Meister Siebenhardts Geheimnis - Nikolaus Klammer - E-Book

Meister Siebenhardts Geheimnis E-Book

Nikolaus Klammer

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Beschreibung

Sechstausend Jahre sind vergangen, seit sich die hochentwickelte Kultur der Vorgänger in ihrer Hybris selbst vernichtet hat. Obwohl viele Länder der Welt dabei vollkommen zerstört wurden und die heute unbetretbaren Jenseitigen Lande im Westen bilden, sind die Vorgänger für die heutigen Völker nur mehr eine vage Erinnerung und ihr enormes technisches Wissen fast vollkommen vergessen. Allein Märchen und Sagen erzählen von ihnen. Doch eine gewaltige Gefahr hat den entsetzlichen Untergang der Vorgänger überlebt und bedroht auf 's Neue alles Leben auf der Erde. Dies ist die Geschichte des jungen Half, eines Brautwanderers, der sein heimatliches Bauerndorf in der Provinz verlassen hat, um draußen in der großen Welt nach einer blonden Frau zu suchen, die er als Gattin nach Hause führen will. Dabei stolpert er zufällig in eine düstere Verschwörung um den von der Inquisition gejagten Meister Siebenhardt. Der abtrünnige Mönch aus dem Kirchenstaat von Italmar ist im Besitz eines Geheimnisses, das das Schicksal der Menschheit entscheiden könnte … Den Leser erwarten über 600 Buchseiten voller fantastischer Abenteuer und Spannung.

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Seitenzahl: 718

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Nikolaus Klammer

BrautschauRoman einer weiten Reise

Buch 1

Meister Siebenhardts Geheimnis

E-bookAlle Rechte liegen beim Autor

Halfs Welt

INHALT

Prolog20 Jahre vorherSeite 7

1. KapitelDer geheimnisvolle MärchenerzählerSeite 135

2. KapitelDie VerschwörerSeite 169

3. KapitelDer König des HügelsSeite  199

4. KapitelDas Dorf ohne MännerSeite 235

5. KapitelDer Weg zur MissionSeite 271

6. KapitelDer Gefangene der SintariSeite 316

INHALT

7. KapitelEin paar HinterhalteSeite 356

8. KapitelDer Bannwart Rüder RastSeite 392

9. KapitelAbenteuer in der MissionSeite 428

10. KapitelDie Flucht aus der MissionSeite 469

11. KapitelSeltsame ReisegefährtenSeite 510

Epilog20 Jahre vorherSeite 562

AnhangWidmungPersonenverzeichnisSeite 594

Prolog20 Jahre vorher

Der Tod holte auf. Gegen Mittag verwandelte sich der eisige Regen übergangslos in ein dichtes Schneetreiben. Erbarmungslos trieb der Sturm nun dicke, feuchte Flocken fast waagerecht vor sich her. Er schleuderte sie mit aller Gewalt den drei Fliehenden entgegen. Sie konnten keine zehn Fuß weit sehen auf ihrer schmalen und rutschigen Felsenstufe mitten im Nichts der fast senkrecht aufragenden Nordflanke des menschenfeindlichen Berges Gynashort.

Es grenzte an ein Wunder, dass keiner von ihnen ausglitt und sie gemeinsam in die wolkenverhangene Tryas-Schlucht stürzten, von deren bodenlosem Abgrund sie oft nur eine Unachtsamkeit und ein Stolpern trennte.

Die schweigsame Sakket ging vorsichtig voran. Sie tastete sich mit der rechten Hand am glitschigen, nassen Felsen entlang, während sie die andere schützend vor ihr Gesicht hielt. Durch ein Seil mit ihr verbunden folgte drei Schritte dahinter Erson. Den Abschluss bildete Idris Henk Baldaar. Ihn hatte noch im Verbotenen Tal ein auf gut Glück abgeschossener Pfeil eines ihrer hartnäckigen Verfolger knapp unter dem rechten Schulterblatt getroffen und schwer verwundet. Erson hatte den Schaft zwar auf der Stelle direkt oberhalb der Wunde abgebrochen und diese dann notdürftig verbunden, aber es war nicht die Zeit geblieben, die mit Widerhaken versetzte Pfeilspitze mit dem Messer herauszuschneiden. Er hatte auch nicht die chirurgischen Kenntnisse, solch eine Operation sauber durchzuführen. Deshalb drang die Pfeilspitze mit jeder Bewegung tiefer in Idris' Fleisch und dieser gutmütige Bär von einem Mann litt gewaltige Schmerzen. Er trug sie wortlos und mit stoischer Miene.

Allerdings wurde der Schritt von Idris mit jeder Stunde unsicherer. Seine Begleiter und er tasteten sich deshalb immer langsamer auf der manchmal nur einen Fuß schmalen, zudem bröckligen Felsenstufe zwischen Himmel und Hölle weiter, von der die Gejagten hofften, dass sie ein Weg hinauf aufs Gipfelplateau und nicht nur eine weitere Sackgasse war. Sie kamen langsamer voran, als ihnen lieb war. Schließlich konnte jederzeit wieder einer ihrer Verfolger in ihrem Rücken auftauchen; einer der blutrünstigen Barbaren des Nordens, die sich selbst so trefflich Tudasgarda, der „Tod aus dem Himmel“, nannten. Weil das Freundestrio sich heimlich in die Tabuzone ihres heiligen Berges Gynashort gewagt hatte und sie dabei von einem Späher ertappt worden waren, jagte ein Trupp der besten Männer der Tudasgarda hinter ihnen her. Diese Elitekrieger hießen bei ihrem Volk, das ein primitives Wendisch sprach, Kling'Arta, also „Himmelskrieger“. Sie verfolgten die drei Eindringlinge bereits seit vier Tagen erbarmungslos durch die Wälder und über die Felsen. Und sie kamen immer näher! Manchmal meinte Erson, er könne bereits ihren keuchenden Atem in seinem Nacken spüren. Er drehte immer häufiger seinen Kopf nach hinten, versuchte, mit seinen Blicken den dichten Nebel zu durchdringen, der sich nur wenige Schritte hinter ihm und Idris wieder wie ein grauer Vorhang über den Weg schob. Der Ausblick nach vorn war derselbe: Die Flüchtigen waren gefangen in einer Welt aus waberndem, eisigem Dampf und feuchtem Schneetreiben, aus der ihnen in jedem Moment der Tod entgegentreten konnte. So viele Arten zu sterben gab es auf dem Gynashort und nur eine, am Leben zu bleiben.

Es war nicht das erste Mal, dass der verlockende Bericht von Henne, dem Biberjäger, Sakket, Erson und Idris dazu verleitet hatte, sich heimlich und vorsichtig dem himmelhohen Massiv inmitten des unwegsamen Rauen Gebirges zu nähern und sich in die verbotenen Jagdgebiete der grimmigen Tudasgarda, die ihr Land rund um den Gynashort eifersüchtig bewachten, zu schleichen. Glaubte man Hennes Erzählungen, dann barg der mächtige Berg in seinem Inneren die verborgene alte Stadt Bridon und ihre unvorstellbaren Schätze. Nie war es ihnen jedoch gelungen, einen Aufstieg auf den Gipfel und den Weg zu der alten Königsburg zu finden. Wieder und wieder hatten sie unverrichteter Dinge und mit leeren Beuteln in ihre von Kanälen gemusterte Heimatstadt Garda heimkehren und sich dem Spott ihrer im warmen Nest der Lahmen Curie zurückgebliebenen Kumpane stellen müssen.

Diese ständigen Grenzverletzungen konnten auf die Dauer nicht gutgehen und dieses Mal waren die drei Schatzjäger von einer Gruppe Himmelskrieger ertappt worden - gerade als die Gefährten endlich von weitem einen vielversprechenden Pfad den Nordhang hinauf entdeckt hatten; ganz wie es ihnen vom alten Henne versprochen worden war. Seitdem hetzten sie nun schon auf der Flucht diesen Saumpfad empor und hatten längst das Ende ihrer Kräfte, aber nicht das Ende des Weges erreicht. Wenn sie nicht bald den Gipfel des Gynashorts und damit einen Ort betraten, den die Tudasgarda nach den Worten des Jägers angeblich nicht zu betreten wagten, da sich dort der von ihren grauenvollen Daimona bewachte Eingang zu der sagenhaften Stadt befand, dann würden über kurz die abgeschnittenen Köpfe der drei auf Pfähle gespießt den Tabor der Barbaren zieren und ihre Herzen bei einem ihrer grausigen Festmahle als Speise für die tapfersten der Krieger dienen.

„Halt!“, rief Erson und stemmte sich gegen den Fels. Er griff das Seil fester, das an seinem Gürtel befestigt war und ihn plötzlich nach hinten zog. Der verwundete Idris war an einer etwas breiteren Stelle erneut ins Stolpern geraten und nur seine Verbindung mit den anderen hatte verhindert, dass er in die Schlucht stürzte. So kippte er, von Ersons Kraftakt gezwungen, auf die andere Seite gegen einen großen Felsblock, rutschte langsam an ihm zu Boden. Er rang dort pfeifend um Atem, der als dichte Wolke über seiner vermummten, in sich zusammengekauerten Gestalt stand. Sakket kam besorgt zurück, wollte sich an Erson vorbei quetschen. Er versperrte ihr den Weg.

„Wir müssen weiter! Wir können nicht schon wieder pausieren“, drängte die gertenschlanke Frau. Erson sah sie mit einer seltsamen Miene an und schüttelte den Kopf. Auch wenn er es noch nicht wahrhaben wollte: Die Flucht war vorbei, hier und jetzt. Idris würde keine fünfzig Fuß mehr weiter gehen können. Wenn er sich überhaupt noch einmal erhob. Sakket erwiderte den Blick ihres Freundes, der ihr wie ein Bruder war. Sie kannte den dicken Erson schon seit den Tagen ihrer gemeinsamen Kindheit im düsteren Waisenhaus der Gemeinschaft der Leidenden Gene in Garda und verstand ihn auch ohne Worte. Die Zeit für eine verzweifelte Entscheidung war gekommen und nur Sakket hatte von den Gefährten die Entschlossenheit, sich ihr zu stellen. Sie war eine geborene Anführerin und die treibende Kraft der kleinen Gruppe. Sie drückte sich an Erson vorbei und beugte sich zu Idris hinab, sprach aufmunternd auf ihn ein.

Aber er reagierte nicht. Erst als Sakket einen Handschuh abstreifte und mit ihrer bloßen Hand die Wange des Verletzten berührte, bewegte er sich, hustete. Dann schien er sich zu fangen und kam wieder etwas zu sich. Trotzig schob er seine Kapuze vom kahlen Schädel und sah auf. Seine großen braunen Augen, die Sakket immer an den Blick eines treuen Hundes erinnerten - so überrascht und sanftmütig blickte ihr großer Freund in die Welt - ruhten sanft und fast mitleidig auf dem Mädchen, das er wie auch Erson heimlich liebte. Er hatte nie viel von diesen Schatzsuchen gehalten und nur ihr zuliebe an ihnen teilgenommen, weil er Sakket beschützen und in ihrer Nähe sein wollte.

„Es geht nicht mehr“, stellte Idris nüchtern fest. „Hier ist mein Pfad zu Ende.“

Seine Stimme klang entschlossen. Auch Erson trat nun heran, schob einen Arm hinter die Schulter von Idris und richtete ihn ein wenig auf, weil er ihm das Atmen erleichtern wollte. Dabei hob er den Mantel seines Freundes leicht an und spähte nach dem Verband über dessen Wunde. Er klebte vollgesogen von feuchtem, frischem Blut, das das starke Herz seines Freundes großzügig aus der schweren Verletzung am Rücken pumpte. Es war ein Wunder, dass Idris es überhaupt bis hierher geschafft hatte. Bei dieser großen Wunde und dem Blutverlust hätte er eigentlich schon seit einem Tag tot sein müssen.

„Komm, mein Freund“, sprach Erson wider besseren Wissens ihm und wohl auch sich selbst Mut zu, „es ist nicht mehr weit, denke ich, vielleicht noch einen Furlong. Ich werde dich tragen.“ Idris musterte überrascht den kleinen, untersetzten Mann, mit dem er so viele Abenteuer erlebt hatte. Dann lachte er schallend.

„Vergiss es. Du kannst doch nicht einmal einen vollen Bierkrug stemmen!“ Idris' Lachen ging in ein gequältes Husten über und sein Gesicht verzerrte sich unter den Schmerzen. „Nein, hört: Ihr müsst mich zurücklassen. Vielleicht kann ich unsere Verfolger ein wenig aufhalten und euch etwas mehr Zeit verschaffen. Dann hätte das alles einen Sinn.“

Er tastete nach seiner Pistole, die er in einer Tasche an seinem Gürtel trug. Die kleine, schmale Waffe verschwand fast in seiner an Bärentatzen erinnernden Hand, die seltsamerweise sechs Finger hatte. Er richtete sich unterstützt von seinen Gefährten weiter auf, lehnte nun halb gegen den Felsen. Er spuckte Blut aus.

„Idris Henk Baldaar!“, rief Sakket vorwurfsvoll den ganzen Namen ihres Freundes. So sprach sie ihn nur an, wenn sie wütend auf ihn war. „Das machen wir auf keinen Fall! Wir schaffen es alle gemeinsam!“

„Weißt du nicht mehr? Wir drei oder keiner“, wurde sie von Erson unterstützt. Idris schüttelte müde seine Glatze und deutete mit einem ironischen Blick zurück.

„Diese Entscheidung müssen wir nicht mehr treffen“, sagte er. Gleichzeitig war ein triumphierendes Heulen zu hören. Sakket und Erson zuckten zusammen und wirbelten herum. Durch ein mutwilliges Spiel des Sturms rissen für einen kurzen Moment die dicken Schneewolken auf, zerfaserten über dem schwindelerregenden Abgrund. Tatsächlich verirrte sich ein verlorener Sonnenstrahl hinab auf das schmale Felsband. Die Sicht hinunter wurde plötzlich besser und man konnte ein langes Stück des Weges zurückblicken, den die drei geflohen waren. Erst jetzt bemerkten sie, wie hoch sie schon waren; ihr Pfad hatte sie schon viele Furlong über den Talgrund hinauf geführt. Und auf diesem engen Weg rannten ihnen auch weiterhin ihre Verfolger hinterher! Sie waren noch immer ihrer Beute auf der Spur.

Nur wenige hundert Fuß hinter und zwei Serpentinen unter ihnen kamen fünf, nein, sechs Krieger der Tudasgarda eilig näher. Wie Schweißhunde hetzten sie den Pfad entlang, missachteten dabei die Gefahren des schmalen Felsenabsatzes. Endlich hatten sie ihre Jagdbeute entdeckt und es war ihr vielstimmiger, zufriedener Ruf, der zu den dreien herauf klang. Die Himmelskrieger beschleunigten noch ihr Tempo und kamen in halsbrecherischer Geschwindigkeit heran, gerieten dann jedoch an der Bergflanke aus dem Blickfeld der wie zu Eis erstarrten Gejagten, weil der Pfad einen Bogen in einen kleinen Tobel machte, den ein Wasserfall an dieser Stelle in den Fels gegraben hatte. Erson wusste noch, dass dort viel lockeres Geröll und Splitt über den Weg gerutscht war und die Stelle zusammen mit dem von oben herabstürzenden Wasser nur schwer begehbar machte; vor allem, wenn man wie die Tudasgarda kein festes Schuhwerk, sondern nur zusammengebundene Lederstreifen an den Füßen trug. Aber bald würden die furchterregenden Krieger wieder aus dem Einschnitt im Felsen auftauchen und dann gerieten Sakket, Erson und Idris in die Reichweite ihrer todbringenden Pfeile und den Bolzen ihrer Armbrüste. Den Gefährten blieben nur noch wenige Augenblicke.

Idris fingerte an dem feuchten Knoten, mit dem das Sicherungsseil an seinem Gürtel befestigt war, das ihn mit den anderen verband. Seinen klammen Fingern gelang es nicht, ihn zu lösen.

„Bei Inets brennendem Schwanz! Vielleicht wollt ihr mir mal helfen?“, fluchte er. „Was wartet ihr noch? Ich bin der einzige, der eine Waffe besitzt, auch wenn sie nur ein Spielzeug ist. Verdammt!“

Erson wurde rot. Dass die drei ihre Jagdflinte verloren hatten, war seine Schuld gewesen. Er hatte ungeschickt nach ihr gegriffen. Dabei war sie ihm aus den feuchten Fingern geglitten und unwiederbringlich in eine tiefe Felsspalte gerutscht.

„Niemals“, antwortete er trotzig, aber da hatte Sakket schon kurzentschlossen ihr Messer gezogen und schnitt einfach das Führungsseil durch, an dem Idris verzweifelt zerrte.

„Was ...?“ Ohne auf seinen Protest zu achten, packte sie Erson am Oberarm, zog ihn zurück, weg von seinem Freund. Ihr Griff war kraftvoll und zwingend. Sie nickte Idris aufmunternd zu, der sich nun hinter dem niedrigen Felsen eine Deckung suchte und mit seiner Pistole in die Nebelschwaden zielte, die sich wieder über den Weg gelegt hatten.

„Nein!“ Erson riss sich trotzig von Sakkets Umklammerung los und drehte sich erneut zu Idris. Er wollte nicht wahrhaben, dass die drei ihr Blatt bereits ausgereizt hatten. Er würde seinen Freund hier am Ende der Welt nicht einfach im Stich lassen und den Kling'Arta der Tudasgarda opfern. Das konnte nicht sein, das passte nicht in sein Weltbild. Es musste einfach noch einen Ausweg geben. Bisher war da immer einer gewesen: Das eine Schlupfloch, das er zuverlässig lange vor den beiden anderen entdeckte und durch das sie sich immer wieder aus einer Gefahr hatten retten können. Erson hatte es noch jedes Mal entdeckt. Auch heute würde ihm etwas einfallen ...

Ein schwarzer Schatten zischte so knapp an Ersons Kopf vorbei, dass er das dunkle Brummen einer wütenden Libelle zu vernehmen meinte. Das Geschoss schlug direkt hinter ihm in die mürbe Felswand. Ein paar Holzsplitter von dem Bolzen und kleinere Steinbröckchen spritzten Erson von der Seite ins Gesicht und rissen seine Wange blutig. Abgelenkt hob Erson die Hand zum plötzlichen Schmerz und sah überrascht zurück. Gleichzeitig ertönte Idris erster Schuss und wurde grollend wie ein ferner Donner von den Felswänden zurückgeworfen, laut in den Ohren klirrend. Wie die Friedensglocke von Kalar hörte er sich an. Freilich verfehlte Idris auf diese Entfernung sein Ziel um einige Fuß, jenen ersten und vorwitzigsten der Tudasgarda-Krieger, der jetzt auf dem Pfad nur eine einzige Kehre unter ihnen erneut aus dem Bergschatten aufgetaucht war und mit seiner Armbrust auf die Flüchtigen angelegt hatte. Dennoch erreichte der Schuss von Idris, dass sich der trotz der bitteren Kälte halbnackte Mann eilig hinter den Felsvorsprung zurückzog.

Der große Mann wandte sich halb zu Erson, brüllte ihn an, ohne die Felskante aus den Augen zu lassen, hinter der der tätowierte Krieger Schutz gesucht hatte:

„Der Bolzen könnte jetzt auch in deinem Auge stecken. Und dann würde dir auch deine legendäre Gesundheit nicht mehr helfen. Hau endlich ab; du kannst hier nichts mehr tun! Ich habe ein volles Magazin im Lauf und eines im Gürtel stecken und solange ich schießen kann, wird sich keiner trauen, seine Nase vorzustrecken!“ Wie zur Demonstration drückte er ein weiteres Mal ab und schoss ein flüchtiges Loch in die sich weiter verdichtenden wirbelnden Schneewolken.

„Aber sie werden dich töten!“

„Versteh endlich, Erson. Ich bin doch schon lange tot. Seit mich dieser beschissene Pfeil erwischt hat. Inet sei verdammt! Warum machst du es mir so schwer? Nimm mein Opfer an.“ Dann sah er doch noch flüchtig zu Erson und in seinem dunklen Welpenblick lagen Zärtlichkeit und Abschied.

„Du hast mich vor dem Stadtbüttel von Garda gerettet, weißt du noch? Und aus dem Straflager in Segdaheim befreit. Jetzt revanchiere ich mich, mein Freund.“ Seine Stimme brach und er wischte sich über die Augen.

„Blöder Schnee“, murmelte er und konzentrierte sich wieder auf die Flanke, hinter der sich ihre Feinde vor seinem Sperrfeuer verbargen. Er hatte alles gesagt. Sakket trat hinter Erson und legte ihre Hand auf die Schultern des verzweifelten kleinen Mannes, der zum ersten Mal in seinem Leben um seine nächsten Worte rang und keine fand.

„Es hat keinen Sinn“, sagte sie nüchtern. „Lass uns endlich gehen.“ Kurz noch zögerte Erson, dann drehte er sich mit einem Schulterzucken um und stapfte wie beleidigt den schmalen Pfad ein paar Fuß weiter hinauf, bis das Seil zwischen ihm und Sakket gespannt war.

„Lebewohl, mein Geliebter. Die Mutter der Leidenden sei auf all deinen Wegen mit dir. Ihre Tränen sind meine Tränen, ihr Schmerz wühlt in meiner Brust ...“, flüsterte Sakket den Anfang des Maraia-Gebets und folgte Erson. Sie ließ sich widerstandslos von ihm weiterziehen. Idris sah ihnen hinterher, bis sie im Nebel verschwanden. Er murmelte etwas, aber niemand hörte seine Worte.

Verbissen und so eilig, wie es ihnen bei dem kaum erkennbaren Pfad möglich war, stolperten Sakket und Erson weiter. Das Opfer von Idris durfte nicht vergebens sein. Bald verbreiterte sich die Felskante und damit auch der Pfad. Er war jetzt zwar leichter begehbar, aber die Fliehenden kamen trotzdem langsamer vorwärts. Denn der Weg führte nun erheblich steiler nach oben und auch das Schneetreiben wurde noch dichter. Doch stumm und stur setzten sie einen Schritt vor den nächsten, vom Grauen in ihren Rücken vorwärts getrieben. Allein auf ihren Weg konzentriert stapften sie weiter, nur selten blieb einer der beiden kurz um Atem ringend stehen. Keiner hatte dem anderen etwas mitzuteilen. Aber beide lauschten sie immer wieder angestrengt nach hinten. Sie nahmen es erleichtert zur Kenntnis, wenn erneut ein oder zwei Schüsse zu hören waren. Einmal meinte Erson sogar, Idris triumphierend rufen zu hören.

Endlich, sie waren sicher schon eine Stunde auf diese Weise an der kahlen Flanke weiter den Berg empor gewandert, brach Sakket in Ersons Rücken das Schweigen:

„Nimmt dieser Kothaufen von einem Berg denn nie ein Ende? Ich habe das Gefühl, wir sind auf diesem verdammten Pfad schon dreimal um ihn herumgestolpert ...“ Erson blieb keuchend stehen und wartete kurz, bis Sakket ihn eingeholt hatte. Dann ging er weiter und erklärte:

„Der Gynashort ist nach der Wendspitze die höchste Erhebung zwischen Seeland und der Provinz“, spielte er den Reiseführer. Es tat ihm gut, lenkte ihn und vielleicht auch Sakket etwas ab. „Höher ist nur noch das Babelmassiv jenseits des Alten Südwalls. In Hennes Karte steht, dass der Gynashort nach dem alten wendländischen Längenmaß exakt 3296 Meter hoch ist. Wenn ich mich nicht täusche, sind das etwa 17 Furlong, also zwei Meilen ...“

„Exakt sind das, auf drei Stellen gerundet, 16,384 Furlong oder 2,048 Meilen“, unterbrach ihn Sakket und schaffte es fast, Erson zum Lächeln zu bringen. Jedes Kind, das der Orden der leidenden Gene in seinem Waisenhaus in Garda aufgezogen hatte, brachte etwas Besonders mit sich, das es für die Adepten und Magister interessant machte. Bei Idris waren das die zusätzlichen Daumen, die auf dem Rist seiner Hände saßen, bei Erson selbst seine verblüffend schnelle Selbstheilung nach Verletzungen. Er war auch noch nie krank gewesen. Und Sakket? Nun, sie konnte erstaunlich gut mit Zahlen umgehen. Die Geschwindigkeit, mit der sie rechnete oder mathematische Zusammenhänge begriff, war einzigartig.

„Also gut“, fuhr er fort, „nehmen wir an, dass wir den Gynashort bereits zwölf Furlong hoch erklommen hatten, als wir diesen Felsenpfad fanden - also schon ein gutes Stück über der Baumgrenze waren - dann sollten wir es nicht mehr weit bis zum Gipfelplateau haben, vielleicht noch zwei Stunden oder drei, auf jeden Fall sind wir lange vor Sonnenuntergang ...“

Ein entsetztes Kreischen unterbrach Ersons gelehrten Vortrag. Obwohl es nach nichts Menschlichem klang, war es doch der verzweifelte Todesschrei eines in den Abgrund Stürzenden. Spitz und schrill drang er aus der Tiefe der Schlucht zu ihnen empor. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis der Schrei dort unten im bodenlosen Nichts verklang, nur langsam leiser werdend. Beide lauschten. Aber es war nichts weiter zu hören, kein Rufen, keine Schüsse. Nur das Heulen des Windes drang an ihre Ohren. Der Berg hatte sich seine majestätische Ruhe zurückerobert. Was auch immer weit unter ihnen geschehen war, welches Drama sich abgespielt hatte: Jetzt war es vorbei.

„Ob die Tudasgarda noch hinter uns her sind? Meinst du, er hat sie alle aufhalten können?“, fragte Erson und vermied es, den Namen seines Freundes auszusprechen. Sakket schüttelte den Kopf.

„Wir müssen weiter“, presste sie zwischen ihren dünnen Lippen hervor und übernahm wieder die Führung. Hatte der Wind den Schnee bislang so nass und schwer aus den Wolken getrieben, dass er sofort auf dem Boden und auf der dadurch wie ein Bleigewicht lastenden  Kleidung der Flüchtenden schmolz, so verwandelten die sich Flocken jetzt in kleine und harte Kristalle. Sie bildeten eine gefährlich rutschige Eisschicht auf dem Pfad. Sie knirschte wie mit ihren Zähnen zornig unter den Sohlen der festen Schuhe. Nur langsam tappend kamen die beiden voran. In der eisigen Höhe, deren Luft einem dünnen Messer gleich durch ihre Nasen in die Lungen stach, wurde es ihnen immer schwerer, Atem zu finden. Die Felleisen mit den Vorräten und dem Zelt drückten mit jedem Schritt heftiger auf ihre gebeugten Schultern. Für den dicken und kurzatmigen Erson wurde es bald zur Qual. Funken tanzten vor seinen Augen und er schwankte beim Gehen. Doch Sakket zog ihn einfach weiter.

Ersons Gedanken gingen zurück an den Tag, an dem er und seine Gefährten zum ersten Mal von der goldenen Stadt im Herzen des Gynashorts gehört hatten. Das war in der Lahmen Curie gewesen, der etwas verrufenen Spelunke am großen Binnenhafen von Garda. Sie war eine schmierige und verräucherte Bruchbude, die wacklig auf ihren Stelzenfüßen über dem stinkenden Tryas-Kanal balancierte, der den gesammelten Unrat und die Abfälle der Stadt zum Fluss schwemmte, oft auch einen Selbstmörder oder einen Leichnam, aus dessen Rücken noch der Griff eines Messers ragte. Garda war eine arme, von Verbrechen und Streitigkeiten gequälte Stadt ohne Recht und Ordnung. In ihr kämpften drei mächtige Kaufmannshäuser und eine Diebesgilde um die Vorherrschaft und die Diebe waren unter ihnen noch die ehrlichsten und den Gesetzen am treuesten. Der Stadtbüttel war bis in die Knochen korrupt und der Stadtrat eine Mördergrube, in der die Vertreter der Kaufleute eine handfeste Politik betrieben und regelmäßig mit Knüppeln übereinander herfielen.

In der Lahmen Curie gab es allerdings den besten Bisamratten-Braten nördlich des Rauen Gebirges und das dunkle Bier war billig und süffig. Das allein hätte schon genügt, das Gasthaus zum beliebtesten Treffpunkt der Seefahrer, Kaufleute und Gauner zu machen. Oft waren auch alle drei Professionen in einer einzigen zwielichtigen Person vereint, die im Schatten einer der Nischen des Lokals ihren undurchsichtigen Geschäften nachging. Die günstige Lage des Gasthauses gegenüber des größten Bordells von Seeland machte die Lahme Curie allerdings zu einer wahren Goldgrube, in der die humpelnde Wirtin wie eine Spinnenkönigin ihre Netze webte.

Auch die miteinander wie Geschwister verbundenen drei jungen Menschen, die sich nach ihren elenden Hungerjahren im Waisenhaus der Gemeinschaft der Leidenden Geneewige Treue und Freundschaft geschworen hatten und sich im Hafen mit mehr oder weniger legalen Handlangerarbeiten über Wasser hielten, waren Stammgäste bei der Lahmen Curie und lauschten jeden Abend mit roten Ohren begierig den Erzählungen, die die weitgereisten Gäste am Kaminfeuer vor einer interessierten Runde zum Besten gaben.

Die großartigste Geschichte war jene gewesen, die der alte Jäger Henne mit leuchtenden Augen von der legendären Stadt Bridon zu erzählen wusste. Dreitausend Jahre nach dem Fall der Vorgänger, jener legendären Vorzeit, als mit den Feuersternen, die vom Himmel fielen, der Großen Welle nach dem Sturz des bleichen Máni und dem buchstäblichen Zerbersten der Erde das diesige Morgenerwachen der Geschichte stattfand und die ersten ungenauen Erinnerungen der heutigen Welt begannen, hatte sich der Sage nach über Bridon in einem gewaltigen, jede Beschreibung spottenden Erdbeben innerhalb von Augenblicken der Gynashort emporgefaltet und die Stadt schlicht unter sich begraben - mitsamt ihren überraschten Bewohnern, all den Wundern ihrer Techné und ihren gewaltigen Schätzen. Denn es steht geschrieben, dass in jener Stadt der diamantengeschmückte Palast der Könige vom Vorher, der goldene Hort der Vorgänger bewahrt würde. Dies geschah während der entsetzlichen Reichskriege zwischen den Herrschern Máeriqas, Turini Sud und dem weisen König Launin, Kriegen, die das Aussehen der Welt bis heute prägten und zugleich das letzte Aufblitzen des Abendrots über der Welt der Vorgänger bedeuteten.  Bridon war der Mittelpunkt von Máeriqas'Reich gewesen - Máeriqas, der der Unglückselige genannt wurde. Er wurde mit seinem Land, seiner Königsburg und seinen Untertanen von den Gesteinsmassen des Rauen Gebirges verschüttet. Das war beinahe dreitausend Jahre her oder auch viertausend; niemand wusste das so genau. Doch noch immer hatte der Berg seine Geheimnisse nicht preisgegeben.

Seit der Erzählung von Henne suchten Sakket, Idris und Erson nach einem Eingang in den Gynashort, einen Weg ins mythische Bridon. Fünf Jahre ihres Lebens hatten die drei inzwischen für ihre Suche verschwendet. Und wohin hatte sie das alles geführt? Idris war wohl tot und Sakket und Erson längst dabei, ihm auf seinem Weg zu folgen. Sie weigerten sich nur, es wahr zu haben.

Sakket blieb plötzlich stehen. Erson bemerkte es zu spät und rumpelte in ihren Rücken. „Schau“, sagte sie und deutete auf den Boden, „wir sind tatsächlich nicht die ersten hier oben.“

Neben dem Pfad hatte jemand ein paar Steine zu einem Hügel aufgeschichtet. Oben auf der Spitze der künstlichen Pyramide steckte ein kurzer Stab, an dem Bänder mit Fluchsprüchen, Tierknochen und Sträuße von kleinen länglichen Gegenständen im Wind tanzten. Letztere sahen Erson ein wenig nach zusammengebundenen, vertrockneten Chilischoten aus. Er sah genauer hin und erschauderte. Das waren mumifizierte menschliche Finger! Die Warnung der Tudasgarda war eindeutig: Bis hierher und nicht weiter!

Während der Pfad hinter ihnen auch auf natürliche Weise entstanden sein konnte, waren an dieser Stelle endlich Stufen in den Felsen gehämmert. Unter der Schneedecke konnte man sie kaum ausmachen, aber direkt vor den beiden Schatzsuchern endete der Felsenweg. Es begann eine von Menschen geschaffene Treppe, die die ansonsten unüberwindliche Felsenklippe empor kletterte und die an einigen ausgesetzten Stellen sogar rostige eiserne Ketten als Geländer aufwies. Erson folgte dem weiteren Aufstieg mit dem Blick. Die bequemen Stufen waren etwa einen halben Fuß hoch und vier Fuß breit. Sie führten steil empor; nach jeweils vierzig von ihnen kam ein Absatz und sie änderten die Richtung. Das ging so weiter, bis die gewaltige steinerne Treppe sich weiter oben vor seinem Blick in den Wolken verbarg. Erson bückte sich und wischte eine Stufe vom Schnee frei. Sie war erstaunlich sauber und glatt gearbeitet, wirkte wie poliert. Erson konnte sich nicht vorstellen, dass die barbarischen Himmelskrieger zu solch einer feinen Arbeit in der Lage waren, noch dazu in diesen Höhen, in denen bereits die Luft dünn war. Das sah ihm tatsächlich nach einer Arbeit von erfahrenen Steinmetzen aus, so unglaublich dies in dieser Höhe sein mochte.

„Meinst du, das haben die Vorgänger geschaffen?“, fragte Sakket ehrfürchtig.

„Wohl nicht, die Treppe wurde sicher erst nach dem Untergang der Alten Reiche in den Fels gemeißelt; lange, nachdem der Gynashort entstanden ist.“ Erson zögerte. „Es kann freilich auch sein, dass unsere Geschichtsschreibung irrt und Bridon später in den Berg hinein gebaut wurde. Es ist wie die Geschichte mit dem Ei und der Henne. Was war zuerst?“

Sakket lachte befreit auf und klopfte ihrem Gefährten anerkennend auf die Schulter: „Auf jeden Fall ist hier oben etwas. Bisher habe ich die ganze Geschichte von dem Weg auf den Berg nicht geglaubt. Mich hätte es auch nicht gewundert, wenn der Pfad plötzlich vor einem Abgrund zu Ende gewesen wäre. Aber das hier sieht mir doch ganz nach einer Einladung aus.“

„Die haben aber nicht die Tudasgarda ausgesprochen“, erwiderte Erson und erntete einen der Pergamentstreifen von dem grausigen Speer neben der ersten Stufe. Er vermied dabei sorgfältig eine Berührung der eklen Mumienfinger, die wie lebendig mit den Böen spielten. „'aSaqe dAlegk – w'DanQo sol TudAsqo eLegk'“, entzifferte er mühsam die unleserliche und verwische Schrift auf dem Papier. „Das ist altwendisch und wenn ich es richtig übersetze, soll das heißen: 'Gehst du weiter, dann frisst deine Eingeweide ein silberner Tod'.“

„Charmant. Was ist das: Ein silberner Tod?“, erkundigte sich Sakket. Erson zuckte mit den Schultern.

„Ich habe keine Ahnung. Eine Waffe vielleicht? Oder eine Krankheit? 'TudAsq eLegk', ein Tod aus Silber. Jedenfalls wird er auch auf den anderen Spruchbändern erwähnt. Wer den Gipfel betritt, ist ihm ausgeliefert. Offenbar hatte der alte Henne Recht. Der Gipfel ist ein Tabu der Tudasgarda. Dieser Speer stellt eine Art letzte Warnung dar. Etwas verbirgt sich dort oben vor den Augen der Welt. Es muss den Himmelskriegern verdammt wichtig sein, dass niemand zur Spitze des Gynashorts vordringt. Wenn ich denke, wie hartnäckig sie uns verfolgen ...“ Er verstummte abrupt, denn ihm war Idris eingefallen. Auch das Mädchen schien an ihn zu denken und eine Weile standen die beiden stumm beieinander, in ihren Gedanken verloren. Obwohl beide nicht besonders abergläubisch waren, wollte keiner den ersten Schritt tun.

„Dann schauen wir mal, was wir finden“, sagte Erson schließlich und ließ das Papier mit dem Fluch los. Es flatterte wie ein aufgeregtes Insekt im Wind davon. Er band sich von dem Seil los, das sie beim Treppensteigen nur behindert hätte. Sakket rollte es sorgfältig zusammen und steckte es zurück in ihr Felleisen.

„Welche Farbe mein Tod hat, ist mir egal. Der in meinem Rücken ist jedenfalls blutrot. Wenn der vor mir silbern ist, dann ist das zumindest ein Hoffnungsstreifen“, erklärte sie dabei. Sich in einen grimmigen Humor zu flüchten, war Sakkets Art, mit gefährlichen Situationen umzugehen. Erson wusste das und lächelte deshalb pflichtschuldig, auch wenn ihm alles andere als zum Spaßen zumute war.

Anfänglich war es schwierig, die überfrorene, schlüpfrige Treppe zu begehen, aber nach den ersten einhundert Fuß hatten sich die beiden an das stupide Aufwärtssteigen gewöhnt und fielen in einen gleichmäßigen, kräfteschonenden Rhythmus. Der Aufstieg wurde auch leichter, weil der Wind weiter oben stärker blies und der Schnee sich nur an ungünstigen Stellen auf den ausgesetzten Stufen hielt. Sie gewannen schnell an Höhe, aber insgesamt war es wesentlich anstrengender, die steilen Treppenstufen zu erklimmen, als vorher dem nur gemäßigt aufwärts führenden Pfad zu folgen. Auf jedem der quadratischen, erstaunlicherweise mit feinen flaschengrünen Fliesen ausgelegten Absätze – jeden zierte ein weiterer der unappetitlichen Speere, an denen neben den warnenden Spruchbändern Dinge hingen, die keiner der beiden genauer untersuchen wollte – verschnauften sie für ein paar Minuten, um dann den nächsten Abschnitt der Treppe in Angriff zu nehmen. Sie schien sich endlos nach oben fortzusetzen, buchstäblich eine Treppe in den Himmel hinein. Erson fiel unsinnigerweise ein altes Lied ein, das er nicht aus dem Kopf bekam und beim Stufensteigen vor sich hinsummte.

An einem Absatz, der durch eine überhängende Felskante einigermaßen vor Wind und Schnee geschützt war, rasteten die beiden Schatzsucher etwas länger. Sie kauerten sich eng beieinander in eine Ecke, zitternd in ihre Mäntel vergraben. Erson kramte aus seinem Rucksack, den er neben sich abgelegt hatte, hartes Zweibrot und gepökelte Lammfleisch-Streifen hervor. Beides verband sich im Mund zu einem salzigen Brei, mit dem man Ziegel hätte verfugen können. Aber es war die erste Mahlzeit des Tages und sie schlangen sie mit Hilfe ihres Wasservorrates gierig hinunter. Erson fühlte Sakkets prüfenden Blick auf sich ruhen.

„Was?“

„Ach, es ist nichts weiter“, erwiderte sie und musterte neugierig sein feistes Gesicht, das ihn auf Menschen, die ihn nicht kannten, harmlos und naiv wirken ließ. Das Mädchen wusste, wie sehr dieser erste Eindruck täuschte. „Ich bin nur jedes Mal von neuem verblüfft, wie schnell deine Wunden abheilen. Vorhin war deine linke Wange noch von dem Bolzenschuss des Tudasgarda aufgerissen und blutig. Und jetzt kann ich gerade noch ein wenig Schorf entdecken. Das ist schon etwas ganz Besonderes.“

„Das dachten die Brüder im Waisenhaus auch. Sie haben mit Genuss an mir herumexperimentiert. Besonders der Adept Seyferd hatte seinen Spaß. Ich weiß nicht, wie oft er mich mit kochendem Wasser verbrüht oder an einer Kerze verbrannt hat, um anschließend neugierig den 'Heilungsprozess' zu untersuchen, wie er das nannte ...“, erinnerte sich Erson grimmig, während er mit einer Hand über seine fast verheilte Wange strich, deren tiefe Fleischwunde er längst vergessen hatte. Er wischte dabei den letzten Schorf weg. Die Haut darunter war makellos. Ja, seine Wunden heilten schnell. Deshalb war er auch für die Bruderschaft so interessant gewesen.

„Wie könnte ich ihn vergessen“, nickte Sakket düster. „Er war oft in der Nacht im Schlaflager der Jungen unterwegs und suchte sich seine Opfer. Wir Mädchen hörten ihr Weinen durch die Zimmerdecke. Sicherlich hat ihn sich inzwischen Inet geschnappt.“

Erson wusste, dass dem so war, dass Seyferd schon lange im eisigen Feuer der Hölle schmorte, aber er behielt sein Wissen für sich. Was zwischen ihm und dem Adepten in jener Nacht vor bald zehn Jahren geschehen war und wie dieser dabei eines intimen Körperteils und anschließend seines Lebens verlustig ging, bevor Erson mit Sakket und Idris in der Verwirrung des von ihm gelegten Feuers aus der Folterkammer in die zweifelhafte Freiheit der Kanäle von Garda floh, hatte er allerdings noch nie jemandem erzählt; selbst der Frau nicht, die er liebte. Manchmal träumte er noch davon. Es gab Wunden, die konnte sein Körper nicht heilen; sie bluteten in seinem Inneren noch nach Jahren.

„Wie spät mag es sein?“, wechselte Sakket zu Ersons Erleichterung das ihm unbequeme Thema und streckte prüfend ihre Nase in den Wind. Aber hier, inmitten des dichten Nebels der grauen Schneewolken, die der Sturm weiterhin hartnäckig gegen die Bergflanke trieb, war nicht einmal zu erahnen, in welcher Richtung die Sonne stand. Die beiden hatten bei all den Serpentinen und Drehungen ihres Weges vollkommen die Orientierung verloren und Sakket hätte es nicht verwundert, wenn ihr Erson erklärt hätte, dass sie die Erde längst verlassen und in Arielslichtem Himmelsreich umherstolperten.

Auch Erson schnupperte in den Wind. Seine zuverlässige goldene Zwiebel, die er einem reichen betrunkenen Geldsack aus Bedendorf gestohlen hatte, über den er einmal zufällig im Schlamm des Straßengrabens vor der Lahmen Curie gestolpert war, war längst stehengeblieben, weil er bereits vor Tagen vergessen hatte, sie aufzuziehen. Er musste raten.

„Ich denke, es ist inzwischen später Nachmittag. Wüsste ich nicht genau, dass der Gynashort nicht der Berg der Götter ist, würde ich denken, wir klopfen gleich an die Pforten von Arielsgarda.“ Offenbar hing er ähnlichen Gedanken nach wie seine Freundin.

In diesem Augenblick hörten sie es beide: Deutlich ertönten eilige, aber feste Schritte, die unter ihnen die Treppe emporstiegen. Auch das gleichmäßige, wenngleich angestrengte Keuchen von mehreren Männern klang kurz zu den Rastenden herauf. Dann war wieder Ruhe. Beide starrten sich betroffen an.

„Das kann nicht schon ...“, begann Sakket panisch. Erson legte ihr sofort einen Finger auf die Lippen. Er rutschte zur Seite und spähte vorsichtig über den Rand des gefliesten Absatzes in die Tiefe. Ein ganzes Stück unter ihnen, einige Treppenkehren und drei-, vierhundert Fuß tiefer, erkannte er die Schemen der grausamen Krieger der Tudasgarda, die unverdrossen die Stufen zu ihnen emporstiegen. Dass die beiden ihre Verfolger gehört hatten, lag wahrscheinlich an einer Laune des Windes, der nun von unten stramm in die Höhe blies. Nur dieser Glücksfall hatte sie davor bewahrt, bei ihrer Rast von den brutalen, bis an die Zähne bewaffneten Himmelskriegern überfallen zu werden. Erson begann zu zählen, dann scheuchte er Sakket auf.

„Schnell, wir müssen weiter“, drängte er und half ihr in die Höhe. Sie warfen ihre Felleisen über und hetzten die nächste Treppe empor. „Es sind nur noch drei Verfolger übrig“, sagte Erson, „Idris hat ganze Arbeit geleistet.“

„Das sind immer noch zu viele. Wir könnten uns nicht einmal eines Einzigen von ihnen erwehren. Ich hätte nicht gedacht, dass sie so schnell wieder an uns herankommen!“

„Wir können es nicht ändern. Deshalb sollten wir auf der Gipfelebene sein, bevor sie uns einholen. Und hoffen, dass der alte Henne Recht hatte und die Tudasgarda es nicht wagen, auf den Gynashort zu klettern.“ Er sah nach oben, aber ein Ende der Treppe war immer noch nicht zu erkennen. Eine steil emporragende Felsklippe, um die sich die Stufen in einer langgezogenen Wendel aufwärts drehten, verdeckte nun die Sicht.

„Der Weg nach oben ist unsere einzige Chance“, ergänzte er. Gleichzeitig ertönte von unten ein dreistimmiges Triumphgeschrei. Ihre Verfolger hatten sie ebenfalls entdeckt und vervielfachten ihre Bemühungen, ihre Opfer einzuholen, bevor diese den Gipfel erreichten. Doch die langsam schmaler werdende Treppe um die letzte, mächtige Klippe machte es niemandem leicht: Verfolgte und Verfolger rutschten bei fast jedem Schritt aus, rappelten sich wieder auf und kämpften sich weiter empor, Stufe für Stufe, Absatz für Absatz, hinauf in das immer dichter werdende Grau des Himmels, in dem nadelfeiner Schneegeriesel die größeren Flocken ersetzt hatte und wie erkaltete Asche in ihre Augen wirbelte. Die beiden konnten kaum mehr nach vorn sehen. Obwohl Sakket und Erson verzweifelt ihre letzten Reserven mobilisierten, kamen ihnen die Krieger immer näher. Das war ein grausames Rennen, das die beiden nicht gewinnen konnten.

Dann, die schrecklichen Tudasgarda waren nur noch einen Absatz unter ihnen, war überraschend die Treppe zu Ende. Sakket und Erson stolperten die letzten Stufen hinauf und standen vor einer massiven, senkrechten Felswand. Hier fand ihre Flucht ein Ende. Sie waren in einer ausweglosen Sackgasse gefangen.

„Das darf nicht sein!“, schrie Sakket verzweifelt und schlug mit der Faust gegen den Felsen. „Die Götter können uns nicht so verhöhnen.“

„Dort!“ Erson deutete aufgeregt zur Seite. Einige Schritte weiter links war eine eiserne Leiter fest mit dem Stein verankert; ihre weit auseinander liegenden Sprossen führten geradewegs in schwindelerregende Höhe. Sie wirkte nicht sehr vertrauenerweckend oder stabil, aber sie war der einzige Weg weiter hinauf.

„Da lang!“

Die beiden stürzten zu der Leiter und machten sich an den schwierigen Aufstieg; das Mädchen voran, das geschwinder und natürlich weitaus flinker als der dicke Erson war. Schnell verbreiterte sich der Abstand zwischen den beiden. Die Leiter wackelte unter der Erschütterung und Rost rieselte hörbar im Inneren der Rohre herab. Die brüchigen Metallsprossen waren häufig durchgebogen und ab und an fehlte auch eine; ihre mit Feuchtigkeit vollgesogenen Umhänge und die schweren Rucksäcke behinderten sie beim Klettern und zogen sie nach unten. Aber die beiden kamen doch voran und hatten bereits die Hälfte der Felswand überwunden, als der erste der Tudasgarda auf dem Absatz unter ihnen auftauchte und sich verblüfft umsah, weil die Flüchtigen sich scheinbar in Luft aufgelöst hatten. Dann entdeckte er ebenfalls die Leiter. Aber anstatt Anstalten zu machen, den Flüchtigen weiter zu folgen, holte er von seinem Rücken die geschulterte Armbrust, mit deren tödlichen Bolzen Erson schon einmal nähere Bekanntschaft geschlossen hatte. Der Krieger lud seine Waffe gemächlich und zielte dann mit aller Ruhe. Auf diese Entfernung konnte er die beiden überhaupt nicht verfehlen, die ja nicht ausweichen oder Schutz suchen konnten, sondern wie die Ziele in einer Schießbude hilflos an der Wand hingen. Gerade als der grimmige Krieger den Auslöser betätigen wollte, erreichten seine Partner ebenfalls laut keuchend den Absatz neben der Leiter.

„Ne, da laqo! Seq w'Dalod … taboo“, brüllte einer in einem barbarischen Altwendisch. Er trug auf seiner Glatze einen Helm in der Form eines Stierkopfes mit zwei geschwungenen Hörnern und war der Anführer der Verfolger, ein Kriegshäuptling der Tudasgarda. Mit einer fast spielerischen Geste seines Kampfstabs stieß er den Krieger mit der Armbrust gedankenschnell zur Seite. Dieser stolperte panisch mit den Armen rudernd auf den Abgrund zu und wäre fast die Treppe hinabgestürzt. Seine Waffe flog allerdings in hohem Bogen durch die Luft und zerbrach auf ihrem Weg die Stufen hinab. Der Tudasgarda hatte seinen Schuss allerdings noch abgeben können, er verfehlte Sakket und Erson offenbar, auch wenn Erson zuerst nicht wusste, wo der Bolzen gelandet war. Erst als er nach oben sah, um Sakket zum Weiterklettern anzufeuern, entdeckte er den gefiederten Bolzen-Schaft, der eine Handbreit aus ihrem Rucksack ragte. Sie musste dort etwas besonders Festes hineingepackt haben, das ihr nun das Leben rettete, denn die Wucht des kleinen Pfeils hätte sonst mühelos das Felleisen, ihre dicke Winterkleidung und ihren Leib durchbohrt. Die mit Bronze verstärkten Armbrustbolzen der Himmelskrieger konnten fingerdicke Kupferplatten durchschlagen. Erson erschauderte bei dem Gedanken, wie knapp seine Freundin dem Tod entgangen war und fragte sich, was sie dort in ihrem Gepäck verbarg, das einen Bolzen stoppen konnte. Aber noch waren die beiden längst nicht in Sicherheit. Sie mussten schleunig weiter die Leiter empor! Erst wenn sie über dem Rand der Klippe waren, waren sie fürs Erste in Sicherheit.

Der erstaunte und aufgeregt gestikulierende Krieger unter ihnen balancierte sich aus und machte einen drohenden Schritt auf seinen Anführer zu, aber dieser bezwang ihn mit einem einzigen abschätzigen Blick. Der Himmelskrieger ging sofort in die Knie und neigte seinen nackten Schädel in Demut, bis die Stirn den Boden berührte. Erst dann schlug der Mann mit dem Stierhelm einmal fest mit seinem Stab auf den Boden. Diese Mischung aus Waffe und 'Zauberstab' bezeichnete ihn nicht nur als eine wichtige Persönlichkeit unter den Tudasgarda, sondern auch als Schamanen, der in den Mysterien der Himmelskrieger unterrichtet war, heilen konnte und mit seinem grausamen Daimon Zwiesprache hielt. Es war ein heiliger Mann; ihn zu bedrohen, war Ketzerei. Der Gehörnte sagte ein paar für Erson unverständliche Worte zu seinen beiden Begleitern, dann wandte er sich zu der Treppe, lehnte seinen Stab vorsichtig gegen die Felswand. Nach einem kurzen Zögern umfasste er die Handläufe der eisernen Leiter, rüttelte einmal fest an ihnen. Sakket und Erson waren eilig weiter gestiegen, das Mädchen hatte inzwischen fast schon am oberen Ende der Leiter erreicht. Aber die Erschütterung der mürben Metallrohre und die Worte, die der Schamane ihnen zurief, ließen beide verharren. Sie mussten sich festhalten, damit sie nicht wie reifes Obst herunterfielen.

„Flieht nicht weiter! Niemand darf euch noch etwas antun. Oberone sei mein Zeuge, ich spreche wahr. Dies ist der Hohe Ort der Tudasgarda; der Eingang in Inets Reich. Der Gipfel des Gynashorts ist tabu; selbst den Göttern graut vor ihm. Wer ihn erreicht, ist doppelt gesegnet. Denn hier darf kein Blut mehr vergossen werden. Hierher gelangt nur, wer bereits gestorben ist“, dröhnte seine kraftvolle Stimme zu den zwischen Himmel und Erde Schwebenden hinauf. Der Schamane sprach zu Ersons Verblüffung akzentfrei seine Muttersprache. Es war die herbe, einfache Sprache der Provinz, die die lingua franca der Händler und Kaufleute der Welt war. Der Stierhelm erschütterte damit einige Vorurteile von Erson. Er hatte die Tudasgarda nur als verrohte Barbaren kennengelernt, die kaum eine Stufe über den Wölfen und Bären in ihren mit zugespitzten Holzpfählen gesicherten Taboren lebten, erst seit kurzem des Feuers mächtig waren, aber noch immer ihr Fleisch ungebraten fraßen und ab und an auch die Innereien harmloser Wanderer. Aber er hatte seinen Freund Idris nicht vergessen und dachte nicht daran, einem der Himmelskrieger zu trauen. Selbst wenn er in der melodiösen Ostsprache avec la langue angélique parliert hätte.

„Weiter!“, rief er Sakket zu. „Lass ihn reden.“

„Wahrlich! Ihr seid gesegnet. Auf euch liegt der Finger der Vorgänger und er presst sich in euer Herz. Kehrt mit uns um und wir werden euch sicher zu den Grenzen unseres Landes begleiten. Euch wird von den Tudasgarda kein Leid mehr geschehen. Bei Oberone, Neptunion und Ariel! Bei den ewigen Wächtern der Wälder, der Gischt der Wellen und den Wolken über Tudasgard. Ich schwöre es. Und steht denn nicht geschrieben im 3. Buch des Baruch: „Du hast dein Haupt auf den Gipfel des Berges gelegt. Vor deinem nun strahlenden Blut neigen sich der Himmel und die Erde in Ehrfurcht. In Frieden und Wahrheit wirst du eingehen in mein Reich.“

Erson konnte sich bei so viel ergreifendem Pathos nicht zurückhalten:

„Du kannst lesen?“ Er lachte spöttisch.

Es war sicherlich ein Fehler, den Schamanen zu beleidigen, der gerade ihr Todesurteil aufgehoben hatte. Aber die alten heidnischen Naturgottheiten der Tudasgarda waren nicht die seinen und mit dem spitzfindigen und zweideutigen Buch des Baruch, dessen wirre Weisheiten er im Waisenhaus hatte auswendig lernen müssen und in dessen Namen der Adept Seyferd Unaussprechliches getan hatte, brauchte man ihm wirklich nicht zu kommen. Er verharrte auf seiner Sprosse, spuckte in die Tiefe und verfehlte den Schamanen nur knapp.

„Ich mag mich täuschen, aber hat der alte Schwätzer nicht weiter gesagt: „Verflucht ist dein Geschlecht bis ins vierzehnte mal vierzehnte Glied und es wird verkümmern an der Sünde, die du begingst. Wende dich nicht um, denn zurück kannst du nicht.“

„Was machst du?“, rief Sakket entsetzt, die endlich ein gutes Stück über Erson am Ende der Leiter angekommen und dabei war, sich über ihren Rand zu schwingen. „Warum reizt du ihn? Er hält unser Leben in seiner Hand. Nur sein Wort hindert seine Krieger daran, sich auf uns zu stürzen.“

Der Anführer der Himmelskrieger hatte offenbar keine Lust mehr, sich auf eine theologische Diskussion mit Erson einzulassen. Wieder erzitterte die Leiter unter seinem harten Griff. Aus einigen der Verankerungen bröckelten kleine Steine und das Metall der Leiter quietschte wie unter Protest. Die Stimme des Schamanen war nun voller Hass, während er immer mächtiger an den Handläufen riss. Erson vermeinte fast zu erkennen, wie dessen Muskeln dabei anschwollen.

„Auf dem Gipfel erwartet euch keine goldene Stadt. Denn diese sucht ihr doch, nicht wahr?“, schrie der Schamane wütend und zerrte weiter. „Dort oben warten auf euch nur die bleichen Knochen eurer Vorgänger, ASKUFT, das Orakel ... und der TudAsq eLegk, der ewige Wächter.Noch niemandem ist es gelungen, an ihnen vorbei zur verschlossenen Tür zu gelangen. Sie werden euch vernichten, wie alle Frevler vor euch! Kommt herunter, ihr Narren. Das Gift des silbernen Wächters ist längst in euch. Mit jedem Luftholen atmet ihr es tiefer ein! Es wird euch zerfressen wie alle anderen, die sich hierher wagten.“ Er wandte sich an seine Begleiter und zischte ihnen in seiner Sprache etwas zu. Sie traten an seine Seite und packten ebenfalls die rostige Leiter.

Endlich erkannte Erson, was die Krieger vorhatten und panisch begann er, die wackelnden Sprossen weiter emporzusteigen, um Sakket endlich einzuholen. Die Leiter schwankte gefährlich und erste Verankerungsbolzen lösten sich so leicht aus dem Fels, als wäre dieser aus Gips.

„Wenn ihr nicht kommt, dann pflücken wir euch wie die reifen Apúls-Früchte! Und euer Blut wird nach dem Willen der Daimona nicht hier oben vergossen, sondern im Tal, in das ihr stürzen werdet! Das ist kein Frevel.“ Der Schamane lachte höhnisch. „Der Weg nach unten ist lang. Ihr werdet Zeit haben, eure Sünden zu bereuen.“

Den drei Kriegern gelang es mühelos, gemeinsam mit einem Ruck das untere Drittel der brüchigen Leiter aus dem Fels zu zerren. Dann stießen sie auf mehr Widerstand. Sie traten zurück und rissen weiter, dabei selbstmörderisch über dem Abgrund hinter ihnen balancierend. Überall sprangen die Bolzen wie Korken aus geschüttelten Schaumweinflaschen aus ihren Dübellöchern oder brachen an den Flansch-Nähten. Plötzlich ging es für Erson nicht mehr senkrecht, sondern in einem steilen Winkel nach oben. Dadurch kam er schneller voran. Aber nur kurz, denn direkt über seinem Kopf brach die Leiter von den Scherkräften ermüdet an ihrer linken Seite mit einem lauten Knall auseinander. Sie kippte schräg mit ihrer panisch weiterkletternden Last zur Seite, sich dabei verwindend, hing sie nur noch an der dicken rechten Stange, deren Metall wie unter Schmerzen kreischte. Die Tudasgarda jubelten und verdoppelten ihre Anstrengungen. Nur eine akrobatische Verrenkung verhinderte gerade noch, dass Erson kopfüber in die Tiefe stürzte. Er umklammerte mit Armen und Beinen den übriggebliebenen Handlauf und schwang sich mit ihm vom Felsen weg, anschließend wieder auf ihn zu. Dabei brachte er sich in eine günstige Position. Dann zerbarst auch das rechte Eisenrohr.

Sakket schwang sich in diesem Moment über die Kante der Leiter in Sicherheit, die oben bei ihr noch einigermaßen stabil verankert war und von zwei geflochtenen Eisenkabeln gehalten wurde. Sie stand nun ganz vorne auf einer stabilen, eisernen Hängebrücke, die nach wenigen Fuß mit einer eleganten Biegung über eine tiefe Felsspalte zu einem düsteren Loch im Berg führte, in dessen Inneren erstaunlicherweise ein rotes Licht blinkte. Aber sie hatte im Moment kein Interesse an ihrer neuen Umgebung. Sie schälte sich blitzschnell aus den Gurten ihres Rucksacks und schleuderte ihn von sich, warf sich herum und legte sich flach auf das Gitter des Bodenblechs, robbte mit dem Oberkörper über den Rand der Brücke.

„Erson!“ Tief unter ihr standen nur noch zwei der Krieger und reckten ihre geballten Fäuste in die Höhe. Einer der beiden hielt drohend den Kampfstab des Schamanen. Dieser hatte den herabstürzenden unteren Teil der Leiter nicht rechtzeitig losgelassen und rutschte gerade mit ihm gemeinsam über die Rampe der Stufen direkt in den Abgrund der Tryas-Schlucht. Sein ausdauernder Wutschrei übertönte die Flüche seiner zurückgebliebenen Krieger und auch die Hilferufe von Erson, der mit beiden Händen die unterste der übrig gebliebenen Sprossen umklammert hielt und panisch versuchte, mit seinen Füßen Halt am glitschigen Fels zu finden. Sakket streckte verzweifelt ihre Arme aus. Die beiden trennten vielleicht fünf Fuß, aber es hätten auch hundert sein können. Erson war außerhalb ihrer Reichweite. Neben ihr knirschten und knarzten mit jeder Bewegung ihres Freundes die unter ihrer Last ermüdeten Kabel, mit denen die Leiter noch an der Brücke befestigt war. Zurück auf die Leiter zu steigen, war für das Mädchen Selbstmord, die rostige Metallkonstruktion würde ihr zusätzliches Gewicht nicht tragen können. Es grenzte an ein Wunder, dass ihre Reste noch immer den wohlbeleibten Erson trugen.

„Lass mich nicht allein!“, rief sie hinunter. „Untersteh' dich und lass mich hier oben zurück.“ Ihre Blicke begegneten sich und Erson lachte tatsächlich auf.

„Soweit kommt es noch! Ich mache doch jetzt nicht schlapp!“, erwiderte er gelassen, fand tatsächlich in diesem Moment an einem nur halb aus dem Fels gerissenen Scharnier den Halt, den er gesucht hatte. Schwer keuchend schob sich der dicke Mann eine Sprosse nach oben. Dann sammelte er kurz seine Kräfte, zog sich noch eine Sprosse empor. Seine Rechte erreichte Sakkets ausgestreckte Hand, die Erson sofort fest packte. Das Mädchen zog ihn in einem letzten Kraftakt zu sich empor. Keinen Augenblick zu spät: Während Erson endlich neben ihr auf der Brücke landete, pfiff nur knapp hinter ihm ein Pfeil durch die Luft, der ihm gegolten hatte.

Nachdem sie ihren Anführer verloren hatten, galten den beiden übrig gebliebenen Kling'Arta der Tudasgarda die Tabus ihres Schamanen wenig. Einer hatte sich seines Jagdbogens erinnert und ein paar Pfeile hinter den Flüchtigen hergeschickt. Aber sein Angriff kam zu spät. Ohne die Leiter war den Himmelskriegern die Chance genommen, ihren Opfern weiter zu folgen. Die Jagd war vorbei, das Wild entkommen. Die Himmelskrieger hatten sich in ihrem Zorn selbst ihren Weg zerstört. Die Felswand, die die altersmüde Leiter überbrückt hatte, war selbst mit der besten Ausrüstung nicht besteigbar und für zwei halbnackte frierende Wilde schon gar nicht. Ihnen blieb nur noch ein Pfad offen: Ihre Wunden zu lecken und mit eingezogenen Schwänzen zurück in ihren Tabor. Aber noch war ihnen das nicht klar und sie tobten wie Irrsinnige dort unten auf ihrem schmalen Felsen.

Sakket und Erson waren in Sicherheit. Vorerst.

Erson schloss erschöpft seine Augen. Er spürte, wie sein ganzer Körper durchsackte und er atmete in einem langen Stöhnen die Luft aus, die er angehalten hatte, seit er neben seiner Begleiterin auf der schmalen Brücke zusammengesunken war. Im Augenblick wollte er nur noch schlafen; am besten drei, vier Tage am Stück. Weder die Kälte noch das weiterhin hartnäckige Wutgeschrei der beiden letzten Tudasgarda konnten ihn jetzt stören, weder die unbequeme Lage, zu der ihn sein Rucksack direkt gegen das engmaschige Gitter der Brücke zwang, noch die Tatsache, dass er bereits seit Stunden dringend pinkeln musste. Auch dass Sakket auf ihn einsprach und an seiner Schulter rüttelte, machte ihm nichts; im Gegenteil: Der Singsang ihrer für ihn im Moment vollkommen unverständlichen Worte wirkte wie ein Schlaflied auf ihn. Seine Leidensfähigkeit hatte eine Grenze und diese war mit den letzten Ereignissen überschritten. Er zog sich in sich selbst zurück.

*

Ein Lichtstrahl fiel direkt in sein Gesicht. Er brauchte ein wenig, bis er dessen überraschende Wärme auf seinem Gesicht wahrnahm. Aber dann nieste er und schlug die Augen auf. Er blickte fassungslos in ein großes, blendend hellblaues Viereck, eine fransige Lücke zwischen den jagenden Wolken, die rasch größer wurde. Sakket und Erson richteten sich auf. Um die beiden funkelte und glitzerte die Welt, als wären die beiden in einem Kristall eingeschlossen. Das war ein atemberaubendes Wunder: Die rettende Hängebrücke ragte jetzt wenige Fuß über die dichten, wabernden Schneewolken des Sturms hinaus, der sie tagelang so eifersüchtig und hartnäckig verfolgt hatte, als wäre er ein Verbündeter der Himmelskrieger. Erson fühlte sich in einem verzauberten Land. Nun war auch nach endlosen Tagen der Düsternis wieder die Sonne zu sehen, noch bleich zwar, wie verschämt verbarg sie sich hinter einem zarten weißen Schleier, aber ihr Antlitz brachte die ganze Umgebung zum Leuchten. Der dünne Nebel, der zerfasernd aus den Wolken emporstieg, saugte sich wie ein Schwamm mit ihrem tiefstehenden goldenen Licht und ihrer Wärme voll. Weit ging nun der Blick über das bewegte Wolkenmeer bis zum fernen Horizont. Die schneebedeckten Gipfel der umstehenden Berge ragten wie die Inseln des Engel-Archipels aus ihm empor.

„Wenn das kein Zeichen ist“, murmelte Sakket ergriffen. Sie legte ihren Kopf auf Ersons Schulter, blinzelte in die Sonne und Tränen liefen in schmalen Rinnsalen ihre schmutzigen Wangen hinab. Auch ihrem dicken Begleiter war zum Weinen zumute, aber er hatte es bereits als Kind im Waisenhaus verlernt. Dort hatte er auf bittere Weise begreifen müssen, dass es besser war, seine Tränen und Gefühle tief in seinem Inneren zu verschließen. Er hielt sie vor der Welt verborgen; für immer, wie er glaubte. Dazu hatte er sich vorgestellt, unter seinem Herzen sei eine kleine Truhe, in der er all seinen Kummer einsperren und wie einen Schatz horten konnte. Dennoch war ihm gerade, als würde diese versteckte Truhe seine Brust sprengen. Ihm wurde mit einem stechenden Schmerz bewusst, dass er diesen wunderbaren Ausblick nicht mit seinem Freund Idris teilen konnte. Erst jetzt, als er nicht mehr um sein Überleben kämpfen musste und zum ersten Mal seit Tagen einen Moment der Ruhe geschenkt bekam, stand ihm sein ungeheuerlicher Verlust vor Augen: Was nutzte es noch, dass er Recht behalten und tatsächlich den Weg auf den Gynashort gefunden hatte, wenn er diese Genugtuung nicht mehr mit dem Menschen teilen konnte, der in den letzten zehn Jahren beinahe in jeder Minute um ihn gewesen war und jeden Moment der Freude und des Leides mit ihm geteilt hatte? Obwohl er freilich noch immer Sakket, sein geliebtes Mädchen, umarmen und spüren konnte, war doch eine schmerzende Leere an seiner Seite. Ihm war, als hätte er einen Teil seines Körpers verloren, als wäre ihm ein Arm ausgerissen worden.

Erson starrte blicklos auf die Traumlandschaft, die die Wolken unter ihm bis zum Horizont formten, spielerisch auftürmten und mit einem Windhauch wieder verwarfen. Gegenden, die nie ein Mensch zuvor gesehen oder betreten hatte, Länder, die nur sie beide hoch oben auf dem Gipfel der Welt erblicken konnten. Er wartete hartnäckig und vergeblich auf Tränen. Seine Augen brannten und die Lider schmerzten, aber dieser Strom war versiegt; diese Erleichterung blieb ihm verwehrt. Es war ihm nicht möglich, wie Sakket neben ihm um den toten Freund zu trauern.

„Sollten wir uns nicht langsam mal hier oben umsehen?“, fragte sie nach einer gefühlten Ewigkeit und wandte sich erwartungsvoll an ihn. Trotzig rieb sie sich die Tränen aus den Augen. Da war sie wieder, die Anführerin, die immer nach vorne blickte. So kannte Erson sein Mädchen. Aber ein dünnes Rinnsal aus hellem Blut rann dabei aus ihrer Nase, lief über ihre Lippen und tropfte vom Kinn. Sie schien sich dessen nicht bewusst zu sein.

„Du blutest“, stellte Erson überrascht fest. Eine kurze Panik überschwemmte ihn. Hatte der Bolzen sie doch verletzt? Er steckte noch immer in dem Felleisen, das sie achtlos zur Seite geworfen hatte. Aber, nein, das konnte nicht sein. Sakket wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und betrachtete ihn dann mit einem Schulterzucken.

„Das ist nichts“, sagte sie ruhig und warf ihren Kopf in den Nacken, während Erson seinen feuchten Winterumhang öffnete und in der Innentasche nach seinem Taschentuch kramte. „Das muss die Höhe und die dünne Luft sein. Mir ist auch ein wenig schwindlig. Spürst du denn nichts?“

Erson schüttelte den Kopf und reichte ihr einen nicht mehr allzu sauberen Stofffetzen, den Sakket gegen ihre Nase presste. Dann stand er auf. Er fühlte in sich. Gut, er hatte einen ordentlichen Muskelkater in den Beinen und der Rücken tat ihm vom Rucksack schleppen weh. Aber sonst ging es ihm gut und er war trotz der überstandenen Strapazen nicht allzu sehr erschöpft. Die Ruhepause hatte ihm geholfen. Wahrscheinlich unterstützte ihn einmal mehr seine erstaunliche Fähigkeit zur Gesundung.

„Du solltest noch ein wenig ausruhen“, sagte er besorgt und legte seinen Rucksack und auch Umhang ab, der nass und klamm auf den Schultern lastete. Obwohl es hier oben, fast auf dem Gipfel des Gynashorts, empfindlich kalt war und jeder Atemzug als kleine gefrorene Wolke über ihnen stand, fror Erson in der kristallenen klaren Luft nicht. Er fühlte sich von einem Tonnengewicht befreit.

„Ich sehe mich mal ein wenig um.“ Sakket rückte gehorsam gegen das Geländer der Brücke, lehnte sich zurück und schniefte zustimmend. Erson machte einen vorsichtig prüfenden Schritt, aber der aus Rauten geformte Metallrost, auf dem er stand, wirkte sehr stabil, war mit der alten rostigen Leiter, die ihnen fast zum Verhängnis geworden wäre, nicht zu vergleichen. Er lauschte in die Umgebung, doch außer einem leisen Schnaufen von Sakket, die durch den Mund atmete, drang außer dem Rauschen des Windes kein Laut mehr an sein Ohr. Die Tudasgarda hatten wohl inzwischen die Vergeblichkeit ihrer Flüche eingesehen oder sich heiser geschrien, von dort unten war auf jeden Fall nichts Götterlästerliches mehr zu hören. Erson musterte als erstes interessiert Sakkets Felleisen. Durch Tasten erfühlte er ein festes, etwa zwei übereinandergelegte Fäuste großes Stück Holz, in das der Bolzen tief eingedrungen war und so fest steckte, dass er ihn auch mit Gewalt nicht herausziehen konnte.

Der kleine untersetzte Mann wusste sofort, was das war; auch wenn er nicht geahnt hatte, dass das Mädchen das schwere Kunstwerk aus schwarzem Eisenholz den ganzen langen Weg mit auf den Berg geschleppt hatte. Es war eine hölzerne, grob geschnitzte Statue, um die sie vor einiger Zeit auf dem Schwimmenden Markt von Garda stundenlang gefeilscht und sie dann noch immer überteuert erworben hatte. Sie stellte Maraia dar, die tränenreiche und freundliche Fürstin des Neuen Glaubens. Der gewiefte Devotionalien-Händler hatte behauptet, die Figur wäre aus einer unbekannten Baumart geschnitzt, von der ein Stamm an die weißen Ufer der Kornsteinküste geschwemmt worden war, nachdem er wohl jahrhundertelang von den Wellen übers salzige Nordmeer getrieben und dabei fast zu Stein verwandelt worden war. Selbstverständlich hatte die unglaublich massive, pechschwarze Statue der friedliebenden Weinenden Mutter heilende und behütende Kräfte. Das konnte gar nicht anders sein. Die tolerante, niemanden bevormundende Maraia-Religion war gerade in der Provinz und den großen Städten des Ostens auf fruchtbaren Boden gefallen. Sie hatte dort längst erfolgreich den alten Aberglauben an die grausamen Daimonen, an boshafte Naturgeister und das ehrwürdige alte Baruch-Dreigestirn Oberone, Neptunion und Ariel und ihren höllischen Gegenpart Inet verdrängt.

Und tatsächlich hatte Maraia, die weinende Mutter eines namenlosen, verzweifelten Schöpfergottes, hier ein offensichtliches Wunder bewirkt und ihr Idol aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz Sakkets Leben bewahrt. Erson, der an nichts Übernatürliches glaubte, hatte bisher immer über ihre Hinwendung an die sentimentale Fürstin des Leides gespottet. Aber er nahm sich vor, von jetzt an den Mund zu halten und nach einer glücklichen Heimkehr ein wenig Salzwasser an einem Maraia-Altar zu spenden.

Kopfschüttelnd trat Erson weiter auf die Hängebrücke hinaus, die sanft nach unten durchgebogen wie ein Brandungsboot nur ein paar Fuß über dem Wolkenmeer schwebte. Sie schwankte leicht unter seinen Schritten. Er erreichte nach etwa dreißig Schritten ihren tiefsten Punkt zwischen der vorgelagerten Klippe, die sie auf so abenteuerliche Weise erklommen hatten und ihrem anderen Ende, das zu einem schmalen Höhleneingang im Gipfelfelsen des Gynashorts führte. Dort blinkten im Inneren der Höhle in gleichmäßigem Rhythmus abwechselnd zwei rote Lichter in der Finsternis, die aber nicht die schwarzen Schatten der Höhlenöffnung erhellen konnten. Wie tief der Abgrund zwischen der Klippe und der gegenüberliegenden Bergspitze war, den die filigrane Brückenkonstruktion so leichtfertig überspannte, war wegen den dichten Wolken unter ihm nicht zu erkennen. Auf jeden Fall war dies der einzige Weg, der zu der geheimnisvollen Höhle führte, die ihm beim Näherkommen immer mehr wie der Eingang zu einem künstlich geschaffenen Tunnel aussah.