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Kleine Lichter "Jahrmarkt in der Stadt", Band 1; zwei Erzählungen und ein Kurzroman von Nikolaus Klammer. Elegant, originell, sarkastisch, spannend und absolut lesenswert. Willkommen beim Augsburger Plärrer! Die Eingänge sind geöffnet und die Attraktionen warten schon auf Sie: Pasenows Schöpfung: Ein Literaturkritiker kommt einem Betrüger auf die Spur, der sich mit fremden Federn schmückt - und wird dadurch mit der eigenen Vergangenheit konfrontiert … Die Lichtung: Ein Sachbuchautor, der auf einer Lesereise in Augsburg Station macht, erwirbt ein geheimnisvolles Gemälde und löst damit eine verhängnisvolle Kette von Ereignissen aus, die sein Leben von Grund auf ändern … Ein kleines Licht: Ein heruntergekommener und alkoholsüchtiger Lyriker will es noch einmal wissen und ein Gedicht für ein neues Literaturmagazin schreiben – doch die Quelle seiner Inspiration ist längst versiegt. Wie gut, wenn der eigene Sohn ebenfalls Verse schmiedet …
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Seitenzahl: 239
Veröffentlichungsjahr: 2018
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NIKOLAUS KLAMMER
KLEINE LICHTER
Zwei Erzählungen und ein Kurzroman
JAHRMARKTINDER STADT
BAND 1
E-BOOK-AUSGABE
Texte und Bilder:© Copyright by Nikolaus KlammerUmschlaggestaltung:© Copyright by Nikolaus Klammer
Druck:epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Für H. M., durch den ich erfahren habe, dass die Wirklichkeit immer die Literatur kopiert.
INHALT
PASENOWS SCHÖPFUNGEINE ERZÄHLUNG
DIE LICHTUNGEINE ERZÄHLUNG
EIN KLEINES LICHTEIN KURZROMAN
NACHWORT
Und, ich darf sagen, vergessen Sie mir Pasenow nicht!“, warf der Zeitschriftenverleger ein.
„Ja, genau, was ist eigentlich aus Pasenow gewor-den?“, fragte der Autor begeistert.
„Pasenow? Der ist meines Wissens vor einigen Jahren gestorben“, behauptete die Moderatorin.
An dieser Stelle erreichte das Gespräch einen toten Punkt. Es entstand ein Schweigen, wie es in einer normalen Unterhaltung durchaus befruchtend sein konnte. Hier, in einer Fernsehdiskussion, die der Augsburger Lokalsender a-tv gerade live aus-strahlte, durfte es jedoch kein Schweigen geben. Daher wandten sich die drei Kombattanten hilfesuchend an die vierte Person in ihrer Runde. Das war ein älterer, korpulenter Herr, der - die Hände wie zum Gebet gefaltet - in einem hellen Clubsessel thronte und überlegen lächelte. Wenn überhaupt jemand die Frage nach dem Verbleib von Hermann Pasenow beantworten konnte, dann war es Claus M. Bergmann, der Kritiker der deutschen Nachkriegsliteratur, der von der Redaktion des Senders zu diesem mitternächtlichen Gespräch als Fachmann für das bald vergangene 20. Jahrhundert eingeladen worden war. Bislang hatte Bergmann seinen Ruf als amüsanter Plauderer unter Beweis gestellt und eben noch einige publikumswirksame Anekdoten über Hans Werner Richter und Günter Grass zum Besten gegeben; wie jene, in der sie sich einmal um ein belegtes Brötchen stritten, das Grass dann triumphierend mit zwei Bissen - man könne es nicht anders sagen - ‚vernichtete‘. Darüber hatte der Kritiker freilich niemals Thomas Mann aus den Augen gelassen, den er gar nicht oft genug ins Gespräch bringen konnte, ob er nun zum Thema passte oder nicht. Bergmann war der Auffassung, Mann ‚ginge immer‘, denn ‚wo Thomas Mann sei, dort würde Deutschland zu sich selbst finden‘.
Doch jetzt zögerte auch er. Bergmanns Blick wanderte unruhig hin und her, irrlichterte zwischen der beflissenen Moderatorin, dem jungen, hoffnungsvollen Autorentalent - von dem er vorher noch nie etwas gehört hatte - und Peter Wismuth, dem selbstzufriedenen Herausgeber einer Literaturzeitschrift; also jener Gesprächsrunde, die ihn so überraschend ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit gestellt hatte.
„Pasenow?“, wiederholte er, um Zeit zu gewinnen, während er seine Augen nun fest auf das Objektiv der nächsten Kamera richtete. „Er muss leben, denn ich habe seinen Nachruf noch nicht geschrieben.“ Bergmann sprach den Satz mit seinem berühmt gleichgültigen und heiseren, präzisen Tonfall aus. In der Runde wurde leise gelacht. Bergmann zuckte mit den Schultern. Von einem leichten Schwindelanfall begleitet, stellte sich ein überwältigendes Gefühl von Déjà-vu ein. Viel zu oft hatte man ihm in den letzten vier Jahrzehnten die Frage nach Pasenows Verbleib gestellt. Schließlich war er es ja gewesen, der die erste Kritik über jenes Talent veröffentlichte, das dann nach seinem Erstling so überraschend verstummt war und bis zum heutigen Tag hartnäckig schwieg. Auch seine Antwort auf diese Frage hatte Bergmann in all der Zeit nicht geändert. Er blähte die Backen auf und ließ durch die Mundwinkel lautlos Luft entweichen. Im Monitor zu seinen Füßen sah er sich bei dieser Grimasse zu, denn die Kamera hielt ihn weiterhin in einer Großaufnahme erfasst. Offenbar gab man sich mit seiner kurzen Antwort nicht zufrieden. Die Runde blickte ihn erwartungsvoll an.
„Hermann Pasenow ist für diejenigen, die sich seiner noch erinnern und auch für die Jungen, die ihn für ihre Generation gerade wiederentdecken, ein Autor, der in die Legende - ich bin beinahe gewillt zu sagen - in den Mythos reicht“, führte Bergmann weiter aus. Ja, dachte er dabei, vor fünfunddreißig Jahren, fast auf den Tag genau, begann die Lüge. Das war im August 1961.
Er sah kurz nach seiner Frau Hilde. Sie stand irgendwo bescheiden im Hintergrund des Studios, wie Bergmann wusste. Aber von seinem grell ausgeleuchteten Platz aus konnte er sie nicht entdecken.
„Das Pseudonym Pasenow, hinter dem sich bis heute erfolgreich der wahre Name dieses Autors verbirgt“, fuhr er fort, „weist nicht nur auf eine Romanfigur von Hermann Broch hin, sondern auch auf eine kleine Gemeinde mit diesem Namen auf halbem Weg zwischen Prenzlau und Neubrandenburg in der Nähe von Woldegk. Der Moment von Pasenows Verstummen, der mit der Zeit des Baus des ‚antifaschistischen Schutzwalls’ zusammenfällt, legt freilich den Verdacht nahe, er könnte aus diesem bäuerlichen Umfeld stammen oder habe doch zumindest im Arbeiter- und Bauernstaat gewohnt.“ Bergmann räusperte sich. „Jedoch sind Spekulationen müßig. Die einzige Person, die die wahre Identität Pasenows kannte, war der Verleger seiner ‚Blauen Schrift’, der alte Dr. Max Guttmann, der ein großer Mäzen und Freund der Literatur war. Guttmann weilt aber bedauerlicherweise schon lange nicht mehr unter uns. Ihm haben wir übrigens die Entdeckung einer ganzen Reihe von beachtlichen Talenten zu ver-danken, wie zum Beispiel …“
„Herr Bergmann, Sie haben eben die ‚Blaue Schrift’ erwähnt“, warf der Autor hastig ein, der ungeduldig auf ein Stichwort gewartet hatte, um sich selbst reden zu hören. Dadurch raubte er dem Kritiker die Möglichkeit, den Themenwechsel vorzunehmen, den er gerade vorbereitet hatte. „Wenn ich mich nicht irre, ist dies doch der einzige Erzählband des Autors, sechs oder sieben kurze Geschichten und eine Erzählung. Sie hatten, da sind wir uns in dieser Runde wohl einig, für die deutschen Schriftsteller der Sechziger und frühen Siebziger eine ähnliche Wirkung wie ‚under milk wood‘ von Dylan Thomas für den angelsächsischen Raum. Pasenow wagte sich in Bereiche der Sprache, die vor ihm niemand betreten hatte. Sein Deutsch war ein neues, ein unerhörtes.“
Bergmann zog säuerlich einen Mundwinkel breit, als hätte er einen schlechten Geschmack im Mund. Der Herr Autor macht sich wichtig, dachte er. Auch er ist nur ein Schwätzer, der Einbandtexte von sich gibt. Und diese selbstgerechte Schnepfe, die hier als Moderatorin fungiert, weiß auch nichts Besseres, als ihm zuzustimmen. Wahrscheinlich schläft sie mit dem Autor. Die Unterwürfige nickte gerade besonders eifrig:
„Nicht wahr? Ohne Pasenow wäre die deutschsprachige Literatur eine andere. Enzensberger, Plenzdorf …“, sie zögerte, suchte nach wohlklingenden Namen.
„Handke!“, fiel dem Autor ein.
„… ja, sogar Handke: Sie alle sind ohne die ‚Blaue Schrift’ nicht denkbar. Was meinen Sie, Herr Bergmann, warum hat Pasenow oder wer sich auch immer hinter diesem Namen verbarg - vielleicht war es ja eine Frau -, nach seinem durchaus einem Erdbeben vergleichbaren Erstling nie wieder etwas veröffentlicht?“
Bergmann sah hilfesuchend zu dem Verleger, der ihm der einzige Vernünftige in dieser Runde zu sein schien. Er hatte Lust, den beiden anderen den Kopf zu waschen und sie dem Publikum als die eitlen, dummen Schwätzer zu präsentieren, die sie in seinen Augen waren. Aber er war selbst Teil der Show und da fiel man den anderen nicht in den Rücken. Wohin sind sie nur verschwunden, dachte er wehmütig, all die gewandten, klugen Leute, die in und mit der Sprache lebten; die noch zu vollständigen und sinnvollen Sätzen mit einer gelungen Konjunktivkonstruktion befähigt waren? Deren Kritik keine Inhaltsangabe, sondern ein neues Kunstwerk war? Bin ich denn eines der letzten Exemplare einer aussterbenden Gattung? Lädt man mich deshalb so häufig zum Gespräch, damit man mich wie ein Museumsstück bestaunen kann? In Ermangelung eines Tisches klatschte Bergmann mit der flachen Hand auf den Oberschenkel. Er wollte mit einem Rundumschlag gegen die zeitgenössische Literatur im Allgemeinen, diesen aufgeblasenen Wichtigtuer von jungem Schriftstellertalent und das Fernsehen im Besonderen ausholen. Der Verleger, der bislang geschwiegen hatte, kam ihm zuvor. Er hob beschwichtigend die Hand:
„Sie irren, wenn Sie mutmaßen, Pasenow wäre für immer verstummt. Er hat nur - ich darf mal sagen - während der DDR aus Protest nicht veröffentlicht. Er war nicht einmal im Schriftstellerverband … und ich muss Sie enttäuschen, er ist durchaus keine Frau, sondern inzwischen ein netter, älterer Herr“, sagte Wismuth in seinem beiläufigen Plauderton, sich der Wirkung seiner Worte vollkommen bewusst. Er hatte den Autor der ‚Blauen Schrift’ eben nur ins Gespräch gebracht, um jetzt seine Bombe zum Detonieren zu bringen. Die Kamera, deren Auge bislang auf Bergmann geruht hatte, wandte sich gierig zu Wismuth, der sichtlich genoss, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Bergmann atmete schnaubend aus, rutschte aufgeregt in seinem Sessel nach vorn. Hätte er noch sein Gesicht im Monitor sehen können, der nun den Schnauzbart des Verlegers zeigte, hätte er sein plötzliches Erbleichen bemerkt.
Das weiß ich wohl besser, dachte er. Dieser Wismuth ist auch nur ein Angeber. Mit was für Menschen muss ich mich abgeben! Das ist das bisschen Geld nicht wert! Ich hatte Wismuth eigentlich anders eingeschätzt. Nun, den Zahn werde ich ihm ziehen …
„Das ist vollkommener Unsinn“, stellte er mit Nachdruck fest. Der Verleger sah überlegen zu ihm. Was er erwiderte, verschlug Bergmann die Sprache.
„Ich darf sagen, ich widerspreche Ihnen nur ungern. Aber ich will Ihnen mitteilen, dass Hermann Pasenow in den letzten Jahren einen Roman geschrieben hat. In der nächsten Ausgabe meiner Zeitschrift beginne ich mit dem - ich darf sagen - exklusiven Vorabdruck. Ich verspreche nicht zu viel, wenn ich heute behaupte, dieser Roman sei das monumentale Tor, durch das die - ich darf das sagen - deutsche Literatur sich befreien und endlich ohne Ballast ins 21. Jahrhundert hineintreten kann.“ Bergmann richtete sich voller Wut auf.
„Das ist Unfug! Pasenow ist tot!“, schrie er heiser, beim Namen des Schriftstellers spuckte er zornigen Speichel. „Er ist tot!“ Das einzige Argument, das ihm auf die Schnelle einfiel, war eines, das er eben selbst in Abrede gestellt hatte. Wieder suchte er vergebens nach einem Blickkontakt mit seiner Frau. Das ganze Studio bestaunte den unmotivierten Wutausbruch des Kritikers. Wismuth lächelte mitleidig.
„Herr Bergmann, bei allem Respekt! Sie irren“, bestand er, „Hermann Pasenow ist - ich darf sagen - so lebendig wie Sie und ich. Wenn sie möchten, können Sie ihn kennenlernen. Er ist in der Stadt, ich glaube, sogar im gleichen Hotel wie Sie untergekommen. Ich darf sagen - er wird im Rahmen der Brechttage eine Lesung aus seinem neuen Buch halten.“ Wismuth wollte noch etwas hinzufügen, wahrscheinlich den Termin von Pasenows Lesung, aber er verstummte erschrocken. Bergmann stand auf. Er zielte mit seinem Zeigefinger wie mit einer Waffe auf den Verleger und trat einen Schritt nach vorn. Der Kopf des Kritikers glühte nun.
„Er ist tot“, wiederholte er schon schwächer. Er klang, als müsse er sich selbst von seinen Worten überzeugen. „Er ist schon vor vierzig Jahren gestorben.“ Bergmann machte noch einen Schritt. Er stolperte über ein Kabel zu seinen Füßen und wäre mit dem Kopf voran zu Boden gestürzt, wenn nicht der Autor gedankenschnell aufgesprungen und ihn gestützt hätte. Der Kritiker hing wie ein Sandsack in den Armen des jungen Mannes und sah verblüfft auf die Moderatorin, die eilige und ihm unverständliche Gesten in Richtung Regie machte. Gleichzeitig spürte er einen ziehenden, lästigen Schmerz in der Seite, es war ein Schmerz, der ihn schon lange nicht mehr heimgesucht hatte. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals.
„Sterbe ich?“ fragte er erstaunt und wurde ohnmächtig, bevor ihm jemand antworten konnte.
Claus M. Bergmann kniete wie in ein demütiges Gebet versunken vor der Minibar seines Hotelzimmers und kramte in ihrem Inhalt. Im trüben Licht der Nachttischlampe suchte er lange vergeblich. Endlich fand er versteckt hinter Piccolos und Gläsern verborgen eine kleine Flasche Kräuter-bitter.
„Goetheseidank“, stöhnte er und richtete sich schwerfällig auf. Seine Knie knirschten dabei vernehmlich. „Ich befürchtete schon, ich müsste hinun-ter in die Bar.“
Bergmann öffnete den Schraubverschluss der Flasche und erzeugte dabei ein ähnliches Geräusch wie jenes, das eben seine Gelenke gemacht hatten. Aufmerksam goss er die ölig braune Flüssigkeit in einen Zahnputzbecher. Dabei vermied er weiterhin den Augenkontakt mit Hilde, die schweigend auf dem Hotelbett saß. Er konnte sich ihren Blick gut vorstellen, ohne sich extra von ihm überzeugen zu müssen: Er war eine Mischung aus Vorwurf und Sorge. Ob wohl auch etwas Liebevolles in ihm lag? Er hoffte es, auch wenn er in Hildes Augen schon lange keine Zärtlichkeit mehr entdeckt hatte. Bergmann fragte sich flüchtig, welches Bild sie von ihm bewahrte, wie sie ihn sah, wenn sie ihn aufmerksam musterte; er wie jetzt ihren Blick auf sich lasten spürte. In der letzten Zeit hatte sich der anfänglich so unbedeutende Altersunterschied von gut zwanzig Jahren immer stärker zwischen ihn und seine Frau geschoben. Sie sah wahrscheinlich nur noch den alternden Mann, untersetzt, immer ein wenig schmuddelig; einen Gatten, der mit seinen sechzig Jahren ihr Vater hätte sein können, häufig missgelaunt war und an vielerlei Krankheiten laborierte. Noch vor kurzem hatte er sie mit wenigen Sätzen in einem Netz aus Worten und Bewunderung einfangen können. Doch inzwischen häufte sich ihr gleichgültiges Achselzucken.
Bergmann nahm einen vorsichtigen Schluck. Sofort lag scharfer Geschmack auf seiner Zunge. Er schüttelte sich und sah auf das Etikett der Flasche. St.-Afra-Balsam, las er. Dieses Gesöff war ja wider-wärtig! Es kostete ihn Überwindung, die Flüssigkeit zu schlucken. Wie er befürchtet hatte, brannte sie in seiner Speiseröhre, wärmte aber seinen Magen und half ihm, die Übelkeit in den Griff zu bekommen, die seit seinem Ohnmachtsanfall gegen die Kehle drückte. Das Telefon läutete. Unvorsichtig sah Bergmann auf und direkt in Hildes missbilligenden Blick, in dem er unausgesprochen die Verordnung seines Arztes lesen konnte, auf keinen Fall Alkohol zu sich zu nehmen. Während Hilde abhob und sich meldete, der Stimme in der Leitung lauschte und ein paar bestätigende Worte murmelte, nahm sie die anklagenden, dunklen Augen nicht von ihrem Mann.
„Er steht neben mir“, sagte sie und streckte Bergmann den Hörer hin. „Es ist deine Frau.“ Ja, Hilde war wütend. Nur wenn wirklich dicke Luft herrschte, bezeichnete sie Beate als ‚seine Frau’. Dabei hatte sich Bergmann zwei Jahre, bevor er Hilde kennenlernte, von Beate scheiden lassen. Andererseits hatte Hilde recht: So vollkommen hatte Beate die Trennung nie akzeptiert und sie gehörte weiterhin, nicht zuletzt wegen der Kinder, zu Bergmanns Familie, war ihm vielleicht mehr Familie als seine große Liebe, mit der er jetzt das Leben teilte. Während sich Bergmann voller Vorahnung meldete, sah er auf die Uhr. Es war inzwischen drei Uhr morgens. Es würde ihn einige Arbeit kosten, seine Exfrau zu beruhigen.
„Mein Gott, Claus! Ich war ja schon im Bett, aber Heinrich hat mich sofort angerufen, als er gesehen hat, wie du im Fernsehen zusammengebrochen bist. Was machst du denn für Sachen?“ Beates Stimme, die normalerweise schon schmerzhaft klirrte, klang aus dem Telefon noch gequetschter und höher als gewöhnlich. Bergmann hielt den Hörer etwas vom Ohr.
„Wie geht es Heinrich?“, fragte er erfreut. Der ‚grüne’ Heinrich, Jahrgang ’67, war der jüngere seiner beiden Söhne. Er hatte mit Ausnahme einer nichtssagenden Geburtstagskarte seit über einem Jahr nichts mehr von sich hören lassen. Der Gedanke, dass er seinen Vater im Fernsehen sah, schmeichelte Bergmann.
„Sag mal, wir machen uns wirklich Sorgen!“, erwiderte Beate leicht irritiert. Bergmann atmete einmal ein und langsam wieder aus, bevor er wiederholte, was er in den letzten Stunden sicherlich bereits zwanzigmal gesagt hatte:
„Das war nur ein kleiner Schwächeanfall, kein Grund zur Beunruhigung. Ich habe beim Griechen zu fett gegessen und es war sehr heiß im Studio … Hast du nicht gesehen, wie ich geschwitzt habe? … Nein, mein Blutdruck ist wieder in Ordnung, ich nehme doch … Die hatten einen Sanitäter, mir geht es wieder gut … Ja, ich gehe zum Arzt, wenn ich wieder zu Hause bin …“ Er betete seine Beruhigungslitanei herunter, ohne sich selbst zuzuhören oder auf Beates aufgeregte Nachfragen einzugehen. Dabei vermied er erneut, in Hildes Richtung zu sehen. Erst nach mehreren vergeblichen Anläufen gelang es ihm, das Gespräch zu beenden. Seufzend legte er den Hörer zurück aufs Empfangsteil. Er war jetzt sehr müde, aber die letzte Auseinandersetzung stand ihm noch bevor. Auf in den Kampf, dachte er und wandte sich an Hilde:
„Heinrich hat mich gesehen. Findest du das nicht auch interessant? Schließlich hat er sich noch nie für mich oder für Literatur interessiert. Kann man in Braunschweig diesen Sender überhaupt empfangen?“, schwatzte er ziellos und nahm noch einen Schluck vom Magenbitter. Hilde ging nicht auf den ungeschickten Versuch ein, das Thema zu wechseln.
„Jetzt bin ich dran, Claus“, stellte sie nüchtern fest. „Was also ist mit diesem Pasenow? Bist du nicht in dieser Ortschaft geboren?“
„Das ist ein seltsamer Zufall. Ich habe keine Erinnerungen mehr an Pasenow. Ich habe dir das doch schon einmal erzählt. Nach dem Krieg wurden meine Eltern enteignet und der Bauernhof einer LPG angegliedert. Wir zogen dann in den Westen. Ich war sechs oder sieben Jahre alt.“
„Warum hast du dich so aufgeregt wegen dieses Mannes?“
„Aber nein. Ich habe mich nur wegen Wismuth aufgeregt“, log Bergmann, „behauptet der doch einfach, Pasenow wäre noch am Leben. Dabei habe ich ihn selbst beerdigt.“
„Bitte?“
„Ich meine“, verbesserte sich Bergmann schnell, „ich war selbst bei seiner Beerdigung anwesend. Das ist jetzt fünfunddreißig Jahre her, kurz vor Friedrichs Geburt war das, im Sommer ’61.“ Friedrich war Bergmanns erster Sohn, der seit ein paar Jahren in Weißrussland lebte und dort einen Büromaschinen-handel betrieb. „Dieser neue Pasenow muss ein Hochstapler sein. Einen Roman soll er geschrieben haben. Das kann ich mir nicht vorstellen …“
„Du hast doch selbst behauptet, Pasenow lebe noch.“
„Da habe ich mich eben geirrt!“ Bergmann wurde wieder zornig. „Ich kann doch auch mal etwas vergessen. Pasenow ist tot und damit basta. Das war irgendeine Lungensache. Guttmann hat mich dann zu der Beerdigung eingeladen. Pasenow wurde verbrannt. Das Urnengrab lag in einem Friedhof in Dahlem, jetzt erinnere ich mich wieder. Wahrscheinlich hat man es längst platt gemacht; das ist schließlich schon ewig her.“ Er sah demonstrativ auf seine Uhr. „Und jetzt will ich in mein Bett. Es ist gleich halb Vier. Ich habe morgen Vormittag einen Termin mit einem Zeitungsmenschen.“ Er zögerte. „Du musstest ihn ja unbedingt auf elf Uhr bestellen. Dabei bin ich eigentlich nur Kritiker geworden, damit ich morgens ausschlafen kann“, fügte er hinzu und leerte sein Glas, verzog den Mund. „Nach dem Zeug brauche ich mir nicht mehr die Zähne zu putzen. Das schmeckt wie Mundwasser.“
Es gelang ihm nicht, Hilde aufzuheitern. Sie sah ihn skeptisch an, ergab sich aber. Sie wusste aus jahrelanger Erfahrung: Wenn ihr Mann ein Gespräch für beendet erklärte, dann hatte es keinen Sinn, weiter mit ihm zu diskutieren. Sie machte daher nur eine resignierende Handbewegung und verschwand beleidigt im Badezimmer. Bergmann stellte erleichtert das Glas auf die Anrichte und begann sich auszuziehen. Hatte sie ihm diese Geschichte abgekauft? Er bezweifelte es, aber er wusste, sie würde von sich aus nicht mehr über dieses Thema reden.
In der kurzen Nacht lag Claus M. Bergmann neben seiner Frau wach und lauschte ihrem schweren Atem. Es gab vieles, worüber er nachdenken musste. Bei Morgengrauen schlief er endlich ein und er hatte einen wirren Traum:
Er war fünf Jahre alt, ging eilig über den Bauernhof seiner Eltern. Die Mutter, die aber auch Beate war, rief ihn und schickte ihn mit einer Kanne zum Milch holen. Claus musste die Milch aus einem Brunnen schöpfen, der mitten in den Feldern stand. Hinten auf einer Anhöhe standen ein paar niederländische Windmühlen.
„Helpter Berge“, sagte er zu sich selbst.
Der Eimer, den er mit Mühe aus dem Brunnen zog, war leer. Claus sah sich um: Hoffentlich hatte das niemand bemerkt. Aber Max Guttmann stand neben ihm. Der alte Mann lachte ihn an und klopfte auf seine Schulter. Claus fürchtete sich. Das wollte er aber nicht zugeben.
„Ich schäme mich“, sagte er deshalb und wollte vor dem alten Juden davonlaufen, stolperte jedoch. Seine nun mit einem Mal volle Milchkanne kippte um, leerte sich. Ihr Inhalt lief den Weg hinab. Guttmann schüttelte den Kopf.
„Renn heim, du kriegst dein Kind“, sagte er traurig, „es ist hier im Hotel.“
Bergmann erwachte. Sein Herz schlug ihm wieder bis zum Hals. Er konnte sich deutlich an den Traum erinnern und er wusste auch, was ihn so erschreckt hatte. Diesen letzten Satz von Guttmann aus seinem Traum, den hatte gestern Wismuth zu ihm gesagt. Bergmann hatte ihn nur vergessen:
Pasenow war hier im Hotel.
Claus M. Bergmann nippte an seinem koffeinfreien Getränk, das Hilde in Ermangelung einer anderen Bezeichnung bei der Bedienung als ‚Kaffee‘ bestellt hatte. Wie er befürchtete, war das Gebräu zwar heiß, aber trotz der Süßstofftablette und der fettarmen Ersatzkaffeesahne aus Sojamilch eine geschmacklose, durchsichtige Brühe, die außer Sodbrennen nichts bewirkte und ihn persönlich beleidigte.
„Blümchenkaffee“, fiel ihm ein. Hilde, die ihm gegenüber saß, sah auf. „Ja, Blümchenkaffee. So hat meine Mutter das genannt“, erläuterte er, „weil man das Muster der Tasse durch den Kaffee hindurch-sehen kann. Ich habe heute Nacht von ihr geträumt, fällt mir ein, von meiner Mutter und den Woldegker Windmühlen.“ Obwohl Hilde wahrscheinlich nicht wusste, wovon ihr Mann sprach, fragte sie nicht nach. Bergmann nahm in einem Anfall von Masochismus noch einen Schluck „Blümchenkaffee“ und brauchte plötzlich jemanden, den er anschreien konnte. Aber mit seiner Frau konnte er nicht streiten; sie erschlagen, ja, das war ihm möglich. Aber mit ihr streiten, das ging nicht. Sie war hingebungsvoll damit beschäftigt, ihm ein Brötchen zu richten. Da sie keine Margarine bekommen hatte, strich sie eine homöopathische Menge Butter auf eine Hälfte, aus der sie vorher das wattene Innenleben herausgedreht und in den Behälter mit dem Tischabfall geworfen hatte. Anschließend wog sie skeptisch mit zwei Fingern einen Teelöffel Marmelade ab und verteilte diesen sorgfältig und gleichmäßig auf der Butter. Erst nachdem sie das Ergebnis ihrer Arbeit von mehreren Seiten begutachtet hatte, legte sie das Brötchen auf Bergmanns Teller, nickte ihrem Mann aufmunternd zu.
Nein, mit dieser Frau konnte er nicht streiten. Auf der Suche nach einem passenden Ersatz sah sich Bergmann um, doch er fand kein Opfer. Der Frühstückssaal des Hotels war so früh am Morgen beinahe leer. Obwohl die Sonne längst ihre Strahlen durch die hohen Fenster schickte, waren noch alle Lichter an und die Bedienungen richteten in aller Ruhe das Frühstücksbüfett. Aus der Küchentür drangen klappernde und klirrende Geräusche, es roch nach Kaffee und warmem Brot. Achselzuckend wandte sich Bergmann wieder zu Hilde und ertappte sie dabei, wie sie ihm eben das weiche Ei wegnahm, das er sich vorhin geholt hatte.
„Du willst mich verhungern lassen“, stellte er mit einem wehleidigen Blick auf die winzige Vollkorn-brötchenhälfte fest, die ihm seine Frau zum Früh-stück zugestanden hatte. ‚Ne müde Schrippe‘, hätte seine Mutter dazu gesagt. Früher war die Sprache eindeutig reicher. Hilde seufzte und unterbrach seine larmoyanten Gedanken.
„Muss ich dich jeden Morgen an deinen Cholesterinspiegel und deine Diabetes erinnern? Es ist nicht meine Schuld, wenn du nicht ausgeschlafen und schlecht gelaunt bist. Ich jedenfalls wollte nicht schon um sieben Uhr aufstehen.“ Sie zögerte. „Und vergiss nicht, deine Tabletten zu nehmen“, fügte sie hinzu. Jetzt war Bergmann nahe daran, sie wirklich zu erschlagen, hier am Tisch, mit der hässlichen Messingvase, in der eine Plastikblume verstaubte.
„Als alter Mann braucht man nicht mehr so viel Schlaf“, wiegelte er stattdessen ab und nahm das halbe Brötchen in die Hand, um nicht in Versuchung zu geraten, nach dem Mordinstrument zu greifen. Hilde gähnte verstohlen in die Hand. Trotz dieser Geste waren ihr die wenigen Stunden Schlaf kaum anzumerken. Sie wirkte frisch und gesund. Es verblüffte ihren Mann immer wieder, wie sie es schaffte, durch einen kurzen Badezimmeraufenthalt zehn Jahre jünger zu werden. Er konnte sich gut vorstellen, dass er momentan den gegenteiligen Eindruck erweckte und gerade an den fünfzehn Jahre älteren Martin Walser erinnerte, dem er recht ähnlich sah. Auch wenn Walser faltiger war und wesentlich mehr Haare auf dem Kopf hatte, wurden die beiden häufig miteinander verwechselt. Hilde hatte recht: Ein längerer Schlaf nach dieser fürchterlichen Nacht hätte ihm gutgetan. Aber nachdem sich Bergmann an Wismuths Bemerkung erinnert hatte, Pasenow wäre hier im Hotel abgestiegen, war es ihm unmöglich gewesen, länger im Bett liegen zu bleiben.
Er sah sich wieder in dem Saal um. Er musste nur warten. An einem dieser Tische würde der Hochstapler früher oder später Platz nehmen. Damit Bergmann ihn erkennen konnte, hatte er nur noch herauszufinden, an welchem Tisch der falsche Pasenow sitzen würde. Das festzustellen, würde ihm nicht schwerfallen, schließlich war dies ein ordentliches Hotel: Auf jedem Tisch befand sich eine Platzkarte, auf die der Name und die Zimmernummer der Hotelgäste geschrieben waren.
„Wann kommt noch mal der Reporter wegen des Interviews? Ich will schließlich vorbereitet sein“, fragte Bergmann, einen noch im Bett geschmiedeten Plan in die Tat umsetzend. Hilde reagierte, wie er es von ihr erwartete.
„Um halb elf Uhr, wir haben noch viel Zeit. Es ist eine gewisse Magda Mayer-Reischl von der AZ. Hast du die Fragen, die sie dir stellen will, schon gelesen?“ Bergmann schüttelte harmlos den Kopf und biss in sein mageres Frühstück. „Das dachte ich mir schon. Ich habe sie hier.“ Hilde schob ihrem Mann ein Blatt Papier zu, das sie aus ihrer dünnen Aktenmappe zog, die sie immer mit sich trug, wenn sie für ihn die Sekretärin spielte. „… das Übliche“, fügte sie hinzu.
Erst beiläufig, dann ernsthaft die Stirn runzelnd suchte Bergmann seine Lesebrille, dabei überzeugend den zerstreuten Professor spielend. Hilde verfolgte stumm sein vergebliches Mühen. Als sie ihn lange genug hatte forschen lassen, fragte sie resignierend:
„Hast du die Brille denn im Zimmer liegen lassen?“
Es klang wie eine Feststellung. Das war ein wichtiger Moment. Jetzt durfte Hilde keinen Verdacht schöpfen. Er musste glaubwürdig klingen.
„Ja, ich denke, sie liegt noch im Bad. Dort sind auch meine Tabletten. Holst du sie mir schnell?“ fragte Bergmann unschuldig. Tatsächlich hatte er die Brille vorhin heimlich in die Innentasche seines zweiten Jacketts geschoben. Dort würde Hilde sie schon finden, wenn sie ein wenig suchte. Auf jeden Fall verschaffte ihm diese List genügend Zeit. Ohne eine weitere Bemerkung stand Hilde in ihr Schicksal ergeben auf. Beim Hinausgehen warf sie ihrem Mann jedoch einen strafenden Blick zu. Bergmann tat so, als hätte er ihn nicht bemerkt. Er nahm noch einen Schluck von seinem dünnen Kaffee-Ersatz, um den trockenen Bissen im Mund aufzuweichen. Dann zählte er langsam bis zehn, nahm als Alibi seinen Teller in die Hand und folgte seiner Frau. Er sah aus der Tür, vergewisserte sich, ob Hilde noch vor der Fahrstuhltür stand. Erst dann suchte er systematisch die Tische in dem großen Raum ab. Nach längerer Suche fand Bergmann den Namen „HR. PASENOW“ und die Zimmernummer „312“ auf der Karte eines Tisches am Fenster, den er von seinem Platz aus gut im Auge behalten konnte. Sein Rückweg führte ihn am Büfett vorbei, wo er schnell im Stehen ein paar Wursträder in den Mund stopfte. Es war ihm egal, wenn er dabei von einigen überraschten Augenpaaren beobachtet wurde, denn der vollkommene Fettverzicht, zu dem ihn der Arzt und Hilde seit seinem Herzanfall vor zwei Jahren zwangen, hatte ihn süchtig nach Fleisch und Speck gemacht.
Er saß längst wieder auf seinem Stuhl und trug eine harmlose Miene, als Hilde zurückkam. Sie reichte ihm die Tablettenbox und die Lesebrille, ohne eine Bemerkung zu machen, wo sie sie gefunden hatte. Sie hatte sich auch an der Rezeption eine Tageszeitung besorgt, die sie nun auf ihrem Platz studierte.
„Machst du mir die zweite Hälfte auch?“, fragte Bergmann, um Zeit zu schinden, obwohl er absolut keinen Appetit auf ein weiteres trockenes Brötchen hatte. Hilde legte ihre Zeitung gehorsam beiseite und griff in den Brotkorb. Bergmann setzte zufrieden seine Lesebrille auf und nahm das Blatt mit den Fragen in die Hand, das die Reporterin bereits gestern an der Rezeption abgegeben hatte. Auch wenn die Fragen nicht gerade vor Originalität sprühten, wusste Bergmann diese Geste, aus der Professionalität sprach, zu schätzen. In den ungezählten Interviews, die er in den letzten zwanzig Jahren gegeben hatte, seit er als Literaturkritiker selbst zu einer Persönlichkeit der Zeitgeschichte geworden war, hatte er jede dieser Fragen schon häufig beantwortet. Er war längst in dem Alter, in dem sich alles wiederholte und gefühlt alle drei Monate Weihnachten war. Trotzdem gab sich Bergmann beschäftigt, nahm einen Kugelschreiber aus seiner Jackentasche und machte sich Notizen auf dem Blatt. Dabei sah er immer wieder hinüber zu dem leeren Tisch am Fenster. Obwohl sich der Frühstückssaal nun füllte, ließ Pasenow lange auf sich warten. Dieser Hochstapler konnte es sich offenbar leisten, in den Tag hinein zu schlafen. Hilde beschäftigte sich wieder mit der Zeitung, in der sie offenbar einen interessanten Artikel gefunden hatte, den sie mit hochgezogenen Augenbrauen studierte.