Nordkorea - Rüdiger Frank - E-Book

Nordkorea E-Book

Rüdiger Frank

0,0
11,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Tiefe Einblicke in ein verstörendes Land

Nordkorea ist das isolierteste Land der Erde. Wenige Nachrichten dringen aus dem vom Kim-Clan diktatorisch regierten Staat nach außen, und wenn, dann sind es meist Negativschlagzeilen: Nahrungsmittelknappheit, Menschenrechtsverletzungen, brutale Straflager, Atomwaffenversuche, Waffenhandel, Streit mit Südkorea. Die völlige ideologische Gleichschaltung wird von der Bevölkerung augenscheinlich klaglos hingenommen. Rüdiger Frank ist weltweit einer der wenigen Kenner Nordkoreas, seit vielen Jahren besucht er das Land regelmäßig. Er beschreibt die Machtstrukturen und die wirtschaftlichen Verhältnisse, das Geschichtsverständnis und den Alltag. Aus seiner langen Erfahrung berichtet er aber auch von den Veränderungen, die er in den letzten Jahren beobachten konnte, und versucht eine für uns unbegreifliche Gesellschaft ein wenig begreiflicher zu machen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 580

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



RÜDIGER FRANK

NORDKOREA

Innenansichten eines totalen Staates

Deutsche Verlags-Anstalt

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Sämtliche Aufnahmen im Bildteil dieses Buches © Rüdiger Frank mit Ausnahme der Abbildung in der Mitte, die wir mit freundlicher Genehmigung von Georgy Toloraya verwenden.1. Auflage

Copyright © 2014 Deutsche Verlags-Anstalt, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Karte: Peter Palm, Berlin

Typografie und Satz: DVA/Brigitte Müller

Gesetzt aus der Minion

ISBN 978-3-641-13966-7V003www.dva.de

Inhalt

Vorwort

1 – Tradition und Ursprung

2 – Ideologie und Führer: Was das Land im Innersten zusammenhält

3 – Das politische System: Die drei Säulen der Macht

4 – Die Wirtschaft: Ein ungeschliffener Diamant

5 – Reformen: Ein Schritt vorwärts, zwei zurück

6 – Sonderwirtschaftszonen: Goldesel und Risikofaktor

7 – Nordkorea unter Kim Jong-un: Noch ungenutztes Potential

8 – Massenspektakel Arirang: Nordkorea in 90 Minuten

9 – Wiedervereinigung: Ein Blick in die Zukunft

Nachwort: Nordkorea 2014–2016

Register

Anmerkungen

Bildteil

Vorwort

Am 7. Oktober 1991 saß ich gemeinsam mit fünf Kommilitonen im Flugzeug von Berlin nach Pjöngjang,1 der Hauptstadt der Demokratischen Volksrepublik Korea – besser bekannt als Nordkorea. Wir machten Witze über den just auf diesen Tag fallenden »42. Jahrestag« der DDR, die ein Jahr zuvor aufgehört hatte zu existieren. Dass ich nun ausgerechnet in eines der wenigen verbliebenen sozialistischen Länder reisen würde, erschien mir sonderbar. Aus heutiger Sicht markiert dieser Flug den Beginn meiner Beschäftigung mit Nordkorea.

Es war genau zwei Jahre her, dass die Kundgebung an der Gethsemane-Kirche in Ostberlin gewaltsam niedergeschlagen worden war. Zwei Tage später, am 9. Oktober 1989, waren 100000 Demonstranten durch die Straßen meiner Heimatstadt Leipzig gezogen – als noch nicht vorhersehbar war, dass der Staat nichts dagegen unternehmen würde. Diese Menschen waren deutlich klüger und mutiger als ich. Ich hatte gerade erst verstanden, dass das System das Problem war und nicht nur seine Umsetzung; sie aber hatten bereits gehandelt. Schade, dass man das Datum für den Tag der Deutschen Einheit nicht ihnen zu Ehren gewählt hat.

Das Ende der ohnehin schon lange hirntoten DDR war jedenfalls mit dieser Leipziger Montagsdemo besiegelt. Eine Woche später ging Honecker, und nach weiteren drei Wochen war die Mauer offen. Aus »Wir sind das Volk« wurde »Wir sind ein Volk«. Im März 1990 gewann die ehemalige Blockpartei CDU die Wahlen zur Volkskammer, im Juli kam die versprochene D-Mark, und am 3. Oktober 1990 war die DDR offiziell Geschichte. Das alles war gelinde gesagt atemberaubend und für mich absolut unerwartet – trotz meines Insiderwissens als DDR-Bürger. Das macht mich bis heute sehr, sehr zurückhaltend, was Vorhersagen zur unmittelbaren Zukunft Nordkoreas angeht.

In jenem Herbst 1990 begann ich auch mein Studium der Koreanistik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Eigentlich galt mein Interesse dem dynamischen, aufstrebenden Südkorea. Ich hatte allerdings das Privileg, von einer der weltweit besten Kennerinnen Nordkoreas unterrichtet zu werden. Helga Picht war Koreanistik-Lehrstuhlinhaberin und kannte Nordkorea bis hin in die oberste Führung aus eigener Anschauung. Sie hat ihren Studenten ein Verständnis Nordkoreas nahegebracht, wie man es in dieser Tiefe nur selten findet. Ihre objektive, kritische Haltung wurde in Pjöngjang nicht verstanden und brachte ihr bald ein Einreiseverbot ein. Seither sehe ich so etwas als Auszeichnung an – die mir bislang zwei Mal zuteilwurde.

Das waren damals seltsame Zeiten, so unmittelbar nach der »Wende«. Noch bis 1993 hatten wir zum Beispiel einen nordkoreanischen Sprachlektor, Herrn Pak, der mit seiner Frau und einer der beiden Töchter – die andere hatte man zur »Sicherheit« in der Heimat behalten – in einem Ostberliner Plattenbau lebte. Einmal waren wir bei ihm sogar zum Essen eingeladen. Ein Reformer war er nicht; er versuchte nach Kräften, all die ihn umgebenden Veränderungen zu ignorieren. Das muss für diesen klugen Mann schwer gewesen sein. Auch von ihm habe ich viel über Nordkorea gelernt.

Nach einem Jahr intensiven Unterrichts in Deutschland war ich bereit für das Studium in Korea. Natürlich wollte ich in den Süden. Doch die nächste Gelegenheit bot sich ausgerechnet in Form des nach der Wiedervereinigung erstaunlicherweise weiterhin geltenden Austauschabkommens zwischen meiner Alma Mater und ihrer Partnerinstitution in Nordkorea. Der Deutsche Akademische Austauschdienst war bereit, das Auslandssemester mit einer für mich damals astronomisch hohen Summe zu unterstützen, meine Professorin kümmerte sich um das Visum – und damit war beschlossen, dass ich ein paar Monate an der Kim-Il-sung-Universität Koreanisch studieren würde. Ich gebe zu, dass mir das damals wie ein Fehler vorkam. Aus heutiger Sicht war es ein einmaliger Glücksfall.

Die Ankunft in Nordkorea war ein Schock. Niemand hatte mich auf das vorbereitet, was mich erwartete. Ich hatte nicht viel gefragt; warum auch. Ich kannte den Sozialismus ja – dachte ich zumindest. Immerhin war ich in der DDR aufgewachsen und hatte, bedingt durch einen Forschungsaufenthalt meines Vaters, darüber hinaus in den 1970er Jahren knapp fünf Jahre in der Sowjetunion verbracht. Doch Nordkorea war völlig anders als alles, was ich zuvor gesehen hatte. Der Flug nach Pjöngjang 1991 war nicht, wie gedacht, eine Zeitreise in meine Vergangenheit. Er markierte vielmehr den Einstieg in eine fremde, bizarre, unwirkliche und bald auch frustrierende Welt.

Schnell war mir damals klar: Nordkorea wird keine sechs Monate mehr überleben. Die Wirtschaft des Landes war offenkundig am Boden, und überall in der Welt fielen die sozialistischen Dominosteine – es konnte also nur eine Frage der Zeit sein, bis Nordkorea folgen würde. Ein gewisser Trost ist es mir, dass ich mich mit dieser Fehleinschätzung in prominenter Gesellschaft befinde. Der Kollaps Nordkoreas wurde und wird weltweit in schöner Regelmäßigkeit prognostiziert.

Ich habe mich seither darum bemüht, dieses Land zu verstehen. Es war ein langer Prozess, der noch immer nicht abgeschlossen ist. Ich muss immer wieder an einen Satz meiner Mentorin Helga Picht denken: Wer ein Buch über Nordkorea schreiben will, sollte entweder für zwei Wochen ins Land fahren oder sich zwei Jahrzehnte lang damit beschäftigen. Ich fand das damals etwas übertrieben – und dann hat es bei mir fast ein Vierteljahrhundert gedauert, bis ich dieses Buch begann.

Inzwischen bin ich Professor an der Universität Wien und Vorstand des dortigen Instituts für Ostasienwissenschaften. Diese sichere Position ist ein einzigartiges Privileg; sie gibt mir die Möglichkeit, mich zu einem kontroversen Thema ohne opportunistische Rücksicht auf Kritik oder Unterstützung zu äußern. Und meine Meinung wird gehört, was mich freut, angesichts der damit verbundenen Verantwortung manchmal auch erschreckt. Artikel und Interviews von mir erscheinen sowohl in der SüddeutschenZeitung wie in der Bild. Ich habe die Gruppe ehemaliger Staatsoberhäupter »The Elders« um Jimmy Carter beraten, bin Mitglied des World Economic Forum und werde von diversen Regierungen konsultiert. Im September 2013 hat mich die Frankfurter Allgemeine Zeitung als einen der fünfzig einflussreichsten Ökonomen Deutschland gelistet, was offenbar meiner Arbeit über Nordkorea geschuldet ist. Ich stehe ebenso im Dialog mit nordkoreanischen wie mit südkoreanischen offiziellen Stellen.

Es gibt vieles, was ein Buch wie dieses leisten kann, aber auch vieles, was immer unmöglich bleiben muss. So muss man sich in aller Aufrichtigkeit fragen, ob man »ein Land« überhaupt je zufriedenstellend erklären kann. Selbst bei der »Erklärung« des eigenen Heimatlandes wird man schnell an Grenzen stoßen, obwohl es keine sprachlichen Hürden gibt, Daten und Informationen weitgehend verfügbar sind und die Forschung keinen Einschränkungen unterliegt. Zu vielschichtig und komplex ist eine aus Millionen Menschen bestehende Gesellschaft. Umso unrealistischer ist es, eine perfekte, über alle Zweifel erhabene, objektive und finale Erklärung Nordkoreas zu erwarten.

Dies ist somit ein sehr persönliches, auf meinen Erfahrungen und Einsichten beruhendes Buch. Um das zu verdeutlichen, habe ich bewusst meine Geschichte als Einstieg gewählt und bediene mich der für einen Wissenschaftler ungewohnten Ich-Form. Ich erhebe meine Einsichten nicht zum Dogma. Ich schreibe nicht darüber, wie Nordkorea ist, sondern wie es sich mir darstellt. Ich greife auf meine individuell gefärbten Erkenntnisse zurück, die sich aus meinem Lebensweg, meiner Ausbildung und meiner Erfahrung speisen.

Ich äußere mich als jemand, der den real existierenden Sozialismus nicht nur aus politisch korrekten Dokumentationen und mehr oder weniger unterhaltsamen Spielfilmen kennt. Das macht mich nicht nur mit Voraussagen über die Zukunft, sondern auch bezüglich vorschneller Urteile über das Leben der Menschen in Nordkorea sehr vorsichtig.

Ich schreibe dieses Buch auch als Koreanist und Regionalwissenschaftler. Ich habe die Geschichte, Literatur, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft Koreas studiert, kann koreanische Quellen lesen und mich mit den Menschen unterhalten. Das ist hilfreich im Falle eines Landes, zu dem es außer »Informationen« aus extrem pro- oder extrem anti-nordkoreanischen Quellen vergleichsweise wenige verwertbare Daten in westlichen Sprachen gibt.

Auch meine durch und durch westliche Ausbildung als Volkswirt prägt meine Sicht auf Nordkorea. Als Schüler von Werner Pascha, einem der wenigen deutschen Ökonomen, die frühzeitig die Bedeutung Ostasiens für sein Fach erkannt und erforscht haben, bin ich Anhänger einer den institutionellen Kontext berücksichtigenden Sichtweise. Ich bin überzeugt, dass man wirtschaftliche Prozesse nur begreifen kann, wenn man sich in der gebotenen Tiefe des politischen und gesellschaftlichen Umfeldes bewusst ist, innerhalb dessen sie sich vollziehen.

Nicht zuletzt schreibe ich als jemand, der Nordkorea seit über zwanzig Jahren regelmäßig besucht, zuletzt im September 2013. Ich war dort als Student, als Mitglied von EU-Delegationen, als Wissenschaftler und als Tourist. Solche Besuche sind meist kurz, und sie sind einseitig. Der westliche Gast kann sich weder frei im Land bewegen, noch kann er frei mit den Menschen kommunizieren. Das soll jedoch nicht heißen, dass Bewegung und Kommunikation unmöglich sind. Man muss eine hohe Frustrationstoleranz und einen langen Atem haben. Nordkorea erschließt sich einem nicht leicht und nicht sofort, doch geduldige Annäherungsversuche lohnen sich letztlich.

Wer den Konflikt fürchtet, sollte besser die Finger vom Thema Nordkorea lassen. Es weckt oft bemerkenswert heftige Emotionen. Was bin ich in Veranstaltungen oder, noch extremer, durch anonyme Postings in Internetforen kritisiert worden. Als ich 2006 bei einer Anhörung vor dem Europäischen Parlament in Brüssel von den seit 2002 begonnenen Reformen und ihren Auswirkungen sprach, wurde ich von einem aufgebrachten Amerikaner im Publikum mit den Worten angeschrien: »You know nothing about Communism!« Das Bild eines sich verändernden Nordkorea widersprach seiner vorgefassten Meinung und stellte vor allem die Forderung nach einem von außen herbeigeführten Regimewandel in Frage.

Doch auch die Gegenseite ist mit mir unzufrieden. Nach einem Vortrag in Hamburg im Januar 2014 wurde ich vom Mitglied einer pro-nordkoreanischen Vereinigung äußerst aggressiv zur Rede gestellt: Wieso ich nicht diese oder jene Errungenschaft erwähnt habe, und überhaupt, was mir einfalle, die großartigen Erfolge der Führung in Frage zu stellen: »Sie haben keine Ahnung von der KDVR!«2 Man braucht schon ein dickes Fell, wenn man sich über Nordkorea äußert, denn unabhängig vom politischen Lager und dem tatsächlichen Wissen scheint so gut wie jeder eine feste Meinung dazu zu haben. Eine differenzierte Haltung wird oft heftig abgelehnt. Das Land hat gefälligst schwarz und weiß zu sein.

Ich habe mich oft gefragt, warum eine sachliche Auseinandersetzung mit Nordkorea so offenkundig schwerfällt. Auch anderswo gibt es schließlich exzentrische Herrscher und militaristische Diktaturen, auch anderswo werden die Menschenrechte mit Füßen getreten, auch anderswo sind Kinder verhungert. Das macht die Zustände in Nordkorea nicht besser. Doch woher kommt unsere beratungsresistente Selbstsicherheit gerade im Hinblick auf dieses Land?

Vielleicht braucht der Mensch einfach das Andere, um sich selbst besser definieren zu können. Asien hat schon seit Jahrhunderten diese Rolle für uns Europäer gespielt, das kann man etwa bei Edward Said nachlesen. Auch die Medien haben einen wesentlichen Einfluss. Die visuelle Repräsentation Nordkoreas ist faszinierend. Extrem reiht sich an Extrem und wird alsbald zur Norm. Aufsteigende Raketen, übergewichtige Führer mit ausgefallenen Frisuren, im Stechschritt marschierende Soldaten und verwackelte »authentische« Fotos von tristen Alltagsszenen werden permanent wiederholt und generieren im Laufe der Zeit jenen Wiedererkennungseffekt, der ein Land zur Marke macht. Zudem ist Nordkorea bei uns bemerkenswert präsent, und zwar in der ganzen Breite der Medien bis hin zum Boulevard. Auch das ist ungewöhnlich, wenn man sich die geringe Größe und die erhebliche geographische Entfernung des Landes von Europa vor Augen führt.

Vielleicht liegt unsere überproportionale Aufmerksamkeit daran, dass die dortigen Machthaber zumindest dem Namen nach noch immer stur auf einer Ideologie bestehen, die von uns längst ad acta gelegt wurde. Mehr noch, sie bauen Atomwaffen und fordern die USA heraus. Das System weigert sich standhaft, wie die DDR zu kollabieren oder wenigstens dem Beispiel Chinas und Vietnams zu folgen und sich zu reformieren. Nordkorea ist ein Land, das eigentlich nicht sein darf.

Und doch »ist« es. Dass es Nordkorea gibt, ist verwirrend, aber auch ein Fakt. In diesem Buch werde ich eine Annäherung an dieses Phänomen versuchen, aus verschiedenen Blickwinkeln und damit hoffentlich der Komplexität der Aufgabe gerecht werdend. Zustimmung zu all meinen Thesen erwarte ich nicht, wohl aber die Bereitschaft, sich sachlich damit auseinanderzusetzen. Neben geostrategischen Sachzwängen gibt es nicht zuletzt einen moralischen Imperativ, der es uns verbietet, das Land und die Zustände dort einfach zu ignorieren.

Wien, im Juni 2014Rüdiger Frank

1

Tradition und Ursprung

Um zu begreifen, wo ein Land steht, und um abschätzen zu können, wohin es sich entwickeln wird, hilft die Kenntnis seiner Vergangenheit.3 Nordkorea ist da keine Ausnahme. Welches sind also diese prägenden Ereignisse, Erfahrungen und Traditionen?

Es erscheint zweckmäßig, hier eine Zweiteilung vorzunehmen. Ein Teil des historischen Erbes ist koreanisch, ein anderer ist spezifisch nordkoreanisch. Zwischen beiden Traditionslinien kommt es zu gewissen Überschneidungen. Nicht zuletzt im Hinblick auf eine Wiedervereinigung und das Verhältnis zwischen den zwei koreanischen Staaten ist es interessant, sich die geschichtlich bedingten Gemeinsamkeiten bewusst zu machen, von denen es erstaunlich viele gibt. Der Stolz auf gemeinsame historische Errungenschaften wie die koreanische Schrift, die Trauer über erlittene Unbill und die Antipathie gegenüber Feinden der Nation haben das Potential, nach einer Vereinigung bei der Überwindung ideologischer Gräben zu helfen – schlimmstenfalls auf dem Wege der Schaffung eines gemeinsamen Feindbildes.

Darüber hinaus gibt es einige historische Wurzeln, die in Nordkorea gänzlich anders als im Süden interpretiert werden; dazu gehören der Widerstand gegen die Japaner und der Koreakrieg. Und es gibt eigene nordkoreanische Erfahrungen, etwa die der Auseinandersetzung mit den zwei großen sozialistischen Verbündeten China und Sowjetunion.

Gemeinsame Wurzeln

»Korea ist ein Land mit einer 5000-jährigen Geschichte«, so lautet ein im Norden wie im Süden gebräuchlicher Standardsatz. Die Zahl 5000 ist symbolisch zu verstehen; Korea ordnet sich ganz bewusst zwischen dem offiziell etwas älteren China und dem etwas jüngeren Japan ein. In groben Zügen ist damit auch die koreanische Weltsicht erklärt; ich werde später darauf zurückkommen.

Wie ernst man nationale Legenden in Nordkorea nimmt, zeigt der Umgang mit dem mythischen Urvater aller Koreaner, einem gewissen Tan’gun. Als Sohn eines vom Himmel herabgestiegenen Wesens und einer Mensch gewordenen Bärin herrschte Tan’gun von 2333 v. u. Z. an und wurde nach einem übernatürlich langen Leben zu einem Berggeist. Wie bei vielen Mythen haben Historiker auch hier Elemente entdeckt, die einen realen Hintergrund zu haben scheinen. So könnte das vom Himmel kommende Wesen eine aus dem sibirischen Raum auf die koreanische Halbinsel eingewanderte höher entwickelte Zivilisation verkörpern, die sich mit dem dort bereits ansässigen Bären-Clan gegen den rivalisierenden Tiger-Clan verbündet und später verschmolzen hat.

In Nordkorea hat man derart profane Interpretationen allerdings mit Leichtigkeit übertroffen. Auf direkte Anweisung des Großen Führers Kim Il-sung4machten sich nordkoreanische Wissenschaftler Anfang der 1990er Jahre auf, um nach den Gebeinen des Urvaters Tan’gun zu suchen. Dank weiser Anleitung durch Kim wurden sie fündig, und zwar praktischerweise in der Nähe von Pjöngjang. Ich kann mich noch gut an die verblüfft-amüsierten Gesichter meiner Kollegen erinnern, als wir bei einer großen internationalen Koreanistentagung in Prag Anfang April 1995 der von der nordkoreanischen Delegation mit großem Ernst vorgetragenen Präsentation der Grabungsresultate lauschten.5 Heute kann man die überdimensionierten Knochen im Inneren einer an das ägyptische Sakkara erinnernden monumentalen Stufenpyramide bewundern.

Mit dem Tan’gun-Mythos verbindet sich ein kaum verborgener Anspruch auf die Führung im gesamten Korea. Wenn die Überreste des übrigens auch im Süden verehrten Gründervaters der Nation in der Nähe der nordkoreanischen Hauptstadt liegen, wo sonst kann dann das Zentrum des dereinst vereinten Landes sein? Der Umgang mit Tan’gun lässt erahnen, welche Rolle die Geschichte in Nordkorea spielt. Die Hauptlegitimation der nordkoreanischen Führung beruht, wie bei Diktaturen üblich, nicht auf regelmäßig wiederkehrenden Prozessen wie Wahlen. Vielmehr sind der Besitz der Vergangenheit und das Monopol, diese zu interpretieren, wesentliche Eckpfeiler des dortigen politischen Systems.

Seit wann ein einheitliches koreanisches Staatswesen existiert, ist umstritten. Sicher ist, dass es mit der Gründung des Reiches Koryŏ im 10. Jahrhundert einen Staat in etwa auf dem Gebiet des heutigen Korea gab. Von der Bezeichnung Koryŏ leitet sich auch der Name »Korea« ab, angeblich dank Marco Polo, der von diesem Reich während seiner Zeit am Hofe des Kublai Khan in China erfahren haben soll. Heute ist diese Bezeichnung nur im westlichen Ausland gebräuchlich; im Norden heißt das Land Chosŏn, im Süden Han’guk. Man kann sich vorstellen, dass bei einer anstehenden Wiedervereinigung die Wahl eines gemeinsamen Namens ein Problem sein wird.

In Koryŏ war der Mahayana-Buddhismus, eine der beiden großen Ausprägungen des Buddhismus, Staatsreligion. Das war für die Herrschenden recht praktisch, predigt dieser Glaube doch eine gewisse Duldsamkeit gegenüber schwierigen Lebensumständen und offeriert einen Ausweg, der durch Wohlverhalten und die Abkehr von materialistischen Wünschen erreicht werden kann. Die buddhistischen Klöster, die während der Koryŏ-Zeit (918 bis 1392) das Land prägten, waren wirtschaftlich mächtig und konnten sich aufgrund ihres Wohlstandes auch kleine Privatarmeen leisten, die sie zu einem gefährlich unabhängigen politischen Faktor im Lande machten.

Im heutigen Nordkorea geht man kritisch mit dieser Vergangenheit um. Als Religion bildet der Buddhismus eine direkte Konkurrenz zur herrschenden Ideologie, und auch die feudale Unterdrückung, die man mit dem Buddhismus in Verbindung bringt, wird verurteilt. Allerdings ist der nordkoreanische Staat offenbar bereit, den Buddhismus als Teil des nationalen Erbes anzuerkennen und in einem gewissen Ausmaß zu dulden. Vor allem auf dem Land gibt es heute gut erhaltene buddhistische Klöster, die sowohl Bestandteil von Besuchsprogrammen für westliche Touristen sind, als auch von der Bevölkerung intensiv genutzt werden. Die Kästen für Geldspenden bei den Hauptheiligtümern sind stets gut gefüllt, und junge Paare lassen ihre Hochzeitsfotos vor buddhistischen Pagoden anfertigen.

Im 13. Jahrhundert, also noch während der Koryŏ-Zeit, erscheint ein Narrativ in der koreanischen Geschichte, das sich seither sehr konstant im Selbstverständnis der Koreaner erhalten hat: die Rolle als Opfer ausländischer Invasionen. Den zwischen 1231 und 1259 von Norden her in sechs Wellen auf die Halbinsel vordringenden Mongolen hatte das militärisch eher schwache Koryŏ kaum etwas entgegenzusetzen. Es wurde zu einem Satelliten der chinesisch-mongolischen Yuan-Dynastie und blieb es auch bis zu deren Ende 1368. Die Erfahrung der Unterlegenheit und unzureichenden Verteidigungsfähigkeit ist eine der weit zurückreichenden Begründungen der Militär-Zuerst-Politik (sŏn’gun chŏngch’i) in Nordkorea.

Als in China die Yuan-Dynastie im 14. Jahrhundert Anzeichen von Schwäche zeigte, regte sich auch in Koryŏ Widerstand. Dieser stand ganz im Zeichen des Konfuzianismus, der damals als hochmoderne, um nicht zu sagen progressive Idee angesehen wurde.

Das Erbe des Konfuzianismus

Fachleute sind in der Regel sehr skeptisch, wenn der Begriff des Konfuzianismus bemüht wird, um »Ostasien« zu erklären. In der Tat sind Ostasien als Ganzes und die einzelnen Länder in dieser Region viel zu komplex und vielschichtig, um sie mit wenigen Schlagwörtern einer über Jahrhunderte gewachsenen Morallehre erfassen zu können. Hinzu kommt, dass es verschiedene Wahrnehmungen des Konfuzianismus gibt: Ein Bauer im Norden der Provinz Hamgyŏng im 19. Jahrhundert wird ein völlig anderes Bild davon gehabt haben als ein Gelehrter am königlichen Hof in Seoul zur Zeit König Sejongs im 15. Jahrhundert.

Ich konzentriere mich hier auf den vereinfachten (Neo-)Konfuzianismus, der oft kaum mehr als solcher wahrgenommen wird. Ebenso wenig, wie man Theologie studiert haben muss, um Christ zu sein, muss man die konfuzianischen Klassiker gelesen haben, um sich zumindest in groben Zügen dieser Lehre gemäß zu verhalten.

Wie stellt sich also dieser alltägliche, die breite Masse erfassende Konfuzianismus dar? Ein Konfuzianer sieht die Welt als eine Art Uhrwerk an. Jedes einzelne Teil dieses Uhrwerks muss seine Aufgabe peinlich genau erfüllen, und zwar eben diese und keine andere, in perfekter Harmonie mit allen anderen Komponenten. Nur dann kann auch die gesamte Uhr funktionieren. Die Menschen in einer Gesellschaft sind solche Rädchen, Zeiger, Federn oder Achsen. Zur Erfüllung ihrer individuellen Obliegenheiten müssen sie selbige kennen und über die Fähigkeiten zu ihrer Ausübung verfügen.

Hier hat nun die Bildung eine entscheidende Aufgabe: Sie soll die Menschen über ihre Rolle aufklären und ihnen die Kenntnisse zu ihrer Erfüllung vermitteln. Dabei geht es nicht um Kreativität, im Gegenteil; jegliche über das vorgezeichnete Maß hinausgehende Handlung würde den gesamten Mechanismus stören. Entsprechend waren die vermittelten Bildungsinhalte relativ starr und statisch. Vereinfacht gesagt bestand viele Jahrhunderte lang Bildung für einen Konfuzianer darin, klassisches Chinesisch zu erlernen und hernach eine klar definierte Reihe von in dieser Sprache verfassten Büchern zu studieren, was in der Regel das Auswendiglernen bedeutete. Bei Prüfungen musste man dann zeigen, wie souverän man mit Zitaten aus diesen Werken umgehen konnte. Das Bestehen der Prüfungen, die es in mehreren Schwierigkeitsstufen gab, war die Voraussetzung für die Übernahme eines Amtes. Ein möglichst hohes Amt zu erringen war das ultimative Ziel eines Konfuzianers.

Wenn man sich die heutigen Stärken und Schwächen von Bildungssystemen in Ostasien ansieht, erkennt man gewisse Parallelen. Die Lehrpläne sind von einer enormen Masse an zu erlernendem faktischem Wissen geprägt. Die in Südkorea im Zusammenhang mit den Aufnahmeprüfungen für die Universität gebräuchliche Redewendung sadang orak (wörtlich: Vier-Bestehen, Fünf-Durchfallen) gibt die Ansicht wieder, dass man mit vier Stunden Schlaf auskommen muss, um erfolgreich zu sein; wer sich fünf Stunden Ruhe gönnt, wird das Ziel nicht erreichen. Das in Nordkorea übliche Auswendiglernen von offiziellen Dokumenten und von Zitaten der Führer erscheint vor diesem Hintergrund weniger eigentümlich.

Neben der Bildung spielt die strikt hierarchische Gliederung eine wichtige Rolle in der konfuzianischen Vorstellung von einer Gesellschaft. Auch hier hilft das Bild vom Uhrwerk, um die zugrunde liegende Logik zu verstehen. Es wäre undenkbar, wenn jedes Rädchen selbst entscheiden könnte, ob und in welche Richtung es sich drehen möchte. Es gibt große Rädchen, es gibt kleine Rädchen, und es gibt jemanden, der das Uhrwerk aufzieht, ölt, entstaubt und gelegentlich ein defektes Teil repariert oder austauscht. Aus konfuzianischer Sicht ist es daher in einer Gesellschaft wichtig, dass die Unterschiede zwischen den einzelnen Mitgliedern klar und ihre Beziehungen geregelt sind.

Die Familie diente Konfuzius als Mikrokosmos und Vorbild der gesamten idealen Staatsgemeinschaft. Der Vater ist das unangefochtene Oberhaupt; ihm folgt in dieser Funktion der älteste Sohn nach. Die Verhältnisse untereinander sind unter anderem gemäß den sogenannten fünf menschlichen Elementarbeziehungen geregelt. Respekt schuldet ein Mann dem Vater, dem Herrscher und dem älteren Bruder. Respekt erwarten kann er vom Sohn, dem Untertan, der Ehefrau und dem jüngeren Bruder. Gleichberechtigte Beziehungen wie unter Freunden können nur dann existieren, wenn keine der vier hierarchischen Konstellationen vorliegt.

Der Kaiser hatte in diesem System eine zentrale Rolle: Er empfing das Mandat des Himmels und gab der Gesellschaft ihre in Harmonie mit der himmlischen Ordnung stehende Richtung. Im Fall einer Verfehlung konnte der Kaiser seines Mandates verlustig gehen und abgelöst werden, was in der Tat einige Male geschehen ist.

Verwirklichung und einen Lebenssinn fand der Einzelne als Teil der Gemeinschaft. Es gibt die interessante These, dass solche Vorstellungen damit zu tun hatten, dass Reis als Hauptnahrungsmittel im alten China nur im perfekt organisierten Kollektiv produziert werden konnte. Anders als in Europa, wo Getreidefelder auch von wenigen Menschen angelegt und bewirtschaftet werden konnten, verlangte und verlangt der Reisanbau ein hohes Maß an Koordination, insbesondere für die Bewässerung. Karl Marx und später vor allem Karl August Wittfogel haben sich mit dieser sogenannten »asiatischen Produktionsweise« auseinandergesetzt. Auch der »orientalische Despotismus« wurde als pauschale Erklärung für das Verhalten der »Asiaten« bemüht.6

Kulturellen Determinismus sollte man nicht zu weit treiben. Auch in anderen Kulturen wird das Alter geachtet, werden Frauen unterdrückt und gibt es autoritäre Machtansprüche; auch anderswo wurde die Idee propagiert, dass der Einzelne sein Glück nur in der Gruppe finden könne. Es wäre allerdings falsch, so zu tun, als wären die Jahrhunderte des Lebens unter dem Einfluss konfuzianischen Gedankengutes völlig folgenlos geblieben. Auch wenn sich nicht immer jedermann daran hält: Gesellschaften haben Spielregeln, die oft erstaunlich beharrlich sind und sich nur langsam ändern.

Im heutigen Alltag stellen wir in beiden Teilen Koreas eine besondere Affinität zu klar geregelten zwischenmenschlichen Beziehungen fest. Zum typischen Ritual des Kennenlernens gehört es, neben dem in der Regel offensichtlichen Geschlecht auch das Alter, den Familienstand und die berufliche Position des Gegenübers zu erfragen. Danach richten sich dann die Form der Anrede, die in der Sprache verwendete Höflichkeitsform und andere Dinge, anhand derer sich Hierarchie ausdrücken lässt. Dem Besucher Nordkoreas fällt sofort die sehr formelle Kleidung der Menschen dort auf. Der westliche Anzug mit Hemd und Krawatte scheint die Standardkleidung der Männer zu sein. Das ist nicht nur Ausdruck einer gewissen Uniformisierung und des staatlichen Wunsches nach Unterdrückung der Individualität, wie sie Diktaturen zu eigen ist. Nach konfuzianischem Ideal soll das Äußere das Innere wiederspiegeln. In der Realität bedeutet das: Kleider machen Leute. Im Jahr 2004 bereiste ich Nordkorea als Teil einer EU-Delegation. Zwei europäische Diplomaten aus unserer Gruppe begaben sich in ausgewaschenen Jeans und T-Shirt, und ohne ihre Pässe, auf Erkundungstour in Pjöngjang und wurden prompt verhaftet, als sie »verdächtige« Fotos am Bahnhof machten. In korrekter Kleidung wäre ihnen das nicht passiert. Ich selbst bin am gleichen Tag zu Fuß und mit auf Dauerfeuer eingestellter Kamera durch die halbe Hauptstadt gewandert – im dunklen Anzug und völlig unbehelligt.

Neben der konfuzianischen Tradition gehören zum geistigen Erbe Nordkoreas die Erfahrung einer japanischen Militärdiktatur in den Jahren von 1910 bis 1945 und die Allianzen mit Stalins Sowjetunion und Maos China nach 1945. Dies sollte bedenken, wer auf demokratische Reformen von unten in Nordkorea hofft. Das Fehlen demokratischer Erfahrungen ist keine Entschuldigung für eine Diktatur, hilft aber, ihr Fortbestehen zu verstehen – und die ideologische Gefahr für das Regime, die durch das Eindringen von Informationen aus der Außenwelt entsteht.

Der seinerzeit moderne, fortschrittliche Konfuzianismus mit seiner Betonung der individuellen, durch Bildung optimierbaren Leistung erschien Ende des 14. Jahrhunderts vielen Koreanern als attraktive Alternative zum Buddhismus, der als Staatsreligion seinen Zenit längst überschritten hatte. Vor allem für jene Teile der Oberschicht, die im etablierten System von der Macht ausgeschlossen waren, war die neue Ideologie auch eine Chance für den Aufstieg.

Eine in Korea sehr bekannte Anekdote aus dieser Zeit illustriert ein interessantes Dilemma. Chŏng Mong-ju, ein von konfuzianischen Idealen geprägter junger Mann aus der Oberschicht Koryŏs, war mit den bestehenden Verhältnissen im Land unzufrieden. Er sah die Notwendigkeit einer Reform, verweigerte den Putschisten um Ri Sŏng-gye jedoch trotzdem die Gefolgschaft, da er als Konfuzianer seinem König unter jeglichen Umständen die Treue schuldete. Daraufhin wurde er ermordet.

Den Ort dieses Geschehens, die steinerne Sŏnjuk-Brücke, kann man noch heute in Kaesŏng besuchen. Die Geschichte des Chŏng Mong-ju und seines Dilemmas – sich für eine gute Sache einsetzen oder einem schlechten Herrscher die Treue halten – ist in Nordkorea Schulstoff und allgemein bekannt. Auf meine nicht ganz unschuldige Frage, wie sie sich denn entscheiden würden, wollten meine offiziell bestellten nordkoreanischen Begleiter, mit denen ich in Kaesŏng unterwegs war, nicht antworten.

Traditionen der Machtpolitik

Ri Sŏng-gye stürzte den König und etablierte 1392 die neue, konfuzianische Chosŏn-Dynastie. Bereits 24 Jahre zuvor war in China die Yuan-Dynastie beseitigt und die ebenfalls konfuzianische Ming-Dynastie gegründet worden. Es entstand eine Partnerschaft, die später als goldenes Zeitalter gelten würde. Ganz im Sinne konfuzianischen Denkens war von Gleichheit keine Rede; in China herrschte der Kaiser, in Korea »nur« ein König, der erst nach Bestätigung durch den in Beijing residierenden Sohn des Himmels wirklich legitimer Herrscher seines Landes war. Jährlich zogen Tributgesandtschaften die Westküste Koreas entlang, um Ginseng und andere Waren nach China zu bringen. Sie kannten das nötige Zeremoniell, sprachen Chinesisch, waren in den konfuzianischen Klassikern ausgebildet und wurden entsprechend mit Respekt am Hof empfangen. Beladen mit kostbaren Gegengeschenken kehrten sie zurück.

Sadaejuŭi, »dem Großen zu dienen«, war keine Schande – es war eine Ehre, die nur zivilisierten Völkern zukam. Japan wurde dieses Privileg nicht zuteil, wie in beiden Koreas nicht ohne Häme noch immer gern festgestellt wird. Wenn man heute in Nordkorea diesen Begriff nur mehr verächtlich gebraucht, dann ist damit vor allem die angebliche Speichelleckerei Südkoreas bei seinem »Meister« USA gemeint; mit etwas historischem Bewusstsein kann man allerdings auch eine versteckte Unabhängigkeitserklärung in Richtung Beijing vermuten.

Die Hauptstadt von Koryŏ und damit auch Zentrum des koreanischen buddhistischen Establishments war Kaesŏng; heute kennt man es als Standort der von beiden Koreas gemeinsam betriebenen Industriezone. Der neue Machthaber Ri verlagerte das Zentrum der Macht in seine neue Hauptstadt, das heutige Seoul. In einem zentralistischen Staat wie Korea war Präsenz in der Hauptstadt der Schlüssel zur Teilhabe an der Macht. Gregory Henderson beschreibt sehr überzeugend, dass im politischen System Koreas traditionell immer um das Zentrum konkurriert wurde, nicht mit ihm.7 Alternative Machtzentren gab es nicht. Verbannung aus der Hauptstadt bedeutete das Ende der politischen Laufbahn. Noch heute ist es in Nordkorea ein Privileg, in der Hauptstadt Pjöngjang zu leben. Die Umsiedlung in die Provinz ist eine schwere Strafe mit negativen Konsequenzen für die Versorgung, den Zugang zu Bildung, die Lebensqualität und die Karrierechancen.

Indem also Kaesŏng die Hauptstadtfunktion verlor und der Zuzug nach Seoul streng geregelt wurde, entmachtete man mit einem Schlag und auf sehr effiziente Weise die gesamte Koryŏ-Elite. Für über 100 Jahre war es ihren Angehörigen sogar verboten, überhaupt an den konfuzianischen Beamtenprüfungen teilzunehmen.

Von direktem politischem Einfluss derart ausgeschlossen, wandten sich die wohlhabenden, gebildeten und gut vernetzten Reste der alten Führungsschicht dem Handel zu. Vorsichtige Vergleiche mit den in Europa diskriminierten Juden drängen sich auf. Die sogenannten Kaesŏnger Händler waren im konfuzianischen Korea eine Besonderheit.8 Um 1900 waren ganze 80 Prozent der Bevölkerung von Kaesŏng kommerziell tätig, insbesondere im lukrativen Ginseng-Handel. Sie entwickelten ein eigenes Banksystem und erschlossen Handelsrouten im Inland und bis nach China. Es ist schon ein bemerkenswerter Zufall, dass eines der bekanntesten aktuellen Experimente Nordkoreas mit marktwirtschaftlich orientierter internationaler Wirtschaftskooperation ausgerechnet mit Kaesŏng verbunden ist.

Das Beispiel der Händler von Kaesŏng unterstreicht, dass Kommerz in der konfuzianischen Welt einen äußerst niedrigen Stellenwert einnahm; eine Bewertung, die in beiden Teilen Koreas bis heute Gültigkeit besitzt – auch im ultramaterialistischen Südkorea. Ansehen und Ehre waren nur im Staatsdienst zu erringen. Selbst die Bauern wurden höher geachtet als die Händler. Spezialisierte Handwerker gab es nur am Hof; überall sonst im Lande produzierten die Bauern ihre Güter des täglichen Bedarfs weitgehend selbst. Das, was wir in Europa mit Bürgertum verbinden, war bis zum Ende des 19. Jahrhunderts in Korea relativ unterentwickelt: städtisches Selbstbewusstsein, dezentrale Führung, Skepsis gegenüber dem Staat und bürgerlicher Stolz. Die Herausbildung eines Mittelstandes, ein Prozess, den wir gegenwärtig in Nordkorea beobachten können, ist vor diesem Hintergrund eine besonders bemerkenswerte Entwicklung.

Hochkultur und Selbstisolation

In den ersten zwei Jahrhunderten nach Etablierung der neuen Dynastie im Jahr 1392 (nach ihrem Gründer Ri-Dynastie9 beziehungsweise nach dem Landesnamen Chosŏn-Dynastie genannt) erblühte Korea wirtschaftlich und kulturell. Der Austausch mit dem konfuzianisch gleichgesinnten Ming-China war intensiv und fruchtbar. Anfang des 15. Jahrhunderts vollbrachte Korea dann eine kulturelle Meisterleistung mit der Schaffung eines eigenen Alphabets. Nach streng wissenschaftlichen Kriterien wurde die mit kleineren Änderungen noch immer gültige und heute aus 24 Konsonanten und Vokalen bestehende Buchstabenschrift Han’gŭl10 entwickelt.

Mithilfe der Han’gŭl-Schrift waren Lesen und Schreiben für einen Koreanisch sprechenden Erwachsenen problemlos innerhalb weniger Tage erlernbar. Um ihre auf formaler Bildung beruhenden Privilegien zu schützen, gelang es allerdings der yangban (zwei Gruppen) genannten Aristokratie, die neue Schrift als »Frauenschrift« zu verunglimpfen und ihre Verbreitung effektiv zu behindern. Bis Ende des 19. Jahrhunderts wurde sämtlicher offizieller Schriftverkehr weiterhin in klassischem Chinesisch abgewickelt. Einen koreanischen Martin Luther, der die konfuzianischen Klassiker ins Koreanische übersetzt hätte, gab es nicht. Die theoretisch für alle Koreaner offenen Prüfungen, die zwingende Voraussetzung für ein Amt waren, waren damit de facto weiterhin nur jenen Teilen der Bevölkerung zugänglich, die es sich leisten konnten, ihre Kinder vom siebten Lebensjahr an in klassischem Chinesisch auszubilden.

Trotzdem verhalfen konfuzianische Ethik und Ordnung dem Land zu einem gewissen Wohlstand. Dieser wurde nur durch die Überfälle zumeist japanischer Piraten gefährdet, die vor allem küstennahe Dörfer heimsuchten, die Bevölkerung töteten oder verschleppten und die Reisvorräte raubten. In ihrer Hilflosigkeit ging die Regierung in Seoul so weit, den Bau von Siedlungen zu unterbinden, die vom Meer aus sichtbar waren, um nicht die Aufmerksamkeit von Angreifern auf sich zu ziehen. Hier zeichnet sich ein Vorläufer jener Politik ab, die Korea später den Namen »Einsiedler-Königreich« eintragen sollte.

Ein traumatisches und in vielerlei Hinsicht richtungsweisendes Erlebnis war der nach seinem Anfangsjahr im chinesischen Kalender benannte Imjin-Krieg. 1592 bis 1598 führte Toyotomi Hideyoshi japanische Samurai nach Korea, um von dort China erobern zu können. Das Reich Chosŏn hatte den erfahreren Kriegern wenig mehr als den Mut der Verzweiflung und die mit Eisen beschlagenen Schiffe eines einzelnen Admirals entgegenzusetzen. Wenn Nordkoreas Regierung heute zur Sicherstellung der Landesverteidigung sogar Hunger in Kauf nimmt, dann ist die Bevölkerung vor dem Hintergrund solcher aktiv wachgehaltener historischer Erfahrungen zumindest bis zu einem gewissen Punkt bereit, dies zu akzeptieren.

Erst nachdem die Japaner der Grenze des chinesischen Ming-Reiches gefährlich nahegekommen waren, sandte China Entsatztruppen. Als Hideyoshi 1598 starb und der Krieg um seine Nachfolge entbrannte, zogen sich die Japaner aus Korea zurück. Ihr Abzug hinterließ nicht nur ein zerstörtes und im administrativen Chaos versunkenes Land; für die Koreaner hatte er auch einen faden Nachgeschmack wegen der nur zögerlichen Hilfe durch den großen Bruder China. Selbst wenn man dies in weiten Teilen der naiven, rückwärtsgewandten konfuzianischen Traumwelt der Seouler Aristokratie nicht wahrhaben wollte: Koreas strategische Rolle aus Sicht Beijings war immer die eines Pufferstaates. Angriffe sollten hier zunächst ohne großen Einsatz Chinas abgewehrt werden, und wenn es nicht anders möglich war, dann sollte ein Verteidigungskrieg mit all seinen zivilen Opfern und Verwüstungen möglichst hier und nicht im chinesischen Kernland stattfinden. Die immensen materiellen und sozialen Kosten hatte der Empfänger derartiger Hilfe gefälligst dankbar zu tragen. Dieses üble Spiel wiederholte sich in der späteren Geschichte Koreas. Wir finden hier ein weiteres Puzzlesteinchen für ein tieferes Verständnis des nordkoreanischen Beharrens auf maximaler Eigenständigkeit, auch und gerade im militärischen Bereich, und für den notorischen Mangel dieses Landes an Vertrauen in seine Verbündeten.

Korea erholte sich nie vollständig von der japanischen Invasion; die Glanzzeit des Reiches Chosŏn war vorüber. Doch schon 1627 und 1636 gab es weitere Einfälle fremder Mächte, diesmal auf dem Landweg von Norden her. Die Mandschu fegten in China die Ming-Dynastie hinweg und gründeten das Qing-Reich, das bis 1911 fortbestand. Korea gelang es erstmals seit Jahrhunderten, einen chinesischen Dynastiewechsel nicht mitzumachen. Man beugte sich der überlegenen Militärmacht, hielt sich jedoch insgeheim für die wahren Nachfolger der hoch verehrten Ming, verachtete die als Barbaren und Fremdherrscher angesehenen Qing und schmiedete düstere Umsturzpläne. Wie man sieht: Auch für einen gewissen Mangel an Sinn für machtpolitische Realitäten kann man in der koreanischen Geschichte Vorläufer finden.

Vom 17. Jahrhundert an wurde das weltabgewandte Verhalten des »Einsiedler-Königreiches« noch extremer. Im Jahr 1653 erlitt ein holländischer Seefahrer auf dem Weg nach Japan mit seiner Mannschaft Schiffbruch und wurde an die Küste Koreas getrieben. Dort hielt man ihn ganze 13 Jahre lang fest, was durchaus ein Glücksfall war, da andere Schiffbrüchige sofort hingerichtet wurden. Als ihm und acht Überlebenden schließlich die Flucht gelang, verfasste er ein wenig schmeichelhaftes Buch, das heute als erster detaillierter Bericht über Korea in einer westlichen Sprache gilt.11

Fairerweise sollte man anmerken, dass auch Japan bis Mitte des 19. Jahrhunderts mit Abschottung auf das als zunehmend bedrohlich angesehene Vordringen zuerst der Portugiesen, dann der Holländer und schließlich der Briten reagierte. In jedem Fall fällt es schwer, die historischen Vorläufer der heute zu beobachtenden isolationistischen Politik und der ausgeprägten Xenophobie in Nordkorea zu übersehen.

Äußere Einflüsse

Doch ebenso wenig, wie das heutige Nordkorea wirklich vollständig isoliert ist, war auch das späte Chosŏn-Reich unbeeinflusst von westlichen Ideen. Auf dem Weg über China gelangten unter anderem technische Entwicklungen und auch das Christentum nach Korea. Der Katholizismus wurde vor allem von jenen Mitgliedern der Oberschicht angenommen, die aus verschiedenen Gründen von der Macht ausgeschlossen waren. Als die zum Christentum übergetretenen Aristokraten und ihre Gefolgsleute zu einer politischen Bedrohung wurden, ließ der König ein Exempel statuieren. Im Jahr 1801 fand die erste von bis 1866 insgesamt vier großen Christenverfolgungen statt, in deren Folge Korea heute weltweit an vierter Stelle der Länder mit den meisten offiziell anerkannten Märtyrern steht.

Im 19. Jahrhundert erfuhr dank des wachsenden Einflusses der USA der Protestantismus zunehmende Verbreitung, vor allem im Volk. Pjöngjang, die heutige Hauptstadt Nordkoreas, hatte um 1890 über 100 Kirchen und galt Anfang des 20. Jahrhunderts aufgrund des immens hohen Anteils von Christen als christlichste Stadt in Ostasien, gar als das »Jerusalem des Ostens«.12

In diesem Zusammenhang ist es interessant zu wissen, dass Kim Il-sung, der Gründer und langjährige Führer Nordkoreas, aus der Nähe von Pjöngjang stammt und dass seine Mutter und ihre Familie Christen waren. Das dürfte nicht ohne Einfluss auf ihn geblieben sein. Wenn man sich die Art und Weise betrachtet, in der er und sein Sohn Kim Jong-il heute verehrt werden, dann sind Vergleiche in Ikonographie und Symbolik kaum vermeidbar. Eine von warmem Licht beleuchtete Holzhütte in tiefverschneiter Nacht als Geburtsstätte von Kim Jong-il, ein Stern, der bei seiner Geburt am Himmel erschien, die heilende Wirkung seiner Anwesenheit – dies sind nur einige Beispiele.

Insgesamt gesehen waren die westlichen Einflüsse in Korea bis Ende des 19. Jahrhunderts jedoch vergleichsweise schwach. Das änderte sich auf dramatische Weise im Jahr 1876, und erneut waren es die Japaner, die hier eine aus koreanischer Sicht sehr unrühmliche Rolle spielten.

Nur wenige Jahre zuvor, 1868, hatte Japan seine als »Meiji-Restauration« bekannte Modernisierungsbewegung gestartet. Es machte sich im Eiltempo auf, zu den imperialen Mächten Europas und den USA aufzuschließen. Ein unmittelbares Vorbild dafür war übrigens Deutschland, das sich nach dem Sieg Preußens gegen Frankreich 1870/71 einer ähnlichen Aufgabe gegenübersah.

Die Japaner modernisierten ihre Wirtschaft, ihre Verwaltung und ihre Armee. Ähnlich wie Deutschland unter Wilhelm II. sich seinen »Platz an der Sonne« durch die damals übliche Erwerbung von Kolonien sichern wollte, hielt auch Japan bald nach potentiellen Einflusssphären Ausschau. Bis nach Afrika reichten die Ambitionen nicht, doch Korea lag direkt vor der Haustür, war schwach und wurde noch von keiner der etablierten Westmächte beansprucht.

Kaum acht Jahre nach Beginn der Meiji-Restauration gelang es Japan, Korea einen ungleichen Vertrag aufzuzwingen. Der Vertrag von Kanghwa von 1876 folgte in seiner Struktur den Verträgen, die Japan zwei Jahrzehnte zuvor mit den USA hatte unterschreiben müssen. Japan erhielt extraterritoriale Rechte in Korea und erreichte die Öffnung von drei Häfen für den Handel, der im Prinzip auf eine wirtschaftliche Ausbeutung Koreas hinauslief. Wie in den meisten Verträgen der Folgezeit legte Japan auch besonderen Wert darauf, die Unabhängigkeit Koreas festzuhalten. Dies geschah vor dem Hintergrund, dass China völkerrechtlich als Schutzmacht Koreas angesehen werden konnte, was Japans Plänen einer Vereinnahmung der Halbinsel entgegenstand.

In der koreanischen Hauptstadt Seoul hoffte man naiv und stoisch auf den chinesischen Kaiser, dem doch selbst schon seit den Opiumkriegen die Macht zu entgleiten drohte. Eine interne Palastrevolte von jungen, mit dem als modern geltenden Japan sympathisierenden Aristokraten wurde 1884 niedergeschlagen. Ein Jahrzehnt später scheiterte ein von religiös-nationalistischen Kräften, der Tonghak-Bewegung, angeführter Volksaufstand. Die Rebellen verfolgten unter anderem das Ziel, die Ausländer aus dem Land zu verjagen und nach dem Motto tongdo sŏgi (östlicher Weg, westliche Technik) eine an die eigenen Traditionen und Bedürfnisse angepasste Übernahme westlicher Ideen und Technologien zu betreiben. Die Parallelen zur heutigen chuch’e-Ideologie Nordkoreas sind frappierend.

Die Tonghak-Rebellion führte zum chinesisch-japanischen Krieg, den beide Länder auf koreanischem Territorium ausfochten. 1895 ging Japan aus dieser Auseinandersetzung als Sieger hervor. Übrigens entstand aus der niedergeschlagenen Tonghak-Bewegung eine noch heute in beiden Koreas präsente Religion, die in Nordkorea sogar durch eine offiziell zugelassene politische Partei, die »Partei der Freunde des Himmlischen Weges«, vertreten wird. Nein, das ist kein Schreibfehler.

Nachdem China seit 1895 als wichtigster Konkurrent um die Vorherrschaft in Korea ausgeschaltet war, baute Japan seine Präsenz auf der Halbinsel massiv aus. Handel, Investitionen, kultureller Austausch, umfangreiche Kredite an den bald hoffnungslos verschuldeten König und schließlich sogar die Übernahme einer modifizierten Form der japanischen Währung beraubten Korea lange vor der offiziellen Kolonisierung Schritt für Schritt seiner Souveränität.

Zur selben Zeit einigte sich Japan mit den westlichen Großmächten und sicherte sich so auch außenpolitisch den Einfluss über Korea. Russland wurde 1905 im Krieg besiegt; die damals führende Weltmacht Großbritannien und die USA unterzeichneten Verträge mit Tokio, die auf die Gewährung völliger Handlungsfreiheit für Japan auf der koreanischen Halbinsel hinausliefen – im Fall der USA übrigens im Gegenzug für den japanischen Verzicht auf die Philippinen, die danach mit kurzer Unterbrechung für Jahrzehnte unter der Kontrolle der USA standen.

Verzweifelt hatte der koreanische König Kojong schon 1897 seine völlige Souveränität vom chinesischen Reich erklärt und sein Land in taehan cheguk (Imperium Groß-Han) umbenannt. Er bezog sich damit auf die sogenannten drei Han-Staaten, die um den Beginn unserer Zeitrechnung auf der koreanischen Halbinsel existierten. Der heutige Name Südkoreas, taehan minguk (wörtlich: Volksland Groß-Han, offiziell: Republik Korea), leitet sich hiervon ab. 1907 entsandte der König eine Delegation zur Friedenskonferenz nach Den Haag, um gegen den durch Japan erzwungenen Protektoratsvertrag von 1905 zu protestieren. Die Delegation wurde nicht einmal empfangen.

Schwach, innerlich zerstritten, mit veralteten Strukturen und ohne internationale Unterstützung verlor Korea 1910 seine staatliche Souveränität und wurde zu einer Kolonie Japans.

Es ist kaum möglich, die Bedeutung dieser Erfahrung für die heutigen beiden Koreas überzubewerten. Da Japans Besetzung Koreas die ökonomische Abhängigkeit vorangegangen war, vermied es Südkoreas Diktator Park Chung-hee während des unter seiner Herrschaft erfolgreich betriebenen forcierten Wirtschaftsaufbaus in den 1960er und 1970er Jahren mit Nachdruck, im größeren Stil Direktinvestitionen ins Land zu lassen. Anstatt sich damit erneut in eine mögliche Abhängigkeit von Japan zu begeben, verschuldete sich Südkorea lieber, um die nötigen Investitionen zu finanzieren.

Auch im heutigen Nordkorea hat man nicht vergessen, dass dem Verlust der politischen Souveränität die wirtschaftliche Abhängigkeit vorausging. Die nationalistische chuch’e-Ideologie hat viele Seiten; ein Maximum an Autarkie gehört zweifellos dazu. Sobald Wirtschaftskontakte zu intensiv, zu wichtig und zu einseitig werden, schrillen in Pjöngjang die Alarmglocken. Man ist bereit, im Interesse der politischen Unabhängigkeit auch ökonomische Härten auf sich zu nehmen.

Auch die bis heute zu beobachtende Skepsis in beiden Koreas gegenüber Großmächten und deren Absichten lässt sich ohne weiteres auf das späte 19. beziehungsweise das frühe 20. Jahrhundert zurückführen. Das Gefühl, von China und vom Westen verraten oder im Stich gelassen worden zu sein, sitzt tief.

Die Perspektive der zwei Koreas auf Japan ist eigenartig gemischt. Im Süden wie im Norden ist man sich einig, dass der östliche Nachbar schwere Schuld auf sich geladen hat und mit dieser nicht adäquat umgeht. Deutschland und seine aktive Vergangenheitsbewältigung nach dem Zweiten Weltkrieg werden in Verhandlungen mit Japan gern als positives Beispiel genannt. Territorialstreitigkeiten mit Japan, wie etwa um die Insel Tokdo, sieht man daher als Ausdruck neokolonialer Ambitionen und begegnet ihnen entsprechend aggressiv.

Doch gleichzeitig waren die Koreaner auch vom Erfolg Japans beeindruckt. Verständlicherweise stellte man sich die Frage, wie dieses lange Zeit als unterlegen angesehene Land in so kurzer Zeit und so nachhaltig die Oberhand hatte gewinnen können. Nach 1945 förderten die USA dann intensiv die Kooperation Südkoreas mit Japan, sodass Parallelen bei der Wirtschaftsentwicklung unübersehbar sind – etwa beim Verhältnis von Staat und Wirtschaft, der Gründung großer Unternehmenskonglomerate und einer exportorientierten Wachstumsstrategie.

In Nordkorea bildet der Befreiungskampf gegen Japan die Basis des nationalen Mythos um Kim Il-sung. Dies macht eine positive Betrachtung Japans noch schwerer, als das in Südkorea der Fall ist. Junge Reformer, die um 1884 dem japanischen Beispiel nacheifern wollten, werden als unpatriotisch verurteilt. Und doch gibt es erstaunliche Parallelen. Der Slogan der japanischen Modernisierung im späten 19. Jahrhundert war fukoku kyohei – »Reiches Land, Starke Armee«. In Zeiten größter Bedrängnis nach dem Tod des Staatsgründers und einer massiven Hungersnot Ende der 1990er Jahre initialisierte dessen Sohn Kim Jong-il die Revitalisierung Nordkoreas unter dem auffallend ähnlich klingenden Motto kangsŏng taeguk (militärisch starkes und wirtschaftlich reiches Land). Es gibt auch Autoren, die auf die geistigen Verbindungen zwischen der militaristischen und rassistischen Tradition Japans und dem heutigen Nordkorea hinweisen.13

Die 35 Jahre währende Kolonialzeit war in jeder Hinsicht hart. Das Land wurde wirtschaftlich ausgebeutet und später zur Aufmarschbasis für die japanische Expansion nach China gemacht. Hunderttausende junge Frauen wurden zu Zwangsprostituierten in japanischen Militärbordellen. Ab Ende der dreißiger Jahre versuchte Japan schließlich, Korea zu assimilieren. Ab 1943 durfte die koreanische Sprache an den Schulen nicht mehr unterrichtet werden. Koreaner mussten japanische Namen annehmen und den japanischen Kaiser als Gottheit verehren. Symptomatisch für die Unterdrückung der Koreaner ist ein Vorfall bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin: Der Koreaner Son Ki-chŏng errang den Sieg im Marathonlauf. Die Goldmedaille musste er aber unter seinem japanischen Namen Son Kitei annehmen; in der Länderwertung ging sie an Japan.

Die Kolonialzeit war ein schwerer Schlag für den Nationalstolz der Koreaner. Deren Nationalbewusstsein hatte sich allerdings auch erst im Widerstand gegen den drohenden Verlust der Unabhängigkeit entwickelt. Von 1897 an besannen sich Intellektuelle endlich auf die Verwendung der Jahrhunderte zuvor entwickelten Buchstabenschrift Han’gŭl, um durch den Druck von Zeitungen und Flugblättern die Massen zu erreichen und auf die nationale Frage aufmerksam zu machen.

Der auf die Kolonialzeit zurückgehende und bis heute starke koreanische Nationalismus ist eindeutig defensiver Natur. Entstanden aus der Infragestellung der nationalen Identität durch einen äußeren Feind, gebärdet er sich bis in unsere Tage entsprechend militant. Es geht jedoch nicht darum, die Nachbarn zu koreanisieren, sondern Korea vor jeglichen Invasionsbestrebungen zu beschützen – dies allerdings mit allen Mitteln, die bis zur Selbstaufgabe reichen können. Kein Wunder also, dass es die Führung Nordkoreas heute recht leicht hat, trotz der ökonomischen und politischen Kosten die Bevölkerung von der Notwendigkeit von Atomwaffen und einer unnachgiebigen Haltung gegenüber ausländischen Militärmanövern zu überzeugen, die als Provokationen und ein Präludium zur Invasion des Heimatlandes angesehen werden.

Interner Machtkampf in Nordkorea nach 1945

Der Zweite Weltkrieg in Ostasien endete abrupt. Am 6. und 9. August 1945 warfen die USA Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki ab, und schon am 15. August kapitulierte Japan. Dieser Tag wird heute in beiden Koreas als Tag der Befreiung gefeiert. Die Sowjetunion erklärte am 8. August Japan schnell noch den Krieg, um nicht durch eine plötzliche Kapitulation Tokios an der Wahrung ihrer territorialen Interessen in der Region gehindert zu werden. Japan kostete dieses Eingreifen einige Inseln im Norden, die seit dem Sieg gegen Russland von 1905 in seiner Gewalt waren und noch heute den Abschluss eines Friedensvertrages mit dem sich mittlerweile wieder Russland nennenden Nachbarn verhindern.14

Anders als die vom eigenen Erfolg völlig überraschten USA, deren Soldaten erst Anfang September eintrafen, waren sowjetische Einheiten noch für einige Tage in verlustreiche Kämpfe gegen japanische Verbände auf der koreanischen Halbinsel verwickelt. Auf dem diesbezüglichen Denkmal mitten im Moranbong-Park von Pjöngjang, im Volksmund »Befreiungsturm« (haebangt’ap) genannt, ist daher auch in russischer und koreanischer Sprache vermerkt, dass »die große Sowjetarmee … das koreanische Volk von der Pein der japanischen Besatzung befreit« hat. Das ist insofern bemerkenswert, als es in diametralem Gegensatz zur offiziellen nordkoreanischen Version der Geschichte steht. Diese Inschrift ist eines der vielen Rätsel in Nordkorea, für die ich trotz intensiver Suche keine zufriedenstellende Antwort finden konnte.

Offiziell war es nämlich Kim Il-sung15, der nach zwei Jahrzehnten heroischen Partisanenkampfes weitgehend allein die Japaner besiegte und daher natürlicherweise zum Führer des befreiten Korea wurde. An dieses denkwürdige Ereignis erinnern gleich zwei nur wenige hundert Meter vom Befreiungsturm entfernte Monumente. Eines ist ein riesiges Mosaik, auf dem die Ansprache von Kim Il-sung an die ihn begeistert feiernden Massen anlässlich seiner triumphalen Rückkehr nach Pjöngjang dargestellt ist. Es ist einer Fotografie nachgebildet, auf deren frühesten Versionen im Hintergrund einige sowjetische Offiziere und Plakate von Lenin und Stalin zu erkennen sind.16 Allerdings sind diese weder auf dem Mosaik noch auf Wiedergaben dieser Fotografie in heutigen nordkoreanischen Geschichtsbüchern sichtbar.

Das andere Monument ist das »Tor der triumphalen Rückkehr« (kaesŏnmun). Ähnlich wie sein etwas kleineres Pariser Pendant steht es in der Mitte eines mehrspurigen Kreisverkehrs, in dem die Frequenz der Fahrzeuge zwar noch nicht die der französischen Hauptstadt erreicht hat, aber dennoch deutlich gestiegen ist. Die zwei Zahlen auf den Säulen – 1925 und 1945 – stehen für das Jahr, in dem Kim Il-sung als 13-jähriger das Land in Richtung Mandschurei verließ, mit dem Schwur auf den Lippen, erst als Befreier wieder zurückzukehren, und für das Datum der Erfüllung seines Versprechens zwei Jahrzehnte später.

Tatsächlich besetzte die Sowjetunion von Mitte August 1945 an die ehemals japanische Kolonie Korea nördlich des 38. Breitengrades und begann, nach dem in Europa bekannten Schema das Land nach den eigenen Vorstellungen umzugestalten. Dazu gehörte die Enteignung der meisten Industriebetriebe, was kein allzu großes Problem darstellte, da sich diese in der Regel in japanischem Eigentum befunden hatten. Auf dem Land wurde der Boden an die überglücklichen Bauern verteilt. Gesetze und Kampagnen zur Alphabetisierung und zur Gleichstellung der Frau folgten.17

Diese Maßnahmen waren in der Bevölkerung sehr populär und stärkten die politische Führung in Pjöngjang. Doch wie setzte sich diese Führung zusammen?

Es lohnt sich, auch mit Blick auf aktuelle Entwicklungen in der Führungsriege Nordkoreas, mit ein wenig mehr Details auf den Prozess der Entstehung des heute monolithischen Systems aus einer Partei (Partei der Arbeit Koreas, PdAK) und einem Führer einzugehen. Kim Il-sung konnte nur unter vielen Mühen, gegen erhebliche innere Widerstände und mit allen Mitteln die Macht erringen. Dies ist ein wesentlicher Teil des Vermächtnisses, auf dem sein Sohn und Nachfolger Kim Jong-il (1994–2011) aufbaute und auf dem auch die Herrschaft von dessen Sohn Kim Jong-un (seit 2011) beruht.

Über die etwa ein Jahrzehnt währende interne Auseinandersetzung der diversen politischen Kräfte im Norden Koreas nach 1945 liegen uns sehr detaillierte Informationen vor.18 Stärkste Gruppierung unmittelbar nach der Befreiung waren die überwiegend christlich-religiösen Nationalisten um Cho Man-sik, die gut organisiert und dank ihres aktiven Widerstandes gegen die koloniale Unterdrückung im Volk hoch angesehen waren. Sie stellten auch die meisten Vertreter in den nach dem Abzug der Japaner spontan überall im Lande gebildeten Organen der lokalen Selbstverwaltung, den Volkskomitees.

Neben den Nationalisten stellten die sich selbst als Linke bezeichnenden Kräfte die zweite große politische Gruppe, die zunächst in verschiedenen Parteien und Vereinigungen organisiert war. Zu den Linken zählten die im Land verbliebenen Mitglieder der Kommunistischen Partei (KP) Koreas, die oft wegen aktiven Widerstandes gegen Japan im Gefängnis gesessen hatten und daher Respekt bei den Menschen genossen (die sogenannten Einheimischen); ferner die koreanischen Kommunisten, die an der Seite der chinesischen Genossen gegen Japan gekämpft hatten und in der Regel Mitglieder der Kommunistischen Partei Chinas waren (Yenan-Faktion); eine Gruppe aus in der Sowjetunion geborenen und aufgewachsenen bilingualen ethnischen Koreanern, die dort oft schon eine Karriere in der Regierung oder der KP der Sowjetunion durchlaufen und eine gute Ausbildung genossen hatten (Sowjet-Faktion); und schließlich jene Koreaner, die als Partisanen in Korea oder Nordostchina gegen Japan gekämpft und dabei Unterstützung von Moskau erhalten hatten (Kapsan-Faktion). Letztere war die mit Abstand kleinste Gruppe; sie bestand zunächst nur aus rund fünfzig Personen, die von dem 1945 erst 33-jährigen Kim Il-sung angeführt wurde.

Um die gefährlich starken Nationalisten zu neutralisieren, schlossen sich diese linken Gruppen 1946 im Norden Koreas zusammen; im Süden wurde dies durch die amerikanische Besatzungsmacht verhindert. Doch noch immer lag die Zentrale der Kommunistischen Partei in Seoul, das die Hauptstadt des durch eine gemeinsame sowjetisch-amerikanische Kommission verwalteten Koreas war. Der in der sowjetischen Zone tätige Arm der KP Koreas vereinigte sich mit der etwas moderateren Neuen Volkspartei zur Partei der Arbeit Nord-Koreas, wobei »Nord-Korea« sich hier nicht auf ein Land, sondern auf den nördlichen Teil Koreas bezog. Man wollte explizit nicht in Konkurrenz zur zahlenmäßig sehr starken KP Koreas treten.

Erster Führer der neuen Partei war übrigens nicht Kim Il-sung, sondern der ehemalige Chef der Neuen Volkspartei, Kim Tu-bong. Dieser wurde später als Vorsitzender des Ständigen Ausschusses der Obersten Volksversammlung (des Parlaments) Staatschef Nordkoreas und hatte dieses weitgehend symbolische Amt bis 1957 inne.

Mit vereinten Kräften und massiver Unterstützung durch die sowjetische Besatzungsmacht gelang es den Kommunisten, die Nationalisten aus den Volkskomitees und aus der Macht zu verdrängen. Sie wurden entweder in die PdAK assimiliert oder zogen sich in den Süden Koreas zurück. Kim Il-sung konnte seine Aufmerksamkeit nun auf die interne Auseinandersetzung in seiner Partei richten.

Nach einigen offenbar positiv verlaufenen Beratungsgesprächen mit Stalins Vertrautem, dem Geheimdienstchef Lawrenti Berija, war Kim Il-sung zum Vorsitzenden des Provisorischen Volkskomitees Nordkoreas und damit de facto zum Regierungschef im nördlichen Teil des Landes gemacht worden. Er hielt exzellente Kontakte zu Moskau und war auf diese Weise in der Lage, seine Macht auch in der Partei ständig auszubauen.

Dort bekämpften sich die oben genannten Faktionen nach dem Zusammenschluss der linken Kräfte und der Neutralisierung der Nationalisten. Zunächst wurden die »Einheimischen« von den drei anderen Faktionen angegriffen. Nach deren Beseitigung konzentrierte sich Kim Il-sung auf die Yenan-Faktion, der man unter anderem Misserfolge im Koreakrieg anlastete. Nach dem Tod Stalins 1953 wurde auch die Sowjet-Faktion zum Ziel von Säuberungen. Einen missglückten Putschversuch gegen ihn im August 1956 nutzte Kim Il-sung, um verbliebene Gegner in den Reihen der Partei zu beseitigen und endgültig die Dominanz seiner Kapsan-Faktion zu etablieren.

Für das Verständnis des heutigen Nordkorea ist es wichtig festzuhalten, dass sich Kim Il-sung die Macht in einem langen, komplizierten Prozess erkämpft hat. Er erwies sich dabei als geschickter Taktierer, der Bündnisse schnell formen und wieder auflösen konnte. Er besaß den nötigen Charme und das Charisma, um Alliierte zu gewinnen und Anhänger zu begeistern, sowie ein erhebliches Maß an Rücksichtslosigkeit gegenüber seinen Gegnern. Die sowjetische Seite hatte seine Fähigkeiten offenbar recht gut erkannt, seinen Drang zur Macht aber unterschätzt. Der Plan, den jungen Kim Il-sung als sowjetische Marionette zu nutzen, schlug fehl.

Kim Il-sung musste sich gegen weitaus stärkere und erfahrenere Gegner in der eigenen Partei durchsetzen. Das machte ihn unempfänglich für die Idee eines innerparteilichen Pluralismus und ließ ihn gegen die geringsten Anzeichen von Opposition sofort massiv vorgehen. Die Partei der Arbeit Koreas, wie sie seit der Gründung zweier koreanischer Staaten 1948 hieß, und das gesamte Land mussten sich seiner Forderung nach monolithischer Einheit unterwerfen. Abweichungen wurden nicht geduldet. Sicherheitshalber verzichtete Kim Il-sung aber auch auf waghalsige Experimente wie Chinas »Großen Sprung« und die Kulturrevolution. Anders als Mao wäre er nämlich vermutlich nicht in der Lage gewesen, die Macht nach dem resultierenden Chaos wieder an sich zu bringen.

Die Frage der Duldung von Abweichlern wird etwa dann relevant, wenn wir heute nach einer Opposition in Nordkorea fragen. In der Sowjetunion und den sozialistischen Ländern Ost- und Mitteleuropas gab es innerhalb der jeweiligen kommunistischen Parteien vor allem nach Ende der Stalin-Ära reformorientierte Gruppierungen, die sich vereinzelt sogar durchsetzen konnten. In Nordkorea hingegen war von solchen organisierten Bestrebungen in den letzten Jahrzehnten nichts zu sehen. Gelegentlich finden personelle Umschichtungen statt, Führungspersonen verschwinden oder sinken in der Rangordnung ab. Dies sind die einzigen Anzeichen für eine offenbar auf Disziplinierungsmaßnahmen beruhende Dynamik innerhalb der Führung Nordkoreas, deren Details wir trotz aller Bemühungen und von den Medien verbreiteter Gerüchte bestenfalls unvollständig verstehen. Reformen, wenn es sie denn gibt, gehen immer direkt von oben aus.

Spätestens seit 1956 war Kim Il-sung also der weitgehend unangefochtene Alleinherrscher in Partei und Staat Nordkoreas. Die folgenden Jahre und Jahrzehnte dienten der Festigung seiner Macht, dem Ausbau der Verehrung seiner Person, der Entwicklung und Konsolidierung einer eigenen pseudo-sozialistischen ideologischen Machtgrundlage und dem Heranziehen eines Nachfolgers.

Teilung Koreas

Die Teilung des Landes gilt heute in beiden Koreas als größte nationale Tragödie. Korea sieht sich dabei als Opfer von Großmachtinteressen.

Als alliierte Truppen 1945 den Kriegsgegner Japan zur Kapitulation zwangen, besetzten sie auch die koreanische Halbinsel, die seit 1910 unter japanischer Herrschaft gestanden hatte. Ähnlich wie Deutschland wurde Korea in zwei Besatzungszonen geteilt. Diese Teilung, die bis heute fortbesteht, hatte nicht hauptsächlich etwas mit Korea selbst zu tun, sondern war sozusagen ein Nebeneffekt anderer, aus Sicht der handelnden Mächte übergelagerter Interessen. Das macht die Teilung noch schmerzhafter, als sie es ohnehin schon ist.

Die Interessen der Großmächte in Korea um 1945 waren durchaus vielfältiger Art und reichten historisch weit zurück. So hatte bereits das zaristische Russland eine Aufteilung der Halbinsel entlang des 38. Breitengrades in eine eigene russische und eine japanische Einflusssphäre erwogen. Dem Zaren ging es dabei vor allem um die Sicherung der zum eisfreien Hafen Port Arthur (einem Teil des heutigen chinesischen Dalian) und dem dortigen Flottenstützpunkt führenden transmandschurischen Eisenbahnlinie. Japan hatte Korea kolonisiert, um vom dortigen Markt und den reichlich vorhandenen Rohstoffen zu profitieren, doch strategisch sollte Korea lediglich als Brückenkopf für das eigentliche Ziel Japans, die Expansion auf das asiatische Festland, dienen.

Warum sollte Korea nach der Niederlage Japans geteilt werden? Zum Zeitpunkt der Befreiung 1945 war Korea eine Kolonie, und hier lag vor allem aus Sicht Großbritanniens das Problem. Die Entlassung Koreas in die Unabhängigkeit nach dem Sieg über Japan hätte einen unangenehmen Präzedenzfall bedeutet. Indien war zwar das Kronjuwel des britischen Empire, doch gab es noch viele weitere koloniale Besitztümer, so auch in Südostasien: Brunei, Burma, Hongkong, Malaysia, Singapur und andere Gebiete. Die meisten dieser Kolonien waren ab 1941 von den Japanern besetzt worden. Sollten sie nach dem Abzug der japanischen Kolonialherren ebenfalls unabhängig werden? Diese Vorstellung war für London inakzeptabel. Entsprechend brachte Premier Churchill bei den diversen Besprechungen zur Nachkriegsordnung immer wieder den Vorschlag zur Sprache, Korea zunächst einer längeren Treuhandschaft zu unterstellen. Die Jahrhunderte koreanischer Zivilisation bewusst ignorierend, wurde dieser Vorschlag damit begründet, dass die Koreaner nach Abzug der Japaner nicht in der Lage sein würden, sich selbst zu verwalten, und daher der Anleitung durch den Westen bedürften.

Den anderen Parteien am Verhandlungstisch – Stalin, Roosevelt und gelegentlich auch Chiang Kai-shek – war das Schicksal Koreas weitgehend egal. Sie hatten andere Prioritäten im lange vor Ende des Krieges begonnenen Schacher um die Neuaufteilung der Welt. Letztlich einigte man sich auf der Konferenz von Kairo im Dezember 1943 darauf, dass Korea »zu gegebener Zeit« frei und unabhängig sein solle. Eine Treuhandschaft von fünfzig Jahren war im Gespräch.

Als sich im August 1945 dann die Ereignisse überschlugen, wurden fünf Tage vor der japanischen Kapitulation zwei amerikanische Offiziere für wenige Minuten in einen Kartenraum geschickt, um eine für die USA möglichst günstige Demarkationslinie zu finden. Beim Blick auf die Karte sahen sie einen Strich – den 38. Breitengrad. Er teilt Korea in zwei ungefähr gleich große Bereiche. Die Hauptstadt Seoul lag knapp südlich dieser Linie und damit auf dem Gebiet der amerikanischen Besatzungsmacht. Einmal mehr wurde ohne Konsultation mit den Koreanern eine Entscheidung über das Schicksal ihrer Nation getroffen.

Die vom Norden her ins Land strömenden sowjetischen Truppen hätten nach dem Sieg über die Japaner am 15. August 1945 problemlos die gesamte Halbinsel besetzen können, da die Amerikaner noch viel zu weit entfernt waren und erst am 9. September in Korea landeten. Sie nahmen diese Gelegenheit aber nicht wahr. Die Gründe für die sowjetische Einhaltung der Absprache zur gemeinsamen Besetzung Koreas sind vielfältig. Zu nennen ist hier die Hoffnung Moskaus auf eine Teilung Japans in Besatzungszonen und auf die Erfüllung der Vereinbarungen auf dem europäischen Kriegsschauplatz durch die USA. Die Sicherung der östlichen Grenze Russlands war bereits durch die Präsenz im Norden Koreas erreicht.

Nach der Teilung Koreas in zwei Besatzungszonen gestaltete sich die Zusammenarbeit der Großmächte und ihrer lokalen Verbündeten schwierig. Der Widerstand gegen eine Treuhandschaft wuchs. Als Stalin überzeugt war, dass die von ihm unterstützten Kräfte hinreichend gestärkt waren, änderte Moskau seine Position und stellte sich gegen die zuvor befürwortete Treuhandschaft. Auf beiden Seiten der Demarkationslinie wurden die politischen Gegner mit äußerster Härte verfolgt, was zu gewaltigen Migrationsbewegungen und damit einer Polarisierung der politischen Kräfte führte. Beide Teile Koreas propagierten vehement die Einheit und eine gemeinsame Regierung, die allerdings jeweils unten den eigenen Vorzeichen stehen sollte. Unterschiedliche politische Vorstellungen, die Frage der Treuhandschaft, individuelle Machtinteressen, separate Wahlen und nicht zuletzt der aufkommende Kalte Krieg teilten Korea faktisch. Am 15. August 1948 wurde diese Teilung mit der Gründung der Republik Korea (Südkorea) formalisiert, auf die am 9. September 1948 die Gründung der Demokratischen Volksrepublik Korea (Nordkorea) folgte.

Der Koreakrieg

Umgehend zogen die sowjetischen Truppen aus Nordkorea ab. Sie hinterließen eine funktionierende Volkswirtschaft, ein stabiles politisches System und nicht zuletzt eine gut ausgebildete Armee mit schweren Waffen. Der politische Druck auf die USA