Nordsee - Hansjörg Küster - E-Book

Nordsee E-Book

Hansjörg Küster

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Beschreibung

Jeden Tag sieht die Nordsee anders aus. Der Meeresspiegel, der eben noch glatt in der Sonne lag, kann im nächsten Moment vom Sturm aufgepeitscht werden. An vielen Küsten der Nordsee wird zweimal täglich Land zu Meer und Meer zu Land: Das Wattenmeer hat eine auf der Welt einmalige Natur. An kaum einem anderen Ort der Welt wird so viel Biomasse gebildet. Das Meer lagert im Watt und in den Salzwiesen alle wichtigen Mineralstoffe ab, die Pflanzen zum Wachstum benötigen. Alles wächst üppig, und Bauern, die das Küstenland an der Nordsee seit langer Zeit nutzen, wurden sprichwörtlich reich. Sie konnten schon im Mittelalter kostbare Gegenstände erwerben, die man heute in den Gebäuden der Marschen finden kann. Das Land an der Küste ist platt, aber keineswegs langweilig: Festland und Inseln, Halligen, Sandbänke und Dünen sind einzigartige Natur- und auch Kulturräume. Die meisten Touristen an den Nordseeküsten und auf den Inseln suchen Erholung, viele interessieren sich für die Natur, für Tiere und Pflanzen. Vielerorts gibt es aber auch wunderbare kulturelle Sehenswürdigkeiten zu bewundern, die häufig noch auf ihre Entdeckung warten. Hansjörg Küsters Buch Nordsee zeigt die spannende Geschichte und Vielfältigkeit eines einzigartigen Natur- und Kulturraums ganz in unserer Nähe.

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WISSEN IM NORDEN

Hansjörg Küster

NORDSEE

Die Geschichteeiner Landschaft

 

© 2015 Wachholtz Verlag – Murmann Publishers, Kiel/Hamburg

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Lektorat: Evelin Schultheiß

Umschlagfoto: © shutterstock, Ralf Gosch

Gesamtherstellung: Wachholtz Verlag

Print ISBN: 978-3-529-07604-6 E-Book ISBN: 978-3-529-09220-6

Besuchen Sie uns im Internet:

www.wachholtz-verlag.de

Inhalt

Vorwort

1Die Nordsee, ein Meer

2Der Meeresspiegel steigt, Land geht unter

3Felswatt und Sandwatt

4Schlickwatt und Salzwiese

5Die Anfänge der Marschenkultur

6Der Ring der Deiche

7Sturmfluten lassen Deiche brechen

8Nordseehäfen an den Ästuaren

9Tourismus an der Nordsee

Literatur

Über den Autor

Vorwort

In kaum einer Gegend kann man Natur so intensiv erleben und genießen wie an der Nordsee: bei Spaziergängen am Strand oder auch beim Baden, bei Wanderungen durch weite Wattgebiete oder beim Beobachten von Vögeln. Dass die Nordsee und ihre Küsten aber auch ein einzigartiger Kulturraum sind, ist viel weniger bekannt. Natur und Kultur stehen hier in enger Verbindung miteinander, prägen beides – Land und Meer. Oft ist sogar gerade das, was wir für naturgegeben halten, ein kulturelles Konstrukt, eine Idee: wie zum Beispiel die Annahme, dass es eine klare Grenze zwischen Land und Meer gibt oder dass sich das Land an der Nordsee allein natürlich, das heißt ohne menschliches Zutun, entwickelt. Solche und ähnliche Vorstellungen gehören zu jeder Landschaft. Ein Meer ist ebenfalls eine Landschaft, besser vielleicht eine »Meerschaft«. Auch sie ist geprägt von natürlichen Entwicklungen und Kultur. »Kultur« hat hier eine doppelte Bedeutung. Damit sind einerseits sichtbare Spuren der »Agrikultur« und anderer Nutzungen gemeint, andererseits die Ideen, die zu einem Land oder einem Meer entwickelt wurden und werden.

Will man eine Land- oder »Meerschaft« als Ganzes verstehen, kommt es darauf an zu erkennen, was durch Natur, was durch Kultur geprägt ist. Und es ist außerdem wichtig, die einzelnen Aspekte, die das Ganze ausmachen, zueinander in Beziehung zu setzen. Genau dies ist die Idee des Buches: die einzelnen Bausteine, die das Bild von der Nordsee ergeben, zusammenzufügen. Allerdings soll es dabei nicht um die Darstellung sämtlicher Pflanzen und Tiere, aller Kirchen oder jeder einzelnen der verwickelten historischen Entwicklungen gehen. Der rote Faden ist hier anders ausgelegt: Zuerst – das steht am Anfang des Buches – entstand das Meer an seltsam unterschiedlichen Landmassen. Dort bildeten sich Küsten durch wiederholte Landzerstörung und Landneubildung. Diesen Küstenraum der Nordsee erschloss sich der Mensch erst dann, als es ihm gelang, eine bis dahin völlig neue Form von Wirtschaft und Landnutzung zu betreiben.

Doch nirgends auf der Welt herrscht der Mensch allein. Naturgesetze gelten weiter, und ihre Wirkungen durchkreuzen die Absichten der Menschen. Das lässt sich am Beispiel der Deiche gut erkennen, der nicht nur abstrakten, sondern auch realen Begrenzungslinien für das Wasser: Jeder Damm, und sei er auch noch so stabil gebaut, kann von den Naturgewalten zerstört werden. In den letzten Jahrzehnten setzte eine merkwürdige Divergenz der Entwicklungen ein: Große Verkehrswege und Häfen, Orte der Energiegewinnung und des Tourismus wurden und werden immer wichtiger, während weite Landstriche und Meeresbereiche dazwischen in einem Dornröschenschlaf versinken.

Die Kultur des Nordseeraumes, das kultivierte Land und die große Vielfalt an Bauwerken, gilt es neu zu entdecken, dazu die Zusammenhänge zwischen Natur und Kultur. Der Kulturtourismus an der Nordsee ist unterentwickelt, er bräuchte Impulse, gerade dann, wenn man deutlich machen will, dass man an der Nordsee auch bei Regenwetter und im Winter Ferien machen kann: Dann lassen sich dort sehr viel mehr sehenswerte Bauwerke erkunden, als man gemeinhin annimmt.

Dieses Buch wurde 50 Jahre nach meinem ersten Besuch der Nordsee geschrieben, der übrigens im frühen Frühjahr stattfand; erlerntes Wissen floss ebenso darin ein wie persönliches Erleben. Ich danke Olaf Irlenkäuser für inspirierende Ideen und Evelin Schultheiß für ihr Lektorat.

Dieses Buch widme ich dem Andenken meiner aus Hockensbüll bei Husum stammenden Großmutter Maria Saucke, geb. Petersen (20.12.1904–2.1.1990).

Hannover, im Frühjahr 2015

Hansjörg Küster

1 Die Nordsee, ein Meer

Wir fahren an die See, sagen viele Menschen in Deutschland, und sie meinen damit die Nord- oder auch Ostsee. Das versteht sich gewissermaßen von selbst, erfordert aber eine Erläuterung: »Die See« ist ein Meer, »der See« dagegen ein Binnengewässer. Im Hochdeutschen bezeichnet man die bis über den Horizont hinausreichende Wasserfläche als Meer, in Norddeutschland spricht man von »der See«, so wie im Englischen, Niederländischen oder in den skandinavischen Sprachen. Das umgrenzte stehende Gewässer ist dagegen im Hochdeutschen »der See«, im Niederdeutschen nennt man aber gerade dies »ein Meer«. Darum gibt es die Meere Nord- und Ostsee, aber die Seen Steinhuder Meer, Ewiges Meer und Zwischenahner Meer. Als die in den Niederlanden gelegene Zuiderzee, ursprünglich eine Bucht der Nordsee, durch einen Abschlussdeich vom Meer getrennt wurde und ihr Wasser aussüßte, brauchte sie nach allgemeiner Volksmeinung einen neuen Namen: Der See ist nun das »Ijsselmeer« oder »IJsselmeer« in niederländischer Schreibweise. Im Englischen ist man mit der Benennung von Wasserflächen am konsequentesten: Dort heißt das Binnengewässer immer »lake«, das große, weite Meer zwischen den Kontinenten »ocean« und das kleine Meer »sea«.

Im Sinne der englischen und auch der niederdeutschen Sprache ist die Nordsee eine See. Sie ist nicht nur ein relativ kleines, sondern auch ein weithin flaches Meer, ebenso wie die Ostsee. Aus geologischer Sicht gehört der Untergrund dieser Meere zum europäischen Kontinent. Man findet dort wie in den Festlandsbereichen ein sogenanntes Schelf, einen Kontinentalsockel, der tiefere Erdschichten überdeckt. Im Bereich von Nord- und Ostsee liegt die Oberfläche des europäischen Kontinentalsockels so niedrig, dass das Meer ihn überflutet. Ein Meer, das sich über einer Kontinentalmasse ausdehnt, bezeichnet man als Schelfmeer. Die Nordsee ist ein solches Schelfmeer: In der südlichen Nordsee gibt es kaum Stellen, an denen das Wasser tiefer als etwa 50 Meter ist. Anders verhält es sich nur vor der norwegischen Küste: Am tiefsten Punkt der Nordsee, in der Norwegischen Rinne beziehungsweise im Skagerrak, liegt der Meeresboden bis zu 725 Meter unter der Oberfläche.

Die Nordsee ist ein Nebenmeer des Atlantischen Ozeans. Ein Ozean ist bis zu mehreren tausend Metern tief, denn unter seiner Wassermasse befindet sich kein Kontinentalsockel. Die Nordsee hat zwei Verbindungen zum Atlantik. Die eine besteht nördlich der Britischen Inseln, die andere ist der Englische Kanal im Süden der Inseln, der auch Ärmelkanal genannt wird. Per Konvention wurden Nordsee und Atlantik zwischen den Kreidefelsen von Dover und Calais am Ärmelkanal abgegrenzt sowie im Gebiet zwischen dem nördlichen Schottland, den Shetlandinseln und der Stadt Åles und im Südwesten Norwegens. In neueren internationalen Abkommen wurde die Grenze der Nordsee dann noch ein Stück weit nach Norden versetzt und sehr schematisch vom norwegischen Geirangerfjord nach Westen gezogen. Die Shetlandinseln liegen demnach in der Nordsee, an die Ufer der weiter nordwestlich liegenden Inselgruppe der Färöer brandet der Atlantik.

Auch zwischen Nord- und Ostsee gibt es keine klare Grenze. Am ehesten kann man sie zwischen die dänischen Inseln legen. Dabei werden Skagerrak und Kattegat, die Verbindungen zwischen Nord- und Ostsee, zur Nordsee gerechnet. Aber es gibt auch die Ansicht, die Nordostgrenze der Nordsee zwischen den markanten Leuchtturm von Lindesnes in Norwegen und Hanstholm im Norden Jütlands zu ziehen. Das hätte zur Konsequenz, dass Oslo und die Westküste Schwedens nicht zur Nordsee gehören würden. Und auch die tiefste Stelle im Skagerrak läge dann nicht in der Nordsee, sondern »nur« im Skagerrak.

Die Unklarheiten zu den Abgrenzungen eines Meeres wie der Nordsee verweisen darauf, dass jede Grenze, die man diesem oder einem anderen Meer, auch einem Land gibt, ausschließlich einer Idee entspringt. Die Nordsee definiert sich keineswegs von ihren Grenzen her. Auch Angaben zu ihrer Größe und ihren Wassermengen darf man nicht als absolute Daten auffassen, durch die der Charakter der Nordsee eindeutig zu bestimmen wäre. Unter der Prämisse einer auf bestimmte Weise gezogenen Grenze lässt sich eine Fläche von etwa 550 000 bis 600 000 Quadratkilometer errechnen. Damit enthält die Nordsee dann zwischen 50 000 und 60 000 Kubikkilometer Wasser. Die Grenzen eines Gebietes, sei es nun ein Stück Land oder ein Stück Meer, müssen dann definiert werden, wenn man es beschreiben, nutzen, schützen oder verwalten will. Es muss – im Fall der Nordsee – klar sein, welcher der Anliegerstaaten für welchen Bereich des so definierten Meeresgebietes zuständig ist. Aber mit seinen ökologischen Gegebenheiten, seinem Charakter, seinem land- oder »meerschaftlichen« Eindruck haben künstlich gezogene Grenzen nichts zu tun.

Ihrem Charakter nach ist die Nordsee gerade kein abgegrenzter Raum. Große Bedeutung haben für sie die offenen Verbindungen zum Atlantik, denn sowohl über den Ärmelkanal als auch über die Meeresstraßen nördlich von Schottland dringt Wasser aus dem Atlantischen Ozean ein; dieses Wasser hat für weit im Norden liegende Breiten eine ungewöhnlich hohe Temperatur, denn es stammt aus Mittelamerika. Mit dem Golfstrom gelangt Wasser aus den Tropen, aus der Karibik, an die europäischen Westküsten. Vom Zustrom dieser recht warmen Wassermassen in den Nordatlantik und die Nordsee profitiert die gesamte Umgebung der Nordsee. Dort ist es viel wärmer als in entsprechenden Breiten anderer Weltteile, etwa in Amerika oder Ostasien. Nirgends sonst auf der Welt kann man derart weit nördlich – sogar bis über den Polarkreis hinaus – Getreide anbauen wie im nordwestlichen Europa. Ursache ist die Zuführung warmen Wassers aus den Tropen und dessen Speicherung in den nordeuropäischen Schelfmeeren. Das Wasser der flachen Meere wird im Sommer zusätzlich von der Sonne aufgeheizt, danach halten sich die hohen Wassertemperaturen bis weit in den Herbst, so dass es vor allem in der zweiten Jahreshälfte an Nord- und Ostsee ungewöhnlich mild ist. Bis in den September hinein kann das Korn auf den Feldern bleiben und reifen. Kälteeinbrüche drohen dann in aller Regel noch nicht.

Weil große Wassermengen zwischen dem Atlantik und der Nordsee ausgetauscht werden, ähneln sich die Salzgehalte der beiden Meere. An den Flussmündungen und vor allem zur Ostsee hin nimmt der Salzgehalt des Wassers dann ab. In die Ostsee gelangt etwa doppelt so viel Süßwasser wie in die Nordsee. Durch die Mischung dieses Süßwassers mit dem aus der Nordsee zuströmenden Salzwasser entsteht die größte Menge an Brackwasser auf der Welt. Während die Mengen an Süßwasser, die in die Ostsee gelangen, weitgehend stabil sind, unterscheiden sich die Salzwassermengen, die zwischen den Inseln und über flache Schwellen aus der Nordsee in die Ostsee gedrückt werden, von Jahr zu Jahr erheblich, und entsprechend variiert der Salzgehalt des Wassers, das der Nordsee aus der Ostsee zufließt.

Das Meer vernichtet und segnet, wie man sagt. Das heißt: Jede Küste ist einem beständigen Wandel unterworfen. Pausenlos werden Küsten abgetragen oder zerstört und an anderer Stelle neu gebildet. Will man sie beschreiben, muss man zugleich auf deren Wandel hinweisen und auf ihre Geschichte eingehen.

Für die Grenzziehung von Küstenlinien gilt das Gleiche wie für die Abgrenzung von Meeren: Jede Landkarte, jede Grenze darauf ist Ausdruck von Ideen, Abstraktionen. Alle Küstenlinien werden ebenso per Übereinkunft festgelegt wie die Abgrenzungen eines Meeres. Dass die Realität im Gelände einem idealen Erscheinungsbild einer Küstenlinie auf der Landkarte nicht entspricht oder nicht entsprechen kann, ist leicht zu erkennen, vor allem an der südöstlichen Nordsee, an der deutschen Nordseeküste also. Dort kann die jeweils aktuelle Grenzlinie zwischen Wasser und Land um mehrere Kilometer von der auf der Landkarte dargestellten Küstenlinie abweichen. An der Nordsee verändert sich die tatsächliche Grenze zwischen Land und Meer von Minute zu Minute, von Sekunde zu Sekunde. Man kann das sehen und dabei erleben, wie Küsten verändert werden: Geschichte spielt sich dann vor unseren Augen ab. Auch die Fixierung von Küstenlinien auf einer Landkarte dient einzig dazu, wirtschaftliche oder politische Zuständigkeiten zu regeln. Für die Darstellung der Ökologie spielen die auf der Karte vermerkten Grenzlinien keinerlei Rolle.

Ein weiterer Grund, warum viele Menschen meinen, dass es eine stabile Küstenlinie gibt, ist die Tatsache, dass alle Orte auf einer Landkarte eine genau festgelegte Meereshöhe haben – Angaben dazu findet man überall, auch in küstenfernen Regionen. An manchen Bahnhöfen sind alte Täfelchen angebracht, auf denen die Meereshöhe auf den Zentimeter oder gar den Millimeter genau angegeben ist. Sie sind auf ein Normalnull bezogen, das 1879 festgelegt wurde. Es entspricht keinem konstanten Wasserstand, sondern ist definiert als der Mittelwert zwischen den höchsten und den niedrigsten Wasserständen, die an einer Küste beobachtet wurden. Die Schwankungen können verschiedene Ursachen haben, etwa durch Gezeiten oder wechselnde Winde ausgelöst sein, die Wasser zeitweilig zur Küste drücken oder von der Küste fernhalten. Seit 1992 folgt man bei der Festlegung von Meereshöhen internationalen Vorgaben; durch die Einführung der neuen Bezugsgröße des Normalhöhennulls haben sich manche Höhenangaben von Bergen auf Landkarten geringfügig geändert, aber sie sind nun überall in Europa auf das gleiche Niveau bezogen.

Wie stark Küstenlinien sich tatsächlich verändern und welche unterschiedlichen Ursachen es dafür gibt, lässt sich sehr gut im Gebiet der südlichen Nordsee zeigen, also dem Bereich der Deutschen Bucht. Es sind deutliche, sich überlagernde Spuren dieses Küstenwandels zu finden, der von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag, in Zeiträumen von Jahrhunderten, Jahrtausenden oder Jahrmillionen auftrat und auftritt. Zunächst sollen nun die Küstenveränderungen beschrieben werden, die viele Millionen von Jahren in Anspruch nahmen.

Die Nordsee ist eigentlich ein sehr altes Meer; sie hatte nur immer wieder eine andere Form. Südlich des ebenfalls schon sehr lange bestehenden skandinavischen Gebirges und rings um weitere alte Mittelgebirge in Mitteleuropa, beispielsweise den Harz, gab es immer wieder flache Meere. An ihren Ufern blieb Sand liegen, und in den flachen Meeresbecken bildeten sich kalkhaltige Ablagerungen. In Tiefseebereichen entstanden sie nicht, weil dort der Druck des über dem Meeresboden liegenden Wassers zu stark ist. In flachen Meeresbereichen setzte sich aber nicht immer nur Kalk ab. Es konnten sich auch Algenreste ansammeln, die in Verwesung übergingen, woraufhin sich Faulschlamm bildete. In Sümpfen, die an Flussmündungen entstanden, erhielten sich nicht oder nur wenig zersetzte Reste von Tieren und Pflanzen und wurden zu Torf. Wenn ein flaches Meeresbecken austrocknete und verlandete, blieb Salz zurück. Alles dies geschah unter wechselnden Klimaeinflüssen. Im Lauf von Jahrmillionen, in denen die Kontinentalbruchstücke ganz langsam über die Erdoberfläche wanderten, änderte sich das Klima immer wieder. Das Landstück, das heute Europa ist, lag im Verlauf der Kontinentalverschiebung zeitweise viel weiter südlich, nahe an den Tropen oder im Trockengebiet nördlich des Äquators.

In flachen Meeren blieben besonders viele Sedimente zurück, die in Schichten übereinander zur Ablagerung gelangten. Die unteren Lagen der Sedimentpakete wurden unter der Last des darüber liegenden Materials zusammengepresst und zu Gesteinen verfestigt. Aus Sand wurde Sandstein, aus Kalk Kalk- oder Kreidegestein, aus Faulschlamm Vorformen von Erdöl und Erdgas, aus Torf Kohle und aus Salz Steinsalz. Die Verwandlung von Sediment in Stein nennt man Lithogenese. Man muss sie von den geologischen Vorgängen der Orogenese und Epirogenese unterscheiden. Sie bezeichnen Prozesse, in deren Verlauf Gesteinsschichten angehoben werden, so dass Festland aus dem Meer aufsteigt oder sich sogar ein Gebirge aufwölbt. Zahlreiche deutsche Mittelgebirge sind auf diese Weise entstanden. An anderen Stellen sanken die Gesteinsschichten ab, so dass sie heute unterhalb des Meeresspiegels liegen: Kalkstein und Kreide, Sandstein, Kohle und Steinsalz findet man deshalb nicht nur in den Bergländern rings um die Nordsee, sondern auch unter dem Meer. Manchmal stößt man auf einige dieser Sedimentgesteine erst in ein paar tausend Meter Tiefe: So weit sind sie im Untergrund versunken.

Zu weiteren und vor allem erheblichen Veränderungen inner halb dieser Gesteinspakete kam es im Lauf der Zeit durch die sogenannte Salztektonik. Salz wird plastisch und verformt sich, wenn es von mächtigen Gesteinspaketen überdeckt wird, wobei ein enormer Druck entsteht. An Klüften kann das Salz aufsteigen und die darüber liegenden Gesteinsschichten in die Höhe drücken. Solche Salzansammlungen nehmen oft eine pilzartige Form an. Man nennt sie Salzdom oder Diapir. Die darüber liegenden Gesteinsschichten, die vom Salz in die Höhe gehoben wurden, bezeichnet man als Salzhut. Unter einem Salzhut können sich Erdöl und Erdgas sammeln, die eigentlich aus anderen geologischen Schichten stammen.

Salzdome und Salzhüte haben für Norddeutschland und den Nordseeraum große Bedeutung. An einigen Stellen reichen sie bis über die Oberfläche von Land und Meer hinaus und bilden Hügel oder Inseln. Zu ihnen gehören die Kalkberge von Lüneburg und Bad Segeberg, die Münsterdorfer Geestinsel bei Itzehoe sowie Helgoland mit der daneben liegenden Insel Düne. Auf Helgoland findet man heute zu Stein gewordene Strände, die vor Millionen von Jahren entstanden sind, neben aktuellen Sandstränden. Die Überreste der alten Strände ähneln den heutigen sehr stark. Denn damals bewegten sich die Wellen der Meeresbrandung auf gleiche Weise wie heute.

An einigen Salzdomen kann man Salz oder auch Kalkstein gewinnen, beides kostbare Rohstoffe. An anderen kommt man leicht an Erdöl und Erdgas heran, und zwar sowohl auf dem Land (Wietze bei Celle, Hemmingstedt bei Heide in Holstein, vielerorts im Emsland und bei Diepholz) als auch unter dem Meer: Lagerstätten unter der Nordsee gehörten in den letzten Jahrzehnten zu den ergiebigsten Öl- und Gasquellen in Europa, und das wird noch eine ganze Weile so bleiben, wenn auch die Förderbedingungen für diese Rohstoffe immer komplizierter werden. Es wird aber auch an anderen Stellen immer aufwendiger, an Erdöl und Erdgas heranzukommen.

Die Nordsee ist also ein Teil eines Meeres, das ehemals größer, dann wieder kleiner war und sich zwischen Kontinentalbereichen mit festem Gestein erstreckte: Im Norden wurde es von Skandinavien begrenzt, im Osten von den Ebenen Osteuropas, im Süden von den Mittelgebirgen in Deutschland und Polen, im Westen von Großbritannien. Dieses flache Meer verlandete immer wieder ganz oder teilweise und bildete sich erneut, wenn die Erdoberfläche in diesem Bereich absank.

Auf einem zeitweise zu Land gewordenen Teil dieses Gebietes wuchs vor einigen Jahrmillionen ein Nadelwald, in dem vermutlich Kiefern beziehungsweise kiefernähnliche Bäume vorherrschten. Aus dem Harz der Bäume bildete sich Bernstein, der, als der Wald unterging, auf dem Wasser schwamm, vor allem an die östliche Küste des Meeres, aber auch in den Westen: Man findet heute Bernstein nicht nur an der Ostsee, sondern auch an der Nordsee. Das ist ein Beweis dafür, dass Nord- und Ostsee einst miteinander vereint waren.

Damals sahen wohl die meisten Küsten der Nordsee ähnlich aus wie die anderer Meere, heute gibt es solche »normalen« Küsten an der Nordsee nur noch in England, Südskandinavien und an den Kreidefelsen von Calais sowie auf Helgoland: Normalerweise wechseln an jedem Meeresufer Steilküsten mit Sandstränden ab. Steilküsten werden langsam und allmählich abgetragen, und zwar von unten und von oben her. Die Brandung nagt sogenannte Brandungskehlen in die Felsen, bis das darüber liegende Gestein herabstürzt. Von oben her dringt Süßwasser in den Stein ein; im Winter gefriert es und dehnt sich dabei aus, so dass schließlich ein Felsstück abplatzt. Dringen außerdem Baumwurzeln in einen Felsen ein, sprengen sie den Stein ebenfalls, weil sie allmählich dicker werden.