Die Verliese des Elfenbeinernen Palastes - Nikolaus Klammer - E-Book

Die Verliese des Elfenbeinernen Palastes E-Book

Nikolaus Klammer

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Beschreibung

Das Prequel zur Brautschau-Saga geht weiter: Der Weg, der in den Tag führt Teil Zwei - Die Verliese des Elfenbeinerenen Palastes "Herrin der Nacht, du Allessehende und Allerbarmende. Höre mich. Sechs Männer waren es, die meine Schwester töteten. Heute Nacht werden sie für die Untat büßen, die sie vor 20 Jahren begangen haben. Keiner von ihnen wird seinem Schicksal entkommen!" Der Regno der Lamargue wurde auf dem Gastmahl des Großvezirs der Wüstenstadt Karukora vergiftet. Während sich das fröhliche Fest in eine blutige Schlacht verwandelt, nutzen ein paar Diebe die Gunst der Stunde. Sie wollen aus dem Thronsaal des Namenlosen Herrschers der von Karukora eine Landkarte stehlen. Sie soll einen Weg aufzeigen, der durch die "Ebenen des Ewigen Krieges" hinein das sagenhafte Pardais führt. Der Diebstahl gelingt, aber die Häscher des "Unterwerfers" sind ihnen auf der Spur. Es beginnt ein verzweifelter Wettlauf mit der Zeit. Selin, Juel und ihre Gefährten müssen durch die Verliese des elfenbeinernen Palastes in die Tote Wüste flüchten und überall lauern tödliche Fallen und Gefahren auf sie. Wird es ihnen gelingen, Pardais zu erreichen? Und was wird sie dort erwarten? Neue, atemberaubend spannende Abenteuer in den "Überlebenden Landen" Buch 2 der Trilogie "Der Weg, der in den Tag führt"

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Seitenzahl: 472

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Nikolaus Klammer

DER WEG, DERINDEN TAGFÜHRTEIN ROMANAUSDER WELTVON BRAUTSCHAU

Teil 2

„Die Verliese des elfenbeinernen Palastes“

E-Book-Ausgabe

Diese Geschichte spielt im Sommer vor den Ereignissen, von denen der Roman „Meister Siebenhardts Geheimnis“ erzählt.

Texte und Bilder:© Copyright by Nikolaus KlammerUmschlaggestaltung:© Copyright by Nikolaus Klammer

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Druck:epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Was bisher geschah

Auf den Überlebenden Landen lastet der ungewöhnlich heiße Sommer des Jahres 5879 nach der Großen Welle, die die alte Welt der Vorgänger zerstörte. Der Stadtstaat Karukora ist auf der Höhe seiner Macht. Das Juwel der Wüste, wie die große Stadt von ihren Einwohnern genannt wird, befindet sich inmitten unwegsamer Wüsteneinöden und westlich eines gewaltigen, von einem Ringgebirge umschlossenen Kraters. Dort liefern sich in den sogenannten Ebenen des Ewigen Krieges seit Jahrtausenden drei Roboterarmeen Nacht für Nacht eine erbitterte und doch nie endende Schlacht – eine Schlacht, die keinen Sieger und keine Verlierer kennt. Aber Karukora liegt auch am Kreuzungspunkt der wichtigsten Handelsrouten der Überlebenden Lande mitten im Mündungsdelta des vielbefahrenen, gewaltigen Stromes Marat ins Südmeer. Die erste Erwähnung Karukoras, das offenbar auf den Grundmauern der alten Vorgängerstadt Athini errichtet wurde, findet sich in der Khronika prima Kaesari sine nomine von der legendären Geschichtsschreiberin Hannalah d‘Ryst aus dem Jahre 3112. Stadt und Staat werden von jeher durch eine Abfolge von Herrscherfamilien und ihrer Satrapen regiert, deren erste, die sogenannte Bingh–Dynastie, sich direkt von dem legendären Gründer Karukoras herleitete, dessen Name jedoch im Dunkel der Zeit verlorengegangen ist. An der Spitze des Staates steht deshalb seit vielen Jahrhunderten der sogenannte Namenlose Herrscher, der, von seinem Diwan und seinem Vezir–Bey beraten, vom Falkenthron des Elfenbein–Palastes aus, die Geschicke der Stadt und der umliegenden Wüsten– und Oasenlandschaften bis hinauf zum Helmgebirge und dem Großen Wall lenkt. Dort grenzt das Herrschaftsgebiet der Namenlosen an das Fürstentum der Lamargue, mit dem Karukora seit seinen Gründungstagen in Grenzstreitigkeiten und kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt ist und sich heutzutage in einem prekären und brüchigen Waffenstillstand befindet.

Der augenblickliche Herrscher, der sich auch der „Unterwerfer“ nennen lässt, entstammt der relativ jungen Bişra–Dynastie. Sein machtgieriger und intriganter Vezir Ómer Sud, mit dessen hochschwangerer Tochter Eóra der Namenlose vermählt ist, plant schon lange dessen Sturz, um sich selbst zum Regenten zu machen und seine eigene Sud–Dynastie zu begründen. Ómer hat sich für seinen Putsch mit dem mächtigen General Paşa Ultem verschworen und will auf einem Gastmahl zuschlagen, das er für den „Bären von Jasir“, den Regno Raul IV., seines Zeichens oberster Fürst und Beherrscher der Lamargue, im Palast ausrichten lässt. Dieser befindet sich gerade zu diplomatischen Beratungen und Handelsgesprächen in Karukora. Er wird von seiner Entourage und seinem Geheimdienstchef Idrichson Galves begleitet, der die „Schwalbe von Avríl“ genannt wird, Auch die oberen Zehntausend Karukoras und Miladí da Hiver, die rätselhafte Botschafterin des technologisch fortschrittlichen 5–Städte–Bundes, weit im Nordosten derÜberlebenden Lande, sind zu dem Fest eingeladen, das Ómer mit großem Aufwand geplant hat, um seine Gäste mit der Überlegenheit der Karukorer Kultur zu beeindrucken. Er erhofft sich gleichzeitig ihre Unterstützung bei seinem Handstreich, der ihn an die Macht befördern soll. Doch sein Festmahl, dessen Höhepunkt ein Vortrag des berühmten alten Märchenerzählers Alis Dabinghi sein soll, ruft noch andere Verschwörer auf den Plan, von denen Ómer nichts ahnt.

Druşba es Sakr, die geheimnisvolle Anführerin der legendären Karukorer Assassinengilde „Kalte Hand“, die eigentlich als ein lange vergessener Mythos galt,plant an diesem Abend ein bezahltes Attentat auf den hünenhaften Regno Raul. Der Auftraggeber für diese Mordtat bleibt zwar noch im Verborgenen, aber Meister Adelf von Süderbal, der Botschafter des Mönchsstaats Italmar in Karukora, erfährt durch einen Zufall von dem Komplott. Doch bevor er den Regno oder jemanden anderen warnen kann, wird er von der „Kalten Hand“ aus dem Weg geräumt. Allerdings kann er eine Botschaft hinterlassen, die der Mönchsadept Sahar findet, der sich eigentlich in Karukora aufhält, um nach dem abtrünnigen Meister Siebenhardt zu suchen, der von Italmar wegen Ketzerei und Diebstahls von Kircheneigentum gesucht wird. Sahar überredet die skeptischen Raul und Galves, dass auch er als ein weiterer Märchenerzähler verkleidet an dem Fest teilnehmen kann, um die Assassinin auf frischer Tat zu entlarven und ihren Anschlag vereiteln zu können.

Auch der alte Alis Dabinghi hat eigene Pläne für das Fest. Er lebt mit seinem Enkel Selin, dessen Mutter bei seiner Geburt starb, und mit seiner älteren Tochter Sirtis in ärmlichsten Verhältnissen in Hamdala, dem Scherbenviertel von Karukora, dem er mit seiner Familie entfliehen möchte. Er will den Abend des Fests dazu nutzen, um mit der Hilfe eines Dieners von Ómer, seines stummen, alten Freundes Muhar, einen wertvollen Schatz aus dem Elfenbein–Palast zu stehlen. Diesen Raub soll für ihn der junge und geschickte Selin durchführen, während Alis selbst auf der Bühne steht und eines seiner Märchen vorträgt. Das Objekt seiner Begierde ist der „Weg, der in den Tag führt“. Dabei handelt es sich der Sage nach um eine Karte oder eine Wegbeschreibung, die eine Möglichkeit aufzeigt, wie man unbeschadet die Ebenen des Ewigen Krieges durchqueren kann, um zu der legendären Stadt des Friedens und des Glücks Pardais zu gelangen, die inmitten des Schlachtfelds liegt. Soweit Alis, der ein direkter Nachfahre der früheren Bingh–Dynastie ist, aus den Familienüberlieferungen weiß, ist „Der Weg, der in den Tag führt“ in einem Geheimfach im Falkenthron direkt im Thronsaal des Elfenbein–Palastes verborgen. Da Selin zwar seinem Großvater gehorsam, aber kein Dieb, sondern ein Student ist, der sich auf seine Staatsexamen vorbereitet, macht Alis einen Vertrag mit der Diebeszunft von Karukora, damit diese ihn bei seinem Raubzug unterstützt. Die Diebe schmuggeln zwei ihrer Mitglieder auf das Fest, die Selin unterstützen sollen: Das sind Jalah, die Dienerin von Semira Binsa, die mit ihren reichen Eltern ebenfalls an dem Fest teilnimmt und Selins heimliche Geliebte ist, und der geheimnisumwitterte Meisterdieb Ludo Sorriento, der sich als der Kaufmann Juel aus dem 5–Städte–Bund ausgibt und niemand anderer als der von Sahar gesuchte, ehemalige Meister Siebenhardt ist.

Schließlich beginnt Ómers Gastmahl und während sich Sahar und Alis vor den hohen Gästen ein Duell liefern, wer von ihnen der bessere Märchenerzähler ist, machen sich Selin und Juel heimlich in Richtung Thronsaal auf, um den „Weg, der in den Tag führt“ zu rauben. Auch Jalah schleicht sich davon. Sie wird von der neugierigen und aufmerksam gewordenen Semira verfolgt, die sich fragt, was ihr Freund und ihre Dienerin vorhaben.

Der traditionelle Satz, mit dem ein Märchenerzähler zum Schluss seines Vortrags kommt, lautet: „Aber das ist eine weitere Geschichte nach der Geschichte und ich will sie euch an einem anderen Tag erzählen.“ Ómer hat mit Paşa Ultem verabredet, dass diese Worte, wenn sie Alis ausspricht, das Signal sein sollen, ihre Palastrevolte gegen den Namenlosen zu starten. Doch auch der ehrgeizige General hat seine eigenen Pläne. Er hat den Vezir gemeinsam mit dem Seneschall Radik Emre an den „Unterwerfer“ und an die Elitesoldaten des Namenlosen, die „Treuwacht“, verraten und vereitelt mit seiner Truppe Wüstenkriegern den Putsch. Ómer wird sofort verhaftet und auf der Stelle ins Verlies des Palastes gebracht. Das Gastmahl könnte nun weitergehen. Doch in diesem Augenblick stürzt der Regno Raul von seinem Stuhl. Er wurde von der Assassinin der „Kalten Hand“ vergiftet.

Ein paar Stunden vor diesen Ereignissen, kurz vor Sonnenuntergang, nähert sich ein Eselsgespann, das von einer dicken Frau auf dem Kutschbock gelenkt wird, der großen Alhaşra–Karawanserei vor den Toren von Karukora …

1. KapitelEINE NACHTINDER KARAWANSEREI

Auf diese merkwürdige Weise verdingte sich meine Schwester Irta schließlich am Hof des Namenlosen Herrschers. Sie war eine niedrige Dienerin unter tausend anderen und doch eine ganz besondere, denn in ihrer Hand lag für kurze Zeit das Schicksal Karukoras«, sagte Sirtis und reckte ihre geballte Faust zu den blinkenden, gleichgültigen Sternen hinauf, als würde sie ihnen drohen. »Und heute ist die Nacht, in der ich zum ersten Mal ihre Geschichte erzählen werde.«

Das große Feuer in der Mitte des quadratischen Innenhofs der Alhaşra–Karawanserei, die in der Nähe des großen Marsfeldes direkt vor dem Ambra–Nordtor außerhalb der Stadt Karukora stand, war beinahe erloschen. Längst flackerten und glommen die letzten Glutnester der niedergebrannten Holzscheite und der stinkenden Briketts aus gepresstem und getrocknetem Kamel–Dung nur noch in dunklem, orangefarbenen Schein, als wäre an dieser Stelle die Erde kreisrund aufgebrochen und es würde ihr Brand aus dem Inneren an die Oberfläche emporquellen und dort einen kleinen Lavasee bilden. Wenn der Herbergsvater Hüsëttin ab und an mit seinem langen, eisernen Haken in der Glut wühlte und rührte, um sie noch einmal anzustacheln, dann sprühten nur wenige Funken in die Höhe und tanzten bis zu ihrem schnellen Verlöschen über den Häuptern der Versammelten. Doch keiner unter den Reisenden, den Kaufleuten, ihren Dienern, den Kamelhütern und Sklaven dachte daran, dass er am frühen Morgen beim ersten Hahnenschrei vor Sonnenaufgang wieder aufstehen musste und es daher langsam ratsam wurde, sich zur Nachtruhe zu begeben. Auch die Beschäftigten des Rasthauses wollten noch nicht an das Ende dieses Abends glauben, der sie alle so aufgewühlt hatte. Man rutschte nur näher heran an die in sich zusammenfallenden, glühenden Kohlen, deren Hitze immer schneller von der Kälte der Nacht geschluckt wurde und die in der Runde wandernden Flaschen mit wärmendem Geist wechselten häufiger ihre Besitzer.

Wie Verdurstende hingen alle an den Lippen der aufgeschwemmten, älteren Frau, die bei Sonnenuntergang auf dem Kutschbock eines schwerbeladenen Eselskarrens in die Karawanserei gekommen und ganz offensichtlich eine eingeborene Bewohnerin des Juwels der Wüste war. Diese Frau war freilich keine andere als Sirtis, die wohlgenährte und immer gutgelaunte Tochter des Märchenerzählers Alis, die an diesem Abend die ehrwürdige Tradition ihrer Familie weiterführte und sich aus Gründen, die nur ihr selbst bekannt waren, dazu entschieden hatte, eine ganz besondere Geschichte vorzutragen.

Sirtis hatte sich in der Alhaşra mit einem unscheinbaren Mann getroffen, der kurz nach ihr vom auch für Fremde geöffneten Stadtteil Karus her auf einem von zwei kräftigen Maultieren gezogenen Kaufmannswagen in den Hof gefahren war und sein grün gestrichenes Gefährt direkt neben ihrem Karren abgestellt hatte. Der von Hüsëttin misstrauisch beobachtete und durchaus etwas suspekt wirkende kleine Kerl war bestimmt nicht der Besitzer des schönen und offenbar gut mit allerlei fremdländischen Waren angefüllten, mit üppigen Schnitzereien verzierten Wohnwagens, der eindeutig eine Anfertigung aus den Oststädten war. Bestimmt war der ein wenig unheimliche Mann nur der Diener eines reichen und erfolgreichen Kaufherren. Halb unter einer Mütze verborgen, zierte eine tiefrote Rosentätowierung die Männerglatze des Mannes. Sie machte ihn als einen freigekauften oder geflohenen Sklaven aus den Vergessenen Ländern von jenseits der gewaltigen Wasserfläche des Südmeers kenntlich. Aber der zwielichtige Mann bezahlte seinen Standplatz für den Wagen und das Futter für seine Tiere für eine Nacht ohne zu murren oder wie alle anderen Gäste zu feilschen. Stattdessen gab er ein üppiges Trinkgeld im Voraus und die dabei zum Vorschein kommende, große und prall gefüllte Geldkatze wog in der Meinung Hüsëttins schwerer als seine Bedenken.

Tonino, wie sich der schweigsame und überaus ernste Mann nannte, dessen Lippen sich anscheinend noch nie zu einem Lächeln verzogen hatten, hatte der dicken Sirtis nur leichthin wie einer flüchtigen Bekannten zugenickt und sich dann um seine Maulesel gekümmert, die er in dem angemieteten Stallabteil unterbrachte, eigenhändig mit Stroh abrieb und aufmerksam versorgte. Selbstverständlich waren diese beiden auffallenden und außergewöhnlichen Gäste der Alhaşra–Herberge sofort von einem Haufen Neugieriger und Herumlungerer umringt worden, die alle darauf brannten, ihr Woher und ihr Wohin in Erfahrung zu bringen. Niemand konnte vermuten, dass die beiden ein gemeinsames Ziel hatten, das jeden vor Erstaunen schwindlig gemacht hätte, wenn er es erfahren hätte. Tonino blieb jedoch so beharrlich stumm, als hätte ihm ein Al‘kadi wegen eines Vergehens die Zunge herausschneiden lassen und knurrte nur abweisend und unhöflich, wenn er angesprochen wurde. Das war für einen Diener eines Kaufmanns von jenseits des Großen Walls sehr ungewöhnlich, denn ein guter Händler und sein Gefolge verkauften ja nicht nur Waren und Dienstleistungen aller Art, sondern immer auch Neuigkeiten, Mitteilungen, Gerüchte und Geschichten, mit denen sie oft mehr verdienten als mit ihren Handelsgütern. Gerade die Feuer der Karawansereien waren eine lebhafte Börse, an der mit diesen Nachrichten und Märchen gefeilscht wurde. Dafür war die Frau umso gesprächiger. Einige erkannten sie als Sirtis, die Tochter von Alis, und sie wussten, dass sie wie ihr Vater eine begabte Märchenerzählerin war, die ihm jedoch nur selten Konkurrenz machte.

Sirtis strahlte jeden der Müßiggänger lachend und scherzend mit ihren wundervollen, weißen Zähnen an und lud bald alle auf eine gegorene Ziegenmilch ans hoch emporlodernde Hauptfeuer, das der Herbergsvater mit seinen Gehilfen in der am Rand der Wüste schnell heraufziehenden Abenddämmerung entfacht hatte. Sie versprach, dort alle Fragen zufriedenstellend zu beantworten, denn dies wäre einer der Gründe, die sie in die Alhaşra geführt hätten.

»Eine besondere Nacht zieht herauf und sie verdient eine besondere Geschichte«, sagte sie. Und so kam es, dass die Frau und die ganze Karawanserei auch lange nach Mitternacht noch beisammensaßen. Sie hielt alle mit ihrem schier endlosen Märchen in Atem. Sogar Tonino hatte sich nach einer Weile zu ihnen gesellt und lauschte aufmerksam, auch wenn auf seinen finsteren, tief eingegrabenen Gesichtszügen keine Regungen zu sehen waren, die erkennen ließen, ob er die Geschichte von Sirtis ablehnte oder ob sie ihm gefiel.

Ja, das Talent von Sirtis Dabinghi war dem ihres Vaters Alis wahrhaft ebenbürtig, obwohl sie niemals seinen Beruf ergriffen und ihre Märchen vor einem zahlenden Publikum erzählt hatte, weil sie sich schon als junge Frau in ihr Schicksal ergeben hatte, Alis’ Haushalt führen zu müssen und ihren verwaisten Neffen Selin großzuziehen. Sie hatte nicht umsonst seit ihrer frühen Jugend zu den Füßen ihres Vaters gesessen, wenn er auf den Plätzen ferner Städte und später dann auf dem Bazaar oder im Akadis, dem alten Haus der Stimmen, dem heute verwahrlosten Gildengebäude der Märchenerzähler, seine Sagen vortrug. Sirtis hatte dabei stets aufmerksam seinen Worten und Geschichten gelauscht und sie so lange in ihrem Gedächtnis aufbewahrt, sie wieder und wieder memoriert und ihren Spielgefährtinnen und Freundinnen vorgetragen, bis sie Alis fast ebenbürtig geworden war und über ein ebenso großes Repertoire verfügte. Umringt von ihren begeisterten Zuhörern log Sirtis anfangs das Blaue vom Himmel herab und flocht manchmal sogar mit einem nachsichtigen Lächeln die eine oder andere Wahrheit in ihre phantasievollen Geschichten ein, die aus ihrem Mund allerdings noch unglaubwürdiger klang als ihre schamlosen Märchen voller Prinzen, Zauberer, Ungeheuer, Fâeris und Golemen. Schließlich, nachdem sie auf diese Weise ihr Publikum eingefangen hatte und es begierig an ihren Lippen hing, begann sie mit einem Mal von ihrer Schwester Irta und deren denkwürdigem und bedauernswertem Schicksal zu erzählen.

Der Tag, dessen Abend und Nacht die Menschen in der Karawanserei erlebten, war in Karukora ein denkwürdiger, ein Tag der Wunder gewesen. Der Elfenbeinerne Palast, der sich unweit von dem großen Gasthof auf seiner Halbinsel, die von der großen Maratschleife umflossen wurde, trotzig und gewaltig in den Himmel streckte und den höchsten Punkt der Stadt bildete, war noch immer taghell von unzähligen Fackeln und Laternen erleuchtet und strahlte sein Licht weiß und rein hinaus in die Finsternis der umgebenden Wüsten, die Karukora wie eine Insel in einem trostlosen, öden Sandmeer umschlossen. Noch aus vielen Meilen Entfernung konnte man von den flachen Dünen die pompöse Wohnstätte der Namenlosen erkennen, deren schlanke Türme und Bauten nach dem Himmel griffen. Diese hoch emporgehobene Fackel der Zivilisation, die die Einwohner des Juwels einst dem todbringenden Staub, der Hitze und dem blanken Nichts der trockenen Wüsten abgetrotzt hatten, strahlte sogar noch heller als der gebündelte Lichtstrahl des Leuchtturms auf der Flussinsel Gidabé, wo sich das Fernhandelszentrum Karukoras mit seinen Lagern, Unterkünften, Geschäften, Gesandtschaften und Kontoren befand. Während Sirtis erzählte, fielen immer wieder sehnsüchtige Blicke auf das riesige, blendend weiße Bauwerk des legendären Palastes, an dem unzählige Generationen gearbeitet hatten, bis es seinen heutigen Umfang und Höhe erreicht hatte. Aber niemand im Hof der Alhaşra hätte im Moment seinen Platz am niedergebrannten Feuer mit einem Stuhl in den hohen Sälen des Palastes tauschen mögen, in denen der grausame Vezir Ómer zu Ehren der ausländischen Gäste aus der barbarischen Lamargue für die Reichen und Mächtigen der Stadt ein rauschendes Fest gab. Denn Sirtis führte sie mit der Erzählung über das Schicksal ihrer Schwester an Orte des Palastes, die ihnen verschlossen waren und rührte sie mit der Tragödie ihrer Schwester, über die sie berichtete, zu Tränen:

»War Irta in den ersten Monaten ihrer Anstellung nur eine von vielen gewesen, die niedrige Aufgaben und entwürdigende Sklavenarbeiten in den Palastküchen erledigen, die Gemüse putzen, Fleisch schneiden, Enten und Hühner rupfen, Fische entschuppen und ausnehmen, Kartoffeln schälen, Kraut stampfen und nächtelang fettiges Geschirr spülen und eingebrannte Töpfe schrubben, die die klebrigen Böden kehren und wischen und immer und immer wieder Feuerholz heranschleppen, erkannte doch eines Tages der Hofmeister des namenlosen Herrschers „Erquickende Wüstenoase“, der Serail‘Usta und Seneschall Aismek Bey, welch ein ungeschliffener Diamant dort unten in den verräucherten Gewölben der Küchen im Unrat lag und verhalten unter all dem Dreck funkelte. Ihn dauerten die aufgeplatzten, roten Hände der Dienerin zutiefst, denn er sah mit seinem Kennerblick trotz der sackartigen, schmutzigen Kleidung, den strohigen, verfilzten Haaren und den verweinten Augen, durchaus ihre Schönheit, ihre Grazie und ihr Geschick. Lange zögerte er, denn er wusste, dass ein Eingreifen seine Kompetenzen überschritt, denn die Küchen waren nicht sein Reich. Doch dann sprach Aismek wie von Ungefähr eines Tages Irta im Hof an und erkannte das Talent und die guten Umgangsformen des jungen Mädchens, das nicht nur eine angenehme Hülle besaß, sondern dazu ein liebreizendes Wesen besaß und dazu voller Geist, Witz und Geschick war. Irta würde das Hohe Serail seines Bişra zieren wie schon lange keine Odaliske mehr vor ihr, die den Frauen des Namenlosen in den luxuriösen Räumen seines Harems diente.

Zäh und erbittert musste der Serail‘Usta jedoch zuallererst mit seinem alten Erzrivalen Türbin Bey verhandeln, jenem heute noch berühmten und damals von fast allen Palastbediensteten gefürchteten Oberkoch, der während der Regentschaft in den Eingeweiden des Herrschersitzes ein überaus strenges Regiment führte und dort unten zwischen den Fleischtöpfen und Herdfeuern mächtiger als der Vezir oder gar der Namenlose selbst war. Eifersüchtig hütete Türbin sein Reich und seine Untergebenen, als wäre er der verdammte Inet selbst, der in seiner eiskalten Gehenna die Seelen der Verstorbenen mit Seilen an sich fesselt und auf ewig quält. Er war durchaus nicht gewillt, Irta ohne Kampf und freiwillig herauszugeben und auf keinen Fall sollte sie in die Hände seines persönlichen Lieblingsfeindes Aismek gelangen, der sich einst unvorsichtig und abfällig über eine Lammleber–Pastete geäußert und an ihrer Frische gezweifelt hatte. Doch der hochberühmte Koch war wie alle Küchenbeys dem von der Allerbarmerin verfluchten Laster der Trunksucht verfallen, das ihn dann nur wenige Zeit später vernichtete. Ein Fass dunkles, schäumendes Bier aus dem fernen Danmark ließ Türbin doch endlich weich werden und schließlich in den Handel mit Aismek einwilligen. Das Fass war später meine Rettung, aber Türbins Verhängnis. Aber die Geschichte vom verhexten Geschenks des Seneschalls ist eine weitere Geschichte nach dieser Geschichte und ich will sie euch in einer anderen Nacht erzählen. Irta jedenfalls, die ihr Glück kaum fassen konnte, durfte den Bauch des Elfenbeinernen Palastes verlassen und in die von den Beschnittenen streng bewachten Frauengemächer ziehen, die sich zu dieser Zeit in den luftigsten, aber zugleich auch in den abgelegensten Räumen des Herrschersitzes befanden. Doch glücklich wurde Irta im verbotenen Serail anfänglich nicht.

Nachdem sie sich rasch eingewöhnt hatte, gingen ihr die Arbeiten dort zwar leicht und schnell von der Hand, aber obwohl sie Adalante, der unnahbaren Hauptfrau des Bişra und Mutter des Infanten Dagor, und den unzähligen Gattinnen und Gespielinnen des Namenlosen bald mehr eine Freundin als eine Dienerin war, erschienen ihr die Tage in den Frauengemächern endlos öde und ihr war die meiste Zeit ganz entsetzlich langweilig. Aber immerhin wurde sie nun besser entlohnt und musste von ihren sauer verdienten Denires nichts mehr für Kost und Logis abgeben. Ihr Beutel mit den Kupfermünzen schwoll langsam, aber stetig an. Sie hauste nun auch nicht mehr auf ein paar Laken in einem großen, schmuddeligen Schlafsaal wie unten in den fetttriefenden Katakomben der stickigen Küchen, sondern sie hatte ihr eigenes luftiges, allerdings auch winziges Zimmerchen, das mehr ein begehbarer Wandschrank als ein Raum war. Aber die Kammer gehörte ihr ganz allein und sie konnte sie hinter sich abschließen, wenn sie die Einsamkeit suchte. Irta besaß sogar ein kleines Fenster, durch das sie hinunter in einen verwunschenen, verwilderten Palastgarten hinabblicken konnte, in dem hohe, alte Bäume wuchsen und sich ein Drillingsblumenstrauch–Labyrinth mit einer hässlichen Statue des „Prächtigen“ in dessen Mitte befand. Meist aber lag sie in den langen Nächten auf ihrem Lager am Boden, von dem aus sie die munter über dem Südmeer glitzernden Sterne sehen konnte. Ab und an durfte sie auch noch vor Morgengrauen für einen Tag den Harem und den Palast verlassen und ihren Vater in der Stuhlwebergasse besuchen. Diese dreißig endlose Tage lang mit heißem Herzen herbeigesehnten und kostbaren Stunden bedeuteten Irta mehr, als ihr euch vorstellen könnt.

So verging ohne Abwechslung oder Veränderung ihrer Lage beinahe ein Jahr und hätte nicht ab und an der treue Aismek das eine oder andere Buch mitgebracht und sich auf eine Partie Dakmak zu ihr gesetzt, wäre sie wohl umgeben von stummen Eunuchen, grazilen Schönheiten, Wohlgerüchen, erlesenen Stoffen und Spezereien begleitet von den zarten Klängen der Leierspielerinnen wie ein Zeisig in einem zu kleinen Käfig vor Langeweile eingegangen.

Der Namenlose besuchte seinen Harem während dieser Zeit kein einziges Mal. Wie ihr sicherlich wisst, hatte ihn ein Sturz von seinem liebsten Reitpferd in seine frühe Kindheit zurückgeworfen und er besaß nun das Gemüt und die Geisteskräfte eines dreijährigen Knaben. Die Regierungsgeschäfte führte für ihn als Regent sein guter Onkel Bathu Paşa und „Erquickende Wüstenoase“ selbst saß sabbernd und kichernd auf dem Falkenthron und ließ sich von Muhar, dem Märchenerzähler, Abenteuergeschichten mit Drachen und kühnen, muskelbepackten Rittern vortragen. Der rasche und für die meisten auch überraschende Tod von „Wüstenoase“ kurze Zeit später, beschenkte uns alle mit der milden und segensreichen Regierung seines Sohnes, des „Unterwerfers“, der – welch ein erstaunlicher Zufall – just einen Tag vor dem Ableben des Bişras volljährig geworden war und damit auch nicht mehr die Führung seines Großonkels Bathu benötigte, sondern auf seine neuen Einflüsterer Ómer Sud und Paşa Ultem hörte. Viele hielten den Tod der „Wüstenoase“ für eine Gnade der Allerbarmerin, doch ich bin heute hier, um euch eine andere, nämlich die wahre Geschichte zu erzählen.«

Der bissige Tonfall hatte die letzten Worte von Sirtis Lügen gestraft, doch nun gehorchte sie der Sitte der Märchenerzähler, nach einer Erwähnung des regierenden Namenlosen eine Pause einzulegen. Sie wartete geduldig die unvermeidlichen Lobpreisungen und Trinksprüche auf das Wohl des „Unterwerfers“ ab. Schließlich hatte der Vezir Ómer überall seine Augen und Ohren und kannte einige exquisite Folterinstrumente für diejenigen, die abfällig über ihren Herrscher redeten oder lieber verstockt schwiegen, wenn es an der Zeit war, ihn zu bejubeln. Dann fuhr Sirtis fort, von ihrer Schwester zu erzählen:

»Das Fernbleiben des Namenlosen vom Hohen Serail mochte die Frauen des Bişra vielleicht erleichtern – wir wissen nicht, was in ihnen vorging, denn keine von ihnen hat uns je von ihrem Leben in der Abgeschlossenheit erzählt –, die quirlige Irta jedoch betrachtete die Ruhe und Geborgenheit des Frauenhauses beinahe wie eine Strafe, die ihr ein boshafter Qarin eingebrockt hatte. Ihre Hauptbeschäftigung neben der Pflege und dem Waschen der Haare und Körper ihrer Herrinnen, ihnen mit einem Palmblatt Kühle zuzufächeln oder ihnen Konfekt zu reichen, war es, die Tage und Stunden bis zu ihrem nächsten Urlaubstag zu zählen und sich in der Nacht durch ihr außerordentlich schmales Fenster zu lehnen und traurig die Sterne anzuseufzen. Damit sie zu diesem Zweck das recht hohe, enge Fensterchen überhaupt erreichen konnte, stellte sie sich immer auf einen Hocker und quetschte anschließend ihren Oberkörper halb ins Freie.

Doch in einer Nacht bemerkte sie mit einem Mal, dass sie von dem Garten unterhalb ihres winzigen Gemachs aus dabei beobachtet wurde, wie sie ihren Kopf und ihre Schultern durch den Fensterrahmen zwängte und ihre Sehnsüchte flüsternd der Dunkelheit anvertraute: Sie hatte in dem Schlagschatten einer Palme die Bewegungen eines dort verborgenen Menschen gesehen und stieß erschrocken einen Schrei aus. Sofort trat mit gesenktem Kopf schuldbewusst ein auffallend großer, muskulöser und hellhäutiger Mann aus der Finsternis halb in das unzuverlässige Licht, das aus den rückwärtigen Fenstern des Hohen Serails in den Garten fiel. Er trug fremdländische, selbst für eine kalte Wüstennacht wie diese, viel zu warme Kleidung und eine hässliche Fellkappe auf seinem kahlen Schädel. Obwohl Irta ihm noch nicht begegnet war, wusste sie sogleich, um wen es sich bei dem nächtlichen Störenfried handelte, der nun spielerisch seine Arme über den Kopf hob, als hätte ihn die Treuwacht überwältigt. Es war Raul, der junge lamargische Prinz. Er hielt sich mit seinem Vater Yves III. samt großem Gefolge in Karukora auf. Es ging um die hohe Politik, die Irta in ihrer begrenzten Haremswelt sehr fern erschien. In zähen Verhandlungen mit dem Diwan des Regenten, die oft bis in die Nacht andauerten, wurde seit einer Woche über komplizierte Handelsverträge, den Freihafen Şdarda an der Mündung des Helm in den Marat und die in der letzten Zeit zunehmenden Grenzprobleme zwischen dem Juwel der Wüste und Jasir gestritten. Die fremdländischen, exotischen Fürsten, die vollbärtigen, rohen Diplomaten und ihre barbarischen Begleiter in ihren hässlichen, roten Uniformen waren in diesen Tagen das Gesprächsthema der gelangweilten Frauen des Bişras; auch wenn unter ihnen bisher kaum eine einen Blick auf sie hatte erhaschen können.

Es konnte sicher nur ein Zufall sein, der Raul, der nur wenig älter als Irta war, aus den einige Stockwerke tiefer gelegenen Gastquartieren hierher in diesen gut versteckten, kleinen Park direkt unter ihrem Fenster geführt hatte. Aber es war doch eine flegelhafte Unverschämtheit von ihm, sich so lange nicht bemerkbar zu machen und sie heimlich bei ihrem Kummer zu beobachten. Mochte die Tränenreiche wissen, wie viele der Seufzer der jungen Dienerin der Fremde bereits unerlaubt erlauscht hatte! Wütend auf den unverschämten Beobachter und auch voller Scham wollte Irta eilig ihren Kopf zurückziehen und die blickdichten Fensterläden vor ihrer Kammer schließen. Aber der Hocker, auf dem sie stand, rutschte ihr durch die heftige Bewegung unter ihren Füßen weg und so steckte sie mit einem Mal unglücklich im Rahmen gefangen fest, konnte für den Moment weder vor– noch rückwärts. Der Prinz, der von ihrer misslichen Lage nichts mitbekam, wollte die günstige Gelegenheit nicht verstreichen lassen.

„Warte, du Schöne!“, rief er und trat vollständig aus seinem Versteck, kam ganz nah an die Mauer des Serails heran. Wusste Raul, in welcher Gefahr er schwebte? Würden ihn jetzt die Eunuchen entdecken, die misstrauisch den Harem des Namenlosen bewachten, dann würde er zweifellos an Ort und Stelle seinen Kopf verlieren und der Krieg zwischen Karukora und der Lamargue von Neuem ausbrechen. „Fürchte dich nicht vor mir“, flehte er. Irta hatte keine Angst, aber sie zappelte hilflos mit ihren nackten Beinen in der Luft und versuchte angestrengt, sich mit ihren Händen abzustützen und sich nach innen in ihr Zimmer zu drücken.

Raul deutete ihren gequälten Gesichtsausdruck falsch. Er riss seine hässliche Fellmütze vom Kopf und steckte sie in die Tasche seiner Jacke. „Ich werde dir nichts tun“, versuchte er sie zu beruhigen. Irta stieg vor Anstrengung das Blut in den Kopf und sie war froh über die Schatten der Nacht, die zumindest ihr peinliches Erröten verbargen. Sie warf dem Prinzen einen – wie sie hoffte –, vernichtenden und strafenden Blick zu, doch anstatt betroffen zurückzuweichen, wie sie es von einem wohlerzogenen Edelmann erwarten konnte, trat er ermutigt über ihr Verbleiben direkt unter ihr Fenster, ohne sich um die duftenden Blumen zu kümmern, die er in dem Beet unter seinen Füßen zertrampelte. Dieser Barbar stapfte einfach achtlos in sie hinein! Obwohl Irtas Kammer fast ein Stockwerk über dem Boden des Beets lag, war Raul so groß, dass er sie nun hätte berühren können, wenn er weiterhin seine Arme nach oben gestreckt hätte. Ein Lichtstrahl fiel auf sein Gesicht und Irta stockte der Atem – nicht, weil ihr der Fensterrahmen weiterhin gegen die Brust drückte –, sondern weil Raul sie mit seinem ebenmäßigen und edel geschnittenen Gesichtszügen so liebevoll musterte, als erblicke er das Wertvollste und Schönste auf der Welt.

„Was hast du für ein liebliches Gesicht“, flüsterte der Prinz ihr zu und schloss genießerisch seine Lider. „Das Ebenholz deines Haars und deine grauen Augen sind so … lieblich!“

Irta konnte nicht anders: Sie musste über die ungelenken Schmeicheleien lachen. Sie blähte ihre Wangen auf und prustete los. Dadurch gelang es ihr endlich, sich aus ihrer qualvollen und erniedrigenden Lage zu befreien. Sie fiel zurück in ihre Kammer und auf die Kissen, die dort als ihr Bett auf dem Boden lagen und lachte auf dem Rücken liegend schallend weiter. Geistesgegenwärtig hielt sie sich jedoch eilends eines der Kissen vor das Gesicht, damit ihr Gelächter niemanden im Serail aufschreckte oder sie den Prinzen mit ihrem Spott beleidigte. Doch er schien nichts zu bemerken, denn er setzte seine unbeholfene Eloge unverdrossen fort:

„Deine …, äh, lieblichen Augen sind so grau und glänzend wie das Gefieder der Dohlen, die den verfallenen Turm der Hochburg von Dersa wie ein ewiger Gesang umkreisen“, versuchte es Raul mit einem Vergleich aus der alten lamargischen Heldensage Sena und Viril. Das war die einzige Zeile Poesie, die er kannte und die ihm halbwegs in seine Lage zu passen schien. Doch er erntete damit nur weiteres unterdrücktes Gelächter, das in einem Hustenanfall endete, der den Prinzen um die Gesundheit seiner Angebeteten fürchten ließ. Irta presste weiterhin fest ihr Kissen auf den Mund. Tränen liefen ihre Wangen hinab. Sie war wirklich nicht anspruchsvoll, wenn ihr jemand Komplimente machte. Aber jeder dahergelaufene Gassenjunge in Karukoras schmutziger Unterstadt kannte schönere Verse, um ihre, übrigens bei jedem Licht nicht grauen, sondern dunkelbraunen Augen anzuhimmeln. Die Farbe ihrer Iris kannte auch Raul, aber Dohlen waren eben seiner Erfahrung nach nicht schokoladenbraun. Diese künstlerische Freiheit hatte er sich herausgenommen.

„Zeige dich wieder, unbekannte Schönheit. Bitte …“, bettelte er. „Ich weiß doch, ich bin nur ein Krieger aus den schwarzen Wäldern nördlich des Walls und ich kann besser mit dem Schwert als mit Worten sprechen. Die einzigen Bücher, die ich je gelesen habe, sind Us‘Dis Die hinterlistige Kunst, einen Krieg zu gewinnen und die Lehrbücher, die ich im Unterricht auswendig lernen musste. Ach, ja, ich kenne dazu noch die Fünf Bücher des Baruch. Wenn sie auch viel Poesie enthalten, dann ist es doch eine, die dir vielleicht zu fremd und ketzerisch erscheint. Aber lass es mich versuchen, wenn ich dich damit nicht zu sehr erschrecke.“

Irta antwortete nicht, doch sie schloss auch nicht ihre Fensterläden. Sie spitzte im Gegenteil ihre Ohren, damit sie nur ja nichts versäumte. Die in Karukora von der Kirche der Allerbarmerin verbotenen Bücher des Baruch, die der erste Erzabt Straif von Italmar in den Geisterhöhlen unter dem Fjall Tud‘AsQ gefunden hatte, interessierten sie sehr, denn als Tochter eines Märchenerzählers war sie immer an neuen Geschichten interessiert.

„Am besten dient mein Auge blinzelnd mir;

Denn unbeachtet geht der Tag an ihm vorüber:

Allein im Schlaf, im Traume sieht’s nach dir

Aus Nacht in Helligkeit, nachthell hinüber.

Du, deren Schatten nun die Schatten so erhellt,

Wie wird am Tag erst deines Schattens Wesen

Mit seinem höchsten Licht erfreun die Welt,

Wenn blinde Augen schon am Schatten so genesen!

Wie selig, sag’ ich, wär mein Auge nun,

Hätt’ ich am heitern Tag erst dich gewahrt,

Wenn öde Nacht den Augen, wie sie ruhn,

Dein schönes bleiches Trugbild offenbart.

Mir scheint Nacht jeder Tag, getrennt von dir,

Und Nächte hell wie Tag,

zeigst du im Traum dich mir.“

Zuerst war die Stimme Rauls unsicher und zögernd. Er geriet auch einmal ins Stocken und begann wieder von vorn. Aber dann erinnerte er sich immer besser an die Verse aus dem 1. Buch des Baruch. Er hatte sie für seinen Rhetoriklehrer als Gedächtnisübung immer und immer wieder vorsagen müssen, bis er sie schließlich auswendig konnte. Obwohl Raul viele Jahre nicht mehr an diese Lektion gedacht hatte, sah er das Gedicht nun plötzlich so deutlich vor sich, als würde er die Worte direkt aus dem heiligen Werk der Mönche von Italmar ablesen. Er wusste nicht, was Meister Jac Javac Mauvaise damals bewogen hatte, die Sprachfertigkeiten eines zehnjährigen Knaben ausgerechnet mit diesen Versen verbessern zu wollen. Erst jetzt, während er sie nach langer Zeit zum ersten Mal wieder sprach, begriff er wirklich ihren Inhalt und er erkannte, dass sich hinter den bloßen, wohlklingenden Versen noch etwas Anderes, etwas sehr Düsteres, verbarg.

Irta jedenfalls lauschte der uralten Poesie aus der verlorenen Zeit der Vorgänger begeistert. Sie kannte sie nicht, weil nicht einmal in der Gildenbibliothek der Märchenerzähler im Haus der Stimmen ein Band des ketzerischen Werkes aufbewahrt wurde. So wurde ihr das Zuhören so bittersüß wie das Kosten einer Tollkirsche und ließ sie mit einem Mal ahnen, dass es hinter dem Liebesgeplänkel, den heimlichen Blicken, den halb scherzenden, halb provozierenden Schmeicheleien, sogar den flüchtigen Küssen und Berührungen in dunklen Ecken in unbeobachteten Augenblicken noch etwas Anderes gab, das viel gewaltiger und größer war – mächtiger noch als der Namenlose. Die Liebe war eine ganze Welt und sie war größer als ihr junges Leben selbst. Und sie erkannte: Wenn die Fünf Bücher des Baruch wirklich solch wundervolle Poesie enthielten, dann konnte es keine vollkommene Sünde sein, sie zu lesen.«

Sirtis machte eine Pause, befeuchtete ihre Zunge mit einem Schluck saurer Milch und sah sich um. Sie blickte in betretene Gesichter.

»Wir, meine Lieben, leben in einer aufgeklärteren Zeit und uns schockiert doch die Erwähnung eines heidnischen Buches nicht mehr, das unsere Väter und Mütter vielleicht einmal gefürchtet und verboten haben«, sagte sie dann. Sie hatte sich auf eine gefährliche Straße begeben, als sie den heiligen Kodex der Mönche erwähnt hatte, die in Baruchs Namen einst die halbe Welt erobert und ihr die blutige und grausame Knute ihrer religiösen Diktatur gebracht hatten, bis endlich die Kokardenrevolution, die von den Oststädten ausgegangen war, die Mönche zurück in die Grenzen ihres eigenen Staates gezwungen hatte. Doch obgleich diese finsteren Zeiten lange vorbei waren und Italmar niemals Karukora eingenommen hatte, erschauderte ihr Publikum. Sirtis spuckte deshalb zur Sicherheit und zum Schutz gegen das Böse dreimal in die zischende Glut, bevor sie weitererzählte. Ein paar ihrer Zuhörer taten es ihr eilig gleich.

»Nachdem er sein merkwürdiges Gedicht vorgetragen hatte, wartete Raul geduldig auf eine Antwort des Mädchens, dem es zum ersten Mal in ihrem Leben die Sprache verschlagen hatte. Die Lachlust war Irta vergangen und ein merkwürdiger, süßer Schmerz machte ihr das Atmen schwer.

„Kann es sein?“, fragte sie sich zwischen Bangen und Hoffen. „Kann es denn wirklich sein?“ Sie konnte sich nicht entscheiden; zu verfahren war ihre Situation. Sollte sie dem Prinzen antworten und ihm Hoffnungen machen? Oder war es doch besser, sofort ihr Fenster zu schließen und darauf zu hoffen, dass er diesen Wink verstand? Eine Zukunft konnte ihre rasch entzündete Leidenschaft, die ihr wie ein Strohfeuer erschien, nicht haben.

Die Allerbarmerin, die mit ihrem tränenvollen Blick auf alle Liebenden in den Überlebenden Landen blickt, nahm ihr die Entscheidung ab. Auch wenn ihre göttlichen Entschlüsse auf uns Sterbliche wie Zufälle wirken, sind sie doch immer weise und barmherzig. Plötzlich war der Lärm von eilenden, sich nahenden Schritten aus dem entfernteren Teil des Gartens zu hören. Eine Gruppe Männer – wahrscheinlich Eunuchen, die nach dem Rechten sehen wollten –, kam mit noch nicht brennenden Fackeln in den Händen herbei und es konnte nur noch Augenblicke dauern, dann war der Prinz von ihnen entdeckt und bloßgestellt! Irta sprang auf und legte den umgestürzten Hocker wieder unter das Fenster, um hinaufzusteigen und hinaus zu sehen. Hoffentlich gelang es Raul, den Näherkommenden zu entwischen! Doch der junge Prinz hatte einen besseren Einfall, als sein Heil in einer unvorbereiteten Flucht zu suchen. Er wusste: Würden ihn die Wachen hier unter den Mauern des Verbotenen Harems auffinden, dann hatte er sein Leben verwirkt und das Todesurteil würde ohne viel Federlesens gleich an Ort und Stelle vollzogen. Er spannte seine Muskeln an und sprang. Sein Kopf tauchte überraschend im Fensterrahmen auf und Irta prallte zurück. Dann schob sich der Prinz seitlich durch die enge Öffnung tiefer in ihre Kammer hinein. Doch allzu weit kam er nicht. Das Fenster war zu eng. Draußen baumelten seine Beine im Freien und er kam nicht mehr weiter. Die Wächter waren inzwischen herangekommen. Wenn jetzt einer von ihnen nach oben sah und begriff, was sich in der Dunkelheit abspielte, dann war Raul verloren.

„Nein, ich habe das nicht geträumt“, konnte Irta eine hohe, unangenehme Stimme hören. Sie klang nach der von Radik Emre, des jungen Aufsehers über die Beschnittenen des Serails; er war ein widerwärtiger Einschmeichler, der schon lange auf Aismeks Vertrauensposten beim Namenlosen schielte. „Seht euch um, hier ist bestimmt jemand.“

Jetzt war der Moment für einen schnellen Entschluss gekommen und Irta zögerte keinen Augenblick. Sie packte den hilflos im Fenster zappelnden Prinzen an den Schultern und zog ihn mit einer verzweifelten Kraftanstrengung zu sich hinein in ihr kleines Zimmerchen. Polternd fiel Raul der Länge nach zu ihren Füßen hin und schlug sich den Kopf hart an der Rückwand an. Aber nun war er auch mit seinen Füßen im Zimmer, bevor ihn die Wachen entdeckten, die gerade dabei waren, ihre Fackeln zu entzünden, um den Garten auszuleuchten. Irta schob rasch ihren erneut umgekippten Hocker wieder unter das Fenster und sprang auf ihn, sah hinaus.

„Efu! – Hoppla! Männer, was ist das denn für ein Krach?“, fragte sie hinunter. Sie kannte die fünf Wächter, die verwirrt zu ihr heraufsahen. Es war in der Tat Radik und dazu eine kleine Nachtpatrouille der Treuwacht, die er offenbar alarmiert hatte. „Die Frauen des Herrn schlafen längst. Ich hoffe, ihr habt keine außer mir geweckt“, fügte sie noch vorwurfsvoll hinzu. Sie spürte den Körper von Raul an ihren Beinen. Er bewegte sich hinter ihr ungeschickt, um sich bequemer hinzusetzen. Sie räusperte sich: Hoffentlich besaß er die Geistesgegenwart, weiter am Boden zu kauern und sich zu verstecken! Radik kam heran und die Stirn runzelnd fiel sein Blick auf die zertrampelte Blumenrabatte unter dem Fenster. Irta sah ihm sein Misstrauen an, aber zum Glück war er nicht intelligent genug, um eins und eins zusammenzuzählen.

„Ist bei dir alles in Ordnung, Mädchen?“, fragte er zögernd.

„Aber ja. Hier ist alles ruhig, Hare’Ağaşi. Was suchst du denn zu so später Stunde mit der Nachtwache bei den Frauengemächern?“ Sie sah zu dem Weqilbaşi des Trupps, der lustlos mit seiner Pike in einem Tamariskengesträuch herumstocherte. Er war ihr häufig über den Weg gelaufen, als sie noch in den Küchen gearbeitet hatte, denn er war der heimliche Freund der herrischen Kaltmamsell Drinta. Irta vermutete, er liebte mehr ihre Pasteten, Terrinen und Galantinen als ihre zänkische Art.

„He, Hem Büşek,“ rief sie ihn an, „du weißt schon, dass du hier gar nicht sein darfst, oder? Dieser Garten liegt im Bannkreis des Serails des Bişras und wenn ihr zufällig von einer seiner Frauen entdeckt werdet, hängt morgen eure Eingeweide zum Trocknen über der Palastmauer. Seid froh, dass es nur ich bin, die euer Lärm geweckt hat, und nicht etwa Adalante, die Hauptfrau der „Wüstenoase“. Die Allerbarmerin schenke ihr und den anderen hohen Frauen des Serails einen tiefen und erholsamen Schlaf.“

Der Weqilbaşi zog sofort seine Pike aus dem Unterholz und seine Männer wichen verunsichert zurück. Eilig löschten sie wieder ihre Fackeln, die sie gerade erst angezündet hatten. Doch Radik gab sich noch nicht geschlagen. Der ehrgeizige, damals schon ziemlich fette und schwammige, aber noch gutaussehende Beschnittene stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte, an Irta vorbei in ihre Kammer zu spähen. Hatte er in dem dunklen Raum eine Bewegung oder einen Schatten entdeckt, der seinen Verdacht weckte? Auf jeden Fall war der Rand ihres Fensters für seine neugierigen Blicke zu hoch oben.

„Und du hast nichts bemerkt?“, hakte Radik nach. „Ich könnte schwören, dass ich Stimmen hörte und Gelächter, als ich eben die Waschküche lüftete.“ Irta streckte sich und hob die Arme, versuchte ihm auf diese Weise zusätzlich die Sicht zu versperren.

„Aber nein, Lachen an einem Ort, den der Namenlose meidet? Wo denkst du hin? Hier rinnen nur heiße und einsame Tränen über sein schreckliches Schicksal. Das solltest du doch wissen.“ Irta zögerte, fragte sich kurz, wie weit sie gehen konnte. „Auf jeden Fall gibt es hier keinen Laut, der für die Ohren der Treuwächter bestimmt wäre“, fuhr sie dann schärfer fort. „Wenn du nicht willst, dass ich dem Seneschall Aismek Bescheid gebe, solltest du dich nun mit diesen Männern schnell zurückziehen, Radik Emre, Oberster der Eunuchen.“ Die Nachtwachen stimmten ihr eifrig nickend zu und wollten sich schon abwenden. Doch Radik kniff die Augen zu einem schmalen Schlitz zusammen. So durfte eine dahergelaufene Magd nicht mit ihm reden!

„Ich warne dich, Irta“, zischte er und sein hasserfüllter Blick ließ meine Schwester erschaudern. „Ja, ich kenne deinen Namen: Du bist Irta Dabinghi und Aismeks besonderes Schätzchen. Du willst mich bestimmt nicht zum Feind, glaube mir. Ich denke, ich werde dich von jetzt an genau beobachten.“

„Das reicht.“ Büşek kam dem Mädchen zur Hilfe und legte eine Hand auf Radiks Schulter, die er so fest drückte, dass der Eunuch aufstöhnte. „Du hast dich getäuscht, Ağaşi. Hier im Garten ist nichts und du machst der Magd Angst. Sie hat recht. Wir müssen gehen.“

Radik trat nur zurück, weil ihn der Weqilbaşi dazu zwang und von dem Fenster wegzog. Dabei hob er aber warnend einen Zeigefinger und zeigte wie anklagend auf Irta, dann auf sich selbst. Wir verstehen uns, schien er zu sagen, du hast mich belogen, das wissen wir beide. Irta fror plötzlich und ihre Beine zitterten, aber sie blieb aufrecht im Fenster stehen und versuchte, so hochmütig und stolz wie möglich auszusehen. Schließlich war sie eine Dabinghi – da hatte der böse Verschnittene recht –, und damit war sie eine direkte Nachfahrin des ersten Namenlosen, der das Juwel der Wüste vor nahezu dreitausend Jahren gegründet hatte. Dieser Radik Emre war dagegen nur eine Kanalratte, deren Karriere mit dem scharfen Skalpell eines Feldschers begonnen hatte, weil sich seine Familie durch diese blutige Tat aus dem Armenviertel erheben wollte. Irgendwann, das wusste sie, würde er einem Mächtigeren als ihr in die Quere kommen und der würde ihn wie eine Kakerlake mit einem alten Pantoffel zerquetschen. Sein Schicksal stand Irta in diesem Moment so deutlich vor Augen, als besäße sie die Gabe des zweiten Gesichts.

Schaudernd wartete sie ab, bis sich der widerstrebende Radik und die Treuwächter aus dem Garten entfernt hatten. Dann schloss sie die Fensterläden und ihr Fenster und stieg von dem Hocker. Raul saß mit angezogenen Beinen auf ihren Kissen und lächelte sie an.

„Du hast mir das Leben gerettet“, flüsterte er.

„Schweig, du Narr, und lass mich nachdenken. Im Augenblick ist mir danach, zu schreien und die Wachen zurückzuholen. Mit Radik ist nicht zu spaßen!“ Der Prinz aus der Lamargue senkte gehorsam den Kopf. Irta wurde erst jetzt bewusst, auf was für ein gefährliches Spiel sie sich da eingelassen hatte. Bisher hatte sie nur aus ihrem Instinkt heraus gehandelt und nicht weiter überlegt. Das Zittern ihrer Beine ließ nicht nach. Was sollte sie jetzt tun, mit einem Mann in ihrem Gemach? Doch dann musste sie wieder über das allzu reuevolle Gesicht des Prinzen lachen. Sie kicherte mit vorgehaltener Hand in sich hinein. Es stimmte schon, das alles war gefährlich und beängstigend, aber es war doch auch genau das Abenteuer, das sie sich ersehnt hatte, als sie vorhin gelangweilt bei den Sternen um Abwechslung gefleht hatte. Raul mochte ihr Verderben sein, aber wahrscheinlich war er das wert.

Der Prinz bemerkte ihr Lachen und sah hoffnungsvoll auf. Dabei trug er solch einen Hundeblick zur Schau, dass sie ihm unmöglich länger böse sein konnte. Schließlich war bis jetzt ja alles gutgegangen …

„Warum bist du überhaupt im Garten gestanden? Wie bist du dorthin gelangt?“, fragte Irta. „Und erzähle mir bitte nicht, die Liebe zu mir hätte dich angelockt. Es ist alles andere als einfach, von den Quartieren der Diplomaten an den Wachen vorbei in den Haremsbereich einzudringen. Eigentlich sollte es unmöglich sein. Was war dein Ziel?“

„Du wirst mir ja vielleicht nicht glauben, aber ich wollte tatsächlich zu dir, Irta Dabinghi. Der Auftrag, den ich von meinem Vater, dem Regno, erhielt, war, dich aufzusuchen und dir das hier zu überreichen.“ Raul holte aus seiner festen Lederkleidung einen versiegelten Brief, den er dem überraschten Mädchen reichte. „Der ist für deinen Vater Alis. Es sind wichtige Informationen der Schwalbe von Avríl darin, die ihn unbedingt erreichen müssen.“

Irta drehte den Umschlag, den das Wachssiegel der Fürsten der Lamargue fest verschloss, ein paar Mal verblüfft in den Händen, bis ihr die Tragweite von Rauls Worten bewusst wurde. Sie ließ entsetzt das Schreiben fallen, als wäre es ein glühendes Eisen, das ihr die Finger verbrannte. „Du meinst … verstehe ich dich recht? Mein Vater ist ein Spion der Lamargue?“«

Sirtis spürte das Erschrecken ihres Publikums, hörte sein gemeinsames Aufseufzen, sah sein Erstarren. Sie lächelte, denn genau eine solche Reaktion hatte sie erwartet und bewusst herausgefordert, als sie den alten Mann als einen Spitzel entlarvte, der vor vielen Jahren mit der Lamargue gegen den Namenlosen konspiriert hatte. Das war kaum denk–, und unmöglich aussprechbar. Noch dazu verriet sie ja ihren eigenen Vater! Ausgerechnet der brave Alis, dieser gebrechliche, alte Mann, der mit seinen Märchen und Sagen seine Zuhörer verzückte und scheinbar keiner Fliege etwas zuleide tun konnte und sich immer als treuer Untertan des Namenlosen ausgegeben hatte! Der sollte früher mit dem Feind kollaboriert haben? Machte er es vielleicht noch immer? Welch ein ungeheuerlicher Skandal war das, wenn es denn stimmte! Und verriet Sirtis ihn dadurch nicht an Ómers eifrige Geheimpolizei, wenn sie in der Öffentlichkeit einer Karawanserei von seinen geheimen Tätigkeiten erzählte, auch wenn diese bald schon zwanzig Jahre in der Vergangenheit lagen? Sie musste doch wissen, dass unter den Kaufleuten und Reisenden, die in der Herberge nächtigten, auch immer ein paar Männer des Vezirs waren; seine Ohren, die alle Gespräche belauschten und genau nach solchen Gerüchten gierten, um sie an ihren grausamen Herrn weiterzugeben. Auch wenn Sirtis – eigentlich unvorstellbar – nicht die Wahrheit gesagt hatte, sondern, aus welchen Gründen auch immer, den beliebten Märchenerzähler denunzieren wollte, war Alis’ Leben nach diesen Worten keinen grünschimmligen Kupferdenir mehr wert. Es war keine Frage des Ob, sondern nur noch des Wann, bis er verhaftet und hingerichtet wurde. Sein eigenes Fleisch und Blut verriet den Alten! Warum war Sirtis so grausam? Was war das für eine Tochter, die so etwas tat? Entsetzte Ausrufe erschollen und nach der ersten Erstarrung wurden viele Fragen laut, doch Sirtis musste nur die Hand heben, um sie verstummen zu lassen.

»Die Älteren unter euch werden sich vielleicht noch erinnern. Alis, dessen ergebene und treue Tochter ich immer war und auch heute noch bin, musste vor über vierzig Jahren gemeinsam mit seiner jungen, schwangeren Frau Jade seinem älteren Bruder Selin und dessen Familie ins Exil folgen. Alis traf keine Schuld, er und seine Frau wurden das Opfer ihrer Blutbande. Als Urahn des letzten Bingh–Herrschers über das strahlende Karukora hatte Selin in privatem Kreis Ansprüche auf den Falkenthron erhoben; ein paar Sätze im Zorn und in Trunkenheit wurden leichtfertig und nebenbei vor Menschen gesprochen, denen man zu Unrecht vertraute. Diese ketzerischen Worte wurden freilich sogleich dem damaligen Vezir Mufar Kin hinterbracht und nur eine überstürzte, nächtliche Flucht konnte die Dabinghis vor der Verhaftung, der Folter und einem grausamen Tod bewahren. Sie konnten kaum mehr mit sich nehmen als die Kleider, die sie am Leib trugen. Unter großen Strapazen gelang es der Sippe, immer von den blutdürstigen Häschern des Vezirs verfolgt, die gewaltige Wüste zu durchqueren, auf schmalen und schwindelerregenden Pfaden das unwegsame Helmgebirge zu erklimmen und sich von gewieften Sintari–Schleusern durch den gewaltigen, fünfundzwanzig Meilen breiten und drei Meilen hohen Großen Wall schmuggeln zu lassen. Doch auch dies ist eine Geschichte für eine andere Nacht. Die teure Hilfe der Sintari kostete die letzten Dabinghi den Rest des wenigen Geldes, das sie bei ihrer überstürzten Flucht mitgenommen hatten. Sie besaßen nichts anderes mehr als ihr nacktes Leben, als sie endlich die schwarzen, endlosen Wälder der Lamarque erreichten. Deshalb ist mein Geburtsort auch nicht das glänzende Karukora, sondern ein elendes Dorf mit einem kaum aussprechbaren Namen. Es war das öde Lertnitz am Fluss Mertzen, wo wir mit anderen Leidensgenossen viele Monate in einem elenden Flüchtlingslager verbrachten. Hier fehlte es an allem außer Kummer, Hunger und Krankheit; diese Plagen waren im Überfluss vorhanden.

Ich will es kurz machen. In dem sumpfigen Fiebernest Lertnitz wüteten die blauen Pocken und diese furchtbare Seuche raffte Selin und seine gesamte Familie in nur wenigen Tagen dahin, darunter auch den Erstgeborenen, der nach seinem Vater benannt war und auf den dieser so viele Hoffnungen gelegt hatte. Sie waren mit Müh’ und Not dem einen Tod entkommen und liefen einem anderen, nicht weniger grausamen, in die Arme. Der Tod kümmert sich nicht um deine Ambitionen und Zukunftspläne, er weint, während du noch lachst. Alis, den die mutwillige Krankheit ebenso wie seine Jade verschonte, blieb nichts anderes übrig, als seine Angehörigen mit eigenen Händen ohne die Segnungen der Allerbarmerin in ein Massengrab zu den anderen Opfern der Seuche zu legen, ihre mit blutigen Schwären verunstalteten Körper mit ungelöschtem Kalk zu bedecken, sie eilig zu verscharren und ein wenig Salz und Tränen über dem aufgeschütteten Erdhügel zu verstreuen. Dann floh er mit meiner Mutter, die mich in ihren Armen trug, weiter nach Norden gen Avríl. Die alte, bäuerliche Residenzstadt liegt von kühlen Winden umweht am Rande des Großen Waldes auf einem fruchtbaren Hügel und war von dem Ausbruch der blauen Pocken weitgehend verschont geblieben. Dort versuchte Alis einen Hausstand zu gründen und ein Leben in der Fremde zu führen. Doch in der Lamargue waren seine Märchen nicht gefragt; niemand interessierte sich dort für sie. Die Menschen hatten ihre eigenen Skalden, die ihnen von den blutigen Heldentaten und den gewaltigen Schlachten langhaariger, blonder Hünen sangen; die Geschichten des kleinen, dunkelhäutigen Wüstenbewohners über Liebe, Tragödie und Magie langweilten sie nur. Und das grausame Schicksal, das wie Pech an allen Verfolgten und Verzweifelten der Überlebenden Lande klebt, hatte für den armen Exilanten, der mit seiner kleinen Familie in bitterer Armut leben musste, noch einen weiteren Schlag, vielleicht den schwersten, vorbereitet. Seine von Alis vergötterte Jade wurde wieder schwanger, doch meine geschwächte Mutter überlebte die verfrühte Geburt meiner Schwester nicht. Sie gab ihr Leben für Irta und der gramgebeugte, untröstliche Alis war nun vollkommen allein mit seinen zwei kleinen Töchtern.

Dies war also von der früher so stolzen Sippe der Binghi übriggeblieben, deren Ahnherr einst das Juwel der Wüste gegründet hatte und als der erste Namenlose in die Geschichtsbücher eingegangen ist – welch ein kümmerlicher Rest: Ein gebrochener Mann und zwei Mädchen, von denen das eine ein schreiendes Wickelkind war und das andere gerade lesen lernte. Alis musste sich als Tagelöhner auf den Feldern der reichen Gutsherren unterhalb von Avríl verdingen und sein Lohn reichte gerade so aus, dass er in der zugigen Bretterbude, die er bewohnte, nicht gemeinsam mit seinen Kindern verhungerte. Während wir also im Elend und in Kummer aufwuchsen, geschah etwas im Herzen von Alis. Er wurde ein verbitterter, ein zorniger Mann. Für sein grausames Los gab er allerdings nicht seinem leichtsinnigen Bruder die Schuld, der sich durch seinen Tod längst von ihr losgekauft hatte. Nein, er verfluchte stattdessen in jeder Nacht, die er schlaflos auf dem kratzigen, schmutzigen Stroh seines Lagers verbrachte, den Namenlosen und die ganze Dynastie der Bişra. Sie waren für ihn nur Emporkömmlinge und Usurpatoren; kaum wert, ihm, einem echten Bingh, das Wasser zu reichen. Trotzdem suhlten sie sich in dem Reichtum und der Macht, die seiner Meinung nach allein ihm und seinen Töchtern zustand. Der Hass meines Vaters stieg mit jedem Tag, den er mit den niedrigsten Arbeiten in den Schweineställen der mitleidlosen Bauern verbrachte. Doch er war nicht allein. Es gab in Avríl noch andere Unzufriedene; Flüchtlinge und Exilanten, die das Juwel der Wüste wie er hatten verlassen müssen, weil sie dort ihres Lebens nicht mehr sicher gewesen waren oder für sich und ihre Familien keine Zukunft unter der Bişra–Knechtschaft sahen.

Bald schloss Alis sich einer Untergrundbewegung von Karukorer Exilanten an. Sie wurde vom Hof des Regno in Jasir aus organisiert und von Idrichson Galves finanziert, den man in der Lamargue als die „Schwalbe von Avríl“ kannte. Sie nannten sich die „Die Falken der Rache“; aber sie waren eigentlich nur ein Mittel zum Zweck, mit dem Galves die Macht der Bişras untergraben wollte. Alis trat nicht den Falken bei, weil er mit den Plänen der Gruppe sympathisierte, denn er wusste, wie aussichtslos ihre Unternehmungen waren. Er tat dies aus blanker Not wegen seiner hungernden Töchter und weil ihm jedes Mittel recht war, sich für den Untergang seiner Sippe zu rächen. Er erhielt von den Mitgliedern des Geheimbundes, bei denen er als letzter Dabinghi hochgeachtet war, finanzielle Hilfen und eine angemessene Wohnstätte. Damit konnten wir endlich die tägliche Sorge hinter uns lassen, ob wir den nächsten Tag noch erleben oder elend verhungern und erfrieren würden.

So wuchsen Irta und ich im kalten, regnerischen Norden auf und wir wussten nichts von der Hitze und der Sonne über der Wüste. Die Geschichte unserer Familie, Karukora und seine Reichtümer: Das waren für uns nur ferne, unglaubhafte Sagen. Und wir ahnten auch kaum etwas von den politischen Ränkespielen unseres Vaters, die einem Wollknäuel ähnelten, das in die Pfoten einer jungen Katze geraten ist. Trotz unserer noch immer großen Armut war es für meine Schwester und mich eine glückliche Kindheit – auch wenn wir uns oft fragten, warum unser Vater so häufig traurig war und ihm die Tränen kamen, wenn er uns beide fest in seine Arme schloss. Aber er hing mit all seiner Liebe an uns und ließ keinen Abend verstreichen, ohne uns eine seiner wunderbaren, tausendundeinen Geschichten zu erzählen. Ich wuchs mit bösen Zauberern, guten Feen, mutigen Prinzen und wunderschönen Prinzessinnen, Schatzhöhlen, vierzig Räubern, Dschinns, Golemen und sprechenden Tieren auf und nahm diese Märchen in meiner Jugend für bare Münze.

Ich war zwölf Winter alt und meine Schwester acht, als sich unsere Situation von Grund auf änderte. Ein geheimer Plan nahm Gestalt an und Alis wurde in seinen Mittelpunkt gestellt. Inzwischen war der alte Vezir Mufar verstorben und mit der „erquickenden Wüstenoase“ saß ein neuer Namenloser auf dem düsteren Falkenthron von Karukora und er war ein viel gütigerer und barmherzigerer Herrscher als sein Vorgänger „Hell in der Sonne funkelnder Bernstein“. Seine Inthronisation nahm „Wüstenoase“ zum Anlass, eine Generalamnesie auszusprechen und so war es auch Alis wieder erlaubt, in die Heimat zurückzukehren, ohne Verfolgung befürchten zu müssen. Wir verließen also die Lamargue, die uns, wenn schon nicht Heimat, so doch Heimstätte geworden war und gingen zurück in die ferne Stadt in der erbarmungslosen Wüste, die Irta und ich selbstverständlich nie zuvor betreten hatten. Ein Dampfer der TG brachte uns von Grenz am Wall über den Marat zurück in die Heimat, die ich noch nicht einmal aus der Ferne erblickt hatte. Ich werde den Anblick niemals vergessen, den mir vom Bug des Schiffes aus die sich langsam aus dem Horizont in den Himmel emporreckenden, weißen und goldenen Türme von Karukora boten. Mir war, als würden all die Märchen, die mein Vater mir erzählt hatte, wahr.

Doch die Umstellung war für uns gewaltig und wir brauchten viele Jahre, bis meine kleine Schwester und ich uns in Karukora heimisch fühlten und uns an seine feinen Sitten gewöhnten. Es half, dass unser Vater hier hochgeehrt und berühmt war und gut von seinen Geschichten und der Ausbildung junger Märchen–erzählertalente leben konnte. Luxus macht vieles erträglich und auch für viele Dinge blind. So bemerkten wir beide nicht, dass Alis weiterhin für die „Falken der Rache“ arbeitete und den Agenten der Lamargue Informationen über alles Mögliche zutrug. Durch die Hilfe seines Schülers Muhar reichten seine Ohren bald bis in die Hallen der Macht.