Nationalsozialismus in Vorarlberg - Meinrad Pichler - E-Book

Nationalsozialismus in Vorarlberg E-Book

Meinrad Pichler

4,8

Beschreibung

Die Geschichte der nationalsozialistischen Herrschaft in Vorarlberg neu, ansprechend und zusammenfassend erzählt - speziell für junge Leserinnen und Leser, aber auch für interessierte Erwachsene. 43 biografische Skizzen von Menschen, die die NS-Zeit als Täter, Opfer oder GegnerInnen erlebt haben, ermöglichen einen zusätzlichen Zugang zu einer heute nur noch teilweise verständlichen, aber nachwirkenden Epoche. 310 zum Teil bisher unveröffentlichte Bilder vertiefen die Anschaulichkeit der Ausführungen.

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Meinrad Pichler

Nationalsozialismusin Vorarlberg

Opfer . Täter . Gegner

Nationalsozialismus in denösterreichischen Bundesländern

herausgegeben von Horst Schreiberim Auftrag von _erinnern.at_www.erinnern.at

Band 3

Meinrad Pichler

Nationalsozialismusin Vorarlberg

Opfer . Täter . Gegner

© 2012 by Studienverlag Ges.m.b.H.

Erlerstraße 10, 6020 Innsbruck

E-Mail: [email protected]

Internet: www.studienverlag.at

Gedruckt mit Unterstützung durch das Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur/Abteilung Politische Bildung, das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung in Wien, den Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus, den Zukunftsfonds der Republik Österreich, das Amt der Vorarlberger Landesregierung/Abteilung Wissenschaft und Weiterbildung, die Grüne Bildungswerkstatt Vorarlberg, die Stadt Bregenz, die Stadt Bludenz, die Stadt Dornbirn und die Stadt Feldkirch sowie das Renner-Institut.

Fachlektorat: Kurt Greussing

Umschlag, Layout, Satz: Willi Winkler, neusehland.at

Umschlagbild: Appell der NSDAP auf dem Bregenzer Kornmarktplatz 1938, Stadtarchiv Bregenz

Registererstellung durch den Autor

ISBN 978-3-7065-5719-1

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses Buch erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.studienverlag.at.

Inhalt

Editorial

Werner Dreier, Horst Schreiber: Vorwort

Meinrad Pichler: Einleitung

Nationalsozialismus in Vorarlberg

Zeitlicher Ablauf

Der Nationalsozialismus

Was versteht man unter Faschismus?

Wie stehen die Austrofaschisten zum Nationalsozialismus?

Was kennzeichnet das Weltbild des Nationalsozialismus?

Die Vorgeschichte der NS-Herrschaft in Österreich

Wie sieht die Parteienlandschaft in der Ersten Republik aus?

Wer errichtet die erste Diktatur?

Welche Rolle spielt die österreichische NSDAP?

Wie kommt es zum Ende Österreichs?

Die nationalsozialistische Machtübernahme

Was geschieht am 11./12. März 1938?

Wie vollzieht sich der Machtwechsel in Vorarlberg?

Wie verfahren die neuen „Herren“ mit den Politikern und Funktionären des „Ständestaats“?

Was geschieht an den Grenzen?

Wie wird die Verwaltung umgebaut?

Wie verläuft die Volksabstimmung vom 10. April 1938?

Wie kommt es zum „Ende Vorarlbergs“?

Hans Wilhelm Hammerbacher: Ein gläubiger Nationalsozialist

Alfons Mäser: Der Parteisoldat

Georg Schelling: Der unbeugsame Redakteur

Der nationalsozialistische Polizeistaat

Welche Rolle spielt die Justiz?

Was ist und tut die Geheime Staatspolizei?

Welche Rolle spielt die Gendarmerie?

Woher kommen die Informationen und Anzeigen?

Hugo Lunardon: Ein aufrechter Staatsdiener

Joseph Schreieder: Eine nationalsozialistische Polizeikarriere

Die Kirche in der nationalsozialistischen Diktatur

Wie reagiert die katholische Kirche auf den NS-Staat?

Welche Maßnahmen ergreifen die Nationalsozialisten gegen Kirche und Klerus?

Welche KatholikInnen leisten Widerstand?

Alois Knecht: Ein kämpferischer Prediger für den Frieden

Von der Aufbruchstimmung in den Kriegsalltag

Welche Versprechen werden eingelöst?

Wie gestaltet sich die Situation der Bauern?

Wie wird die Arbeitslosigkeit beseitigt?

Wie werden die Arbeitsverhältnisse und der Betriebsalltag geregelt?

Wie steht es um die angekündigte Wohnraumbeschaffung?

Warum werden Südtiroler Familien umgesiedelt?

Eugen Elsensohn: Vom nationalsozialistischen Hoffnungsträger zum Problemfall

Aloisia Huber und Paul Holzner: Zwei Optantenkinder

Jugend und Schule

Was wird LehrerInnen und Jugendlichen versprochen?

Wie wird das Schulwesen umgestaltet?

Wie wird die Jugend begeistert?

Was geschieht mit den bisherigen Jugendorganisationen?

Wie wird der staatliche Zugriff auf die Jugend durchgesetzt?

Gibt es bei den Jugendlichen auch Protest und Verweigerung?

Wie wird die Jugend in den „totalen Krieg“ einbezogen?

Herbert Albrecht: Ins Kriegselend für „Großdeutschland“

Albert Bohle: Von der Schulbank in die Wehrmacht

Albert Lingenhöle: Die österreichische Stimme

Karl Leichtfried: Gescheiterte Anpassung

Von der Judenfeindschaft zum Holocaust

Woher kommt die Judenfeindschaft?

Bringt die rechtliche Gleichstellung ein Ende der Diskriminierung?

Was versteht man unter Rassenwahn?

Was sind die „Nürnberger Gesetze“?

Wie wird der Massenmord organisiert?

Was geschieht mit den jüdischen MitbürgerInnen in Vorarlberg?

Bruno Amann: Der antisemitische Schreibtischtäter

Hans Elkan: Talent ohne Chancen

Harry Weil: Unharmonische Heimatklänge

Herta Greif: Die lange Flucht

Roma und Sinti im NS-Staat

Weshalb diese traditionelle Ablehnung?

Wie gehen die Nationalsozialisten gegen die „ZigeunerInnen“ vor?

Anna Guttenberger: Erst verfolgt, dann vernichtet

NS-Euthanasie: Tötung von psychisch Kranken, Behinderten und Unangepassten

Was verstehen die Nationalsozialisten unter „Euthanasie“?

An welchen Personen werden Zwangssterilisierungen vorgenommen?

Was ist die „Aktion T4“?

Wie wird die Vernichtung „unwerten Lebens“ in Vorarlberg durchgeführt?

Was versteht man unter der „Wilden Euthanasie“?

Josef Vonbun: Vom Psychiater zum Tötungshelfer

Katharina Lampert: Arm und krank, für die Nazis „lebensunwert“

Erich Forster: Aus dem Armenhaus in die Tötungsanstalt

Franz Miller: Irre geworden an einer heillosen Welt

Franz Josef Gstrein: Ein Kritiker wird (mund)tot gemacht

Josef Vallaster: Der Handlanger beim Töten

Der Alltag während des Krieges

Wie vollzieht sich der Wandel zur Kriegswirtschaft?

Welche Rolle spielt die Vorarlberger Industrie innerhalb der Kriegswirtschaft?

Weshalb Verlagerungen?

Was ist und wie funktioniert die Mangelwirtschaft?

Wie nimmt die Bevölkerung das Kriegsgeschehen wahr?

Valentin Feurstein: Ein soldatischer Pflichterfüller

Hermann Rhomberg: Der Profiteur

Familie Streng: Opfer des „totalen Kriegs“

Delphina Burtscher: Terror im hintersten Tal

August Weiß: Ein Friedfertiger in Kriegszeiten

Hoffnung Schweiz: Die Grenze

Wie und durch wen wird die Grenze bewacht?

Wie verhält sich die Schweiz gegenüber den Flüchtlingen?

Was ist über Schicksale von Flüchtlingen bekannt?

Was geschieht an der Grenze bei Kriegsende?

Meinrad Juen: Der Schmuggler als Fluchthelfer

Hilar Huber: Die Fluchten eines Grenzgängers

Samson Schönhaus: Vom Glück im Unglück

Hilde Meisel (Monte-Olday): Ein Leben für eine bessere Welt

Zwangsarbeit

Wer sind die ZwangsarbeiterInnen?

Wer profitiert von dem Zwangssystem?

Wie werden die ZwangsarbeiterInnen behandelt?

Wie verhält sich die Bevölkerung?

Wehren sich die ZwangsarbeiterInnen und Kriegsgefangenen?

Nadeshda Iwanowna: Zwangsarbeiterin in Dornbirn

Nikolaus Telischko: Zwangsarbeit ohne Pensionsanspruch

Josef Anton King: Geist gegen den Ungeist

Widerstand und Widersetzlichkeit

Was ist und wer leistet Widerstand?

Gibt es auch Widerstandsgruppen?

Kommt es auch zu Widerstand in der Wehrmacht?

Wie sieht die Bilanz der Verfolgung für Vorarlberg aus?

Welche politische Bedeutung hat der Widerstand?

Karoline Redler: „Ihr braucht euch meiner nicht zu schämen“

Johann August Malin: Der Nothelfer im Widerstand

Ernst Volkmann: Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen

Anna Hölzlsauer: „Wenn ich zornig bin …“

Franziska Vobr: Heimliche Fluchthelferin und offene Kriegsgegnerin

Ende und Neustart

Wie gestaltet sich die Situation der Bevölkerung in den letzten Tagen der NS-Herrschaft?

Wie gehen der Rückzug und der Einmarsch vor sich?

Wie schaut der Neustart aus?

Wie wird die nationalsozialistische Herrschaft aufgearbeitet?

Max Riccabona: Leben am Abgrund

Josef Huber: Flucht als Karriereende

Elmar Grabherr: Vom Arier zum Alemannen

Anhang

Sach- und Personenlexikon

Anmerkungen

Ausgewählte Literatur

Bildnachweise

Der Autor

Editorial

Vorwort

„Die Tendenz, sich und die eigenen Verhältnisse zu verklären und zu belobigen, ist der Vorarlberger Geschichtsschreibung nicht neu. Dass bei besonders negativen Erscheinungen eigene Schuld gerne an fremde Verursacher abgeschoben wird, dafür ist die Darstellung der nationalsozialistischen Zeit ein äußerst prägnantes Beispiel.“

Meinrad Pichler schrieb diese Zeilen 1982 in seinem Beitrag zu dem von ihm herausgegebenen Sammelband „Nachträge zur neueren Vorarlberger Landesgeschichte“. Nachzutragen war damals nicht weniger als die landesgeschichtliche Aufarbeitung der NS-Zeit. Dass in den dreißig Jahren seither viele Studien zum Nationalsozialismus publiziert wurden, ist ein ganz wesentliches Verdienst der Johann-August-Malin-Gesellschaft, eines historischen Vereins, der 1982 gegründet wurde und an dessen Forschungen und Publikationen Meinrad Pichler einen zentralen Anteil hatte. Er verband in seinen Arbeiten allgemeine historische Entwicklungen mit Geschichten von Menschen und veranschaulichte, wie sich Geschichte in Menschenleben niederschlägt und – was wohl noch bedeutsamer ist – wie Menschen unter den jeweiligen geschichtlichen Umständen handeln und leben.

Meinrad Pichler schreibt in diesem Buch über sehr unterschiedliche Männer und Frauen. Manche von ihnen trugen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft mit, begingen Verbrechen und wurden zu Täterinnen und Tätern. Andere widersetzten sich und riskierten ihr Leben oder wurden in den Lagern und Gefängnissen ums Leben gebracht. Wieder andere wurden aus ihrem bisherigen Leben gerissen, eingesperrt, deportiert und umgebracht, weil sie aus rassistischen Gründen als nicht lebenswert galten oder weil die Nazis schon alleine ihre Existenz als Bedrohung empfanden.

Meinrad Pichler ist ein Autor, der sich nicht nur durch langjährige Forschungen und zahlreiche Publikationen für dieses Buch empfohlen hat, sondern der auch während vieler Jahre als Geschichtelehrer bleibendes Interesse bei Schülerinnen und Schüler zu wecken vermochte.

„Nationalsozialismus in Vorarlberg. Opfer. Täter. Gegner“ wendet sich an ein jugendliches Lesepublikum, unterstützt LehrerInnen in ihrer Unterrichtsgestaltung, ist in der außerschulischen Jugendarbeit einsetzbar und richtet sich an Erwachsene, die sich für die Geschichte ihrer unmittelbaren Heimat interessieren. Es vermittelt einen raschen Überblick über die wesentlichen Themen des Nationalsozialismus auf dem neuestem Stand der Forschung – und dies in einer gut verständlichen Sprache.

Die Sachtexte behandeln die Vorgeschichte des Nationalsozialismus und die Ursachen für seine Anziehungskraft, die Rolle der katholischen Kirche, die Situation der Kinder und Jugendlichen, die Auswirkungen des Krieges auf die Vorarlberger Bevölkerung, Terror und Polizeistaat, Zwangsarbeit und Widerstand sowie die besondere Lage Vorarlbergs an der Grenze zur Schweiz. Besonderes Augenmerk wird verfolgten Gruppen wie der jüdischen Bevölkerung, Roma und Sinti, psychisch Kranken, Behinderten und Unangepassten geschenkt. Auch der Umgang mit dem Nationalsozialismus nach 1945 kommt zur Sprache.

Die einzelnen Kapitel sind durch Fragestellungen gegliedert, um das Lesen und Verstehen einfacher zu machen. Sie sind in sich geschlossen, müssen daher nicht der Reihenfolge nach gelesen werden; die Leserinnen und Leser können also je nach Interesse und Notwendigkeit quer ins Buch einsteigen.

43 Kurzbiografien und 310 Fotos veranschaulichen, wie Menschen Politik gemacht haben und wie sich die Politik auf das Leben Einzelner ausgewirkt hat; wie und aus welchen Gründen sie gehandelt, gelitten oder auch Verbrechen begangen haben.

Am Ende des Buches finden die LeserInnen Erläuterungen zu Sachbegriffen und Informationen zu Personen, die im Buch vorkommen.

Nach der Befreiung 1945 wurden zwar viele prominente Nationalsozialisten und zahllose MitläuferInnen wieder in die Gesellschaft integriert – nicht jedoch ihre Opfer. Von den als Jüdinnen und Juden Verfolgten und Vertriebenen kamen nur wenige Überlebende nach Österreich zurück und nur einzelne Menschen nach Vorarlberg. An die Frauen, Männer und Kinder, die dem beschönigend „Euthanasie“ genannten Krankenmord zum Opfer fielen, vermochten sich die Familien kaum zu erinnern, noch schwerer tat sich bis vor wenigen Jahren die Öffentlichkeit. Und dass Wehrmachts-Deserteure als mutige Menschen mit eigenem Gewissen verstanden und nicht als Verräter verhöhnt werden, ist noch keineswegs ausgemacht. Für ihre Geschichten und Erinnerungen war kein Platz in der Nachkriegsgesellschaft.

_erinnern.at_ hat den Auftrag, die Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Holocaust im österreichischen Bildungswesen anzuregen und zu fördern. Dazu gehören sowohl die Geschichte als auch die Auswirkungen dieser Geschichte auf die Gegenwart.

_erinnern.at_ macht es sich zur Aufgabe, diese lange verdrängten Erfahrungen, Erinnerungen und Erzählungen für den Schulunterricht aufzubereiten. Deshalb erarbeiten wir Lehr- und Lernmittel auf der Basis von Videointerviews mit Überlebenden, deshalb ist uns das vorliegende Buch über Vorarlberg ein großes Anliegen. Es ist der dritte Band der von _erinnern.at_ herausgegebenen Sachbuchreihe zum Nationalsozialismus in den österreichischen Bundesländern.

Wir wünschen dem Buch viele Leserinnen und Leser – und mögen die hier versammelten Geschichten und Erfahrungen Anlass für eigene Erkundungen in die Vergangenheit sein.

Werner Dreier

Horst Schreiber

_erinnern.at_

Reihenherausgeber

Einleitung

In den letzten Jahrzehnten sind etliche kritische, aber noch mehr reißerische Bücher und Dokumentationen zur NS-Zeit erschienen. Auch die Schulen haben sich in den vergangenen Jahren – im Gegensatz zu früher – verstärkt der Aufarbeitung dieser Epoche gewidmet. Diese Tatsachen könnten den Anschein erwecken, als ob zum Nationalsozialismus mittlerweile alles gesagt, geschrieben und gezeigt worden sei. Wozu also noch ein Buch? Weil es gerade für den regionalen Bereich keine zusammenschauende Darstellung gibt, weil etliche interessante Einzelstudien kaum zugänglich oder schwer lesbar sind und weil sich für jugendliche LeserInnen über die oft recht abstrakt und allgemein gehaltenen Schulbücher hinaus kaum erzählende Darstellungen der regionalen Ereignisse finden.

Die NS-Herrschaft in Vorarlberg war Teil des nationalsozialistischen Systems. Nicht mehr und nicht weniger. Und das nationalsozialistische Weltbild hat hier ebenso gewurzelt wie Zustimmung gefunden. Die Fundamente, auf denen die Attraktivität des Nationalsozialismus gründete und auf denen er dann seine Herrschaft aufbaute, waren auch hier ausgelegt: Rassismus, Antisemitismus, das Streben nach einem mächtigen Großdeutschland, die Revanche für die Niederlage im Ersten Weltkrieg, die Annahme, dass ein einziger Führer das Allgemeinwohl besser herstellen könne als eine parlamentarische Demokratie, die lange geschürte Angst vor dem Kommunismus und die Ablehnung aller Erscheinungen der städtischen Moderne. All diese Strömungen hat der Nationalsozialismus aufgegriffen, hetzerisch propagiert und in seiner Praxis radikal umgesetzt. Österreich hat aber nicht nur ideell zum Nationalsozialismus beigetragen; es hat den „Führer“ geliefert und im Verhältnis zur Einwohnerzahl überdurchschnittlich viele NS-TäterInnen gestellt. All diese belastenden Tatsachen konnte man Jahrzehnte lang erfolgreich von sich weisen.

Bis herauf in die 1980er Jahre herrschte eine Art offizielle Übereinkunft, dass der Nationalsozialismus Österreich als Fremdherrschaft aufgezwungen worden sei. Österreich sei selbst ein Opfer Hitlerdeutschlands gewesen. Für die Folgen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, besonders für den Holocaust, konnte man unter dieser Annahme alleine Deutschland verantwortlich machen. So war es möglich, die Mittäterschaft Österreichs erfolgreich zu verdrängen und lange zu leugnen. Auch in Vorarlberg wurden für alle negativen Erscheinungen und Gewaltmaßnahmen die deutschen Besatzer verantwortlich gemacht. Die heimischen TäterInnen und DenunziantInnen wurden so gut wie möglich verschwiegen – auch die Opfer. Und diejenigen, die keine aktiven AnhängerInnen der NSDAP waren, scheuten in der Regel eine öffentliche Diskussion, weil sie dann über ihre Hilflosigkeit und ihren Opportunismus hätten reden müssen.

Diese Mauer des Schweigens verhinderte die Auseinandersetzung mit dem NS-System, und eine streng gehandhabte Archivsperre bot den einheimischen Tätern amtlichen Schutz. Die Verheimlichung des eigenen Anteils an der politischen Katastrophe sollte der Stabilisierung des notdürftig hergestellten Nachkriegsfriedens dienen. Die großen demokratischen Parteien schielten in der Nachkriegszeit auf die Wählerstimmen der 540.000 ehemaligen österreichischen NSDAP-Mitglieder und deren Familienangehörigen und halfen deshalb mit, den Mantel des Schweigens über die Zeit des Nationalsozialismus zu breiten. Eine fundierte wissenschaftliche Aufarbeitung der nationalen und regionalen NS-Herrschaft war deshalb lange nicht gewünscht, sie wurde, wo immer es möglich war, erschwert. Auch in den Schulen umgingen die LehrerInnen das „heiße Thema“, so weit sie konnten. Das Feld der jüngeren Geschichte wurde so den familiären Erzählungen überlassen, und die waren in der Regel geschönt und verharmlosend und nach Bedarf und Zuhörerschaft zurechtgebogen. Von den NS-Verbrechen wollte man nichts gewusst haben.

In und trotz dieser Situation begann eine junge Generation in den 1970er Jahren kritische Fragen an die Geschichte der Elterngeneration zu stellen. Auch in Vorarlberg wurden nun unterschiedliche Aspekte wie etwa die Situation und Haltung der Kirche, Widerstand und Verfolgung, der Antisemitismus, die so genannte Euthanasie, die wirtschaftlichen Verhältnisse, das Funktionieren des Regimes auf lokaler Ebene oder Anfang und Ende der nationalsozialistischen Herrschaft erforscht. Die Literaturliste am Ende dieses Bandes zeugt davon.

Auf den Ergebnissen dieser kritischen zeitgeschichtlichen Arbeiten fußt dieses Buch. Es versucht eine inhaltlich bündige, sprachlich verständliche und wissenschaftlich abgesicherte Zusammenschau der vorhandenen Forschungsresultate. Nur in einigen Einzelfragen wurden neue Quellen erschlossen. Dabei war das Vorarlberger Landesarchiv, das seit etlichen Jahren von seiner früheren Sperrpraxis abgerückt ist, sehr hilfreich. Auch zahlreiche Gespräche mit ZeitzeugInnen und HistorikerkollegInnen halfen, das historische Bild stellenweise zu konkretisieren und offene Fragen zu klären.

Meine Grundhaltung bei der Herangehensweise an den historischen Stoff bleibt dieselbe wie bei früheren Arbeiten: Der Historiker hat nicht Richter zu spielen, er ist Überbringer von quellenmäßig abgesicherten Botschaften; er hat sich in die Zeit und die handelnden Personen hineinzudenken, ohne ihnen zu erliegen und ohne mit ihnen abzurechnen. Die LeserInnen sollen sich anhand der Darstellung ein eigenes Urteil bilden können. Sichtbar werden sollte aber, dass der Nationalsozialismus kein zufälliger politischer Irrlauf war, sondern dass er eine Vorgeschichte hatte, auf verwurzelte Vorurteile baute und wirtschaftliche Interessen bediente. Etliche dieser Vorurteile haben die NS-Herrschaft überdauert. Der Nationalsozialismus ist laut auf die politische Bühne getreten und schleichend in das Alltagsbewusstsein der Menschen eingedrungen; er hat den Idealismus von Menschen genutzt und sie gleichzeitig dazu angehalten, Menschlichkeit und persönliche Verantwortlichkeit einer „großen Sache“ zu opfern. Getragen war der Nationalsozialismus von einer rücksichtslosen Führungsschicht, von zahlreichen willigen und gehorsamen HelferInnen; und von erheblichen Teilen der Bevölkerung, die gleichgültig wegschauten oder von den anfänglichen Kriegserfolgen fasziniert waren. Und als vielen klar wurde, dass die nationalsozialistischen Machthaber mit dem demokratischen Staat auch die Grundrechte abschafften, auf den Krieg zusteuerten und ganze Bevölkerungsgruppen systematisch zu vernichten begannen, war ein Widerstand kaum mehr möglich, weil Verfolgung und Terror immer engmaschiger wurden. Diesen Weg in die totale Diktatur gilt es aus Gründen einer demokratiepolitischen Prävention besonders zu beachten.

Das Grundkonzept des Bandes folgt den Vorgaben der Herausgeberschaft von _erinnern.at_. Gleiche Arbeiten erscheinen nämlich für alle österreichischen Bundesländer. Dem Geschäftsführer von _erinnern.at_, Dr. Werner Dreier, dem Herausgeber, Dr. Horst Schreiber, und Mag.a Ruth Mayr vom Studienverlag habe ich nicht nur für die hilfreiche Begleitung des Projekts, sondern besonders für das Vertrauen, das sie mir vorgeschossen haben, zu danken. Dr. Kurt Greussing hat den Text einem kritischen Lektorat unterzogen und Mag.a Christine Breuss die letzten Unrichtigkeiten aufgespürt. Helga Platzgummer (Stadtarchiv Dornbirn), Mag. Thomas Klagian (Stadtarchiv Bregenz), Dr. Hanno Loewy (Jüdisches Museum Hohenems) haben bereitwillig die Fotobestände ihrer Einrichtungen und Willi Rupp sein Privatarchiv durchsucht und zugänglich gemacht. Eingeflossen sind auch Bilder der umfangreichen Sammlung der Johann-August-Malin-Gesellschaft. Dankbar bin ich auch den MitarbeiterInnen des Vorarlberger Landesarchivs, besonders dem Leiter Dr. Alois Niederstätter, für Hilfestellungen und die Atmosphäre des Willkommenseins in ihrer nützlichen Institution. Eine Hilfe waren mir auch die Schülerinnen und Schüler einer vierten und einer achten Klasse des Bundesgymnasiums Bregenz Gallusstraße mit ihren interessanten Fragen.

Für mich als Autor bedeutete dieses Buch einen hohen Arbeitsaufwand, und die Herausgeber und Subventionsgeber haben etliche finanzielle Mittel dafür aufgebracht. Deshalb hoffen wir alle, dass es möglichst vielen LeserInnen historische Einsichten vermittelt und aktuelle Bezüge erkennen lässt; dass es mithilft, die NS-Herrschaft nicht als etwas Fernes, sondern als auch im Bundesland Vorarlberg Gewachsenes zu begreifen. Der Nährboden dafür sollte sichtbar werden. Demokratie, Rechtsstaat, soziale Gerechtigkeit und Humanität sind ideelle Güter, die es ständig zu verteidigen und zu leben gilt. Die Versuche, sie auszuhöhlen, sind vielfältig. Mächtige Interessengruppen und inhumane Ideologien drängen immer wieder auf eine Konzentration von wirtschaftlicher und politischer Macht. Demokratie lebt aber von der Machtverteilung, vom Interessenausgleich, von der Rechtssicherheit und vom Engagement der BürgerInnen.

Den Aufrechten, die trotz Unterwerfungszwangs Haltung bewahrten, den Mutigen, die gegen das staatliche Unrecht aufbegehrten oder die Waffe verweigerten, den Vernünftigen, die den politischen Irrlauf erkannten und gegenzusteuern versuchten und allen, die der Barbarei Gesten der Menschlichkeit entgegenstellten: Ihnen ist dieses Buch gewidmet. Ihr Vorbild gibt Mut.

Meinrad Pichler

Nationalsozialismus in Vorarlberg

Zeitlicher Ablauf der wichtigsten Ereignisse

1914–1918

Erster Weltkrieg

1918 November

Ende Monarchie – Beginn der Republik in Österreich und Deutschland; Vorarlberg wird ein österreichisches Bundesland

1919 ff.

Mühseliger Aufbau demokratischer Verhältnisse, schwache und parteiische Justiz, tiefer ideologischer Graben zwischen den bürgerlichen (Christlichsoziale, Nationalliberale) und den Linksparteien (Sozialdemokraten, Kommunisten)

1929 ff.

Weltwirtschaftskrise

ab ca. 1930

Aufstieg der NSDAP in Deutschland und Österreich

1933

Machtergreifung durch Hitler/NSDAP in Deutschland

1933

Ausschaltung des Parlaments in Österreich, Verbot der NSDAP wegen Sprengstoffattentaten

1934

Bürgerkrieg in Österreich mit Niederlage der Sozialdemokratie, Errichtung eines Einparteienregimes („Ständestaat“), Ermordung von Kanzler Engelbert Dollfuß durch Nazis (Juli)

1936–1939

Bürgerkrieg in Spanien; Vorarlberg wird Transitland für „Spanienfreiwillige“

1938 März

„Anschluss“ Österreichs an Deutschland, Übernahme der gesamten Macht durch Nationalsozialisten; Einmarsch deutscher Truppen; Vorarlberg wird Teil des Gaues Tirol; Verfolgung politischer Gegner, Beginn der Verfolgung und Vertreibung jüdischer ÖsterreicherInnen; Volksabstimmung über Anschluss (April)

1939 September

Beginn des Krieges mit deutschem Angriff auf Polen

1939/40

Ausdehnung der deutschen Eroberungen auf die Niederlande, Belgien, Dänemark, Norwegen, Frankreich

1941 April

Deutscher Überfall auf Jugoslawien und Griechenland

1941 August

Beginn des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion, Krieg wird zum Weltkrieg

1941–April 1945

Kriegswirtschaft auch in Vorarlberg, Fortsetzung der Staudammbauten, Rüstungsproduktion, „Heimatfront“, Terror gegen Zivilbevölkerung, Einsatz ausländischer ZwangsarbeiterInnen, Deportation aller jüdischen VorarlbergerInnen

1945 Mai

Kriegsende in Vorarlberg, Besetzung des Landes durch französische Truppen, bis November Wiederherstellung demokratischer Verhältnisse, schrittweise Übergabe der Verwaltung an Vorarlberger Behörden

1955 Mai

Abschluss des Staatsvertrages mit den alliierten Mächten USA, Großbritannien, Sowjetunion und Frankreich; Wiederherstellung der staatlichen Unabhängigkeit und Neutralitätserklärung

Der Nationalsozialismus

Was versteht man unter Faschismus?

Der Nationalsozialismus wird aus guten Gründen zu den faschistischen Bewegungen gezählt, die in den 1920er und 1930er Jahren in zahlreichen europäischen Ländern zu unterschiedlicher Stärke und Bedeutung gelangt sind. Faschismus ist die Selbstbezeichnung jener Weltanschauung, die vom Diktator Benito Mussolini in Italien nach dem Ersten Weltkrieg zu einem politischen System gemacht wird. Die Faschisten nennen ihren politischen Zusammenschluss „Bewegung“, weil sie sich mit dieser Bezeichnung von den demokratischen Parteien abheben und sich als besonders dynamische politische Kraft präsentieren wollen. Ihr bevorzugter Ort der politischen Auseinandersetzung ist nicht ein Parlament, sondern die Straße: Hier demonstrieren die Faschisten ihre Stärke, versuchen mitzureißen statt zu überzeugen und die Gegner laut, uniformiert und mit demonstrativer Gewalt einzuschüchtern. Alle diese rechtsradikalen „Bewegungen“ verfolgen ähnliche politische Ziele und benützen ähnliche Methoden zu deren Durchsetzung. Solche gemeinsamen weltanschauliche Merkmale – die jedoch von Land zu Land unterschiedlich stark ausgeprägt sein können – sind:

– Heftige Gegnerschaft zum demokratischen Sozialismus und zum bolschewistischen Kommunismus: Die Faschisten selbst sprechen vorzugsweise von Antibolschewismus, wobei sie „Bolschewismus“ und „Judentum“ meistens gleichsetzen.

Die Aufopferung des Einzelnen für das Volksganze ist eine zentrale Forderung aller faschistischen Bewegungen. Das heldenhafteste Opfer vollbringt der im Kampf Gefallene.

Die Militarisierung der Gesellschaft zeigt sich unter anderem daran, dass neben den Militärs auch die so genannten politischen Leiter Uniform tragen. Auf der Ehrentribüne beim Einmarsch der reichsdeutschen Truppen in Dornbirn dominieren Uniformträger der verschiedensten Formationen.

– Bekämpfung des Liberalismus und damit der parlamentarischen Demokratie: An die Stelle des demokratischen Interessenausgleichs tritt das so genannte Führerprinzip. Das heißt, politische und wirtschaftliche Entscheidungen werden nun auf allen Ebenen von „Führern“ getroffen – in den staatlichen Einrichtungen, in den Parteiorganisationen, in den Betrieben und in Freizeit- und Jugendorganisationen. Dieser antidemokratische Glaube folgt der Vorstellung, dass der „Volkskörper“ aus wenigen denkenden und lenkenden und vielen dienenden Mitgliedern bestehe. Das ist eine radikale Absage an das Prinzip der Gleichberechtigung.

– Besondere Betonung der „Volksgemeinschaft“: Dadurch sollen soziale Unterschiede oder Klassengegensätze kleingeredet werden. Individuelle Bedürfnisse sind den Forderungen der Gemeinschaft unterzuordnen. Die besondere Hervorhebung der Qualitäten des eigenen Volkes beinhaltet zugleich eine Abwertung anderer. Der Einzelne gilt wenig oder nichts, seine Bedeutung erhält er ausschließlich als Teil des „Volksganzen“.

– Gleichschaltung aller Lebensbereiche: So wie es in der Politik anstelle eines Mehrparteiensystems nur noch eine Einheitsorganisation (NSDAP in Deutschland, „Vaterländische Front“ in Österreich 1934–1938) gibt, werden auch alle anderen Lebensbereiche wie Freizeit, Jugend, Sozialwesen und Arbeitswelt von staatlichen Einheitsorganisationen verwaltet.

– Hochschätzung militärischer Prinzipien: Befehl und Gehorsam sowie so genannte militärische Tugenden wie Männlichkeit, Disziplin, Kameradschaft und Gefolgschaftstreue gelten als vorbildliche Verhaltensweisen auch für das zivile Leben. Militär und Militärisches genießen höchstes Ansehen.

Die obersten faschistischen Führer wie Benito Mussolini (li) und Adolf Hitler treten meist in Uniform auf.

Krieg zur Lösung von Problemen und zur Machtausweitung ist Teil des faschistischen Denkens. Die Kriegerehrung – hier Kreisleiter Anton Plankensteiner und der Dornbirner NS-Bürgermeister Paul Waibel – soll den „gefallenen Helden“ Ehre erweisen und ihr „Opfer“ als nachahmenswert erscheinen lassen.

Wie stehen die Austrofaschisten zum Nationalsozialismus?

Im Gegensatz zum Nationalsozialismus ist für die faschistischen Regime in Italien, Spanien und Österreich die katholische Kirche eine wesentliche Stütze ihrer Herrschaft. Denn auch die Kirche bekämpft den Liberalismus, den Bolschewismus und die städtische Moderne. Gleichzeitig blicken manche – durchaus kirchentreue – Vertreter des österreichischen Faschismus (Austrofaschismus) mit einer gewissen Faszination ins nationalsozialistische Deutschland. Die alte bürgerliche Elite bewundert – und fürchtet zugleich – den antidemokratischen Schwung des Nationalsozialismus. Ein Stück weit könne er durchaus Vorbild sein, meint zum Beispiel der christlichsoziale Vorarlberger Landeshauptmann Dr. Ender auf einer Großkundgebung am 1. Mai 1933 in Rankweil: „Was gesund ist am Hitlertum, wollen wir aufgreifen und soweit auch verwirklichen, als es für unsere Vorarlberger und für unsere österreichischen Verhältnisse paßt. (…) Wenn heute endlich die Zeit gekommen ist, wo das Volk verdorbenen Parlamentarismus und leere Strohdrescherei satt hat, dann ist eben der Tag, um unseren Parlamentarismus umzubauen (…) Alles ruft heute nach Autorität, nach Führung. Das ist gut so. Liberalismus und Marxismus haben uns Autoritätslosigkeit genug beschert. Jetzt kommt die katholische Auffassung wieder zur Geltung, der das autoritäre Prinzip wesenseigen ist. (…) Eine nationale Erhebung geht durch Deutschland und alles erkennt ihren Wert. Dollfuß ruft Oesterreich zu nationalem Neubau unseres katholischen Oesterreich und wir wollen seinem Rufe folgen“ („Vorarlberger Volksblatt“ vom 2. Mai 1933).

Auch Bundeskanzler Engelbert Dollfuß tritt nach der Ausschaltung des Parlaments immer häufiger in der Uniform eines Oberleutnants der ehemaligen Kaiserschützen auf.

Damit nimmt Ender Programm und Sprache der ab Februar 1934 errichteten Diktatur des Dollfuß-Regimes vorweg, nämlich die Abschaffung der parlamentarischen Demokratie, die Einführung einer „autoritären“ Herrschaft (das Wort „diktatorisch“ wollte man vermeiden) unter einem einzigen Führer, nämlich Engelbert Dollfuß. Die allgemeinen Richtlinien dieser Herrschaft will man der Soziallehre und dem Gesellschaftsbild der katholischen Kirche entnehmen und ihre Durchsetzung auf allen gesellschaftlichen Ebenen soll die Einheitsorganisation „Vaterländische Front“ besorgen. Das ist die österreichische Spielart des Faschismus – der Austrofaschismus. Weil jedoch die deutschen Nationalsozialisten samt ihren österreichischen Gesinnungsfreunden auch in Österreich an die Macht drängen, sieht sich der katholische „autoritäre Ständestaat“, wie ihn seine Schöpfer nennen, als faschistisches Konkurrenzunternehmen zum Nationalsozialismus. Er orientiert sich zunehmend am italienischen Faschismus Mussolinis; auch in der Hoffnung, im Kampf um den Erhalt der staatlichen Selbstständigkeit Österreichs unterstützt zu werden.

Wirklich die Massen mobilisieren kann dieser „autoritäre Ständestaat“ aber nicht. Wenn schon eine radikale Lösung, dann gleich die große: Und die verspricht Hitler. Seine österreichischen Gefolgsleute werden nicht müde, den Weg „heim ins Reich“ zu propagieren. Damit vertreten sie die so genannte großdeutsche Idee, nach der alle deutschsprachigen Gebiete eine politische Einheit, eine „Volksgemeinschaft“ und einen starken Wirtschaftsraum bilden sollen. Diese für viele ÖsterreicherInnen attraktive Forderung ist nicht neu – sie wird bereits seit 1918, seit dem Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Monarchie, erhoben. Dem Großmachtstreben der deutschen und österreichischen Nationalsozialisten versucht der „Ständestaat“ einen Österreich-Patriotismus entgegenzustellen („Rot-Weiß-Rot bis in den Tod“).

Was kennzeichnet das Weltbild des Nationalsozialismus?

Die Merkmale, die den Faschismus kennzeichnen, treffen auch auf den deutschen Nationalsozialismus zu. In seiner Gewalttätigkeit und Radikalität, in seinem Totalitätsanspruch und Zerstörungswillen unterscheidet er sich aber grundsätzlich von den übrigen Faschismen. Der Nationalsozialismus bedient sich vorhandener Vorurteile und verschärft sie, schafft ab 1933 in Deutschland und ab 1938 in Österreich eine alle Lebensbereiche umklammernde Diktatur und kennt beim Terror gegen innere und äußere „Feinde“ kaum Grenzen.

Zu verfolgungswürdigen Feinden werden den Nationalsozialisten alle, die ihrem politischen Allmachtsanspruch ablehnend oder kritisch gegenüberstehen; alle, die sich entgegen der staatlichen Barbarei menschlich verhalten wollen; alle, die sich dem wachsenden Arbeitsdruck in so genannten kriegswichtigen Wirtschaftsbereichen und der politischen Kontrolle ihres Alltagsverhaltens zu entziehen versuchen; und schließlich alle, die durch die rassistische Ideologie zu „Untermenschen“ erklärt werden. Mit diesen Feindbildern ist der enge Horizont der nationalsozialistischen Weltsicht abgesteckt.

Es ist diese Radikalität, die den Nationalsozialismus von den traditionellen politischen Ideologien abhebt. Die Radikalität des Nationalsozialismus ängstigt viele Menschen, macht ihn für den größeren Teil der Bevölkerung aber erst einmal durchaus attraktiv. Die Nationalsozialisten versprechen „kurzen Prozess“, die radikale Lösung und das Ende der oft mühsamen demokratischen Entscheidungsfindung. Auch im gezielten propagandistischen Einsatz der modernen Massenmedien und in der Verherrlichung des Körperkults unterscheidet sich der Nationalsozialismus von den antimodernen katholischen Faschismen. Im Bereich der Kultur aber lehnt der Nationalsozialismus die Moderne radikal ab, bezeichnet sie als „entartet“ und beruft sich dabei auf das „gesunde Volksempfinden“.

Die nationalsozialistischen Propagandisten verstehen es perfekt, öffentliche Anlässe mitreißend zu inszenieren. Das vermittelt verunsicherten und verängstigten Menschen das Gefühl, Teil einer großen und starken Gemeinschaft zu sein.

Was den Nationalsozialismus von Anfang an kennzeichnet und für viele Deutsche attraktiv macht, ist sein offener Revanchismus. Das heißt, die Nationalsozialisten treten dafür ein, für die Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg (1914–1918) „Revanche“ zu nehmen und dessen Ergebnisse rückgängig zu machen. Der Friedensvertrag von Versailles (1919) gilt ihnen als ein von den Siegermächten aufgezwungener „Schandvertrag“. Die Vertragsbestimmungen werden nicht nur als nationale Schmach verurteilt, sondern auch für die wirtschaftliche Krise der 1920er Jahre mitverantwortlich gemacht. Dass dieses europäische Vertragswerk nur durch einen neuerlichen großen Krieg rückgängig gemacht werden kann, nehmen die Nationalsozialisten in Kauf.

Wie alle Lebensbereiche wird auch die Arbeitswelt nach militärischem Vorbild ausgerichtet: Besonders die Jungen, wie hier die Lehrlinge von F. M. Hämmerle, werden laufend „vergattert“ und zu Appellen und zur Fahnenhissung befohlen.

Mit Krieg kalkulieren die Nationalsozialisten aber nicht nur in Richtung der Westmächte (Frankreich und England), sondern vor allem gegen Polen, das sie sich schließlich mit dem sowjetischen Diktator Stalin aufteilen. Nachdem das Deutsche Reich im Zuge der kolonialen Ausbreitung im 19. Jahrhundert gegenüber England und Frankreich zu spät gekommen ist, konzentrieren die Nationalsozialisten ihre Forderung nach „mehr Raum“ auf das östliche Nachbarland. Zu Beginn der 1920er Jahre hat ein Roman des deutsch-völkischen Autors Hans Grimm das Schlagwort vom „Volk ohne Raum“ populär gemacht. In der Propagandasprache der Nationalsozialisten nimmt es bald einen prominenten Platz ein. Die Unterwerfung der slawischen Völker Osteuropas wird auch rassistisch argumentiert. Ein zentraler Punkt der nationalsozialistischen Weltanschauung ist nämlich ein zur wissenschaftlichen Lehre erhobener Rassenwahn, demzufolge es höher- und minderwertige Rassen gebe. Der höherwertigen „arischen Rasse“ stehe die Versklavung der minderwertigen Völker gleichsam als Naturrecht zu.

Auch hinsichtlich der „Judenfrage“ schließen sich die Nationalsozialisten jenen Antisemiten an, die behaupten, das Judentum in erster Linie aus „rassischen“ Gründen zu bekämpfen. Sie berufen sich auf eine wissenschaftlich verbrämte „Rassenlehre“ und nicht mehr – wie früher oft – auf religiöse und zum Teil auf wirtschaftliche Motive. Mehr als alle traditionellen Judengegner machen Adolf Hitler und seine Getreuen einen radikalen Antisemitismus zum Angelpunkt ihrer als Mission verstandenen politischen Gewaltherrschaft. Die Juden werden zu allgegenwärtigen Sündenböcken erklärt, sie werden für alle Krisenerscheinungen, Missstände und Ungerechtigkeiten verantwortlich gemacht. Komplizierte und undurchschaubare politische, soziale und wirtschaftliche Zusammenhänge werden dem angeblich ungehinderten Wirken eines allgegenwärtigen Feindes zugeschrieben, nämlich den Jüdinnen und Juden und denen, die zu solchen gemacht werden. Sie werden zu „Volksschädlingen“ erklärt, die es nach Meinung der Nationalsozialisten ein für allemal auszurotten gilt. Dazu errichtet das nationalsozialistische Regime mit großem Aufwand Tötungsanlagen, in denen fabriksmäßig in effizienter Weise möglichst viele Menschen ausgelöscht werden. Eine solche planmäßige Ermordung von Menschen ist in der europäischen Geschichte – die nicht wenige Grausamkeiten aufzuweisen hat – einmalig.

Körperliche Ertüchtigung ist für Hitler wichtiger als Bildung; das gilt auch für die Frauen. Die Kirche stößt sich vor allem an der knappen Kleidung.

Neben diesem völkischen Rassismus praktiziert der Nationalsozialismus auch einen sozialen: Alle unproduktiven, kranken und störenden Mitglieder sollen aus der „Volksgemeinschaft“ ausgeschlossen und vernichtet werden. Dazu zählen psychisch kranke und behinderte Menschen ebenso wie Suchtkranke, so genannte „Asoziale“ oder Homosexuelle.

Um die wirklichen und vermeintlichen GegnerInnen zu bestrafen oder zu vernichten, wird ein weitläufiges System so genannter Konzentrationslager geschaffen. In diesen Lagern werden die Internierten gedemütigt, geschunden, misshandelt und sehr oft auch getötet. Den Terror gegen Außenseiter, Gegner und Minderheiten bezeichnen die Nationalsozialisten als „Ordnung schaffen“ und „aufräumen“. Sie benutzen also Ausdrücke, die in der Alltagssprache durchaus positiv besetzt sind.

Die Weltanschauung des Nationalsozialismus basiert also auf eingewurzelten Vorurteilen gegen Minderheiten, entfesselten niederen Instinkten, menschenverachtenden Ideen rassischer Überlegenheit und der wissenschaftlich verbrämten Wahnvorstellung eines geschichtlichen Endkampfs zwischen den deutschen „arischen Herrenmenschen“ und anderen Völkern oder Rassen. Der Nationalsozialismus verwirft das Menschenbild der europäischen Aufklärung, das auf Gleichheit beruht; er propagiert die Ausgrenzung, die in der Vernichtung der aus der „Volksgemeinschaft“ Ausgeschlossenen gipfelt.

Adolf Hitler, seine Vordenker und Bürokraten, seine Straßenkämpfer und Offiziere, seine Propagandisten und seine zahllosen gehorsam-gläubigen HelferInnen errichten auf der Grundlage dieses ideologischen Konzentrats eine reale Herrschaft. Die Nationalsozialisten sehen darin einen geschichtlichen Auftrag; geworden ist es aber ein politischer Irrlauf und eine menschliche Katastrophe – eine Terrorherrschaft und ein Krieg, die etwa 50 Millionen Menschen das Leben gekostet haben.

Die Vorgeschichte der NS-Herrschaft in Österreich

Der Nationalsozialismus hat auch in Vorarlberg eine lange und eigenständige Vorgeschichte und ist nicht erst mit dem Einmarsch der hitlerdeutschen Truppen am 12. März 1938 eingetragen worden. Die politischen, wirtschaftlichen und geistigen Voraussetzungen sind hier kaum anders als im übrigen Österreich.

Als nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch der Habsburger Monarchie am 12. November 1918 die Republik Deutsch-Österreich ausgerufen wird, hat die politische Elite Vorarlbergs das Land neun Tage zuvor bereits als „selbstständiges Land“, aber doch als Teil des neuen Österreich erklärt. Vorarlberg soll also ein vollberechtigtes Bundesland mit einer eigenen – von Tirol unabhängigen – Landesverwaltung werden. Das wird im März 1919 in einer neuen Landesverfassung festgeschrieben. Vorarlberg definiert sich hier in Artikel eins als „selbstständiges Bundesland der demokratischen Republik Österreich“. Doch die bisherigen kaiserlichen Untertanen tun sich schwer mit den nunmehrigen demokratischen Gegebenheiten. Die freie Staatsform ist mehr verordnet als gewollt. Die einflussreichsten politischen Gruppierungen, nämlich die christlichsoziale Partei, den katholische Klerus und die liberale Unternehmerschaft, verbindet eine panische Angst vor der Sozialdemokratie, die in der Bundeshauptstadt Wien zur dominierenden politischen Kraft geworden ist. Und obwohl der Vorarlberger Jodok Fink Vizekanzler der ersten Bundesregierung ist, bleibt eine erhebliche Skepsis – oft auch eine ausgesprochene Abneigung – gegenüber dem neuen österreichischen Staat bestehen.

In Teilen der Bevölkerung wird überhaupt eine ganz andere politische Ausrichtung bevorzugt: nämlich ein Anschluss an die Schweiz. Dort, so argumentieren die Anschlusswerber, sei Vorarlberg kulturell, wirtschaftlich und politisch besser aufgehoben. Gegenüber der Schweiz betont man die alemannische Zusammengehörigkeit und die angeblich gemeinsamen basisdemokratischen Traditionen. Im Land selbst setzt man auf antisozialistische und antisemitische Propaganda und verweist auf die bessere Versorgungslage der Schweiz. Die Staatsregierung hat aber kein Interesse an einem Vorarlberger Sonderweg und spielt auf Zeitgewinn; und die Landesregierung unter Landeshauptmann Otto Ender will das Gesetz des politischen Handelns keineswegs den selbsternannten Schweizbefürwortern und dem Druck der Straße überlassen. So bleibt Vorarlberg auch auf Anordnung der alliierten Siegermächte des Ersten Weltkriegs ein österreichisches Bundesland. Die Grundlinien der politischen Argumentation für die kommenden zwei Jahrzehnte sind aber vorgezeichnet: los vom „jüdischen“ „roten“ Wien. Das leistet dem Nationalsozialismus ideologischen und politischen Vorschub. Die materielle Not nach dem verlorenen Krieg und die Wirtschaftskrise ab 1929 sind zugleich der Nährboden für Angst und Enttäuschung. Sie beleben in einem erheblichen Teil der Bevölkerung die Hoffnung, dass ein großes und starkes Deutschland die herrschenden Probleme besser lösen könnte.

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