Neulich im Schrank. - Kali Drische - E-Book

Neulich im Schrank. E-Book

Kali Drische

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  • Herausgeber: konkursbuch
  • Kategorie: Erotik
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Pointiert knapp erzählt die Autorin Episoden quer durch ein (Liebes-)Leben. Es beginnt mit Kindheit und Pubertät: in der Schule, beim Turnen, die ersten Lieben, eine schreckliche Rache, Außenseiter, Mimosept, der Schwimmtrainer, das Coming-Out und die erste Konfrontation mit dem Wort „Ficken“: Aller Anfang ist schwer. Wer annimmt, danach, im Erwachsenenleben, ginge es leichter weiter, ohne Scham und Peinlichkeiten, der täuscht sich. Auch im zweiten Teil des Buchs handeln die Kurzgeschichten von heiteren und tragischen Situationen am Rande des Scheiterns: beim ersten Rendezvous, beim Sex, beim Fesseln, in der U-Bahn, beim Arzt. Und der dritte Teil nähert sich den Paradoxien des Endes. Mitten in den Widrigkeiten gibt es manchmal auch überraschende Momente der Lust, des Glücks.

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Kali Drische

Inhaltsverzeichnis

Titelseite

Neulich im Schrank

Zum Buch

Aller Anfang ist schwer

Hinter der Tür

Mental Bondage

Walther, die Zahnfee

Cinderella

Rotkäppchen

Neulich im Schrank

Unbeschwerte Tage

Turnen

Ficken

Besser wird’s nicht

Coitus Interruptus

Faustpfand

LBD

Lesbensauna

Paradeiser

Sind Männer noch Menschen

Subtalk

Gynitiation

Kinderwunsch

Die Zecke

Home sweet home

Rendezvous

Rote Rose

Fesselnd

Lesbentalk

Schluss mit lustig

Spectrum

Im Tunnel 1

Im Tunnel 2

Organspende

Liebe

Die Autorin

Impressum

Neulich im Schrank

Geschichten über Körper, Sex & andere Widrigkeiten

konkursbuch Verlag Claudia Gehrke

Zum Buch

Pointiert knapp erzählt die Autorin Episoden quer durch ein (Liebes-)Leben. Es beginnt mit Kindheit und Pubertät: in der Schule, beim Turnen, die ersten Lieben, eine schreckliche Rache, Außenseiter, Mimosept, der Schwimmtrainer, das Coming-Out und die erste Konfrontation mit dem Wort „Ficken“:

Aller Anfang ist schwer.

Wer annimmt, danach, im Erwachsenenleben, ginge es leichter weiter, ohne Scham und Peinlichkeiten, der täuscht sich. Auch im zweiten Teil des Buchs handeln die Kurzgeschichten von heiteren und tragischen Situationen am Rande des Scheiterns: beim ersten Rendezvous, beim Sex, beim Fesseln, in der U-Bahn, beim Arzt.

Und der dritte Teil nähert sich den Paradoxien des Endes.

Mitten in den Widrigkeiten gibt es überraschende Momente der Lust, des Glücks.

Aller Anfang ist schwer

Hinter der Tür

Wir hörten Schritte im Flur. Jetzt musste es schnell gehen. Ich zappelte mich unter der Bettdecke vor und suchte hektisch mein T-Shirt, da war er schon vor der Tür. Ohne T-Shirt huschte ich dahinter. Starrte auf ein Poster der Bay City Rollers. Versuchte dabei beiläufig, normal und interessiert auszusehen, falls das Versteck so wenig halten sollte, wie es versprach.

Warum hatten wir nicht besser aufgepasst? Ihr Vater mochte mich nicht. Das war nicht nur offensichtlich, sondern auch explizit ausgesprochen. Wir waren knapp vor dem Kontaktverbot. Es galt, alles zu vermeiden, dieses zu provozieren. Am besten war das dadurch möglich, dass er dachte, ich wäre nie da. Wer verbietet schon einen Kontakt, der gar nicht besteht?

Ich hinterfragte das Arrangement nicht, und was eigentlich das Problem mit mir war, wusste ich auch nicht so genau. Ich vermutete, es hing damit zusammen, dass meine Eltern mutmaßlich nicht CSU wählten, meine Mutter kurze Haare hatte, arbeiten ging und ein eigenes Auto hatte.

Die Flierschs hatten dafür mehrere marmorgeflieste Wohnzimmer, einen Pool im Keller und ein SUV, als das noch Geländewagen hieß und praktisch niemand so etwas fuhr. Genau genommen gehörte das alles natürlich nicht den Flierschs, sondern ausschließlich Herrn Fliersch. Einschließlich seiner Frau. Die hatte er immerhin auch gekauft. Ob für viel oder für wenig, ob aus dem Katalog oder vom Markt, weiß ich natürlich nicht, aber von den Philippinen war sie, soviel war bekannt.

Am Anfang war mir nicht klar, dass die verhuschte und immer beschäftigte Asiatin in der Küche die Mutter von Liza-Zee war und nicht die Putzfrau. Sie hatten so gar nichts miteinander gemein. Ich fand Liza-Zee glamourös und schön. Was hatte sie mit dieser flachgesichtigen, unterwürfigen, vierschrötigen Kittelschürzenperson in der Küche zu schaffen? Tatsächlich sah ich die Flierschin nie woanders als in der Küche. Später realisierte ich erst, dass sie uns manchmal warnte, wenn ER kam. Und zuweilen reichte auch die Zeit. Dann konnte ich aus ihrem Zimmer schlüpfen, über den Flur in das Fernsehzimmer und über die Terrassentür rausschleichen. Nun galt es, die Terrassentür ohne Außengriff so weit wie möglich zuzuziehen und mich dann hinter einer kleinen Mauer zu verstecken und zu warten. Wenn im Fernsehzimmer die Samtvorhänge vorgezogen wurden, um im Dunkeln was auch immer im Fernsehen anzusehen, war meine Gelegenheit. Gebückt schlich ich über den Hof, kletterte über ein Geländer auf die angrenzenden Garagen, lief über deren Dächer und ließ mich in ungefährdetem Gemeinschaftsgebiet, sprich öffentlichem Straßenland, wieder runter. Mit dem Gefühl, mit letzter Not und viel Glück entronnen zu sein.

Doch das klappte nicht immer. Wenn er mich trotz aller Vorsicht in ihrem Zimmer erwischte, murmelte ich nur schnell etwas von »wollte nur kurz was abgeben« und schlurfte mit konsequent auf den Boden gerichtetem Blick aus dem Haus. Draußen musste ich mich dann erst mal schütteln.

Einmal wollte Liza-Zee den Film in ihrem Fotoapparat wechseln. Sie beharrte darauf, dass dies im Dunkeln, also unter der Bettdecke zu geschehen hatte. Liza-Zee verschwand also unter der Bettdecke und die Wissenschaft erforderte, dass auch ich dort untertauchte. Es ist nicht so einfach, im komplett Finsteren einen Film zu wechseln, aber unter viel Gekicher gelang es schließlich und wir tauchten erhitzt wieder auf.

Seit diesem Tag gab es öfter einen Film zu wechseln, wenn ich gerade zu einem heimlichen Besuch da war. Sie machte wirklich erstaunlich viele Fotos. Die waren allerdings gänzlich uninteressant. Wirklich reizvoll war nur das Filmwechseln und das erforderte nun mal einen verschossenen Film. »Unter der Decke ist es doch viel zu heiß«, meinte sie einmal, und so streiften wir uns erst unsere T-Shirts ab, bevor wir unter die Decke tauchten. Im wilden Gefummel verknickten und verdrückten wir schließlich den Film, der so unbedingt zu schützen gewesen war. Und vor allem überhörten wir die Warnung der Flierschin aus der Küche. Die Flure waren zwar lang in dem Haus, aber nicht lang genug. Denn nun waren die schweren Schritte schon vor der Tür. Zum Anziehen war keine Zeit mehr. Schnell sprang ich auf und ließ mir die aufgehende Tür mit den Bay City Rollers entgegenkommen. Noch nie fand ich die Band so spannend wie in diesem Moment. Die tragen keine Unterhosen und ich kein T-Shirt, passt ja, dachte ich.

Erst lief alles ganz gut. Die Tür stoppte rechtzeitig, bevor ich die Jungs im Tartanmuster ins Gesicht bekam, und ER fragte, was Liza-Zee so mache. Sie nuschelte aus dem Daunenbetthaufen etwas von Hausaufgaben. Vielleicht hätte sie besser etwas von Unpässlichkeit erzählt. Hausaufgaben halbnackt im Bett mit zerwühlter Decke, weder Buch noch Heft weit und breit, da wären auch andere miss-trauisch geworden. Alles war still.

Doch plötzlich bewegten sich die Bay City Rollers weg von mir. Sehnsüchtig sah ich ihnen nach, bis ich auf den wütenden Blick des Herrn Fliersch traf. Kein Loch tat sich auf. So etwas passiert doch nicht wirklich, dachte ich. Wie hatte es mich immer gequält, wenn im Fernsehen Miss Marple Zimmer durchsuchte, sich wegen irgendwelcher Heimkehrer notdürftig verstecken musste und die Gefahr der Entdeckung drohte. Die Vorstellung allein gehörte für mich zu den peinlichsten Situationen überhaupt.

Aber da stand ich.

Halbnackt.

Jegliche Ausrede sinnlos.

Das machte es leichter. Ich legte alle jugendliche Impertinenz, die mir zur Verfügung stand, in meinen Blick, zog mein T-Shirt unter Liza-Zee hervor und verließ aufrecht das Haus.

Das Kontaktverbot war total und Liza-Zee hielt sich daran. Eine Genugtuung bekam ich ein paar Wochen später. Herr Fliersch vergaß beim Parken seines Geländewagens vor der steilen Rampe zu seiner persönlichen Tiefgarage, die Handbremse fest genug anzuziehen. Sein SUV rauschte mit Vollkaracho durch das geschlossene Garagentor. Wochenlang konnte ich mich auf meinem Schulweg an diesem Metallkrater ergötzen und summte Bye Bye Baby vor mich hin.

Mental Bondage

Die erste Liebe wird ja gerne so verklärt, ohne dass es dafür einen nachvollziehbaren Grund gibt.

Ich war beispielsweise haltlos in meine beste Freundin Urte verschossen. Aber sie erzählte immer nur von irgendwelchen Doktorspielen mit dem Nachbarsjungen. Trotz allgemeinen Interesses an der Thematik wollte ich das dann doch nicht so gerne hören. Auch wenn ich es niemals zugegeben hätte, war ich eifersüchtig.

Aber es gibt ja auch Sex ohne Liebe, und so ging ich zwecks Pornografie zu Christine. Im schwitzig dampfenden Zelt, das wir im Garten ihrer Eltern aufgestellt hatten, erzählten wir uns erotische Geschichten, oder was wir damals dafür hielten. Die Fantasie sprengte locker alle anatomischen Grenzen.

Für Handgreiflicheres ging ich zu Rosa. Doch die war mir ein bisschen unheimlich. Sie hatte keinerlei Hemmungen, sich zahllose Gegenstände beliebiger Größe reinzuschieben. Ich wusste damals noch nicht, dass da eigentlich nichts verloren gehen kann. Genauso wenig wie eine Kontaktlinse hinter das Auge rutschen kann. Dass das Problem mit dem Verschwinden nur bei analer Einführung auftritt.

Sie ließ also mit meiner Hilfe Armeen von kleinen Gummitieren in sich verschwinden, als wollte sie Noahs gerettete Tiere nachträglich noch ersäufen, und mir war trotz Erregung unbehaglich. Auch wenn wir sie tatsächlich alle wieder herausgekramt bekamen.

Zu allem Überfluss fand ich sie hinterfotzig. Im schönsten Herumdoktern überredete sie mich einmal, oben ohne eine Runde durch den Ort zu drehen. Dass das gewagt war, sah natürlich niemand. Hätten wir vorher zum Beispiel Federball gespielt, hätten wir auch alles völlig normal gefunden, aber nun lag Sex in der Luft. Kaum waren wir vor der Tür, legte sich Rosa ihre langen Haare über den nicht vorhandenen Busen. Und ich, mit meinen kurzen dunkel-aschblonden Fisselhaaren, musste rumlaufen wie die verschämte Sünde. Das war unfair, und ich nahm ihr das übel. Diese Mutprobe mit Vorbehalt erschwerte mein Vertrauen bei der Gummitierchenfrage zusätzlich.

Nur mit Urte ging nichts. Immer Steffensteffensteffen. Es war zum Kotzen. Ich sublimierte und malte vollbusige nackte Frauen. Natürlich nur an geheime Stellen. Und die allergeheimste und doch irgendwie öffentliche Stelle, die mir einfiel, war im Federmapperl unter dieser kleinen Ledertasche fürs Pausenmilchgeld oder Füllerpatronen. Unter diesem festgenähten Ledertäschchen, bei dem der Druckknopf nicht mehr funktionierte, sobald man wirklich etwas hineintat. Nie sah dort jemand hin, und ich konnte dort Frauen mit den prächtigsten Titten hinmalen, die man sich nur vorstellen kann. Also eine, genauso genommen. Für mehr Frauen war da kein Platz. Schon gar nicht bei der Oberweite. Wenn ich ein oder zwei Jahre später ein neues Mäppchen bekam, wieder eine.

Ich weiß nicht, wie es passieren konnte, aber eines Tages entdeckte meine Mutter das aktuelle Kunstwerk. Es war unsagbar peinlich. Nicht nur für mich. Meine Mutter behalf sich mit ein paar sachlichen Bemerkungen zum Zeichenstil. Aber wenn ich nun das kleine Ledertäschchen hochklappte, um mein persönliches Pin-up zu betrachten, sah nun immer meine Mutter mit.

Statt Sublimation wählte ich also die Übertragung und verliebte mich in Mats, dem ich kleine selbst gemalte Schäferhundbildchen schenkte. So tief kann man sinken.

Aber eines Abends, als ich wie so oft bei Urte übernachtete, war es anders. Sie fragte mich, ob ich schon mal einen Orgasmus gehabt hätte. Mir war immer ein bisschen unklar, um was es sich dabei handeln soll, dachte aber, dass es um dieses körperdurchrieselnde Gefühl ginge, das einen überfällt, wenn man verliebt ist und die Person einen anlächelt oder sonst wie beachtet oder berührt. Unklar war mir, warum das Ganze von einer so starken Körperlichkeit umweht war, wo es meiner Meinung nach beim Orgasmus doch eher um eine körperliche Empfindung der Seele ging. Noch viel rätselhafter war mir aber, wie die in einer längeren Beziehung hervorgerufen werden könnte. Denn dass es Neuheit und Fremdheit erforderte, war ja offensichtlich. Aber ich dachte ja auch, dass Erwachsene beim Zahnarzt keine Schmerzen mehr haben, und so hielt ich alles für möglich. Irgendwelche Plastikdinosaurier oder Spielfiguren in sich zu verstecken und wieder hervorzuholen, war zwar aufregend und interessant, aber von Ekstase konnte da nun wirklich nicht die Rede sein. Das musste also die falsche Fährte sein.

Urte wusste auch nicht mehr. Ganz sicher waren wir uns also nicht. Auf die Idee, dass wir vielleicht noch keinen Orgasmus gehabt hatten, kamen wir natürlich nicht. Wir waren schließlich neun und zehn und kannten das Leben.

Urte schlug vor, dass wir uns gegenseitig am Rücken streicheln könnten. Was sie genau damit bezweckte, ist mir unklar, denn auch bis auf den heutigen Tag ist es mir nicht gelungen, durch Rückenstreicheln zu kommen. Vielleicht war Steffen ein miserabler Streichler, und sie wollte was nachholen. Was weiß ich.

Natürlich war ich trotzdem einverstanden. »Aber«, stellte sie klar, »nur am Rücken!« Wir legten uns also in eine Löffelchenstellung mit viel Abstand, und ich fing an, meine Finger auf ihrem Rücken spazieren zu führen. Als sie ganz entspannt seufzte, versuchte ich eine Abweichung von der genehmigten Route. Und holte mir eine gehörige Abfuhr.

Urte hatte Prinzipien. Zum Beispiel Handtücher für oben und welche für unten. Abweichungen waren nicht erlaubt. Genauso wenig wie von moralischen Gewissheiten. Dass man hysterisch kreischen und panisch wegrennen muss, wenn irgendwelche Jungs aus Kondomen Wasserbomben basteln und sich gegenseitig damit bewerfen. Ich verstand nicht, was darin schlimm sein soll, und sie verstand nicht, was daran nicht schlimm sein könnte. Wenn wir über so etwas diskutierten, hatte ich die besseren Argumente, aber sie fühlte sich moralisch überlegen und ich mich letztlich schmutzig.

Also streichelte ich brav weiter an ihrem Rücken herum, der mir durchaus gut gefiel, aber eben begrenzt war. Schließlich war Positionswechsel. Himmlisch. Nach meiner Definition hatte ich einen Orgasmus nach dem anderen. Aber als sie aufhörte, war ich trotzdem nicht befriedigt. Vielleicht, weil ich nur ein Ersatz war? Streichelmuckefuck?

Sie drehte sich um und schlief sofort ein. Ich lag noch lange wach und schaute auf ihren Rücken. Meine Hände gefesselt durch ihre Bestimmtheit. Grundschulbondage.

Am nächsten Morgen klaute ich ihr eine Strasskette, ging nach Hause und begann ein Tagebuch. Mit einem gewissen Fatalismus begann ich mit: »Ich glaube, ich bin läspisch.«

Walther, die Zahnfee

In der dritten Klasse saß ich ganz hinten. Tatsächlich saß ich immer ganz hinten, weil ich eine der zwei Größten der Klasse war. Weder meine Kurzsichtigkeit, noch der Umstand, dass wir in Hufeisenform saßen, vermochte die Lehrerin dazu zu bewegen, von dieser althergebrachten Regel abzuweichen. Und so saß ich eben hinten, neben Wolfgang, dem anderen Riesen. Uns verband nicht viel mehr als die Größe und die gemeinsame Bank. Vielleicht auch eine wohlwollende, eine freundliche Koexis-tenz unter Andersgewachsenen. Wolfgang war nicht nur groß, sondern auch vierschrötig, schwer, träge und dunkel. Sein bester Freund Walther, der wegen seiner Winzigkeit neben meiner ebenfalls winzigen besten Freundin ganz vorne saß, war agil, laut, fast weißhaarig blond und ein Hampelmann. Mit Walther verband mich noch weniger. In den ganzen vier Jahren, die wir gemeinsam eine Klasse besuchten, hatten wir nur ein einziges Mal Kontakt.

Die große Pause hatte gerade erst angefangen und trotzdem standen wir alle schon in lockerer Formation an der auf dem Boden aufgemalten 3b. Dort wurden wir nach der Pause von der Lehrerin abgeholt, um in geordneten Zweierreihen Einzug in die Schule und das Klassenzimmer zu halten. Das Wetter war scheußlich, große Regentropfen schredderten den Boden und zerplatzten auf unseren Köpfen. Der Wind hatte Eiszungen. Aber der Aufenthalt in der Schule war während der Pause nicht gestattet.

In der Hoffnung, uns zu wärmen oder zumindest die Zeit irgendwie beschleunigen zu können, versammelten wir uns vorzeitig an der aufgemalten 3b. Uns war langweilig und kalt und wir waren schlecht gelaunt. Der Regen tropfte von den Köpfen in die Krägen. Zu hoffen, dass die große Pause endlich zu Ende gehe, ist außerdem ein peinliches, ein schwer verdauliches Gefühl. Als wäre das nicht genug Pein, wackelte seit Tagen einer meiner Zähne. Unentwegt spielte ich mit der Zunge daran herum, versuchte, ihn mit lustvoller Pein zu lockern, bewegte ihn, bis es knirschte, konnte mich aber nicht überwinden, ihn rauszureißen, ihm den letzten Kick zu geben.

Um die Zeit zu überbrücken und die Langeweile zu überspielen, schlug schließlich jemand ein Spiel vor. Dabei ging es darum, sich Schmerzen zufügen zu lassen. Wer Aua sagt oder schmerzvoll das Gesicht verzieht, hat verloren. Ich liebte dieses Spiel, denn mir war ein sicherer Sieg gewiss. Wenn es darauf ankam, nahm ich Schmerz einfach nicht zur Kenntnis. Ich war schlicht nicht da, wenn der Schmerz mein Gehirn erreichte. Eine todsichere Methode. Manchmal kam ich mir etwas unredlich vor, weil das Spiel eigentlich darauf abzielte, Schmerz zu ertragen, aber was wusste ich schon, mit welchen Mitteln die anderen Kinder arbeiteten. Wir kniffen uns, hauten mit Kartenspielen auf die Fingerknöchel, verbogen Finger oder gaben uns Pferdefüße. Runde um Runde schied jemand aus. Im Finale traf ich auf Walther. Der cholerische Klassenkasper gegen die bebrillte Bohnenstange. Eine Jahrmarktsattraktion. Die Aufmerksamkeit aller war uns gewiss.

Ich erinnere mich nicht mehr, wie Walther mich zu peinigen versuchte, aber sicher ist, dass ich mit keiner Wimper zuckte. Im Gegenzug holte ich aus und schlug ihm mit der Faust auf den Oberarm. Noch während ich schlug merkte ich, dass ich gut treffen würde. Der Stoff seines Anoraks, seine Muskelstränge, alles ließ mich durch, nichts hinderte die Wucht, mit der die Knöchel genau auf seinen Oberarmknochen trafen. Walther jaulte auf. Ja! Ich hatte gewonnen.

Alle hatten es gesehen und ich strahlte. Plötzlich wurde mein Gesicht mit dumpfem Aufprall getroffen und nach hinten geschleudert. Etwas knirschte. Als ich wieder denken konnte, sah ich Walther mit geballten Fäusten vor mir stehen. Offenbar hatte er die Schmach nicht auf sich sitzen lassen wollen und mir mit der Faust ins Gesicht geschlagen. Ich schmeckte Blut und meine Zunge stolperte über ein loses Ding in meinem Mund. Nach dem ersten Schreck fing ich blutig an zu grinsen und schob den nun ausgeschlagenen Zahn heraus. Natürlich weinte ich nicht. Als ich die Trophäe der Menge präsentierte, sagte ich ebenso natürlich nicht, dass der Zahn ohnehin schon lose gewesen war. Und schon gar nicht, dass Walther mir eigentlich einen Gefallen getan hatte.

Das bedeutete aber auch, dass ich nun etwas Drastisches tun musste, um mich zu revanchieren. Ich konnte doch als Siegerin nicht geschlagen vom Platz gehen. Der Triumph, eine derartige Gewalttat mit ausgeschlagenem Zahn ohne Anflug von Schmerz zu überstehen, reichte dafür nicht mehr. Aber was tun? Schläge ins Gesicht kamen für mich nicht in Frage, und doch verlangte die Choreografie eine Steigerung. Also griff ich um Walther herum, packte seinen Fuß, drehte ihn um und ließ ihn kopfüber hängen. Bei unserem Größenunterschied war das ein Leichtes. Glücklicherweise ersparte mir das Erscheinen der Lehrerin die Lösung des Problems, was ich mit einem kopfüber baumelnden Walther anfangen sollte. Ich ließ ihn einfach runter und wir wühlten und drängelten uns in die übliche Zweierreihenformation, um brav ins Klassenzimmer zu gänsemarschieren. Walther sprach nie wieder mit mir.

Cinderella

Ich wusste, es würde etwas dauern, ich hatte nachgelesen. Nicht sehr lange, wenn man es nach objektiven Maßstäben bemisst, nach den Anteilen einer Schulstunde etwa. Ein bisschen mehr als das Neuntel einer Schulstunde. Das ist wenig, wenn ich es auf eine Mathematikstunde beziehe, aber sehr lange, wenn es um Sport geht, Geräteturnen insbesondere. Das Neuntel einer dieser quälend langen Geräteturnstunden würde ich nicht durchhalten, das war klar.

Wenn ich wie ein Sack überm Stufenbarren hing, ich, die ich mich schon in der Ebene nur mit Mühe bewegte. Und dann Janas höhnende Stimme: »Oh, là, là, die Walprinzessin!« Ich muss mich zusammennehmen. Ein bisschen mehr als fünf Minuten, mehr nicht. Der Anfang ist furchtbar, die Angst und die Schmerzen. Es macht mir mehr aus, als ich dachte.