Noch einmal davon gekommen - Nikolaus Klammer - E-Book

Noch einmal davon gekommen E-Book

Nikolaus Klammer

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Beschreibung

Vor- und Zufälle, Un- und Zwischenfälle, Glücks- und Einfälle und auch noch ganz andere Fälle ... Die besten Kolumnen, Glossen und Kurzgeschichten aus dem literarischen Blog "Aber ein Traum" des Diedorfer Schriftstellers Nikolaus M. Klammer über sein kompliziertes Familienleben mit Frau, zwei erwachsenen Söhnen und einer Katze, seine Reisen und sein Leben als Autor und Mitmensch. 220 Seiten voller Humor, Geist und Esprit. Aus dem Inhalt: "Das Lied des Weckers" - "Vegetarier und andere Bevormundungen" - "Estragon und ich" - "Die Mangoldaffäre" - "Jagdszenen einer Winternacht" - "Der Oktopus" - "Bad Birnbach, the twilight zone" und vieles mehr.

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Seitenzahl: 209

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Nikolaus Klammer

Noch einmal davon gekommen

*

Die besten Kolumnen aus meinem Blog

„Aber ein Traum“

Texte und Bilder:© Copyright by Nikolaus KlammerUmschlaggestaltung:© Copyright by Nikolaus Klammer

[email protected]

Druck:epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

„Wenn ich lügend sage, dass ich lüge, lüge ich oder sage ich Wahres?“- „Du sagst Wahres.“ – „Wenn ich Wahres sage und sage, dass ich lüge, lüge ich?“

Eubolides von Milet

„Oh, glücklichster Leser, wasche Deine Hände und fasse so das Buch an, drehe die Blätter sanft, halte die Finger weit ab von den Buchstaben. Der, der nicht weiß zu schreiben, glaubt nicht, dass dies eine Arbeit sei. O wie schwer ist das Schreiben: es trübt die Augen, quetscht die Nieren und bringt zugleich allen Gliedern Qual. Drei Finger schreiben. Der ganze Körper leidet ...“

unbekannter Mönch, 13. Jhd.

INHALT

1. KAPITELDER ALLTAGDES SCHRIFTSTELLERS

VorbemerkungDas MorgengrauenDas Lied des WeckersHaare lassenMeine Arme sind zu kurzMeine FehlerVegetarier und andere BevormundungenFasten mit KlammerNachtrag

KAPITEL 2FRÜHJAHRUND SOMMER

Der fürchterliche MonatDie WinterdepressionÜber meine DummheitEstragon und ichGeschmacklosesAlso lautet der BeschlussDie Mangold-AffäreDas SchirmrätselDer Hase rennt, der Igel spielt FußballDas TürendramaSummertimeDie Rasenmäherin, die Emanzipation und der Lärm meiner NachbarnDas Urlaubsdesaster

INHALT

KAPITEL 3AMY, DIE KATZE

Das KatzenrätselJagdszenen einer Winternacht

KAPITEL 4HERBST UND WINTER

Herbstliches GejammerVinschgau – Worte wie BleiDer OktopusKlammers HandykampfImmer der LetzteYou gave it away…Alle Jahre wiederDie SuchtBad Birnbach, the Twilight Zone

STATTEINES NACHWORTS

1. KAPITELDER ALLTAGDES SCHRIFTSTELLERS

*

VORBEMERKUNG: DIEZEHNGEBOTE FÜR DEN ERFOLGREICHEN SCHRIFTSTELLER

(Ich habe die Gebote durch Erläuterungen für etwas einfachere Gemüter ergänzt - solche soll es ja unter uns Autoren durchaus geben. Es gibt übrigens auch noch ein 11. Gebot. Das besagt, dass es nur 10 Gebote gibt)

I. Du sollst nur von dir schreiben, aber keiner darf es merken.

Nachdem du ein erfolgreicher Autor werden möchtest und dir für deinen Namen bereits das unvermeidbare Mittelinitial angeschafft hast („Nikolaus M. Klammer“), kommt nun die erste und damit die wichtigste Regel: Schreibe nur von den Dingen, von denen du etwas verstehst, also von dir selbst. „Wer versteht die Welt?“, fragt Novalis und gibt als Antwort: „Nur, wer sich selbst versteht.“ Moderner ausgedrückt klingt das dann so:

Moderator: „Sie schreiben, so scheint es, am liebsten über sich selbst.“

Stuckrad-Barre: „Entschuldigung, aber über wen denn bitte sonst?“

II. Gib niemals zu, dass du nur von dir schreibst.

Wir beide wissen es: Es gibt nichts Interessanteres als dich und dein Wohlbefinden; wenn du aber willst, dass du auch gelesen wirst, rede dem Leser ein, dass du über ihn geschrieben hast. Ein erfolgreiches Beispiel ist der Steppenwolf von Hermann Hesse: Ein uninteressanter Mensch berichtet larmoyant über uninteressante Dinge in seinem uninteressanten Leben. Aber jeder picklige 16-jährige identifiziert sich mit Harry und sucht vergeblich den roten Faden in seinem Leben.

III. Du sollst ein Wohlstandsleben führen.

Um einen Satz von Charles Ives abzuwandeln: „Ich liebe die Literatur viel zu sehr, um sie zu meinem Lebensunterhalt zu machen.“ Das Zeitalter des Hungerkünstlers ist vorbei. Tu dir und den anderen den Gefallen und richte dich bequem in deinem Leben ein. Dass ein leidender Autor besser schreibt als ein satter, ist ein böswilliges Gerücht, das der Pfahlbürger ausgestreut hat, um billig an deine Literatur zu gelangen. Glaube es nicht!

Natürlich impliziert diese Regel, dass du neben dem Schreiben noch einem Brotberuf nachgehen musst. Dieser sollte nach Möglichkeit überhaupt nichts mit deiner Leidenschaft für das Wort zu tun haben, denn nur so kannst du dich rein halten. Mach es wie Kafka und all die anderen verkrachten Künstler. Werde Lehrer oder Finanzbeamter. Als ein solcher hast du viel Freizeit und kein Beruf stellt dich sicherer, zugleich macht er dich ebenso zynisch wie ein leerer Magen.

IV. Du sollst regelmäßig Caféhäuser besuchen.

Freilich fragst du dich jetzt, wo du denn dann deine Anregungen finden sollst, wenn deine Verdauung, dein Berufs- und dein Geschlechtsleben dem III. Gebot gehorchend in Ordnung gebracht sind. Ganz einfach: Klemme dir deine randlose, runde Brille mit dem Fensterglas auf die Nase, setze dich in eine gesicherte Ecke des Cafés deines Vertrauens, lasse dich vom Kellner so fürsorglich bedienen, als wäre er Krankenpfleger und du Patient. Und dann tu so, als würdest du lesen. Nimm aber nichts Literarisches in die Hand, sondern etwas verstiegen Philosophisches. Hegel vielleicht, aber besser ist die zweite Reihe - Fries oder Nelson wären zu empfehlen, da kommt keiner auf die Idee, mitreden zu wollen. Zudem geben dir die beiden nebenher genug Argumente und wirre Floskeln in die Hand, um das IX. Gebot zu erfüllen.

In Wirklichkeit aber höre und beobachte. In den Cafés findet heute das Welttheater statt. Alles beginnt und alles endet in einem Café.

Außerdem ist dort meist geheizt.

V. Du sollst keine Gedichte schreiben!

Diese Regel gilt selbstverständlich nicht für Poeten, obgleich ich Lichtenberg zustimme, dass bei den meisten Menschen das Versemachen eine Entwicklungskrankheit ist und die Welt um einiges schöner und besser wäre, wenn nicht jeder Amateurdichter den Bodensatz seiner Liebesqualen vor dem Publikum auskotzen würde.

Der Versuch eines Prosaautors jedoch, zu diesem über-flüssigen und anachronistischen Wortgeklingel etwas beizutragen, muss zwangsläufig in die Hose gehen und zu Peinlichkeiten führen (siehe z. B.: Brecht, Grass oder Härtling, im 19. Jhd.  Storm oder Keller). Das gilt auch umgekehrt für die Lyriker (Kunert, Fried, Gernhardt), die die Prosa mit ihrer Dichtkunst vergewaltigen.

Also bleibe bei deinen Leisten und schreibe nur Gedichte, wenn du kleine Mädchen und gelangweilte Arztgattinnen um den Finger wickeln willst.

VI. Lies niemals aus deinen eigenen Werken vor.

Glaube mir, du bist nicht Ernst Jandl. Du hörst dich zwar gerne reden, aber da bist du auch der einzige. Die beste Methode, seine Literatur zu töten, ist es, sie selbst laut vorzutragen. Eigentlich müsste man dem Publikum für diese Zumutungen Geld bezahlen. Wenn du eine Lesung veranstalten willst, schicke einen Strohmann; es gibt genug verkrachte und billig zu habende Schauspieler, die deine Texte tausendmal besser vorlesen können als du selbst und sich dabei seltener versprechen.

VII. Sei neidisch!

Der Neid ist mithin die ehrlichste und älteste Gefühlsregung des Menschen. Er allein schuf die Kultur.

Muss ich hier wirklich noch etwas erläutern? Das Licht eines Autors strahlt um so heller, je stärker das Licht der Konkurrenz abgedunkelt wird. Ein Autor ist des anderen Wolf und es gibt keine bösartigeren Kritiker als die lieben Kollegen, denn keiner kann gezielter seine Finger auf deine Wunden legen und als Unfug entlarven, was du als Weltliteratur verkaufen willst. Befreunde dich nicht mit ihnen, hasse und meide sie wie einen juckenden Hautausschlag.

Und vor allem:

VIII. Lies nicht deine Zeitgenossen.

Nichts verdirbt mehr den guten Stil, als ihn mit dem der Konkurrenz zu vergleichen. Es heißt, man solle tausend Bücher gelesen haben, bevor man selbst eines schreiben könne. Fall darauf nicht herein, denn glaube mir, je mehr du liest, um so schwerer wird es dir fallen, selbst noch eine Zeile aufs Papier zu bringen. Jeder Buchstabe wird dir dann wie Umweltverschmutzung erscheinen.

Wenn du also schon unbedingt lesen musst, was für einen Autor wirklich nicht zwingend ist - es sei denn, er will eine Idee klauen -, dann gehe mindestens einhundert Jahre zurück. Es ist übrigens keine Schande, sich bei anderen zu bedienen - das haben die Besten gemacht. Besser gut gestohlen, als schlecht selbst erfunden.

IX. Benutze kein deutsches Wort, wenn es dafür ein schönes Fremdwort gibt.

Die besten Wörter sind die, die sich vom Griechischen ableiten. Als Autor (oder Lehrer, Politiker, Journalist; die Reihe lässt sich beliebig fortsetzen) sollte man zu jedem Thema etwas sagen können, das zumindest intelligent klingt. Beispiel gefällig?

Durch unsachgemäße Effination des opromatischen Flip-Flops ergibt sich auf Grund der desutativen Fluxation des elementar-hypostatischen Taxio-Feldes während des Inputs beim Übergang in das Higgs-Teilchenfeld ein letales psantylo-septisches Redundanzquariantum in der Interdependenz der approximativen Ferrumbasis des DDR-RAM-Bereichs ihres PC's. Hierfür kann keine Garantie übernommen werden.

Wenn du solche Sätze noch nicht aus dem Handgelenk schütteln und auswendig herunter rasseln kannst, dann gehe bei den SF-Autoren in die Schule.

X. Zweifle an allem.

Wenn du mir schon nicht glaubst, so höre auf Descartes: „Da wir als Kinder geboren werden und von den sinnlichen Dingen mancherlei geurtheilt, noch ehe wir den vollen Gebrauch unserer Vernunft hatten, so werden wir durch viele Vorurtheile von der Erkenntniß des Wahren abgewendet. Diese Vorurtheile können wir, so scheint es, nur los werden, wenn wir einmal im Leben geflissentlich an Allem zweifeln, worin sich auch nur der kleinste Verdacht der Unsicherheit findet.“

Dies gilt auch für diese Gebote und natürlich für den Zweifel selbst. Wenn du mir nachfolgen willst, so folge mir nicht nach.

Amen.

(Und niemals – wirklich, wirklich niemals - solltest du auf einem Bild oder einer Fotografie lächeln, wenn du ernst genommen werden willst. Sieh immer vor einem Bücherregal stehend ernst und bedeutend in die Ferne, lege dabei vielleicht noch überlegend die Finger einer Hand ans Kinn.)

*

DAS MORGENGRAUEN

In jeder Alltagswoche zwingt mich mein Brotberuf, morgens vor 06:00 Uhr aufzustehen.

„Was?“, wird nun vielleicht einer der beiden Fans des weltberühmten Autors und Kolumnisten Nikolaus M. Klammer überrascht ausrufen: „Mein Lieblingsschriftsteller kann von seiner Literatur nicht leben? Das hätte ich nie gedacht; so eine Schande. Wie krank ist denn diese Welt?!“

Ja, mein lieber Freund, ich stimme dir gerne zu und gestehe es dir hier im Vertrauen - sozusagen von Angesicht zu Angesicht - denn sonst liest ja dieses Büchlein niemand: So ist das. Von der Feder zu leben ist so ertragreich wie der Versuch, einen Ochsen zu melken. Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen:

Der Versuch, vom Schreiben zu leben, ist zwar nicht die schnellste Art zu verhungern, aber es ist doch noch immer die zuverlässigste.

Zudem gehen die meisten Verleger, Leser (und Anhänger der Piratenpartei) davon aus, dass der Autor überhaupt nur aus reinem Idealismus und Menschenfreundlichkeit schreibt und daher froh und dankbar sein sollte, wenn er seine Werke und schlauen Gedanken ohne freche Honorarforderungen verschenken kann. Eine Frechheit des Autors, dafür auch noch Geld zu verlangen!

„Was?“, werden alle anderen ausrufen, die mich nicht kennen und denen du, lieber Fan, fassungslos von meinem frühen Aufstehen erzählst: „Die überempfindliche Heulsuse Klammer jammert uns wegen seines traurigen Loses die Ohren voll, weil er tatsächlich ein paarmal in der Woche vor 06:00 Uhr aufstehen muss? Das hätte ich nie von ihm gedacht! Von dem lese ich keine Texte mehr, da muss ich mich nur aufregen.“

Halt,sage ich, ihr habt ja recht!

Eigentlich kann ich froh sein, wenn mich in meinem langweiligen Brotberuf überhaupt jemand dafür bezahlt, dass ich einige Stunden herumstehe, klug daher rede und durch Handauflegen Computer repariere. Da werde ich mein müdes Haupt auch einmal vom warmen Kissen und den Körper aus den Pfühlen erheben können, wenn die Sonne noch nicht aufgegangen ist. Ja, ihr habt alle recht, all ihr Frühdienstler und Nachtwächter, ihr braven Bauern, Arbeiter und Angestellte, Beamte und Köche, die ihr niedergedrückt von der Woche Last wohlverdiente (und kostenfreie) Entspannung in meiner Literatur sucht. Ihr alle, die ihr jeden Tag und oft auch am Wochenende klaglos vor den Hühnern aufsteht, um im Schweiße eures Angesichts euren kärglichen Lebensunterhalt zu verdienen - ihr alle habt meinen Respekt. Ich klage mal wieder auf hohem Niveau; das kann ich wirklich gut. Selbstmitleid ist meine persönlichste Regung, das sollte inzwischen bekannt sein.

Aber ich bin eben auch Künstler und mir ist es deshalb einfach nicht in die Wiege gelegt, in die Gene geschrieben oder durch die Erziehung aufgeprägt worden, morgens vor der Frühmesse schon wach zu sein. Die Stunde des Dichters ist der späte Abend, es ist die Nacht. Sie allein hat Erbarmen mit ihm, hüllt ihn ein in einen wärmenden Mantel der Ruhe und der Besinnung. Daher richtet er auch seine Hymnen an den leuchtenden Sonnenuntergang, an die funkelnden Sterne am schwarzen Firmament, an die mürrischen Barkeeper hinter den Theken seiner Lieblingskneipen - und nicht an die stumpfe, allzu kalte Morgendämmerung, nicht an die öligen Regentropfen aus grauen Nebelwolken und die mürrischen Busfahrer hinter den Lenkrädern der Linie 601.

Zählen wir doch einmal: Wie viele Maler malten denn die Morgensonne? Was zählt ein Claude Monet gegen gefühlte tausend Abendstimmungen von Caspar David Friedrich? Wie viele Lyriker beschrieben rosa Wolkenfinger, die sich in den Morgenhimmel krallen? Und wie viele Lieder an die Nacht wurden dagegen gereimt? „Warte nur, balde ruhst du auch.“ Wie viele musikalische Morgenstimmungen gibt es? Ah, da meldet sich einer: „Der Zarathustra von Strauß und der Grieg'sche Peer Gynt“, höre ich. Brav, da hat aber einer seine Hausaufgaben gemacht.

Erstens: Diese zwei Beispiele stehen so einsam gegen all die Abend- und Gute-Nacht-Lieder, Serenaden und kleinen Nachtmusiken, dass sie wohl kaum ins Gewicht fallen und wahrscheinlich eh nur geträumte Phantasien des Komponisten sind, der sie spät am Abend zu Noten machte. Zweitens: Meine Argumentation ist zu gut, um sie mir von der Wahrheit kaputt machen zu  lassen. Setzen!

Zusammengefasst: Ich bin einfach nicht dafür geboren, vor 08:00 Uhr aufzustehen! Ich möchte richtig verstanden werden. Ich bin kein Oblomov, ich verschlafe nicht den ganzen Vormittag. Ich kann sogar hervorragend vor meiner verdienten Mittagsruhe arbeiten - aber nicht, wenn ich mich zu früh in den grauen, im Winter schwarzen, Tag kämpfen muss. Dann kann ich nicht denken, kaum zwei zusammenhängende Sätze formulieren, jemandem zuhören oder konzentriert arbeiten, gar mit Menschen reden, ohne ihnen Beleidigungen oder Gegenstände ins Gesicht zu werfen. Gut, dass diesen Menschenkontakt bei meiner Arbeit niemand von mir verlangt, denn morgens herrscht bei mir Ausnahmezustand. Wenn ich mich nicht am Griff meiner Kaffeetasse festhalten kann, rutsche ich langsam vom Stuhl.

Gemach! Bevor alle Werktätigen mit Früh- und Nachtschichten von Neuem über mich herfallen – ich kann bereits den einen oder anderen bösen Kommentar auf der Zunge schmecken: Ich erwähnte bereits, dass ich auf höchstem Niveau jammere. Der Herr hat den Menschen und insbesondere Nikolaus M. Klammer nicht dazu geschaffen, um diese Uhrzeit aufzustehen. Schließlich geht auch die Sonne erst später auf. Vor sieben Uhr aufstehen: Das ist eine unmenschliche Tortour, ein Verbrechen an der Menschheit, das gesetzlich verboten gehört.

Denn mein gequälter Leib schleppt sich nach dem unbarmherzigen Weckerklingeln einem Zombie gleich ins Bad, während meine Seele noch im Bett liegt und von heiteren, leichten Dingen träumt. Erst, wenn mein seelenloser Körper sich vor dem Spiegel stehend oberflächlich wäscht und mechanisch die Zähne schrubbt, werde ich langsam wach und mein Geist kommt hinter mir her aus den warmen Pfühlen ins Bad getrottet. Dort finde ich mich und eine Laune. Selten ist es eine gute, denn der Verfall, der mir aus dem Spiegel mit von Zahnpasta verschmierten Lippen eine Grimasse zieht, schreitet hurtig voran und die Zahl der grauen Haare steigt täglich progressiv an. Selbst wenn ich mich noch für eine schnelle Dusche mit „revitalisierenden Algenextrakten“ und „Hair-Energizer“ (wird wahrscheinlich Här-Einischeißer ausgesprochen) entscheide, bringt das keine Jugendlichkeit zurück.

Auch der weitere Ablauf des Tagesbeginns folgt einer festen Zen-Regel: Ich tappe an den Briefkasten und nehme die Zeitung, trage sie in die Küche und schmeiße den Kaffeevollautomaten (siehe weiter unten) an. Dann schleppe ich mich zum Radio und öffne den Sender meines Vertrauens.

Da ich grundsätzlich - und am Morgen insbesondere - auf das waidwunde Gewinsel von Helene Fischer, des Grafen, von Xavier Naidoo et. al. und auf das Beste aus den 80ern und die Hits der 90er verzichten kann, ist die Frequenz auf den einzigen Rocksender eingestellt, der Bayern beschallt. Da die Songauswahl der Rockantenne eng begrenzt ist - wahrscheinlich können sie sich nicht so viele Lieder leisten -, singen meist Jon Bon Jovi oder Die toten Hosen, was ich morgens gerade noch hinnehmen kann. Ich packe also meinen Pott Kaffee, kühle ihn großzügig mit Milch, vergesse dann aber meist umzurühren und verbrenne mir den Mund (auch davon noch später). Mühsam versuche ich die Schlagzeilen der Zeitung zu verstehen. Mist, ich brauche jetzt wirklich bald eine Lesebrille. Die Laune bessert sich nicht. Da hilft mir auch das zum einhundertsten Mal gespielte Hotel California nicht.

Und dann wird in die letzten Takte des Liedes gequatscht und der Ärger geht los: Warum müssen Radiomoderatoren - insbesondere Morgenshow-Moderatoren - immer so hysterisch gute Laune haben? Da wird ein Sparwitz nach dem anderen gerissen und künstlich darüber gelacht. Und damit der trübe Morgenverstand des Hörers auch mitbekommt, dass das lustig sein sollte, wird das Ganze noch wie beim Mainzer Karneval mit einem Tröt-Geräusch oder einer Fanfare untermalt. Und so kichert man sich durch die Moderation und durch den Wetterbericht und wirft sich bei den Verkehrsmeldungen fast weg, unterbrochen von den immer gleichen Werbe-Jingles, in denen mir noch hysterischere, kurz vor der Einweisung in eine Anstalt stehende Menschen jeden Morgen aufs Neue versichern, wie lecker die Spätzle von Settele sind, wie günstig mich eine Autofinanzierung kommt und welche Nummer die Telefonauskunft hat - dazwischen singen mal wieder Boston „What a feeling“, obwohl ich, wenn ich ehrlich bin, außer aufsteigendem Zorn noch überhaupt nichts fühle ...

Ist es denn so schwer zu begreifen, dass ich das am Morgen alles nicht brauche? Können denn die Moderatoren (Barny! Eisprinzessin! Ha, ha, ha ha, ha! Das Wetter, ha ha! Klingeling, wer ist denn da dran? Ha, ha, ha! Trööt!) nicht auf mich Rücksicht nehmen und wenigstens vor Acht Uhr nicht wie klinische Fälle in der manischen Phase plappern, sondern auch einfach mal so schlecht gelaunt sein wie ich? Ich habe mir sogar ein Internetradio mit 50.000 Sendern zugelegt. Dadurch wurde nichts besser: Jetzt kann ich aber die Morgenhysteriker in allen Sprachen der Welt empfangen - am schlimmsten sind die Japaner ...

Warum gibt es kein Morgenmuffelradio, in dem jemand mit übler Stimmung halb schlafwandlerisch ein paar Informationen ins Mikro murmelt und dann Leonard Cohen oder The Cure jammern lässt oder – noch besser - ohne Gequatsche die besten Morgenblues-Titel spielt? Das würde mir morgens wirklich  auf die Beine helfen ...

Vielleicht sollte ich selbst solch eine Radiostation gründen: Morgenmuffel 92,4, das Programm für die NichtAusgeschlafenen, mit der Schlechte-Laune-Garantie für den ganzen Tag, Staumeldungen und den traurigsten Rockballaden - werbefrei und ohne Gewinnspiele.

„First we take your morning, than we take your day…“

*

DAS LIED DES WECKERS

Wir haben es also gesehen: An den Wochentagen, an denen ich vor 06:00 Uhr aufstehen muss, herrscht Ausnahmezustand und wenn ich mich nicht am Griff meiner Kaffeetasse festhalten kann, rutsche ich beim Frühstücken vom Stuhl. Der frühe Morgen zwingt mich also zu widernatürlichen, abartigen Handlungen, die meiner ganzen Persönlichkeit, meiner Weltanschauung und meiner Ethik widerspricht. Da ich gerne mit meiner humanistischen Bildung angebe, will ich es mit den Worten meines geschätzten Kollegen Torquato Tasso sagen, die ihm Goethe im gleichnamigen Drama in den Mund gelegt hat:

 So zwingt das Leben uns, zu scheinen, ja, zu sein, wie jene, die wir kühn und stolz verachten konnten.

Deshalb habe ich mich entschlossen, an diesen Frühaufsteh-Tagen nicht mehr zu schreiben. Die Weltkultur und die Menschheit im Allgemeinen werden es wahrscheinlich überleben, wenn ich ein- oder zweimal in der Woche nicht blogge, nicht an meinen, ach, so bedeutenden Romanen und essayistischen Ergüssen schreibe - und übrigens halb schlafwandelnd auch in der Arbeit nur Mist mache.

Meine Sorge ist eine ganz andere: Es ist das pünktliche Aufwachen, um rechtzeitig in der Arbeit zu sein. Ich bin im Besitz einer gut funktionierenden inneren Uhr, aber gerade in den frühen Morgenstunden versagt sie gerne. Die wunderbare Frau Klammerle (meine liebe, treusorgende und geduldige Gattin, die ich nun zum ersten, aber bestimmt nicht zum letzten Mal auf diesen Seiten erwähne), die als pflichteifrige Krankenschwester jeden Tag zu den unmöglichsten Zeiten aufstehen muss, mal vor 05:00 Uhr zum Frühdienst, am nächsten Tag zum Spätdienst, dann zum Zwischendienst, und anschließend mal wieder still vergnügt ein paar Nächte lang durcharbeitet, bringt freilich absolut kein Verständnis für mein oben geschildertes Problem auf{1}.

Es geht ihr auch viel schlimmer als mir: Obwohl sie noch nie zu spät zur Arbeit kam, ist sie anerkannte Weltmeisterin im Tief-, Lang- und Vor-dem-Fernseher-Schlafen und steht als solche auch unangefochten im Guinnessbuch der Rekorde. Ach, wie oft fiel ihr schon ein dicker Frauenroman beim Lesen im Bett nach der ersten schmalzigen Seite aus der ermüdeten Hand und aufs Gesicht!{2}

Daher brauchen wir beide dringend jeder persönlich einen eigenen Wecker auf dem Nachttisch mit den privaten, täglich wechselnden Weckzeiten. Und damit beginnt das eigentliche Ärgernis und zwar nicht nur Freitags oder Montags, sondern jeden dummen Alltagsmorgen, den uns der Herr in seiner grenzenlosen Güte noch schenken will, bis wir einstmals das Rentenalter erreichen.

*

Es folgen nun ein paar Auszüge aus dem Tagebuch der Familie Klammer:

Montag, 11. September 20**, 04:43 Uhr morgens

Ruhe herrscht im Hause Klammer, alles schläft. Allein Amy, die Katze{3}, hebt einmal kurz ihren Kopf von ihrer Ruhedecke zu den Füßen von Frau Klammerle. Das treue Tier öffnet nicht einmal die Augen, schnuppert nur einmal in die Luft, lauscht den gleichmäßigen Atemzügen, die von der rechten Bettseite etwas lauter rasseln. Amy, die Katze, hat ein gutes Gefühl für Stimmungen. Sie weiß, es liegt etwas in der Luft. Trotzdem schmiegt sie sich wieder in ihre ausgestreckten Pfoten und lächelt im Katzenschlummer.

Der digitale Funkwecker von Frau Klammerle ist auf die Weckzeit von 04:45 Uhr eingestellt, sie hat Frühdienst. Mein Wecker, ebenfalls eines dieser digitalen Teile, die einem die Supermärkte, Drogerien und Kaffeegeschäfte billig hinterher schmeißen, soll erst eine Stunde später läuten, immer noch zu früh, aber immerhin kann ich ja noch eine ganze Stunde schlafen. Noch 2 Minuten, bis das Schicksal zuschlägt ...

Frau Klammerles Uhr erreicht den Weck-Zeitpunkt. Anstatt enervierend zu piepsen, knackt sie nur kurz. Ein leises Geräusch, das außer der Katze, die es nicht weiter interessiert, von niemandem gehört wird. Das Ehepaar Klammerle ruht ungestört weiter. Amy, die Katze, hat jedoch eine perfekt funktionierende innere Uhr, weshalb sie fünfzehn Minuten später Appetit auf einen kleinen Frühstückssnack bekommt. Deshalb erhebt sie sich aus ihrer Decke, reckt und streckt sich, gähnt einmal herzhaft und trottet gemütlich hinauf zum Kopfende, wo Frau Klammerle noch immer von angenehmen und wie üblich vollkommen harmlosen Dingen träumt. Amys Weckmethode ist etwas weniger subtil als das knappe Klacken des kaputten Weckers: Sie schlägt ihr mit der Pfote auf die Nase und ruft auf kätzisch:

 „Guten Morgen- ich habe Hunger!“, was sich ungefähr wie „Brr – mau!“, anhört.

Frau Klammerle steht im Bett, ihr Herz pocht. Ein Blick auf ihren Wecker zeigt ihr, dass sie viel zu spät dran ist. Mit einem Aufschrei stürzt sie ins Bad, ohne sich weiter um die Katze zu kümmern. Diese ist nur kurz beleidigt, dann entscheidet sie, dass es ja noch einen zweiten Menschen gibt, der sie zu ihrem Fressnapf geleiten und denselben mit Trockenfutter und Leckerli füllen kann. Auch ich werde mit einem liebevoll kräftigen Schlag auf die Nase geweckt.

„Brr – mau!“

Und bin deshalb eine Stunde zu früh wach. Eine Entscheidung muss her.

Morgen kaufe ich für Frau Klammerle einen neuen Wecker beim Billigdrogeriemarkt im Dorf. Die alte Uhr, die zwar immernoch - von einer Atomuhr funkgesteuert - sekundengenau die Zeit anzeigt, aber eben nicht mehr weckt, landet in meinem Arbeitszimmer. Einen Nachmittag lang beschäftige ich mich, Frau Klammerle zu erklären, wie der neue Wecker funktioniert. Einstellen der Alarmzeit, Schlummertaste usw. Warum sind diese Tasten bei Funkuhren immer so klein und fummelig, so ungünstig wie möglich hinten am Gerät angebracht und warum muss man mindestens zweimal konzentriert drücken, um den Wecker auszuschalten? Da muss Methode dahinter sein …

*

Montag, 18. September 20**,04:45 Uhr morgens

Wieder hat Frau Klammerle Frühdienst. Und der neue Wecker funktioniert! Ein unerträglich lautes Piepsen ertönt. Amy, die Katze, flüchtet unter das Bett, auf dem Herr und Frau Klammerle mit pochenden Herzen stehen. Frau Klammerle schnappt sich das plärrende Teil.

„Wie schaltet man das Ding aus?“, ruft sie verzweifelt und drückt alle Tasten, die auf der Rückseite sind. Tatsächlich herrscht plötzlich Ruhe. Sie stellt den Wecker zufrieden zurück aufs Nachtkästchen und trollt sich ins Bad. Nachdem sich mein Puls wieder beruhigt hat, sinke ich zurück in meine warmen Kissen, ich darf ja noch eine Stunde schlafen. Ein wunderbarer Traum muss noch weiter geträumt werden und tatsächlich gelingt mir das seltene Kunststück, wieder in ihn hinein zu finden und tiefer ins Wunderland zu fliegen. Da geht Frau Klammerles Wecker erneut los. Ich schrecke hoch, schnappe mir das Teil und drücke alle Tasten, die auf der Rückseite sind. Mir gelingt es nicht, die richtige, die den Lärm stoppt, zu finden. Also entferne ich die Batterien. Ruhe. Aber jetzt sind Schlaf und wunderbarer Traum endgültig geflohen und ich liege eine Stunde wach, bis meine treue Uhr sich pflichtbewusst meldet.

Am nächsten Tag landet der Wecker, der zwar funktioniert, aber für uns viel zu kompliziert ist, in einer Schublade im Arbeitszimmer, wo er weiterhin ab 04:45 Uhr morgens zehn Minuten lang vor sich hin plärrt, aber niemanden mehr stört.

*

Montag, 25. September 20**, 04:45 Uhr morgens

„Nein, du kaufst heute keinen neuen Wecker. Ich habe eine bessere Idee“, erklärte mir vorgestern meine Frau, als ich mich beim Einkaufen in der Uhrenabteilung herum trieb.