das ros­ti­ge Ei­sen­git­ter hin­ter ihm schloss.

Um­zit­tert von der Son­ne Liegt morsch der Kirch’ Ge­stein, Ge­öff­net sind die Grüf­te, Zer­streut liegt das Ge­bein. Einst durf­test stolz Du prun­ken, Bild der Ver­gan­gen­heit, Ver­fal­len und ver­sun­ken – Das ist der Fluch der Zeit! –