Nutzlose Menschen - Teil 1 - Nikolaus Klammer - E-Book

Nutzlose Menschen - Teil 1 E-Book

Nikolaus Klammer

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Beschreibung

Jahrmarkt in der Stadt Band 3 Nutzlose Menschen Ein Roman von Nikolaus Klammer "Sie tun nichts, was wert ist, getan zu werden, und sagen nichts, was wert ist, gesagt zu werden, aber sie tun und sagen es immer und immer wieder ..." Nutzlose Menschen Eine Stadt Mitte der 90er Jahre in der bayerischen Provinz. Es ist ein heißer Sommer:. Der gescheiterte Schriftsteller Nikolaus Klammer, der sich in seinem Brotberuf als Beamter langweilt, beginnt mit den Menschen in seinem Umfeld wie mit Schachfiguren zu spielen. Ohne deren Wissen stellt er zu seinem Zeitvertreib mit ihnen Szenen aus der "Comédie humaine" von Honoré de Balzac nach. Sein auserwähltes Opfer in dieser Nacht ist Benjamin Sapher, der sich hilflos in dem Spinnennetz seines Vorgesetzten verfängt. Als seine Frau Gitta ahnt, was Klammer mit ihrem Mann vorhat, ist es beinahe schon zu spät, um eine Katastrophe zu verhindern. Aber ist das alles wirklich nur ein makaberes Spiel oder hat Klammer noch einen anderen Plan?

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Seitenzahl: 279

Veröffentlichungsjahr: 2019

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NIKOLAUS KLAMMER

NUTZLOSEMENSCHEN

Ein Künstlerroman

Teil Eins

JAHRMARKTINDER STADT

BAND 3

E-Book-Ausgabe

Texte und Bilder:© Copyright by Nikolaus Klammer

Umschlaggestaltung:© Copyright by Nikolaus Klammer

[email protected]

Druck:epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

"Sie tun nichts, was wert ist, getan zu werden,und sagen nichts, was wert ist, gesagt zu werden,aber sie tun und sagen es immer und immer wieder ..."Saki

INHALT

1. KAPITELDIE BEAMTEN

2. KAPITELEVASTÖCHTER

3. KAPITELEIN FÜRSTDER BOHÊME

4. KAPITEL

KOMÖDIANTENWIDERIHR WISSEN

5. KAPITEL

DASUNGEKANNTE MEISTERWERK

ERSTES KAPITELDie Beamten

»Ironie ist teuer. Sie kann sich nur erlauben, wer sie sich wirklich leisten kann«, erwiderte Klammer lächelnd. Er wischte mit einer strengen, konzentrierten Bewegung einen hellen Fussel vom Revers seines lindgrünen Jacketts. »Das ist, auf einen allzu kurzen und auch durchaus euphemistischen Nenner gebracht, die Essenz der Philosophie des Hippias und etwas, das der nüchterne Platon dem Sophisten endothym nicht verzeihen konnte. Auch dem Chaos kann sich im Übrigen nur der lustvoll hingeben, der es versteht, eine gewisse Ordnung zu genießen.«

Sapher zuckte hilflos mit den Schultern.

»Entschuldigen Sie bitte, Herr Dr. Aber wie so oft verstehe ich Sie nicht.« Er drehte mit einer unbewussten Geste der Kapitulation seine Handflächen nach oben und seufzte. »Wenn ich ehrlich bin, dann muss ich jetzt zugeben: Ich verstehe Ihre Plaudereien eigentlich nie. Sie sind doch jetzt seit zwei Jahren mein Vorgesetzter an der Behörde und fast an jedem Arbeitstag reden wir miteinander, nicht wahr? Und trotzdem habe ich immer den Eindruck, Sie reden nicht mit mir, sondern an mir vorbei, mit ... ich weiß nicht, mit jemandem an einem anderen Tisch oder mit der Nachwelt. Ist das Ihre Absicht? Was sind denn das für Gedankengänge, die Sie immer wieder vor mir ausbreiten? Wen sollen sie beeindrucken? Mich verwirren Sie nur ...«, sagte Sapher unsicher. Nikolaus Klammer erweckte bei ihm nicht den Eindruck, als habe er ihm zugehört. Sein Vorgesetzter sah mit seinem eingefrorenen Lächeln zum Fenster hinaus, als er antwortete:

»Es gibt nichts Erstaunlicheres als mich selbst«, zitierte er zum wiederholten Male seinen Lieblingsschriftsteller, »Sie und ich sind wie die zwei im Altersverhältnis zueinander umgekehrten Beamten Poiret und Bixiou. Verzeihen Sie mir. Ich will Sie nicht verletzen, aber Sie sind ein eingeschränkter und - im positiven Wortsinn -, ein einfacher Bürger. Nehmen Sie es als Auszeichnung, wenn ich das nun sage, als eines der seltenen lobenden Worte aus meinem verbitterten Mund. Denn Ihre Rasse und Ihresgleichen, die doch den Staat erhalten, sind im Aussterben begriffen. Der Bourgeois stirbt in unserem bourgeoisen Land am Ennui und niemand verfasst seinen Nekrolog. Sie jedoch sind einer der letzten und das zeichnet Sie aus. Deshalb rede ich mit Ihnen auch nicht über Fußball, Autos oder Computer – von Dingen übrigens, von denen ich eh nichts verstehe.« Klammer wandte seinen Blick erst jetzt wieder zu Sapher, der ihm nun zwar aufmerksam, aber nicht minder fassungslos zuhörte.  »Der letzte Mohikaner, der letzte Kaiser, der letzte Zivilist - der letzte Bürger! Ich denke, ich werde Ihnen zu Ehren einen Roman mit diesem Titel schreiben, ein homerisches Epos über die Suche nach einem Mann ohne Eigenschaften in einer verlorenen Zeit. Wissen Sie, Sapher, es ist ebenso leicht, sich ein Buch auszudenken, wie es schwer ist, eines zu schreiben. Ich denke schon eine ganze Weile darüber nach - und jetzt weiß ich auch endlich den ersten Satz des Werks, er ist mir gerade eingefallen.« Klammer setzte sich gerade und begann ausgelassen und von der eigenen Eloquenz begeistert zu deklamieren:

»Hören Sie: „Aus dem bewegungslosen, amorphen Grau des heraufdämmernden, jungfräulichen Morgens, der in dieser schmutzigen, erbarmungslosen Verhöhnung all der Gründe, aus denen Menschen Städte bauten, so schnell alterte und zahnlos wurde, vorverdaut von der sodomitischen Enge in den dampfigen Verkehrsmitteln, in einen Mantel stinkender Abgase gehüllt, schälte sich täppisch die gebeugte Silhouette des letzten Beamten ...“«

»Ich weiß nie, wann Sie sich über mich lustig machen. Wer ist dieser Bixiou, von dem Sie eben sprachen?«

»So unterbrechen Sie mich doch bitte nicht, denn solch ein Augenblick der Inspiration kommt unter Umständen nie wieder! Wenn ein kraftvoller Gedanke auf seinen traumhaften Schwingen einen Dichter entführt und ihn von den Umständen, die ihn hier einschließen, entfernt, indem er ihn durch die grenzenlosesten Regionen schleudert, wo die ungeheuersten Ansammlungen von Tatsachen zu Abstraktionen werden, wo die größten Werke der Natur nur Bilder scheinen -, wehe ihm, wenn irgendein Lärm an seine Sinne schlägt und die schweifende Seele in das Gefängnis von Fleisch und Bein zurückruft!«, ereiferte sich Klammer theatralisch. Wahrscheinlich zitierte er wieder einmal einen Autor des 1. Jahrhunderts, in dem er sich besonders wohl fühlte. Sein Gedächtnis war wirklich sensationell, denn alles, was er irgendwann gelesen oder aufgeschnappt hatte, konnte er lückenlos und fehlerfrei wiedergeben. Er wirkte jedoch für einen Moment tatsächlich verärgert.

»Sehen Sie, wenn der erste Satz stimmt, ist der Roman schon fast geschrieben, alles Weitere sind Fleiß und Zeit. Das sind zwei Dinge, die ich im Übrigen nicht besitze, denn Faulheit und Bewegungslosigkeit sind der normale Zustand aller Künstler.« Er legte die Hände vor seinem Mund wie zu einem Gebet zusammen. »Der erste Satz muss eine Mausefalle sein, er muss den Leser fassen und darf ihn für zweihundert atemlose Seiten nicht mehr von sich lassen. Was habe ich gesagt? Aus dem bewegungslosen, amorphen Grau eines beginnenden Morgens, der in unserer dreckigen Stadt so …, na, so schnell altert ... und ... und ... vorverdaut wird?« Klammer runzelte die Stirn und machte dann eine wegwerfende Handbewegung. »Egal, es ist weg, eine weitere Perle verschwendet. Wir haben den Augenblick verloren. Nun wird Ihr Epos immer unvollendet bleiben. Es ist Bruchwerk, niedergeschrieben auf einem von der Zeit zerfressenen Pergamentfetzen. Es ist ein Fragment, das aus dem Fragment des ersten Satzes besteht. Das ist nicht viel, aber dieses Fragment, das doch Großes hoffen lässt, schenke ich Ihnen. Dieses bewegungslose, amorphe Grau, ich eigne es Ihnen zu. Es ist ein Satz für Sapher.« Atempause. »Dabei fällt mir ein: Ihr Name, mein lieber Sapher, mein lieber Benjamin Sapher, das wollte ich Sie schon immer fragen, welcher willkürlichen und humorvollen Gottheit verdanken Sie ihn? Er ist herrlich, ein Füllhorn des Wohlklangs, wie die Sonatine von Ravel. Entschuldigen Sie bitte die schlechte Alliteration, Herr Sapher, aber eine Metapher der Sappho kann nicht besser klingen: „... geschüttelt hat Eros mich wie der Sturm, der vom Berge her sich wild auf die Eichen stürzt.“ Wissen Sie übrigens, dass es nur ganz wenige Poeten gibt, deren Name allein schon ein wohlklingendes Gedicht ist? Ernst Jandl, Detlev von Liliencron, Durs Grünbein. Schrecklich, nicht wahr? Man will kein Gedicht von Menschen lesen, die so heißen. Aber hören Sie dagegen: Hölderlin, Novalis, Walt Whitman, Sappho, Ovid und Erich Fried. Genießen Sie die Euphonie, das Versmaß, das Distichon. Benjamin Sapher, man muss Ihren Namen laut und mit französischer Akzentuierung aussprechen, um ihn völlig genießen zu können«, begeisterte sich der Dr., der mit jedem Atemzug, den er machte, auf ein neues Thema zu stoßen schien.

»Meine Familie kommt von Großvaters Seite aus dem Elsass«, warf Sapher geschmeichelt ein.

»Vous appelez un chat un chat! Ihr Name ist strahlende Poesie, aber für ein bürgerliches Trauerspiel wie das unsere ist er leider denkbar ungeeignet. Bei Schiller würden Sie eher von Kalb oder Wurm heißen - oder wie wäre es mit Schwerdgeburth? Das ist ein beredter, ein wunderbarer Name, nicht wahr? So hieß, wenn ich mich recht entsinne, im vorigen Jahrhundert ein Freund von Johann Gottfried Seume, ein Maler ... Haben Sie den „Spaziergang nach Syracus“ gelesen?«

»Wie würde denn Klammer klingen?«, fragte Sapher leichthin und lächelte selbstsicher. In diesem Augenblick glaubte er, er könne seinem Vorgesetzten zum ersten Mal in diesem Gespräch Paroli bieten. Dessen Stimme wurde jedoch im Folgenden einen Hauch schärfer und kälter. Es war nur ein ephemerer Strich auf der Maßeinheit seiner Modulationsmöglichkeiten, doch als er fortfuhr, genügte jener Hauch, Saphers Selbstzufriedenheit über seine Schlagfertigkeit wie einen Krümel hinwegzuwischen und ihr Vorgesetzten-Untergebenen-Verhältnis wieder herzustellen:

»Sieh an, Sie zeigen Witz! Ihr Umgang mit mir erbringt erste Früchte. Also erscheint er doch nicht umsonst. Nun ja, vielleicht Klammer, warum auch nicht? Aber es lässt sich viel dagegen sagen. Der Name ist zu bedeutungsschwanger, mit Inhalt und Symbolik überfrachtet. Nikolaus Klammer, das klingt wie Willi Loman, Wilhelm Meister, Peter Kien, Stiller, Herr Keuner oder Darth Vader; da schwingt viel zu viel mit. Man darf einen Leser niemals für dumm halten, ihn nie unterschätzen. Deuten Sie nur an, wenn überhaupt. Sie dürfen mit dem Namen Ihrer Hauptfigur nicht gleich den ganzen Roman verraten. Nehmen Sie etwas opakeres, verschlüsselteres. Oder - noch besser -, Sie schlagen ein Telefonbuch auf, dort finden Sie so viele Namen und Geschichten ...«

Sapher, der das merkwürdige Gespräch gerne beenden wollte, sah kurz auf seine Uhr. »Ich unterbreche Sie nur ungern, Herr Dr., aber die Arbeit ruft.«

»Es ist schon zehn?«, fragte Klammer, der nie eine Uhr trug.

»Bereits ein paar Minuten danach.«

Klammer schüttelte den Kopf: »Meine liebe Sappho, Sie werden mir unpünktlich. Aber bleiben Sie doch, heute ist Freitag und ich gebe Ihnen Dispens! Nein, wirklich. Kreative Menschen wie wir brauchen die Muße, ihre Gedanken zu entwickeln. Die Freiheit der Fantasie hat Marasmus zur Folge. Außerdem ist es hier unter dem Ventilator angenehm kühl. Ist es paradox, wenn es mich bei dem Gedanken an unsere überhitzten Zimmerfluchten fröstelt?« Klammer lachte, nahm Sapher an der Schulter und drückte ihn zurück in den Stuhl, aus dem er sich, über den Tisch gebeugt, bereits halb erhoben hatte. Ergeben gehorchte er dem sanften Druck seines Vorgesetzten. »Ihr Publikumsverkehr muss eben einen Moment warten. Viele werden es jetzt in der Urlaubszeit und bei diesem Wetter eh nicht sein. Ich will Ihnen etwas verraten. Es ist ein offenes Geheimnis und mich wundert, dass Sie es noch nicht kennen: Die Leute, mit denen wir es hier im Amt zu tun haben und die sich jeden Tag in unseren Gängen drängen, die wollen warten. Die kommen nur deswegen hierher. Helfen können wir ihnen nicht, das wissen wir beide nur zu gut. Die Leute ahnen das ebenfalls. Aber indem wir sie warten lassen, schenken wir ihnen eine kurze Hoffnung, einen versteckten Zugang zu Pandoras Büchse. Die halbe Stunde, vielleicht sogar Stunde, die sie ungeduldig vor unseren Türen verharren müssen, in stummer Eifersucht in die Gesichter derer starrend, die näher bei der Tür sitzen oder einen Zettel mit einer niedrigeren Nummer in den Fingern haben, diese Stunde ist weit wichtiger als das kurze, ergebnislose Gespräch mit uns, unser resignierendes Kopfschütteln, unsere Vertröstungen, Formulare und neuen Termine, sogar unser Geld. Warum haben diese Leute so selten etwas zum Lesen dabei oder sonst eine Beschäftigung? Warum stricken sie nicht einen Pullover? Haben Sie sich das schon einmal gefragt? Die Antwort ist: Weil sie sich das Warten nicht durch einen Zeitvertreib verkürzen wollen. Denn in jenen endlosen Momenten des Geduldens hegen sie die geheime, ihnen selbst nicht ganz bewusste Hoffnung, es würde diesmal anders werden.  Heute, bilden sie sich ein, sind sie nicht schon wieder umsonst gekommen, sondern sie werden vielleicht wirklich etwas erreichen können. Das ist wie beim Lotto spielen. Solange die Ziehung der Zahlen noch nicht war, bin ich Millionär. Und gleichzeitig spüren die Leute: Es gibt noch etwas anderes, als wie Estragon  auf den Fluren von Behörden vergeblich auf das Erscheinen von Godot zu harren. Es wird ein Gefühl geweckt, eine Begierde nach der Familie und nach Betätigung. Wir schenken den Menschen etwas Nachdenken, ein Stück Leben, das sie in der modernen Welt verloren haben. Vielleicht ist das unsere eigentliche Aufgabe als Beamte.«

»Sie sind wieder zynisch, Herr Dr.«

Klammer kniff wie verärgert die Augen zusammen und überraschte Sapher mit einem plötzlich ernsten, abschätzenden Blick. Dann lächelte er und sein Gegenüber folgte seinem Beispiel unsicher. »Ich sagte schon, man muss sich Ironie leisten können. Ich hätte auch sagen können, dass ich bei meinem mickrigen Gehalt niemals ironisch, zynisch oder gar sarkastisch bin. Im Ernst, lassen Sie deshalb die Leute ruhigen Gewissens warten, wir unterhalten uns heute so gut.«

Sie unterhalten sich heute so gut, Herr Dr. Klammer, dachte Sapher. Zum ersten Mal während seines Gesprächs mit seinem Vorgesetzten sprach er einen Gedanken nicht aus. »Wer ist Bixiou?«, fragte er stattdessen erneut, ohne eine Antwort zu erwarten. Er bekam sie auch nicht. Klammer stand auf.

»Ich hole uns noch einen Kaffee. Eine kleine Viertelstunde haben wir sicherlich noch Zeit«, sagte er dabei. Sapher sah nachdenklich hinter ihm her. Nikolaus Klammer, Dr. der Jurisprudenz und ein verdienter Beamter im höheren nichttechnischen Dienst, der in einem schwer abschätzbaren Alter zwischen fünfundvierzig und fünfundfünfzig stand, hatte eine mittelgroße, unauffällige und schlanke Gestalt. Er kleidete sich aber modisch und teuer, fiel daher überall auf und erregte wegen seiner Eleganz allgemein Bewunderung. In seinen etwas spärlich gewordenen, sorgfältig frisierten und dunklen Haaren zeigte sich keine einzige graue Strähne. Sapher hatte schon Vermutungen darüber angestellt, ob Klammer sie wohl färbte.  Obgleich er Saphers direkter Vorgesetzter war und sich oft mit ihm unterhielt, war es Sapher während der Zeit, die sie nun in der gleichen Abteilung Tür an Tür saßen, nicht gelungen, einen Einblick in Klammers Charakter, der etwas von der überraschenden Wechselhaftigkeit des Aprilwetters hatte, zu werfen. Nie konnte sich Sapher sicher sein, ob Klammer im Ernst mit ihm sprach, oder sich insgeheim über ihn lustig machte. Obwohl er selbst alles andere als ungebildet war, verstand er viele von dessen intellektuellen, oft hermetischen Spitzen nicht, deren Bedeutung er manchmal am Abend in einem Lexikon nachschlug. Dabei hob sich, von ihm selbst kaum bemerkt, sein Gemeinwissen. Er hatte bei seinen Nachforschungen überrascht festgestellt, dass der belesene Klammer über ein exaktes, geradezu photographisches Gedächtnis verfügte, das ihn in die Lage versetzte, lange Buchpassagen, Gedichte, aber auch Gesetzestexte auswendig und fehlerfrei aufzusagen. Sapher hatte, bevor er dem Dr. begegnete, weder geglaubt, dass es Menschen geben könnte, die zu solchen Erinnerungsleistungen fähig waren, noch hatte er jemanden außer Klammer kennengelernt, der auf eine so seltsame, flatterhafte und leichtfertige, dabei durchaus anziehende Weise über nahezu jedes Thema zu räsonieren verstand. Sapher nahm an, der unverheiratete Dr. hatte Erfolg bei Frauen. Das war allerdings nur eine seiner Vermutungen, da er praktisch nichts über das Privatleben Klammers wusste; er konnte ebenso gut auch wie ein Mönch leben oder schwul sein. Was den ungewöhnlichen Beamten umgekehrt gerade an Sapher interessierte, blieb diesem ein unlösbares Rätsel. Zwar ahnte er, dass Klammer irgendetwas mit seiner Person verband oder gar plante, doch er hatte nicht die geringste Ahnung, worauf sein Vorgesetzter mit diesen häufigen Diskussionen knapp über Saphers intellektuellem Horizont abzielte.

Anderen Beamten gegenüber zeigte sich Klammer zwar freundlich, aber reserviert. In seinen Gesprächen mit ihnen ging er nur selten über die Belange der Behörde hinaus. In den alltäglichen Geschäften des Amtes war der Dr. ein mustergültiger, erfahrener und fleißiger Beamter, der seinen Posten als Oberamtsrat vorzüglich ausfüllte und dessen Wissen der Vorschriften und Rechtsbestimmungen sprichwörtlich war. Von Sapher abgesehen hielt er genau jenen Abstand zu seinen direkten Untergeordneten, der den nötigen Respekt vor der Person und der Fachautorität des Vorgesetzten erweckt. Dennoch war er im Amt eine halb mythologische Gestalt und stand in dem geflüsterten Ruch der Verschrobenheit. In seiner Vergangenheit musste es auch einmal einen Eklat gegeben haben, über den hinter vorgehaltener Hand ungenaue, aber phantastische Mutmaßungen die Runde machten. Der tatsächliche Vorfall, falls es denn je einen gegeben hatte, war ein gut gehütetes Geheimnis, das, so eines der Hauptgerüchte, der Grund war, aus dem Klammer trotz seines Alters und seinen Fähigkeiten nicht befördert wurde und zum Direktor aufstieg.

 »Du arbeitest beim Klammer?«, hieß es häufig und Sapher wurde mit einer bedeutsamen, dabei mitleidigen Miene bedacht. »Oje!«

In diesem mitfühlenden Laut schwang meist neben der Erheiterung eine Prise Schadenfreude mit. Wäre Klammer nicht sein direkter Vorgesetzter gewesen, hätte Sapher ihn sicherlich gemieden. Seit geraumer Zeit versuchte er auch, sich hinter Klammers Rücken innerhalb der Behörde zu verändern. Das würde ihm jedoch kaum vor der nächsten Regelbeförderung gelingen und die stand erst in zwei Jahren ins Haus. Sapher selbst war zweiunddreißig Jahre alt, etwas untersetzt, unscheinbar und hell-, fast rotblond. Da er saloppe Alltagsbekleidung bevorzugte, hatte er Mühe, sich der strengen Kleiderordnung des Amtes, die Anzugjacke und Krawatte vorschrieb, unterzuordnen. Seine Frau Gitta kannte er seit seiner Schulzeit und er hatte sie gleich nach seiner Vereidigung geheiratet. Die Ehe war kinderlos. Wenn er gezwungen war, seinen Lebenslauf zu schreiben, wurde der nie länger als eine halbe DIN-A4-Seite: Er hatte ihn auch geradlinig aus dem Gymnasium über die gehobene Laufbahn zu diesem Posten geführt, wo er sich nun täglich mit diesem seltsamen Vorgesetzten und dessen unergründlichen Launen auseinandersetzen musste. Es war ungerecht, wie Klammer dem fleißigen Sapher seinen von Unbilden oder emotionalen Stürmen freien Lebensweg als spießbürgerlich vorzuwerfen. Er erregte im Gegenteil bei einigen seiner Bekannten Neid wegen der bruchlosen Karriere und der scheinbar geglückten Ehe. Sapher, den nicht einmal die Pubertät arg gebeutelt hatte, vermisste keineswegs die Unordnung eines weniger gesicherten Lebens. Er war mit der ruhigen Beziehung zu Gitta und seinem Beruf, der ihn ausfüllte, zufrieden. Jede Veränderung hätte ihn verstört.

Nikolaus Klammer war der einzige seiner Arbeitskollegen, mit dem er sich über Informelles austauschte. Zu den anderen, auch denen, mit denen er täglich zu tun hatte und die ihm von Alter und Einstellung näher waren, war das Verhältnis von seiner Seite zurückhaltend, fast abweisend. Das lag in erster Linie an Saphers Unsicherheit und an seiner Furcht, sich Mitmenschen freundschaftlich zu öffnen. Er stand nicht zuletzt deshalb und wegen seines auffallenden Kontaktes zu Klammer in dem Ruf, eine Radfahrermentalität zu besitzen, arrogant zu Gleichgestellten zu sein und sich bei seinen Vorgesetzten Liebkind zu machen. Dass er Klammers Nähe nun wirklich nicht suchte, sondern dieser sich im Gegenteil immer wieder aufdrängte, änderte an der allgemeinen Beurteilung nichts.

Teller klapperten. Die Kantine hatte sich zwischenzeitlich fast geleert. Die Angestellten hinter der Theke räumten Geschirr in die Spülmaschinen und bereiteten sich auf den Andrang zum Mittagessen vor. Klammer kam zurück und stellte drei Tassen Kaffee auf den Tisch. Sapher erwartete zuerst eine neue Exzentrizität. Aber dann sah er, wie der Dr. einer Person zuwinkte, die sich in seinem Rücken befand. Er wandte sich halb herum und sah mit plötzlich einsetzendem Herzklopfen eine junge Frau näherkommen, die er vom Sehen kannte, die aber in einem anderen Flügel des Gebäudes arbeitete. Bislang hatte er noch kein Wort mit ihr gewechselt, da beider Abteilungen nur selten Austausch hatten. Nun würde er vielleicht etwas über das gut abgeschirmte private Leben seines Vorgesetzten erfahren können. Er spitzte, ohne es übrigens zu bemerkten, die Lippen. Die heranschwebende Frau war ungewöhnlich attraktiv und jenen Tic 'overdressed', der alle Blicke, auch neiderfüllte weibliche, auf die Qualitäten ihrer Körperlichkeit zog, die sie, sich deren Vorzüge durchaus bewusst, durch Art und Kleidung unterstrich. Obwohl Sapher sich glücklich verheiratet fühlte und seiner Frau nicht nur aus Mangel an Gelegenheit, sondern auch aus Überzeugung treu war, wurde er doch jedesmal unruhig, wenn diese Schönheit in seine Nähe geriet. Er bestaunte sie mit großen Augen. Sie umgab sich mit einer erotischen Aura, mit der er nicht zurecht kam. Er rutschte unruhig mit dem Stuhl zur Seite. Sie setzte sich neben ihn an den kleinen Tisch und und bedachte ihn mit einem abgelenkten Kopfnicken, ohne dabei Klammer aus den Augen zu lassen.

»Sie habe ich gesucht, Herr Dr. Ich brauche Ihre Hilfe. Man hat mir in Ihrem Büro gesagt, dass ich Sie hier finden könnte. Bei mir sitzt im Moment ein Herr aus Griechenland, der behauptet, er sei vor etwa zwölf Monaten bereits einmal bei Ihnen registriert worden. Nun, im Computer haben wir ihn nicht, wenn sein Name nicht falsch geschrieben wurde. Könnten Sie deshalb in Ihren Akten nachsehen?«, fragte sie Klammer geschäftig,und beugte sich halb zu ihm über die Tischplatte hinweg.

Sapher sah die Beamtin von der Seite an und bewunderte den Profilschnitt ihres Gesichts, die Makellosigkeit ihrer Haut, die kein Pickel verunreinigte, und das perfekte Make-up, das sie morgens wahrscheinlich ebenso lang beschäftigte wie der Sitz ihrer schwarzen, glatten Haare, die sie halblang trug. Sie hatte ein eng geschnittenes, grau kariertes und sommerlich leichtes Kostüm an, dessen kurzer Rock im Sitzen viel von ihren bemerkenswert langen, haarlos glatten Beinen freigab, die in solch bedrohlicher, augenfälliger Nähe nicht gerade zu Saphers Seelenruhe beitrugen. An jedem Finger ihrer linken Hand steckten Ringe, sogar am Daumen. Sapher, den bereits der eine Ehering beim Tippen behinderte, fragte sich, wie sie auf diese Weise beladen arbeiten konnte. Der unauffällige Geruch ihres Parfüms, der ein wenig an Rasierwasser erinnerte, hing über dem Tisch. Sapher war viel zu sehr Ehemann und sich seiner eigenen Unzulänglichkeiten bewusst, als dass er diese Schönheit mit dem Aussehen seiner Frau in Vergleich gebracht oder gar an den Versuch eines Flirts gedacht hätte. Sie war ihm ein lebendig gewordenes Model aus einer Modezeitschrift, viel zu perfekt und unnahbar, um in seiner Welt Realität zu nehmen. Klammer schob ihr über den kleinen Tisch einen der Kaffees entgegen. Sapher dachte in diesem Moment, die beiden seien trotz des Altersunterschieds ein schönes Paar. Die Frau ignorierte das angebotene Getränk und holte aus ihrer kleinen Umhängetasche einen Zettel.

»Ich habe hier seine Personalien. Sein Name ist Konstantin Papadopoulos Kata ... tasakinthoki ... kiakis«, entzifferte sie und stolperte zweimal über den vielsilbigen Nachnamen, »was für ein Name! Können Sie, wenn Sie Ihre Kaffeepause beendet haben, nachsehen, ob Sie eine Akte über ihn haben? Es wäre wichtig.« War da ein Vorwurf über ihren augenblicklichen Aufenthaltsort in ihrer Stimme? Sapher glaubte es fast.

»Konstantin Papadopoulos Katasakinthokiakis, selbstverständlich.« Der Name kam Klammer verblüffend glatt von den Lippen. Er nahm der Beamtin den Zettel ab und reichte ihn Sapher. »Sie werden sich doch darum kümmern? Darf ich Ihnen übrigens meinen Herrn Kollegen, Monsieur Benjamin Sapher, vorstellen? Ich glaube, Sie hatten noch nicht das Vergnügen.« Er sprach den Namen wieder französisch aus.

Sapher warf einen scheuen Blick auf die Frau neben ihm. Er wollte Klammer berichtigen, sagte dann aber nur:

»Angenehm.« Wenn er ehrlich war, klang sein Name frankophon in der Tat besser; es schwangen ein 'laissez faire' und Weltgewandtheit mit. »Und das ist unsere Frau Rothschädl.«  Sie runzelte die Stirn, sah kurz zu Sapher, nickte erneut, registrierte wahrscheinlich zum ersten Mal bewusst seine Existenz. Ihr waren herrlich grüne, goldgesprenkelte Augen zu eigen, deren durchdringender Blick Sapher ein plötzliches weiches, wie durchsackendes Gefühl im Unterleib bescherte. Er knitterte unschlüssig den Zettel mit dem Namen des Griechen in seiner Hand.

»Sie trinken doch mit uns einen Kaffee?«, bestand Klammer.

»Aber Herr Katasakinthokiakis wartet auf mich in meinem Büro ...« Jetzt kam auch sie mit dem fremdländischen Namen zurecht. Klammer streckte flink den Arm nach vorn und berührte sanft ihren Handrücken.

»Sie bleiben«, sagte er mit Nachdruck und die Beamtin blieb tatsächlich, offenbar war sie von seinem bestimmenden Tonfall überrascht. »Lassen Sie Ihren Herrn Katasakinthokiakis ruhig warten. Ihr Anblick ist in der Tat ein wenig Geduld wert. Odysseus hatte zwanzig Jahre Geduld, bis er endlich seine schöne Penelope in die Arme nehmen konnte und schließlich steckt in jedem Griechen etwas von diesem listenreichen Heroen. Wir führen hier ein interessantes Gespräch, das Sie mit Ihrer Anwesenheit bereichern würden. Bitte, Ihr Kaffee.«

Er schob die Tasse mit zwei Fingern der rechten Hand näher an die Beamtin heran. Sie führte den Kaffee tatsächlich sofort zum Mund, nippte. Dabei sah sie Klammer ins Gesicht, wirkte für einen Augenblick wie hypnotisiert.

»Nicht wahr, Frau Rothschädl, ich habe Sie erst kürzlich im Brandwirt auf der Lesung von Stefan Kappnath gesehen«, fuhr Klammer fort. »Wann war das, am Dienstag vor einer Woche?«

»Sie waren auch dort? Ich habe Sie nicht bemerkt, Herr Dr.« Klammer öffnete die Arme.

»Ich bin etwas zu spät gekommen und saß dann freilich ganz hinten. Ich bin auch nicht ganz bis zum Schluss geblieben, sondern schon vor der abschließenden Diskussion gegangen. Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich mich gelangweilt habe. Dieser Kappnath ist entschieden nicht mein Fall. Ich halte ihn für überbewertet. Er ist mir zu geschwätzig und, ja, wenn ich so sagen darf, pubertär, er kommt nicht auf den Punkt. Seine Erzählungen sind wie 'Petting', er fummelt nur herum und penetriert nicht den Kern der Sache.«

Ein Hauch Rouge wanderte über die Wangen der Frau. Sie richtete sich beteiligt in ihrem Stuhl auf. Sapher bewunderte stumm Klammers Kunst, die Rothschädl in das Gespräch zu binden. Sieh an, dachte er, es gibt also in diesem Amt noch eine zweite Person, bei der der Dr.'seine professionelle Zurückhaltung ablegt. Aber warum tut er das ausgerechnet bei uns beiden? Was verbindet uns für ihn?

»Ein Bekannter von mir, auf dessen Meinung ich viel halte«, führte Klammer aus, »hat den Fehler begangen, mir die Lesung ans Herz zu legen. Er wusste nur Gutes über die neuen Erzählungen von Kappnath zu sagen. Aus eigenem Antrieb wäre ich nicht hingegangen. Wie fanden Sie es denn?«

»Es hat mir gefallen«, sagte die Frau kurz und erregte durch diese knapp gefasste Erwiderung Saphers Bewunderung. Offensichtlich war sie gefestigt genug, sich nicht von Klammers Meinung einschüchtern zu lassen.

»Das ist erstaunlich! Ich habe den Eindruck gewonnen, diese Art von Literatur sei nicht für Frauen geschrieben. Das ist jetzt alles andere als Chauvinismus, aber Kappnaths Texte haben ähnlich denen von Bodo Kirchhoff oder von Henry Miller immer ein wenig Prahlerei, etwas von einem schmuddeligen Männerwitz, den sich die Herren der Schöpfung schenkelklopfend einander zuflüstern.«

»Ich denke, Sie haben die 'Infanta' nicht gelesen, sonst hätten Sie diese Meinung geändert. Ich weiß, dass Kirchhoff lange Zeit die klassische Symbolfigur des frauenfeindlichen Autors für alle 'Emma'-hörigen Feministinnen war, aber er hat sich gemausert. Es gibt nur wenige Bücher zeitgenössischer Autoren, die mich so berührt haben wie dieses.«

»Die Kritiker waren nahezu ungeteilt Ihrer Meinung. Da ist es sehr einfach, zu loben ...«

»Wenn er seinen augenblicklichen Weg weiter beschreitet«, fuhr sie trotz des lächelnden Einwurfs von Klammer unbeirrt fort, »und danach sieht es aus, dann wird er einmal als einer der bedeutendsten deutschen Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts in den Literaturgeschichten stehen. Was Kappnath betrifft, so ist er sicher kein begnadeter, aber doch wohl ein fleißiger und handwerklich geübter Romancier, dessen Themen vielleicht ein wenig zu zeitbezogen sind. Ihm deshalb aber pubertäre Nabelschau vorzuwerfen, ist an den Haaren herbeigezogen«, sagte die Rothschädl mit Nachdruck. Klammer wartete einen Moment, dann klatschte er langsam.

»Wenn wir eine engere Bekanntschaft hegen würden, würde ich Ihnen nun einen Kuss geben. So aber will ich mich damit begnügen, Ihnen und Ihren Meinungen meine uneingeschränkte Hochachtung zu zollen. Aber, Herr Sapher, wir haben über Ihrer Konkurrenz ganz Sie selbst vergessen; was halten Sie denn von Kirchhoff oder Kappnath, unserem Lokalmatador?«

Konkurrenz, dachte Sapher nebenzu, was will er denn damit schon wieder sagen?

Er hatte nicht allzu viel von den beiden Autoren gehört, geschweige denn sie je gelesen. Seinen letzten Roman hatte er während der Schulzeit in den Händen gehalten. Da er jedoch diese Frage erwartet hatte und sich vor den anderen wegen seiner Unwissenheit keine Blöße geben wollte, hatte er eine Antwort vorbereitet, die zumindest nicht völlig unwissend klang. Er kratzte sich am Hals.

»Im Großen und Ganzen will ich Frau Rothschädl recht geben, obwohl ich persönlich beider Bücher als etwas zäh einstufen will«, sagte er vorsichtig und hoffte, er könne es bei dieser Synthese der Meinungen belassen, ohne durch ein Nachfragen in Verlegenheit gebracht zu werden. Hätte Sapher gewusst, wie er es anstellen sollte, hätte er an dieser Stelle versucht, das Thema zu wechseln. Doch diese Sorge nahm ihm Klammer auf überraschende Weise ab. Obwohl er Saphers Ahnungslosigkeit durchschauen musste, nickte er erst:

»Solch ein apodiktisches Schlusswort habe ich von Ihnen erwartet. Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus. Wobei ich Sie - bewahre! - selbstverständlich nicht mit diesem possierlichen Aasvogel in Vergleichung bringen will. Es gibt eine Art von Bewunderung, die mit kritischem Essig getränkt ist, und mit der ein hervorragender Mann sich gewissermaßen entschuldigt, einen anderen zu bewundern.« Er lachte kurz.

»Aber nun doch etwas anderes, mein lieber Sapher. Um auf Ihr Gesprächsthema von vorhin zurückzukommen, was sagen Sie denn zu dem Namen unserer hübschen Kollegin hier? Rothschädl - welch ein markanter, substantieller Klang! Der Name ist doch genau richtig für Ihren Roman. Ein ganz klein wenig mag er auch symbolisch für einen Staatsbediensteten sein, aber eben nur eine Idee, diese Nuance, die den Leser lächelnd zum Komplizen des Autors macht. Rothschädl, wissen Sie zufällig, wie dieser ur-'teutsche' Name entstanden ist? Er scheint doch mindestens bis in die Zeit der Bauernkriege zurück zu deuten?«, wandte er sich an die Frau. Die Beamtin, die sich bemühte, eilig ihre Tasse Kaffee zu leeren, um der Angelegenheit ein Ende zu bereiten, verschluckte sich fast an dem heißen Gebräu. Das war die erste Unstimmigkeit in ihrem bisher vollendet eleganten Auftreten.

»Da kann ich Ihnen nicht helfen, ich habe mich nie für Ahnenforschung interessiert«, sagte sie hustend und fast stimmlos, »ich selbst bin nicht allzu begeistert von diesem Namen.«

»Dann sollten Sie bald heiraten und auf einen dieser entsetzlichen Doppelnamen verzichten. Aber, ernsthaft, Sie tun sich und dem treuteutschen Geschlecht derer Rothschädl unrecht. Der Name ist von fast unerreichbarer Prägnanz. Niemand, der ihn einmal gehört hat, vergisst ihn wieder. Und dazu ist er vielleicht die Muse, die Herrn Sapher zu einer großen Erzählung anregt. Sie müssen wissen, dass mein Kollega hier in der spärlichen Freizeit, die ihm sein Dienst für den Staat gewährt, ein eminenter, aber leider nicht allzu erfolgreicher Dichter ist. Das ist seine eigentliche Berufung und er arbeitet seit Jahren an einem großen Roman, der sein Durchbruch werden soll. Er wird Der Letzte Bürger heißen und ein Schlüsselroman über die bourgeoise, verlogene und korrupte Gesellschaft unserer Stadt sein. Herr Sapher hat mir Exzerpte einiger Kapitel vorgelesen und ich muss sagen, sie sind brillant. So etwas wird heute eigentlich gar nicht mehr geschrieben. Es ist, als hätten sich die drei Großen, die die Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts begründet haben, also Musil, Proust und Joyce, in seiner Seele in eine Art von Personalunion begeben, um den Roman zu schreiben, der das grausige 20. Jahrhundert endlich abschließt und das neue - ebenso grausige - beginnt. Sie wissen ja, ich verstehe etwas davon. Ich habe schon den einen oder anderen Autor entdeckt - nehmen Sie nur Georg Hauser. Viele Pfahlbürger werden sich vor dem Erscheinen des Buchs von Sapher fürchten, das ich, um einen etwas platten Ausdruck zu gebrauchen, mit einem Erdbeben vergleichen will«, behauptete Klammer in aller Seelenruhe.

Die Rothschädl sah zu Sapher, zu dem ihr Name wegen seiner Scham nun besser gepasst hätte und zum ersten Mal war so etwas wie Beteiligung in ihrem Blick. Und dieses Interesse war auch der Grund, aus dem Sapher, der noch nie eine erzählerische Zeile zu Papier gebracht hatte und sogar die Weihnachtspost seiner Frau überließ, über die überraschende und viel zu dick aufgetragene Lüge Klammers schwieg. Er starrte konsterniert zu dem überlegen lächelnden, älteren Mann. Was ging in dem seltsamen Geist vor, wenn er diese an den Haaren herbeigezogene Lüge über ihn verbreitete? Es war möglich, dass sie aus der Laune eines Augenblicks entstanden war, aus der Neugier, wie die anderen reagieren würden. Klammer glich manchmal einem Forscher, der mittels eines Katalysators Chemikalien untersucht. Sapher hatte schon mehrmals erlebt, wie der Dr. einen Gesprächspartner mittels eines ausgesucht provokanten Standpunktes aus dem Gleichgewicht brachte und ihn dazu reizte, mehr von seinen Meinungen zu offenbaren, als er es selbst wünschte. In diesem Fall wollte Sapher den plötzlichen Entschluss aber in Zweifel ziehen. So, wie er Klammer kennengelernt hatte, hatte dieser zwar eine leichte, oft leichtsinnige Art, sich zu unterhalten, wie ein Schmetterling von Thema zu Thema flatternd. Doch war es oft nur eine Tünche, hinter der sich die vielfach verquere, aber nicht minder folgerichtige Logik seiner Gedanken verbarg. Tatsächlich wusste er immer ganz genau, wohin er wollte. Alles, was er sagte, war zielgerichtet, auch wenn Sapher das meist erst nach Stunden oder Tagen, manchmal gar Wochen später zu Bewusstsein kam und dann erst zu erkennen glaubte, was sein Vorgesetzter wirklich bezweckt hatte. Wenn Sapher sein heutiges Gespräch mit ihm betrachtete, das Klammer am Morgen mit einem Aphorismus von Montaigne eröffnet, wie er dann abfällig die Tagespolitik und die Kommentare der FAZ gestriffen hatte, um über Lessings Lob der Faulheit und dem Preis der Ironie bei der Literatur zu landen, dann hatte all dies eine erstaunliche Folgerichtigkeit, die darin gipfelte, ihm den Schriftsteller unterzuschieben. Was aber Klammer weiter im Sinn hatte, das blieb ein Rätsel. So war es immer: Vom Nachher betrachtet waren ihm Klammers Intensionen klar, doch niemals war er seinem Vorgesetzten einen Schritt voraus. Im Moment fühlte sich Sapher wie ein Teenager, der sich wichtig zu machen wünscht.

So lächerlich das Ganze aber war, die Rothschädl hatte die Lüge nicht sofort durchschaut, sondern sah ihn mit einem freundlichen Augenaufschlag an und fragte:

»Sie schreiben?« Und, was Sapher noch fassungsloser machte, er war geschmeichelt und lächelte unsicher.

Eine peinliche Pause entstand, während Sapher vergebens einen Haltepunkt suchte. Erneut wanderte sein Blick zu Klammer, diesmal hilfesuchend. Der sah ihn herausfordernd an, zwinkerte andeutungsweise mit einem Auge. Nun, mach was draus, schien er sagen zu wollen, nutze diese Chance oder überführe mich der Lüge. Sapher räusperte sich, dann stotterte er ein paar Laute, deren Sinn er selbst nicht einzugrenzen wusste. Klammer lachte.

»Sehen Sie ihn sich an, Frau Rothschädl; er schämt sich. Ich denke, das macht Ihr Interesse an seinem Werk. Er hat als trotz seines Alters noch als jung geltender Autor Angst vor Publikum und Kritik. Vielleicht ist dies der Grund, aus dem er erfolglos ist und nicht wie Kirchhoff oder Kappnath in renommierten Verlagen veröffentlicht. Denn - und das können Sie mir glauben - so begabt wie diese beiden ist er und fleißig zudem, eine wirklich seltene Personalunion bei einem Schriftsteller.« Klammer nahm einen Schluck Kaffee, verzog ein wenig den Mund und wandte sich an Sapher: