Nowhere to win - Michael Krausert - E-Book

Nowhere to win E-Book

Michael Krausert

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Beschreibung

2 Jahre waren ins Land gezogen, seitdem William Pucciareli und Avoca Nishi wegen Verschwörung gegen den Orden ihrer gerechten Strafe zugeführt worden waren. Die ehemals heißen Sommer Italiens gehörten der Vergangenheit an, 16 °C waren bereits das Höchste der Gefühle in der Sicherheitszone Rom. Abgesehen von ein paar mysteriösen Selbstmorden war es die letzten 2 Jahre ruhig gewesen. Selbst Großmeister Noah Pucciareli hatte Nobu in Ruhe gelassen. Doch kann Nobu diesem Frieden trauen und ein normales Leben führen – ohne die tägliche Angst, getötet zu werden? Er würde es gerne, doch weiß er nicht, ob er es scha, Noah zu verzeihen. Oder will der Großmeister Nobu nur in Sicherheit wiegen, um ihn umso mehr zu quälen?

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Seitenzahl: 449

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Michael Krausert

Nowhere to win

Nowhere to win

1. Auflage, erschienen im 11/2025

Text: Michael Krausert

Umschlaggestaltung und Layout: ROMEON Verlag

Verlag: ROMEON Verlags GmbH, Kreuzherrenstraße 4, 41189 Mönchengladbach

www.romeon-verlag.de

© 2025 Michael Krausert / ROMEON Verlags GmbH

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Die Urheberrechte verbleiben beim Autor. Das Verlagsrecht liegt bei der ROMEON Verlags GmbH.

Jede Verwertung außerhalb der gesetzlich zugelassenen Fälle bedarf der vorherigen schriftlichen Zustimmung des Verlages. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen sowie die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN Print: 978-3-96229-569-1

ISBN E-Book: 978-3-96229-591-2

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter https://dnb.de/ abrufbar.

Michael Krausert

NOWHERETO WIN

Inhalt

Kapitel 1 Zu viel gewollt

Kapitel 2 Brot und Spiele

Kapitel 3 2 Jahre

Kapitel 4 Überraschung

Kapitel 5 Letztes Abendmahl?

Kapitel 6 Was mache ich hier nur?

Kapitel 7

Kapitel 8 Beerdigung

Kapitel 9 Treffen im Park

Kapitel 10 Ausgeräumt

Kapitel 11 Eiskalt

Kapitel 12 Wir müssen reden

Kapitel 13 Bestimmung

Kapitel 14 die Konferenz

Kapitel 15 Eine Übermacht

Kapitel 16 brother from another mother

Kapitel 17 Vorsicht

Kapitel 18 Nachbarschaftshilfe

Kapitel 19 Bezaubernder Duft

Kapitel 20 So wird es gemacht

Kapitel 21 Archiv

Kapitel 22 Lose Fliese

Kapitel 23 Alibi

Kapitel 24 Bajonett

Kapitel 25 Gewissensbisse

Kapitel 26 Die erste Messe

Kapitel 27 Geheimgänge

Kapitel 28 Stellvertreter

Kapitel 29 Ein freier Kopf

Kapitel 30 Wieso

Kapitel 31 Giftgas und Träume

Kapitel 32

Kapitel 33 Der letzte Gottesdienst

Kapitel 34 Jemand anderes

Kapitel 35 Nach und nach

Kapitel 36 Zurückgelassen

Kapitel 37 Verstärkung

Kapitel 38 Was jetzt?

Kapitel 39

Kapitel 1

Zu viel gewollt

Ein paar Tage nach William Pucciarelis Tod:

„Ich komme direkt zum Punkt.“ Kardinal Aaron war ein schlanker Mann mit an manchen Stellen ergrautem, schwarzen Haar. Nachdem er von Avoca Nishis Verrat und William Pucciarelis Tod sowie dem von Jacob Conrad erfahren hatte, hatte er einen Termin mit Noah Pucciareli ausgemacht, in dessen Büro er in diesem Moment stand.

„Da wäre ich dir sehr verbunden, ich habe gerade viel zu tun. Außerdem hat Tomas Galati in ein paar Minuten ebenfalls einen Termin.“ Noah Pucciareli, der ein wenig kleiner war als sein Gegenüber, dafür aber wesentlich muskulöser gebaut, saß an seinem Schreibtisch und versank in Akten. Alles mögliche Kandidaten für die freien Posten an der Tafelrunde. Als Personalverantwortlicher war es seine Aufgabe, sich um Nachfolger für die drei vakanten Stellen an der Tafelrunde zu kümmern. Ob sie dann auch angenommen würden, musste die Wahl der Tafelrunde entscheiden.

„Erstmal möchte ich dir mein herzliches Beileid für deinen Verlust aussprechen.“ Auch wenn Kardinal Stefani William Pucciareli nie leiden konnte und mit dessen Sohn einige Differenzen hatte, gebot es der Anstand, den Hinterbliebenen sein Beileid auszusprechen.

„Danke, du bist aber doch sicherlich nicht nur deswegen hier, oder?“ Auf Beileidsbekundungen konnte Noah verzichten. Nicht zuletzt, weil der Tod seines Adoptivvaters Teil seines Plans gewesen war.

„Nein, vielmehr wollte ich dir sagen, dass ich keine Unterstützung bei der Verwaltung der Kirchen und Klöster brauche.“

„Bist du dir da sicher? Dir würde ein Partner zustehen.“ Müde Augen schauten überrascht nach vorne.

„Bin ich.“

„Das ist gut, sehr gut.“ Das Lächeln, das sich auf Noahs Lippenstahl, gefiel Aaron überhaupt nicht.

„Ach und wieso?“

„Nun, bisher gab es niemanden, der sich um die Verteilung der Ressourcen, sprich Lebensmittel, Wasser, Medizin und solches Zeug kümmerte. Die Bereiche haben sich selbst gemanagt, was bisher auch gut ging. Dennoch wird es auf lange Sicht besser sein, wenn sich eine zentrale Stelle mit der Aufgabe befasst. Daher hatte ich die Idee, einen eigenen Posten damit zu beauftragen.“

„Das ist allerdings eine sehr gute Idee“, musste Stefani eingestehen. Wenn Noah eines nicht war, dann dumm, soviel wusste er über ihn.

„Und da du auf deinen Partner verzichtest, kann es weiterhin zwei Vermögensberater geben und zusätzlich einen Ressourcenverwalter.“

„Und gibt es bereits Kandidaten?“

„Nun ja, einige, ich denke jedoch, mein Vorschlag für die nächste Versammlung wird dieser hier sein.“ Aus einer der Schubladen seines Schreibtisches holte er eine Akte heraus und überreichte sie Stefani.

„Divino Isella.“ Aaron las sich seine Akte durch.

„Er war früher Chirurg und ist seit fünf Jahren der Leiter des Ordenskrankenhauses“, gab Noah ihm die Kurzfassung der Akte. „Hätte mein Vater nicht auf Jacob Conrad bestanden, hätte ich ihn bereits als Ersatz für Roland Da Silva vorgeschlagen.“

„War wohl besser für ihn, sonst hätte dein Vater womöglich ihn anstelle von Jacob getötet.“ Aaron bemerkte, dass er damit ein heikles Thema angesprochen haben könnte. „Nichts für ungut“, schob er deshalb noch hinterher, während er die Akte zurückgab.

„Schon gut.“ Es störte Noah nicht, wenn man schlecht über seinen Adoptivvater redete.

„Ich gehe dann jetzt besser.“ Auf dem Weg zur Tür konnte er Noahs Blick zur Uhr sehen.

„Okay.“ Tomas Galati, der Leiter der Inquisitoren, sollte bald da sein.

Und tatsächlich dauerte es nur ein paar Minuten, bis der Inquisitor an seine Bürotür klopfte.

„Herein!“, rief Noah dem Klopfen entgegen.

„Wie ich sehe, ertrinken sie fast in Arbeit, werter Kollege.“ Die Aktenstapel auf dem Schreibtisch konnte Tomas selbst mit nur einem Auge von der Tür aus erkennen.

„Es ist eben nichtso leicht, gleich drei neue Leute für die Tafelrunde zu finden.“ Mit einer einfachen Handbewegung deutete Noah auf einen der Stühle vor seinem Schreibtisch und bat den 63-Jährigen, sich zu setzen. Auch wenn er versuchte, sich die Anstrengung nicht anmerken zu lassen, bemerkte Noah sein Schnaufen. Was nach den vielen Treppen hinauf zu seinem Büro kein Wunder war. „Kann ich Ihnen einen Kaffee oder Tee anbieten?“

„Einen Kaffee, wenn es keine Umstände macht.“ Er hatte in den letzten Tagen ebenfalls viel zu tun gehabt und bereits mehr Kaffee intus, als eigentlich gut für ihn war. Trotzdem brauchte er auch weiterhin all seine Sinne. Das bequeme Polster tat Tomas‘ alten Knochen zwar gut, würde er jedoch zu lange darin sitzen bestünde die Gefahr, dass er einschlafen könnte.

„Tut es nicht.“ Schnell stand Noah auf und bat seinen Assistenten vor der Tür, Kaffee für seinen Gast und sich zu machen.

„Momentan hat wohl jeder viel zu tun.“ Neben den beiden waren besonders die Bibliothekare schwer beschäftigt. Denn alle Mitglieder der Tafelrunde wurden in ein bestimmtes Buch eingetragen. Darin aufgelistet waren Name, Geburts- und Todesdatum sowie die Dauer der Mitgliedschaft bei der Tafelrunde und der Aufgabenbereich. Selbstredend wurde jeder Buchstabe mehr gemalt als geschrieben, weshalb sich der Schreiber nicht einen einzigen Fehler erlauben durfte. Früher wurden Bibeln ebenso künstlerisch verziert, doch mit der Erfindung des Buchdruckes ging die Kunst der Schönschrift immer mehr verloren.

„Ich bin mir sicher, die Abwechslung tut ihnen ganz gut.“ Obwohl Noah Bücher mochte, stellte er es sich nicht gerade spannend vor, den ganzen Tag in der Bibliothek Patrouille zu laufen.

„Abwechslung ist ein gutes Stichwort. Stimmt es, dass sie das Anwesen ihrer Familie aufgeben und in eine Wohnung im Vatikanstaat ziehen wollen?“

„Ihnen entgeht aber auch nichts“, gab Noah mit einem gekünstelten Lächeln als Antwort. „Allerdings ist es nicht das Anwesen meiner Familie, meine Familie liegt in einem Armengrab hier in Rom begraben. Dieses Anwesen gehörte dem Mann, der mich damals aus dem Waisenhaus mitgenommen hatte.“ Mehr waren die Pucciareli-Familie und William für ihn nicht. „Und mit Williams Tod möchte ich mit diesem Kapitel abschließen.“

„Ich fürchte nur, so einfach wird das leider nicht.“

„Und wieso nicht?“ Noah blieb ruhig.

„Weil ich noch ein paar Fragen bezüglich Ihres Vaters und dessen Vorhaben habe.“

„Wenn Sie fragen wollen, ob ich davon wusste oder es geahnt habe, kann ich Ihnen die Mühe sparen. Nein, habe ich nicht.“

„Davon bin ich auch nicht ausgegangen. Ich habe jedoch die Vermutung, dass er nicht allein agiert hat.“

„Gibt es etwa Hinweise auf einen Komplizen?“ Noah war froh, nicht aufgeflogen zu sein, dennoch durfte er bei dem erfahrenen Ermittler nicht unvorsichtig werden. Immerhin hatte Tomas Galati in seiner Laufzeit über 300 Verräter innerhalb des Ordens gefasst. Bei dieser Zahl waren noch nicht einmal die vier Splittergruppen, die sich um 1990 bis 2010 gebildet hatten, mitgerechnet, die er ebenfalls zerschlagen hatte. Mit den Gruppen zusammen hatte er über 900 Verräter am Orden ihrer gerechten Strafe zugeführt.

„William war ein guter Schwertkämpfer, keine Frage, aber sich allein in Da Silvas Villa zu schleichen? Ich bezweifle doch stark, dass er das in seinem Alter hinbekommen hätte. Darum wollte ich Sie fragen, ob vielleicht jemand Verdächtiges des Öfteren im Anwesen ein- und ausgegangen ist?“ Hinter Tomas öffnete sich die Tür und der Assistent kam mit zwei Tassen frisch aufgebrühtem Kaffee auf einem Tablet zurück. Mit Zucker und Milch stellte er es auf den Tisch und verließ den Raum wieder.

„Nicht dass ich wüsste, ich bin aber, wie gesagt, auch nicht dauerhaft dort gewesen, anders als William.“ Noah nahm sich die Tasse, die ihm am nächsten stand, und nahm nach kurzem Pusten einen kleinen Schluck. Obwohl es Mitte Juni war, herrschten vor den Fenstern seines Büros gerade einmal 10 Grad Das Heißgetränk wärmte seinen Körper daher angenehm auf.

„Das stimmt wohl, William hat das Anwesen ja fast nur noch für Versammlungen verlassen.“ Nachdenklich nahm auch Tomas einen Schluck.

„Kann ich Ihnen sonst noch irgendwie helfen?“

„Überprüfen Sie die neuen Mitglieder der Tafelrunde bitte auf Herz und Nieren.“ Tomas nahm noch einen großen Schluck.

„Das habe ich vor.“

„Sehr gut, dann lasse ich Sie mal in Ruhe weiterarbeiten.“ Unter Gelenkschmerzen stand der Leiter der Inquisition langsam auf.

„Warten Sie, ich helfe Ihnen.“ Noah eilte um den Tisch, um seinem Gast eine helfende Hand zu leihen.

„Danke, wenn ich Ihnen zum Abschluss noch einen Rat mit auf den Weg geben dürfte: Nehmen Sie sich vor Ralph Spadaro in Acht.“

„Wieso das denn? Ralph ist meine rechte Hand, ich vertraue ihm blind.“

„Er ist immer in Ihrer Nähe, Sie verlassen dieses Gebäude selten ohne ihn, wenn Sie es tun, weiß er vermutlich Bescheid.“ Obwohl Tomas Ralph verdächtigte, hegte er weiterhin keinen Verdacht Noah gegenüber.

„Ich kann Ihnen versichern, er arbeitet für mich und nicht für meinen Vater, wenn Sie dass befürchten.“ Noah fiel es leicht, den Ahnungslosen zu spielen.

„Sind Sie sich da sicher? Soweit ich weiß, war es Ihr Vater, der Ihnen Ralph an ihre Seite stellte.“

„Mein Vater hat ihn mir damals vorgestellt, als ich Teamleiter wurde.“

„Kam Ihnen jemals etwas komisch an ihm vor? Hat er sich je verdächtig verhalten?“

„Nicht dass ich mich erinnern könnte.“ Noah tat so, als hätte er seine Zeit mit Ralph im Kopf Revue passieren lassen und nach Unstimmigkeiten gesucht. „Aber ich kann ja mal darüber nachdenken und Ihnen Bescheid geben, sollte mir noch etwas einfallen.“

„Vielen Dank.“ Diesmal ging Tomas endgültig.

„Überwache Tomas Galati, sollte er unserem Vorhaben gefährlich werden, müssen wir ihn ausschalten.“ Ein paar Minuten, nachdem der Leiter der Inquisition gegangen war, bestellte Noah seine rechte Hand in sein Büro.

„Hat er bereits Beweise?“ Ralph würde sein Leben sofort aufgeben, selbst wenn es eine Sünde wäre, für Noah würde er sie begehen.

„Sah nicht so aus, ich schätze, vielmehr ist es eine Vermutung von ihm. Dennoch müssen wir vorsichtig sein. Ich wollte ihn eigentlich nicht töten, wenn ich mein Vorhaben aber nur so weiterführen kann, muss es wohl sein.“ Noah hatte Respekt vor Galati und würde ihn gerne in seiner gerechten Kirche willkommen heißen, doch sein Job machte es schwierig.

„Verstanden.“ Ralph verließ das Büro wieder.

Selbst nach einer Stunde hatte der Kaffee nicht den gewünschten Effekt auf Tomas. Da ihm noch immer fast die Augen zufielen, entschied er sich, für diesen Tag Feierabend zu machen und zu Hause etwas Schlaf nachzuholen.

Es war Mittag des nächsten Tages, Generalissimo Tomas Galati war noch immer nicht im Büro erschienen. Cecilio Zerbini, seine rechte Hand, machte sich Sorgen und schickte daher zwei seiner Leute zu der Wohnung des Dirigente General, um nach dem Rechten zu sehen. Als dieser auch nach mehrmaligem Klopfen die Tür nicht öffnete, brachen sie mit der Erlaubnis Zerbinis die Tür auf. Lange brauchten sie nicht zu suchen. Tomas lag friedlich in seinem Bett und war für immer eingeschlafen.

In der folgenden Untersuchung stellte sich heraus, dass er für sein Alter zu viel Koffein im Blut hatte. Als er sich daher zum Schlafen hingelegt hatte und sein Körper runtergefahren war, hatte sein Herz aufgehört zu schlagen und er war friedlich entschlafen.

Für Noah war es kein Zufall. Er sah es viel mehr als die Hilfe Gottes und ein Zeichen des Allmächtigen dafür, dass er das Richtige tat.

Kapitel 2

Brot und Spiele

2 Jahre später:

In hohem Bogen wurde Nobu von seiner Freundin durch die Luft gewirbelt. Nachdem Hannah einer Kombo von Nobu auswich, packte sie ihn am Kragen, stemmte ihr linkes Bein in seinen Magen und ließ sich fallen. Dabei streckte sie ihr Bein aus und warf Nobu gut einen Meter weit. Die Matte, auf der er aufkam, drückte ihm die Luft aus der Lunge.

Gebückt eilte Hannah zu ihrem Freund und packte seinen Hals mit den Oberschenkeln. So fest sie konnte drückte sie zu und verhinderte, dass er neue Luft in seinen Körper saugen konnte.

Kurz versuchte er sich noch zu wehren. Den verzweifelten Versuch, ihren linken Oberschenkel von seinem Hals zu ziehen, gab er nach fünf Sekunden auf. Durchtrainiert, wie ihre Beine waren, hätte Nobu noch vier zusätzliche Arme gebraucht, um sich zu befreien. Er wusste, es hatte keinen Sinn weiterzukämpfen. Wäre es ein echter Kampf auf Leben und Tod, hätte Hannah ihn nicht nur in den Schwitzkasten gepackt, sondern auch auf seinen Kopf eingeschlagen.

Nobu wusste, dass er verloren hatte, als Zeichen seiner Aufgabe klopfte er mit der flachen Hand dreimal auf ihren Oberschenkel. Sofort löste Hannah ihren Würgegriff und setzte sich im Schneidersitz neben ihren Freund. Außer Puste sah sie ihm dabei zu, wie er röchelnd nach Luft rang.

„Alles klar bei dir?“, fragte sie besorgt. Ihre weißen Haare glänzten leicht silbern.

„Klar, ich wurde nur gerade von meiner Freundin durch die Luft geworfen und fast erdrosselt, also alles bestens“, antwortete Nobu sarkastisch.

Seine kurzen braunen Haare klebten an seinem Kopf. Ihr allererster Kampf an seinem ersten Tag an der Akademie war der einzige, den Nobu gewinnen konnte. Was nicht verwunderlich war, da er nach seinem Abschluss vor zwei Jahren nur noch ab und zu mit seiner Freundin trainierte. Sie hingegen wurde fünf Tage die Woche von ihrer Ausbilderin beim Militär an ihre körperlichen Grenzen getrieben.

„Supi, dann können wir ja weitermachen.“ Euphorisch sprang sie auf und täuschte einen erwartungsvollen Blick nach unten vor.

„Vergiss es.“ Er schnappte nach einem ihrer Beine, um sie wieder auf den Boden zu bringen. Sie jedoch war schneller und zog ihr Bein weg, bevor er es zu fassen bekam. „Müsste das Essen nicht bald fertig sein?“ Neben der Treppe hing eine analoge Uhr, auf die er kurz schaute. Der Trainingskeller der Arns war noch genauso eingerichtet wie vor zwei Jahren, nichts hatte sich verändert.

Auf der Matte für Sparrings in der Mitte des Raumes hatten die beiden gerade trainiert. An der Wand standen zwei Laufbänder und in der Ecke hing ein Sandsack von der Decke. An der Wand gegenüber der Laufbänder führte die Treppe nach oben und in der anderen Ecke stand eine Hantelbank mit den verschiedensten Gewichten. Auf der Seite der Treppe standen ein Regal für Kurzhanteln und eine Bank zum Hinsetzen an der Wand. Im Schrank gegenüber der Bank wurden alle möglichen Utensilien aufbewahrt, daneben lagen einige Gymnastikbälle.

„Stimmt.“ Hannah hatte hinter sich nach den Zeigern der Uhr gesehen. Acht Minuten nach Sechs. Um halb sieben sollte laut ihrer Mutter und ihrer Schwester das Abendessen fertig sein.

„Geh ruhig schonmal duschen, ich brauch noch kurz.“ Jegliche Form von Intimität hatte Melinda, Hannahs Mutter, den beiden verboten. Als strenge Katholikin hielt Hannah sich an dieses Verbot, auch nachdem sie volljährig war. Erst mit 24 sollten die beiden körperlich intim werden, so ihre Mutter. Nicht einmal zusammen duschen durften die beiden.

„Okay, dann bis gleich.“ Sie beugte sich nach unten und küsste ihren Freund auf den Mund. Der Pferdeschwanz, zu dem sie ihre inzwischen langen Haare gebunden hatte, kitzelte ihn dabei am Hals, der vom Schwitzkasten noch immer schmerzte. Durch die langen, kalten Winter und die trockene Luft waren ihrer beider Lippen über die Zeit spröde geworden.

Nach einer schnellen eiskalten Dusche half Nobu seiner Freundin dabei, den Tisch für die vier zu decken. In den letzten Stunden hatten Hannahs Schwester Amy und ihre Mutter in der Küche ein köstliches Chili zubereitet. Das Mindeste, das Nobu und Hannah tun konnten, war, den Tisch zu decken und danach den Abwasch zu übernehmen. Seit ihrem Abschluss hatten beide nochmal einen Wachstumsschub gehabt. Anders als zuvor war Hannah nun zwei Zentimeter größer als ihr Freund, der mit seinen 1,72mMetern für einen Japaner dennoch überdurchschnittlich groß war.

Als um 19 Uhr alle aufgegessen hatten, machte jeder sich zum Ausgehen bereit. Einmal im Monat gab es in den Theatern Roms nämlich eine Aufführung. Die Hälfte der Karten dafür konnten gekauft werden, die andere Hälfte wurde verlost, damit auch Menschen mit weniger Geld eine Chance hatten.

Melinda, die definitiv keine Geldsorgen hatte, hatte vor einigen Wochen vier Karten gekauft. Es war endlich mal etwas anderes. Auch wenn sie nicht jedes Wochenende zu viert verbrachten, sahen alle Wochenenden, die sie gemeinsam verbrachten, gleich aus. Wenn sie mal Essen gingen, war es etwas Besonderes. Normalerweise aßen sie zusammen und spielten im Anschluss bis spät in die Nacht Brett- oder Kartenspiele. Videospiele waren im Hause Arns nie verboten, doch das Interesse dafür hatte einfach gefehlt. Filme oder Serien, die im Fernsehen liefen, gab es keine mehr, und auch hier besaß die Familie nur wenige in DVD-Form. Hier und da sorgte ein Sportereignis aus einem der anderen Länder für Unterhaltung. So etwas wie das Theater blieb dennoch etwas Besonderes.

Ohne Make-Up aufzutragen, waren alle innerhalb von wenigen Minuten fertig, das Haus zu verlassen. Dennoch ließ Melinda es sich nicht nehmen, sich für solch einen besonderen Anlass herauszuputzen. Sie trug ein bodenlanges, schulterloses, hellgraues Kleid. An den Beinen war der Stoff sehr weit und schränkte sie in der Bewegungsfreiheit kein Stück ein. Auch um den Bauch war der Stoff weit, doch eine Schnur um ihre Taille zeigte ihre wahre Figur darunter. Gehalten wurde das Kleid von ein wenig Stoff um ihren Hals herum, der mehr an den Stoff einer Strumpfhose erinnerte, so durchsichtig wie er war. Um dennoch nicht zu frieren, trug sie ein dünnes Jäckchen über ihren schneeweißen Schultern.

Amy hatte sich bei weitem nicht so herausgeputzt wie ihre Mutter. Sie trug einen schlichten beigen Rock, der von einem schmalen Ledergürtel gehalten wurde, und einen senfgelben Pullover mit Schnürung über ihrer Brust. Die Enden des Pullis hatte sie in den Rock gesteckt.

Sowohl Nobu als auch seine Freundin Hannah trugen in etwa dasselbe wie bei ihrer Abschlussfeier. Ein weißes Hemd, darüber eine blaue Weste bei Nobu und eine dunkelgraue Weste bei Hannah, dazu eine dunkle Hose.

Draußen vor der Tür erkannte Nobu, dass Melinda für diesen Abend keine Kosten und Mühen gescheut hatte. Selbst eine Kutsche hatte sie organisiert.

„Bitte sehr.“ Der Kutscher stieg von seinem Sitz am vorderen Ende der Kutsche, ging zur Seite und öffnete die Kabinentür.

„Vielen Dank.“ Die schöne Frau, wegen der der Kutscher rot wurde, stieg unter dem Klicken ihrer Absätze als Erste in die Kutsche.

„Danke.“ Amy folgte ihr auf dem Fuße, auch an ihren Füßen klickten Absätze.

Im Vergleich dazu stiegen Hannah und Nobu fast schon lautlos ins Innere.

„Danke,“ sagte Nobu, der als Letzter einstieg. Noch bevor er saß, wurde die Tür hinter ihm geschlossen und der Kutscher machte sich wieder auf zu seinem Platz.

Gegenüber von Nobu hatte Amy Platz genommen, neben ihm seine Freundin. Melinda saß ihm dementsprechend schräg gegenüber. Sie hatte ihre Beine unter dem Kleid übergeschlagen, wodurch der Stoff vorne leicht in die Luft gehoben wurde und das glänzende Weiß ihrer Stiefel zu sehen war.

Die Kutsche setzte sich in Bewegung. Mit einer Schnur war eine einzelne Glühbirne an der Decke befestigt. Der Lampenschirm, der sie umgab, war wunderschön verziert. Durch die Bewegungen der Kutsche schwang die Lampe hin und her. Vor den Fenstern waren lichtundurchlässige Gardinen gezogen. Da die Lampe die einzige Lichtquelle in der kleinen Kabine war, schien ihr Licht zwischen den vier Insassen herumzutanzen.

„Worum geht es in dem Stück?“, fragte Amy und brach damit die Stille.

„Das weiß wohl noch niemand, scheinbar soll es eine Überraschung sein,“ antwortete ihre Mutter.

„Ja, angeblich wollen die Betreiber so Spannung erzeugen,“ sagte Hannah neugierig.

„Na, ob das gut geht, wenn man nicht mal weiß, ob einem das Stück gefällt oder nicht,“ meinte Nobu als Einziger skeptisch.

„Bisher habe ich noch nichts Schlechtes über die Aufführungen gehört. Die Leute, die bereits eine gesehen haben, fanden es gut.“ Amy schaffte es, mit so gut wie allen ins Gespräch zu kommen.

Mit der Kutsche dauerte es etwa 35 Minuten bis zum Theater, für das Melinda die Karten erworben hatte. Da die Kutsche von vornherein nur vielleicht 15 Kilometer in der Stunde fuhr, war selbst das abrupte Stehenbleiben kaum zu spüren. Die Tür öffnete sich und das warme Licht der untergehenden Sonne blendete sie alle. Die Lampe, die mit der Zeit ein Muster in ihren Schwingungen bekam, war kein Vergleich.

Beim Einsteigen war Nobu der Letzte, beim Aussteigen der Erste. Draußen hielt er seiner Freundin die Hand hin, die sie prompt als Stütze nahm.

„Danke.“ Sie schenkte ihm ein warmes Lächeln.

Auch Amy hielt er die Hand hin, die sie auch dankend annahm. Melinda hätte er die Hand am liebsten in dem Moment weggezogen, als sie sie annahm, ließ es aber des Waffenstillstands wegen, den die beiden hatten, bleiben. Bedankt hatte sie sich dennoch nicht.

„Vielen Dank für die angenehme Fahrt.“ Dem Kutscher dankte sie dafür umso mehr. „Lasst uns direkt reingehen, in 10 Minuten geht es los.“ Nobu komplett hinter sich lassend, lief Melinda zu ihren Töchtern und ging mit ihnen ins Innere. Sie mochte Nobu zwar nach wie vor nicht unbedingt, inzwischen hatte sie jedoch den Fakt akzeptiert, dass er mit ihrer Tochter zusammen war.

Nobu unterdrückte den Reflex, sich zum Dank zu verbeugen, wie es in Japan, seinem Heimatland, üblich war, und reichte dem Mann stattdessen die Hand, die sofort geschüttelt wurde.

„Immer wieder gern.“ Er hatte einen kräftigen Händedruck. „Viel Spaß bei dem Stück,“ wünschte er noch zum Abschied.

Der Theatersaal war es bereits sehr voll. Nobu schätzte das etwa 90 Prozent der Plätze besetzt waren.

Ihre Sitzplätze befanden sich in der Mitte der 12. Reihe. Auf dem Weg dorthin kamen Nobu einige Gesichter bekannt vor, woher wusste er aber nicht genau. Daher nahm er an, dass sie aus seiner Kirchengemeinde sein mussten und sie sich bei den Gottesdiensten bereits über den Weg gelaufen waren. Jeden Einzelnen von ihnen, so hoffte er zumindest, grüßte er mit einem Kopfnicken.

In den letzten zehn Minuten bis 20 Uhr füllte sich auch der letzte freie Platz. Pünktlich wie ein Uhrwerk erlosch das Licht im Saal und Scheinwerfer warfen ihre Lichtkegel auf den roten Vorhang vor der Bühne. Dieser öffnete sich lautlos und gab das Bühnenbild sowie einige Darsteller preis.

Von einem altertümlichen Steinbalkon in der linken oberen Ecke schaute ein Mann auf die künstlichen Bäume herab. Zwitschernde Vögel erfüllten den Raum und einer von ihnen landete sogar auf dem Zeigefinger des Mannes.

Akt 1 dauerte etwa 50 Minuten und wurde mit tosendem Applaus verabschiedet. Die zehn Minuten Pause, die darauf folgten, schienen sowohl Nobu als auch seinen Begleiterinnen ein wenig zu kurz, um allen Anwesenden einen Gang auf die Toilette zu ermöglichen. Dennoch wagten einige das Risiko, nicht rechtzeitig zum Beginn des zweiten Aktes wieder auf ihrem Stuhl zu sitzen.

Diejenigen, die geblieben waren, unterhielten sich angeregt über das, was bisher passiert war. Doch egal, was Nobu mitbekam, alle waren ausnahmslos begeistert von dem Stück, so auch er. Er war bereits gespannt, wie es weitergehen würde.

Wieder dimmte sich das Licht im Saal, bis es komplett dunkel war. Die Scheinwerfer warfen erneut ihre Kegel auf den Schauplatz des Stücks, der noch von einem dicken Vorhang verhüllt wurde.

Auch nach einer Minute hatte sich der Vorhang nicht geöffnet.

„Was ist denn nun?“, fragte eine Frau ein paar Reihen hinter Nobu. So leise, wie es war, hatte vermutlich der halbe Saal ihre Frage verstanden.

„Vielleicht ein technisches Problem,“ sagte ein Mann zu der Frau. Auch das bekam der halbe Saal mit und drehte sich erst zu den beiden und dann wieder nach unten.

„Da jetzt,“ sagte ein andere Mann.

„Seid doch mal ruhig,“ dachte Nobu sich.

„Shht,“ fuhr ein anderer Zuschauer den Mann an.

Tatsächlich öffnete sich der Vorhang einen Spalt breit und einer der Darsteller trat hindurch.

„Meine Damen und Herren. Hier aus dieser Stadt, aus Rom, kam die Redewendung ,Brot und Spiele‘. Damals hat der Kaiser selbst der armen Bevölkerung die Möglichkeit geboten, für einige Stunden der Realität zu entfliehen.“ Seine Stimme wurde dank des Mikros an seinem Hals in jeden Winkel des Saals gesendet.

„Hier stimmt was nicht,“ flüsterte Nobu seiner Freundin zu.

„Meinst du, das gehört nicht zum Stück?“ Jetzt, wo Nobu es sagte, fand auch sie es merkwürdig.

„Nein.“

„Wie schon die Menschen vor 2.000 Jahren fallt auch ihr auf diesen billigen Trick herein, mit dem die Großmeister des Ordens euch von all den Dingen ablenken wollen, die in Rom, in der Welt nicht funktionieren. Ihr seid Narren.“ In dem Moment zückte er eine Pistole und richtete sie auf die Zuschauer.

„Runter.“ Mit aller Kraft drückte Nobu Hannahs Kopf nach unten hinter den Sitz der Reihe vor ihr.

Keine Sekunde zu spät, ein Schuss nach dem anderen hallte durch den Raum. Die Sitze waren fast ausschließlich aus Stoff, trotzdem hoffte Nobu, dass sie die Kugeln zumindest ein bisschen aufhalten würden. So weich sie auch waren, bei einem Treffer konnten sie den Unterschied zwischen Krankenhaus und Leichenhalle ausmachen.

„Ich selbst war lange genug Werkzeug dieses Systems, doch hier und jetzt werde ich einen Weckruf an euch alle starten.“ Er feuerte weiter wahllos in die Reihen.

„Spinnt der Typ jetzt völlig.“ Melinda hatte Amy ebenfalls hinter den Sitzen in Deckung gebracht.

„Wenn er so weiter feuert, hat er bald keine Munition mehr,“ sagte Hannah.

Nach zwei weiteren Schüssen hörte der Beschuss tatsächlich auf.

„Jetzt nichts wie weg hier.“ Hannah sprang auf und wollte nach draußen rennen.

„Warte.“ Nobu zerrte sie aber wieder nach unten.

„Wir leben für Gott und wir sterben für Gott. Amen.“ Der letzte Schuss ertönte.

Dank des Geschreis der anderen Leute konnte Nobu nicht hören, was als nächstes passierte. Darum lugte er vorsichtig zwischen zwei Sitzen hervor.

Als wäre nie etwas gewesen, stand er auf und hielt Hannah die linke Hand hin, um ihr aufzuhelfen. Den Blick hielt er dabei weiterhin nach unten gerichtet. Hannah sah in seinen schwarzen Augen eine Kälte, die sie an ihr erstes Treffen erinnerte. Nur fehlten, anders als damals, der Hass und die Wut.

Nobus Blick folgend sah Hannah den Schützen.

Auf der einen Seite seines Kopfes klaffte ein riesiges Loch. Blut, Schädelfragmente und Gehirnmasse waren überall verteilt. Die Pistole hielt er noch immer fest in der rechten Hand.

„Ist jemand von euch verletzt?“ Nobu schaute seine drei Begleiterinnen an.

„Nein.“

„Äh,“ Amy schaute an sich herunter. „Nein.“ Sie zitterte am ganzen Körper, von den vieren war sie die Zartbesaitete und nicht daran gewöhnt, dass auf sie geschossen wurde. Anders als der Rest der Familie und Nobu hatte sie zuvor nie Todesangst erlebt. Das letzte Jahr der Akademie war für sie zwar erfüllt mit Trauer, da sie den ein oder anderen Freund verloren hatte, doch selbst war sie nie in Gefahr.

Melinda schüttelte nur den Kopf, dabei hatte sie dieselbe Kälte wie Nobu in ihren Augen. „Lasst uns endlich hier raus und dann nichts wie ab nach Hause.“ Sie legte ihrer zitternden Tochter ihre Jacke über die Schultern und nahm sie in den Arm. Auf dem ganzen Weg nach Hause wich sie nicht von ihrer Seite. „War das schon wieder einer von diesen skurrilen Selbstmorden?“, überlegte Melinda. „Aber was er gesagt hat, war nicht ganz falsch, diese Theateraufführungen sind nichts anderes als Brot und Spiele aus der Antike. Auch wenn ich keine Ahnung habe, wovon sie ablenken sollen.“

Kapitel 3

2 Jahre

Wie jeden Sonntagmorgen stand auch an diesem Sonntag der Besuch des Gottesdienstes an. Da Nobu nicht mit Hannah zusammenlebte, sondern eine kleine Wohnung am Stadtrand bewohnte, traf er sich mit den drei Frauen eine Viertelstunde vor Beginn außerhalb der Kirche. Amy lief bereits vor, da sie als Orgelspielerin an ihrem Platz sein musste, bevor es wirklich losging. Melinda, Hannah und Nobu unterhielten sich vor der Kirche noch kurz und gingen dann ebenfalls nach drinnen.

Nach wie vor machte Nobu alles nur als eine Art Ritual, den Glauben dahinter teilte er selbst nach drei Jahren nicht. Er machte das Kreuzzeichen mit Weihwasser an den Fingerspitzen, stand auf, wenn der Pfarrer die Kirche betrat, kniete sich hin, wenn alle es taten. Sogar einige der Lieder konnte er inzwischen auswendig mitsingen. Aber selbst nach all dieser Zeit war der wöchentliche Gottesdienst für Nobu die langweiligste Zeit der gesamten Woche. Zwar war es nicht so, wie er immer gedacht hatte. Es waren nicht immer dieselben Phrasen, Gebete und Lieder. Jeder Gottesdienst war, außer vom allgemeinen Ablauf her, etwas anderes, und auch wenn ihm einige der Lieder tatsächlich gefielen, fand er keinen Gefallen an Gottesdiensten. Jedes Mal, wenn der Prediger die heilige Messe beendete, war Nobu heilfroh, endlich raus zu dürfen. Hannah und ihre Familie hingegen hörten voller Hingabe den Worten des Pfarrers zu.

Für den Kardinal und Großmeister Kalix Dimos bedeutete der Sonntag nicht im Geringsten, Ruhe und Frieden. Es war Nachmittag und Kalix begleitete gerade fünf Männer aus seinem Büro. Alle fünf waren Teamleiter des Ordens. Seit dem Tod von Thales vor sieben Monaten traf Kalix sich regelmäßig Sonntagnachmittags mit Teamleitern. Offiziell lud er sie ein, weil er mit ihnen ein entspanntes Gespräch führen wollte. Thema dabei war jedes Mal der Bildungsstand der Akademieabgänger und ob es etwas gäbe, das manche Klassen bereits in der Schule lernen sollten und nicht erst in der Ausbildung.

Oftmals, so auch an diesem Tag, saßen sie stundenlang zusammen und redeten. Die Walnüsse von seinem im vatikanischen Garten gepflanzten Walnussbaum gab es dabei als Snack. In Wirklichkeit traf er sich jedoch mit ihnen, um nach potenziellen Verbündeten im Kampf gegen Noah zu suchen. Etwas, das er ihnen natürlich nicht sagte. Stattdessen fand er ihre Einstellung zu manchen Themen heraus und wusste danach, ob sie für oder gegen Noah waren. An diesem Tag jedoch war niemand dabei, bei dem er sich sicher war.

Während er mit seiner linken Hand zwei Nüsse knackte, holte er mit der rechten die Akten der fünf Männer aus seiner Schreibtischschublade. Er breitete sie auf dem Schreibtisch aus, bevor er jedoch weitermachte, puhlte er die Kerne der Nüsse aus seiner Hand. Die Bruchstücke der Schale schmiss er in eine zweite Schüssel auf seinem Tisch. Aufgrund des langen Meetings zuvor war sie bereits bis zur Hälfte gefüllt.

„Noch 10 Sekunden!“, brüllte Oberst Holler ihren 15 Rekruten entgegen. Sie alle hielten bereits seit einer Minute und 50 Sekunden den Unterarmstütz. „Noch 5, 4, 3, 2, 1. Aufstehen!“ Alle 15 sprangen auf, standen stramm und warteten auf weitere Instruktionen.

„20 Hampelmänner, na los.“ Sie kamen sofort. Mit ihren 1,75 Metern wurde Holler von vier der Rekruten übertroffen, was die Körpergröße anging. „De Vito, nicht einschlafen!“ Oberst Holler brachte sie immer weiter an den Rand der Erschöpfung. „Da ihr noch nicht ganz wach zu sein scheint, geht es jetzt im Entenlauf ab zum Stall!“ Respekt, aber auch Angst waren beides Gefühle, die jeder neue Rekrut früher oder später für die Ausbilderin empfand. Trotz ihres strengen Dutts und einer Art, sie alle allein mit ihrem Blick in Grund und Boden zu starren, wusste sich bei ihr jeder in guten Händen. Niemand zweifelte daran, dass sie wusste, wie weit sie jemanden treiben konnte, bevor er oder sie daran zerbrach.

Besagter Pferdestall war zweihundert Meter von der Ausgangsposition des Trupps entfernt. Noch nicht mal bei der Hälfte angekommen, brannten Hannah und ihren Teamkollegen schon die Beine.

„Sehr schön, da ihr jetzt alle wach seid, kümmert ihr euch jetzt um die Pferde. Weitere Instruktionen folgen.“

„Jawohl,“ kam es von allen Rekruten simultan.

Das einzig Schöne an der aktuellen Lage auf der Erde waren die kühlen Temperaturen im Sommer. Trotz des wolkenlosen Himmels und der strahlenden Sonne war das Ausreiten angenehm. Sowohl Hannah als auch ihr Pferd kamen bei 15 Grad nicht sonderlich ins Schwitzen.

Seit drei Jahren lernte jeder Soldat in der Ausbildung anstatt des Fahrens eines gepanzerten Humvees das Reiten von Pferden. Hannahs Schwester Amy war dabei eine von vielen Lehrern.

„Ruhig, ruhig.“ Amy streichelte die schwarze Mähne eines nervös auf der Stelle tretenden Pferdes, um es zu beruhigen. „Du musst ruhig bleiben, Pferde können die Gefühle der Menschen hervorragend fühlen und spiegeln sie oft wider. Du brauchst aber keine Angst zu haben“, versuchte sie nun auch den 18-jährigen Anatolio zu beruhigen. Nach den Sommerferien würde er zur Polizei gehen und wollte vorher bereits reiten lernen, um seinen Azubi-Kollegen etwas vorauszuhaben. Als er dann jedoch zum ersten Mal vor einem ausgewachsenen Pferd stand, wurde er nervös. Der eindrucksvolle Calabreser überragte den jungen Mann um einiges. Da es momentan aber eines der gängigsten Pferde der Polizei war, dachte Amy, es wäre das perfekte Übungspferd. Mit seinem schwarzen Fell an den Füßen schien das ansonsten braune Tier Stiefel zu tragen. Ob das ein Grund für die Polizei war, gerade diese Rasse zu nutzen, wusste Amy nicht. Das Pferd spiegelte auf jeden Fall die Emotionen Anatolios fast augenblicklich.

„So ist es gut, du brauchst keine Angst zu haben“, sagte Amy zu dem Pferd, während sie weiter durch dessen Mähne fuhr. „Komm her und streichle ihn“, bat sie nun den Jungen.

„O-okay.“ Unsicher näherte er sich. Zögerlich streckte er die Hand aus, bis er den muskulösen Hals unter seinen Fingern spürte.

„Fahr ihm durch die Mähne, dann fasst er Vertrauen zu dir.“ Um dem Jungen Platz zu lassen, ging Amy ein paar Schritte zurück.

Behutsam fing Anatolio an, durch die Mähne des prächtigen Tieres zu fahren. Mit einem zufriedenen Lächeln konnte Amy erkennen, wie die Nervosität von beiden abfiel.

Aufgrund ihrer einfühlsamen Art kümmerte Amy sich oftmals um Absolventen, die noch nie vor einem Pferd gestanden hatten.

Reitlehrerin war allerdings nur Amys Nebenberuf, ihr Hauptberuf war Programmiererin in der „Opere Trasversali“, der Werkstatt von Yagiz Iannuci. Neben ihrer besten Freundin Tamara arbeitete dort seit zwei Jahren auch Nobu und absolvierte seine Ausbildung als Mechaniker.

Beide waren gerade bei einem Einsatz. Das Bewässerungssystem eines zu einem Gewächshaus umgebauten Blumenladens verteilte auf einer Bahn mehr Wasser, als es sollte.

Zwölf von dreizehn Bahnen funktionierten einwandfrei und bewässerten ihr Hochbeet so, wie sie sollten. Eine allerdings verbrauchte seit einer Inspektion vor zwei Wochen zu viel Wasser.

„Also an den Rohren liegt es schonmal nicht. Die sehen alle gut aus.“ Tamara war das 50 Meter lange Hochbeet abgelaufen und hatte sich alles genau angeschaut. Weder die Rohre noch die Verbindungsstücke hatten Risse oder wiesen in anderer Hinsicht Beschädigungen auf.

Der Geruch nach feuchter Erde und dem verschiedenen Gemüse war überall verteilt und Nobu fand ihn irgendwie beruhigend. Es erinnerte ihn ein wenig an die Zeit, als er mit seinen Freunden auf dem Weg nach Tokyo war. Wie es ihnen wohl gerade ging? Diese Frage stellte er sich öfters.

„Wie viel sollte die Pumpe laut Plan nochmal verteilen?“ Nobu hing mit seinem Laptop am System der Pumpe.

Er war mit einem Schrank direkt neben dem Sicherungskasten verbunden. Auf der einen Hand balancierte er den Laptop, mit der anderen scrollte er durch die ganzen Codezeilen. Da Amy kaum noch in der Werkstatt war, wollte Yagiz, dass Nobu sich ebenfalls mit dem Programmieren auskannte, damit Amy nur noch bei wichtigen Fällen gerufen werden musste. Nicht immer hatten sie eine halbe Stunde Zeit, um zu warten, bis sie vom anderen Ende der Sicherheitszone zum Einsatzort kam. Wenn sie überhaupt kam und nicht von einem Schneesturm behindert wurde. Vor drei Jahren in Rom noch eine Seltenheit, jetzt gab es sie auch im Frühling und Herbst ab und zu. Einzig im Sommer war man vor ihnen sicher.

„Ich besorg die Unterlagen.“ Im Büro des Vorarbeiters holte Tamara einen Ordner, in dem die genaue Menge Wasser nachzulesen war, die jede Pflanze am Tag erhalten sollte. Besagtes Büro war ein Glaskasten, der einige Meter neben den beiden Schränken aufgebaut wurde. Von dort aus hatte der Vorarbeiter freie Sicht auf alle Bahnen und konnte reagieren, sollte einem seiner Arbeiter etwas passieren. „Laut Plan sollen Tomaten einen halben Liter Wasser am Tag bekommen.“

„Dann ist hier der Fehler. Im Programm steht nämlich zwei Liter pro Tag drin.“ Nobu zeigte ihr die Stelle im Programm. Damit sie nicht lange suchen musste, hatte er sie bereits markiert. Und tatsächlich bekamen die Tomaten die vierfache Menge an Wasser, als gut für sie war.

„Wurde vor zwei Wochen vielleicht etwas am Programm geändert?“

„Nicht an der Stelle, zumindest nicht laut Protokoll.“ Das war der Vorarbeiter, in Händen hielt er besagtes Protokoll.

„Egal, ich habe es jetzt wieder auf 500 Milliliter eingestellt. Sollte es dennoch Probleme geben, ist vielleicht etwas mit der Pumpe nicht in Ordnung“, erklärte Nobu dem Mann. „Sollte wieder irgendwas sein, melden sie es bitte.“

„Werde ich, danke.“ Der Vorarbeiter verabschiedete die beiden und ging dann wieder zurück in sein Büro, von dem aus er den beiden nachsah, wie sie das Gewächshaus verließen.

„Du kommst von rechts hinten.“

„Kuso Ttare.“ Gelegentlich kam Nobus Muttersprache noch hervor, auch wenn er mit allen inzwischen Englisch oder Italienisch sprach.

„Wir sollten für heute vielleicht Schluss machen. Wenn du innerlich unruhig bist, schaffst du es nie“, schlug Karla vor, als sie sich die Augenbinde abzog. Um ihre Augen an das wenige Licht zu gewöhnen, blinzelte Karla ein paar Mal. Nicht zuletzt war ihr nach dem langen Sitzen auf den Steinrängen des Kolosseums kalt geworden.

„Noch einmal, diesmal klappt es.“ Nobu wusste genau, dass er im Vergleich von vor einem Monat definitiv besser geworden war. Und wenn es nach ihm ging, bewegte er sich auch schon vollkommen lautlos. Karla schien ihn dennoch hören zu können.

„Na gut.“

Obwohl es Nacht war und dazu noch stockfinster, da selbst der Mond hinter Wolken versteckt war, zog Karla die Augenbinde wieder auf.

„Okay, du kannst.“

Langsam und behutsam lief Nobu los. In Plateaus umkreist er die blinde, vollkommen schwarz gekleidete Karla. Da Karla unwohl dabei war, sich in der Bibliothek, ihrem geheimen Arbeitsplatz, zu treffen, trafen sie sich im Kolosseum. Nachdem die Touristen und üblichen Besuchermassen ausblieben, öffnete man die Sehenswürdigkeit für alle, zu jeder Zeit.

„23, 24, 25,“ zählte Karla in ihrem Kopf herunter. „30.“ Jetzt erst hörte sie auf die Geräusche in ihrer Umgebung und filterte den Klang der Plateaus heraus.

„Du bist zwei Ebenen über mir auf meiner linken Seite.“ Es kostete sie gerade einmal vier Sekunden, um seine Position zu ermitteln.

„Wie machst du das nur? Gib zu, du hast geschummelt.“ Wie versprochen, war es die letzte Runde für die Nacht.

„Jahrelanges Training“, gab Karla als Antwort. „Du bist aber auch schon deutlich besser geworden,“ ermutigte sie ihn, während sie ihm dabei zusah, wie er ihre Schuhe auszog. Denn in Wirklichkeit waren es ihre. Er wollte unbedingt den stillen Schritt lernen, den jeder Bibliothekar laut Karla beherrschte. Dank dieser Technik war es ihnen möglich, sich lautlos und unbemerkt durch die Bibliothek zu bewegen. „Am Anfang konntest du kaum laufen.“ Bei seinem ersten Versuch in den ungewohnten Schuhen wäre er ohne ihre Hilfe hingefallen. „Jetzt kannst du immerhin darin laufen wie in gewöhnlichen Schuhen.“

„Trotzdem hörst du mich jedes Mal.“ Befreit von den Schmerzen, massierte er sich die Füße. Jedes Mal, kaum, dass er die Schuhe anzog, drückten sie auf seine großen Zehen. Auch wenn Karla glücklicherweise Plateauschuhe besaß, waren sie Nobu zwei Nummern zu klein. Länger als eine halbe Stunde am Stück konnte er sie daher nicht tragen.

„Ich habe damals über ein Jahr gebraucht, bis ich es beherrscht habe. Wenn du weiter solche Fortschritte machst, kannst du es in ein bis zwei Monaten.“ Auch wenn sie allein waren, hielt Karla die Lautstärke ihrer Stimme gesenkt.

„Na gut, wenn du meinst.“ Nobu war klar, dass Karla es damals vermutlich direkt mit den 40 Zentimeter hohen Stelzen ihrer Bibliothekarskluft zu tun bekam und deshalb so lange gebraucht hatte. Hätte sie nur mit den Schuhen trainiert, die er jetzt zur Verfügung hatte, dessen war er sich sicher, hätte sie keine Woche gebraucht, um die Technik zu beherrschen. Sich aber weiter darüber den Kopf zu zerbrechen, brachte ihn seinem Ziel nicht näher.

Bevor er ihr die Schuhe zurückgab, klopfte er den Dreck von der Sohle ab. Einigermaßen sauber nahm sie sie entgegen und packte sie in eine mitgebrachte Sporttasche. Selbst hatte sie die Schuhe nur ein paar mal angehabt. Darunter der Tag, an dem sie Nobu die Technik des stillen Schrittes zeigte.

„Morgen um dieselbe Zeit?“ Schon lange hatte sie sich damit abgefunden, dass Nobu ihr Geheimnis kannte. Tatsächlich hatte sie sogar Spaß an ihren Treffen.

Als sie ihn vor einem Monat fragte, für was er die Technik lernen wollte, da es ihm seinem Ziel, Noah zu töten nicht näherbrachte, antwortete er nur: „Eigentlich nichts, aber das Nichtstun macht mich noch wahnsinnig.“

„Ja,“ stimmte Nobu Karla zu.

Gemeinsam verließen sie das Kolosseum, gingen dann jedoch getrennte Wege.

Kapitel 4

Überraschung

Vereinzelt waren Wolken am Himmel, die größte von ihnen sah aus wie eine Schildkröte. In der Wolke links daneben erkannte Kardinal Noah Pucciareli einen Vogel. Doch war er nicht auf den Friedhof gekommen, um die Wolken zu beobachten. Er war dort, um für die Seele von Thales Milano zu beten.

Es war inzwischen sieben Monate her, dass der 92-Jährige an Herzversagen gestorben war. Gott hatte ihn auf die schmerzloseste Weise zu sich geholt. Genauso wie Tomas Galati ließ er seinen treuen Diener Thales Milano friedlich einschlafen und im Paradies wieder aufwachen.

Auch wenn Noah und Thales nicht immer einer Meinung waren, respektierte und bewunderte Noah ihn. Jeden Mittwoch kam er an das gut gepflegte Grab, bildete das Kreuzzeichen und schwieg für eine Stunde, bis die Glocken des Vatikan zur 16. Stunde riefen.

Wenn es regnete, wurde er nass, wenn es schneite, fror er. Doch selbst wenn Frösche in Massen vom Himmel fallen würden, vor dem 16. Glockenschlag würde er nicht von dem Grab weichen. Selbst seinem Adoptivvater William Pucciareli würde er nicht so viel Ehrerbietung entgegenbringen, selbst wenn er ein anständiges Begräbnis bekommen hätte. Doch seit über einem Jahr verschwendete Noah keinen Gedanken mehr an den Mann, der ihn großgezogen hatte. Dem Mann, dank dem er glaubte, er müsste nur einen Platz an der Tafelrunde haben, schon könnte er die Welt so verändern wie er wollte. Stattdessen hatte er seit über zehn Jahren einen Platz an der Tafel, und die Welt, die er sich wünschte, war noch immer weit entfernt. Thales hingegen hatte ihn gelehrt, dass es manchmal besser war, nichts zu tun und stattdessen die Situation von außen zu betrachten. Solange man zu einem späteren Zeitpunkt mit einem klugen Schachzug alles zu seinen Gunsten änderte. Auch wenn das bedeutete, hin und wieder Rückschläge einstecken zu müssen.

Nobus Augen waren auf Karlas Füße fixiert. Die Umgebungsgeräusche hatte er vollkommen ausgeblendet. Sie machte den ersten Schritt, und als die Sohle der Plateaus wieder auf dem Steinboden des Kolosseums aufkam, blieb ein Geräusch aus. Auch bei keinem der anderen Schritte, die sie machte, um ihn einmal zu umrunden, verursachte sie auch nur das kleinste Geräusch. Wäre es so bewölkt wie ein paar Nächte zuvor, hätte sie perfekt mit den Schatten des Kolosseums verschmelzen können, so schwarz wie sie gekleidet war.

„Und, hast du was Neues gelernt?“ Sie kam zu ihm auf die Steinbank und ließ sich zu seiner Rechten nieder.

„Nein, nichts.“ Er hatte sie gebeten, ihm die Technik des stillen Schrittes noch einmal zu zeigen. Weder eine spezielle Abrolltechnik noch eine bestimmte Art, den Fuß anzuheben, konnte er erkennen. Zumindest nichts, was er nicht schon wusste.

„Wie gesagt, ich habe dir schon alles gezeigt und erklärt. Der Rest ist Übungssache.“ Sie zog sich die Schuhe aus und übergab sie an Nobu. Den jungen Mann, in den sie nach all der Zeit noch immer verliebt war. An ihrem linken Zeigefinger konnte Nobu ein Pflaster sehen, entschied sich jedoch dazu, nichts zu sagen.

Auch sie massierte sich die Füße, nicht aber wegen der Schuhe, die sie gerade trug. Die passten ihr wie angegossen und waren bequem. Grund war die Acht-Stunden-Schicht auf den 40 Zentimeter Plateaus, die sie gerade hinter sich gebracht hatte. Die paar Schritte, die sie gerade machte, kamen ihr im Vergleich vor, als würde sie barfuß auf einem Teppich laufen. Auch wenn sie es gewohnt war, schmerzten ihre Füße dennoch ab und zu.

Wissend, welche Schmerzen ihn erwarten würden, zog er sich die zu kleinen Schuhe an. Seine Zehen musste er dabei einziehen. Die Naht, die die Oberseite mit der Sohle verband, drückte seitlich in seine Füße. Seit einem Monat zog er Nacht für Nacht die zu kleinen Schuhe an, jedes Mal hoffte er, keine bleibenden Schäden an seinen Füßen davonzutragen. Gerne hätte Karla ihm Schuhe gekauft, die ihm passten, doch außer Wander-, Arbeits- und Straßenschuhen gab es kaum noch welche im Handel.

Anfangs war es merkwürdig für Nobu, mit 5-Zentimeter-Plateaus überhaupt aufzustehen. Inzwischen war er daran gewöhnt und konnte auch ohne Probleme darin laufen. Nur den stillen Schritt beherrschte er noch nicht so, wie er wollte.

Auch in dieser Nacht konnte Karla ihn die ersten drei Male orten. Beim vierten Versuch allerdings kam etwas stärkerer Wind auf. Karla zählte bis 45 und versuchte, Nobu danach zu orten. Doch der Wind, der das Geräusch der Schritte in die entgegengesetzte Richtung wehte, verhinderte es. Seit Beginn des Trainings vor einem Monat war es das erste Mal, dass Karla ihn nicht ausfindig machen konnte. Freuen konnte Nobu sich jedoch nicht darüber. Wenn er sich irgendwo reinschleichen würde, würde kein Wind gehen, der seine Geräusche hinwegtrug.

„Das war …“ Karla zuckte zusammen. Erschrocken glitt ihr Blick nach rechts. Nobu konnte sehen, wie plötzlich ihr Gesicht im Mondschein anfing zu glänzen. Neugierig folgte er ihrem Blick und sah schnell, warum sie plötzlich so still war. Etwa zweihundert Meter von ihnen entfernt kamen zwei Personen aus einem der vielen Eingänge.

Noch schienen sie Nobu und Karla nicht bemerkt zu haben. Blitzschnell reagierte Nobus Körper und zog Karla an sich heran. Nicht mal ein Laut des Erstaunens wich aus ihrem steifen Körper. Er setzte sich auf die Tribüne, zwei Schritte genügten und die Plateaus waren im ganzen Kolosseum zu hören.

„Verdammt.“ Er konnte sehen, dass die beiden Personen auf sie aufmerksam wurden, jetzt musste es schnell gehen.

Um die Plateauabsätze an seinen Schuhen zu verbergen, setzte er sich in den Schneidersitz und versteckte sie unter seinen Oberschenkeln. Eine Erklärung dafür zu finden, wäre sonst schwierig geworden. Karla wiederrum setzte er auf seinen Schoß, ihr Gesicht zu ihm gewandt.

„Tu so, als würden wir uns küssen.“ Jegliche Reaktion ihrerseits blieb aus und sie war weiterhin steif wie ein Brett. Mit ein wenig Gewalt schob er ihr Gesicht so hin, dass es von den Fremden weg zeigte und sie nur ihren Hinterkopf und die schulterlangen schwarzen Haare sahen. Sein eigenes Gesicht versteckter er hinter ihrem und sorgte dafür, dass ihre Haare es zusätzlich verdeckten.

„Äh-ä,“, stotterte Karla.

„Bleib ruhig.“ Leichter gesagt als getan. Dennoch war es Nobu lieber, man hielt sie für ein Pärchen, als dass jemand ihr wahres Verhältnis erfuhr.

Ihre Gesichter waren nur Zentimeter voneinander entfernt, Nobu konnte sogar ihren angenehm warmen Atem in seinem Gesicht spüren. Sein Hintern jedoch fror auf dem kalten Stein.

„Hier ist schon jemand,“ hörten sie eine Frauenstimme sagen. „Lass uns lieber wieder gehen“, sagte die Frau und packte die Hand ihres Freundes.

Nach einer Minute lugte Nobu hinter Karlas Kopf hervor und sah das Pärchen nicht mehr.

„Sie sind weg“, sagte er zu Karla. Ihr Kopf war hochrot.

„O-okay.“ Langsam stieg sie von ihm runter.

„Besser wir machen Schluss für heute.“ Er stand gar nicht erst auf, sondern begann direkt damit, sich die Schuhe auszuziehen.

„Ja.“ Karla war ebenfalls nicht wohl dabei weiterzumachen. „Willst du morgen weitermachen?“ Sie konnte gerade an nichts anderes denken als daran, wie nah sie gerade einem Kuss mit ihm gewesen war.

„Wahrscheinlich eher nicht, morgen Abend soll es regnen. Wenn du magst, kannst du vorbeikommen und wir machen uns einen schönen Abend.“ Es wäre nicht das erste Mal, ab und an trafen sich die beiden auch so und hatten Spaß zusammen. Wenige Male war sogar Hannah dabei gewesen.

„Normal gerne, momentan habe ich allerdings zu tun.“ Karla nahm ihre Schuhe entgegen und packte sie in die Sporttasche.

„Okay, dann sehen wir uns nächsten Montag. Freitagabend koche ich für Hannah und wir machen uns einen entspannten Abend zu zweit.“ Er durfte nicht vergessen, alles für das Curry, das er kochen wollte, einzukaufen.

Schon am Vormittag verdunkelten düstere Wolken den Himmel. Ohne direkte Sonneneinstrahlung fiel die Temperatur Mitte Juni auf 5 Grad. Oberst Holler hielt es aber nicht davon ab, ihre Übung wie geplant durchzuführen. Aus zwei Metern Höhe mussten die Rekruten in eine Grube voll Sand springen. Da Kerosin sehr wertvoll geworden war, wurden echte Fallschirmsprünge zur Übung unmöglich.

Es war der fünfte Sprung für Hannah an diesem Tag. Sie trug die übliche Ausrüstung für einen Fallschirmsprung. Auf ihren Rücken hatte sie einen Rucksack mit einem Fallschirm geschnallt. Alles war mit einem Geschirr an ihrem ganzen Körper befestigt. Hannah stand auf einem hölzernen Podest, auf dem immer nur ein Rekrut stehen durfte. Ein Schritt trennte sie vom Fall in die Grube. Alles, worauf sie noch wartete, war das Zeichen von Oberst Holler.

Ein Kopfnicken, mehr gab es nicht.

Mit beiden Beinen sprang sie ab, landete und rollte sich augenblicklich ab. Der Sinn der Übung war nicht, die Rekruten auf den Fallschirm und den Gleitflug vorzubereiten. Körper und Kopf sollten sich lediglich daran gewöhnen, auf Kommando zu springen.

Beim Aufstehen schüttelte Hannah sich kräftig, um einen Großteil des Sandes, der an ihr hing, abzuschütteln. Alles wurde sie dadurch nicht los. In ihren Haaren, an und unter ihrer Kleidung blieb noch einiges hängen und gesellte sich zu dem Sand, der schon seit drei Stunden dort klebte. Sich zwischen den Sprüngen zu waschen war nicht erlaubt. Erst am Ende des Tages gab es eine „Dusche“ auf Kosten der Armee.

Nachdem jeder seinen fünften Sprung hinter sich hatte, sollten alle ihre Fallschirme auslösen, den Rucksack absetzen sowie die Montur ausziehen, danach den Schirm komplett ausbreiten.

„Alle bereit?“ Mit einer Stoppuhr in der Hand gab Oberst Holler das Zeichen. „LOS!“

Sofort begannen alle, ihre Fallschirme ordentlich aufzuräumen, sodass er bei einem theoretischen Sprung einsatzbereit wäre. Zusammen mit der restlichen Montur zogen sie ihn wieder an. Sobald der Letzte fertig war, hieß es, mehrere Runden um den Übungsplatz zu laufen, bis sie drei Kilometer hinter sich hatten. Danach sollten sie sich in einer Reihe an der Sprungplattform aufstellen, bevor alles von vorne begann. Diese Prozedur wurde insgesamt 14-mal wiederholt.

„Ausziehen und aufstellen.“ Mit einem Gartenschlauch bewaffnet erwartete der Oberst die Rekruten für die Armeedusche.

Nur in Unterwäsche bekleidet standen alle 15 Rekruten in Erwartung an das kalte Wasser vor ihrer Ausbilderin.

Trotz der Erwartung erschreckte der Wasserstrahl den ersten so sehr, dass er zusammenzuckte.

„Jetzt stell dich nicht so an.“ Holler hatte null Toleranz für Weicheier in der Armee. „Drehen.“

Der Rekrut drehte sich um die eigene Achse, bis der Wasserstrahl nicht mehr auf ihn gerichtet wurde.

„Wegtreten!“ Wer laut dem Oberst sauber war, durfte in Unterwäsche zur Kaserne laufen, sich dort umziehen und danach nach Hause gehen.

Während der dreimonatigen Grundausbildung lebten die damals noch 23 Rekruten in der Kaserne. Jetzt diente sie nur noch als Aufbewahrungsraum für ihre persönlichen Dinge während der Übungen.

Im Eiltempo rannte der Junge los, um so schnell wie möglich in die etwas wärmere Kaserne zu kommen und sich wärmende Klamotten anzuziehen.

Hannah war als sechste an der Reihe. Bei 5 Grad in Unterwäsche darauf zu warten, von einem kalten Strahl Wasser getroffen zu werden, verlangte den anderen mental fast mehr ab als körperlich. Nicht so Hannah, während sie darauf wartete, betete sie und bereitete sich mental darauf vor.

Als der eiskalte Strahl sie dann traf, blieb sie gelassen und hielt ihre Atmung ruhig. Die Schmerzen, die sie gerade fühlte, waren nichts im Vergleich zur Selbstgeißelung, welche ihren Rücken bis heute zeichnete.

„Zopf öffnen.“

Hannah zog den Haargummi aus ihren Haaren und ihre langen weißen Haare fielen störrisch auf ihren Rücken.Sofort richtete Oberst Holler den Gartenschlauch darauf und versuchte so gut es möglich war den Sand auch dort auszuspülen. Aus Erfahrung wusste Hannah bereits, dass sie später zur Bürste greifen musste, um sie wirklich sauber zu bekommen.

„Wegtreten!“ Der Wasserstrahl wurde bereits auf den Rekruten hinter Hannah gerichtet.

In Unterwäsche und klitschnass machte Hannah sich im Laufschritt auf den Weg zur Kaserne. Bei den ersten Malen hatte sie sich geschämt, fast nackt über den ganzen Platz zu rennen. Doch inzwischen hatte sie es akzeptiert. In ihren Augen wurde ihr ihr Körper von Gott gegeben und sie hatte keinen Grund, sich dafür zu schämen. Selbst die Narben, egal, ob die von Luna oder ihr von der Selbstgeißelung vernarbter Rücken, hatte sie inzwischen akzeptiert. Sie waren ein Test des Herrn gewesen, den sie bestanden hatte.

Während ihrer Schicht hatte Karla durch die Fenster bereits gesehen, wie stark es draußen stürmte. Immer wenn stärkerer Wind aufkam, drückte er die Wassermassen gegen die Fenster. Selbst das Zentimeter dicke Glas der Dachkuppel war zu dünn, um allen Lärm draußen zu halten. Ruhe gab es daher schon seit Stunden nicht mehr in der Bibliothek. Besucher hatten Reißaus genommen, sobald die ersten Tropfen fielen. Niemand wollte riskieren, in einem Sturm den Heimweg antreten zu müssen. Dennoch mussten Karla und 100 ihrer Kollegen ihren Dienst antreten und durften nicht vor Ende ihrer Schicht gehen.

Wie gerne hätte sie sich eine oder auch zwei Decken geschnappt, sich ein einigermaßen ruhiges Plätzchen gesucht und ihre Nase in eines der vielen Bücher gesteckt. Ihre Schicht war vorbei, sie konnte machen, was sie wollte. Und was sie definitiv nicht wollte, war, in dem Sturm zu ihrer Wohnung zu laufen. Ihr privates Projekt, an dem sie seit zwei Wochen arbeitete, würde so jedoch nie fertig werden.