Nur die Lumpe sind bescheiden - Andreas Kollar - E-Book

Nur die Lumpe sind bescheiden E-Book

Andreas Kollar

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Beschreibung

Rund um den Lehrstuhl des bekannten Familientherapeuten Helm Stierlin fand sich in den 1980er-Jahren eine Gruppe von Psychologen, Psychotherapeuten, Psychiatern, Medizinern und Philosophen zusammen, die bis heute die Entwicklung der Systemischen Therapie prägen und zu ihrem Erfolg beitragen. Was ist das Erfolgsgeheimnis dieser Heidelberger Gruppe? Andreas Kollar geht der Frage im Gespräch mit dreien der Pioniere und Hauptprotagonisten nach. Gunther Schmidt, Fritz B. Simon und Gunthard Weber beschreiben die Anfänge und die Entwicklung ihrer therapeutischen und beraterischen Arbeit von je unterschiedlichen Standpunkten aus. Das beginnt bei den gesellschaftlichen Ausgangsbedingungen und führt über den theoretischen Rahmen bis zur praktischen Arbeit im Therapieraum. Als Profis, die alle vier Beteiligten sind, lassen sie Analyse und Reflexion dabei nicht zu kurz kommen. Im Ergebnis erfährt man so neben Anekdotischem auch Allgemeingültiges über Paradigmenwechsel und Gruppenprozesse. Kurze Einführungen und Zusammenfassungen geben dem Buch Struktur, Doppel- und Dreierinterviews vermitteln auch ein Gefühl für die Beziehungsdynamik der Protagonisten. Wer die drei kennt, weiß, dass dies kein humorfreies Buch sein kann.

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Systemische Therapie und Beratung

In den Büchern der Reihe zur systemischen Therapie und Beratung präsentiert der Carl-Auer Verlag grundlegende Texte, die seit seiner Gründung einen zentralen Stellenwert im Verlag einnehmen. Im breiten Spektrum dieser Reihe finden sich Bücher über neuere Entwicklungen der systemischen Arbeit mit Einzelnen, Paaren, Familien und Kindern ebenso wie Klassiker der Familien- und Paartherapie aus dem In- und Ausland, umfassende Lehr- und Handbücher ebenso wie aktuelle Forschungsergebnisse. Mit den roten Bänden steht eine Bibliothek des systemischen Wissens der letzten Jahrzehnte zur Verfügung, die theoretische Reflexion mit praktischer Relevanz verbindet und als Basis für zukünftige nachhaltige Entwicklungen unverzichtbar ist. Nahezu alle bedeutenden Autoren aus dem Feld der systemischen Therapie und Beratung sind hier vertreten, nicht zu vergessen viele Pioniere der familientherapeutischen Bewegung. Neue Akzente werden von jungen und kreativen Autoren gesetzt. Wer systemische Therapie und Beratung in ihrer Vielfalt und ihren transdisziplinären und multiprofessionellen Zusammenhängen verstehen will, kommt um diese Reihe nicht herum.

Tom Levold

Herausgeber der Reihe Systemische Therapie und Beratung

Andreas Kollar

Nur die Lumpe sind bescheiden

Eine Autobiografie der Heidelberger systemischen Gruppe

2023

Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)

Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)

Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Dr. Rüdiger Retzlaff (Heidelberg)

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)

Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)

Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)

Jakob R. Schneider (München)

Prof. Dr. Jochen Schweitzer ✝ (Heidelberg)

Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)

Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin ✝ (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Berlin)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)

Themenreihe »Systemische Therapie und Beratung«

hrsg. von Tom Levold

Reihengestaltung: Uwe Göbel

Umschlaggestaltung: B. Charlotte Ulrich

Umschlagfoto: cc pixabay

Satz: Drißner-Design u. DTP, Meßstetten

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Erste Auflage, 2023

ISBN 978-3-8497-0439-1 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8391-4 (ePUB)

© 2023 Carl-Auer-Systeme Verlagund Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Informationen zu unserem gesamten Programm, unseren Autoren und zum Verlag finden Sie unter: https://www.carl-auer.de/Dort können Sie auch unseren Newsletter abonnieren.

Carl-Auer Verlag GmbH

Vangerowstraße 14 • 69115 Heidelberg

Tel. +49 6221 6438-0 • Fax +49 6221 6438-22

[email protected]

Inhalt

Vorwort

Prolog

Auftragsklärung

Was können Leserinnen und Leser für die Zukunft lernen?

1 Die Heidelberger Gruppe im Kontext

Die Protagonisten

Gunther Schmidt

Fritz B. Simon

Gunthard Weber

Helm Stierlin

Der gesellschaftliche Kontext

Der ideelle Kontext

Heidelberg als Hochburg einer psychotherapeutischen Parallelwelt

Heißhunger nach Bewusstseinserweiterung

Erste Anlagen konstruktivistischer Sichtweisen

Der theoretische Kontext

Vom Objekt zum System

Von der Einzeltherapie zur Systemtherapie

Die Macy-Konferenzen und ihre Auswirkungen

Familiäre Kommunikation

Von der Kommunikationstheorie zur Systemik

Zum ersten Mal »systemisch«

Psychose-Therapie als Neuland der Psychotherapie

2 Wir hätten einander nie ausgesucht

Das Team um Helm Stierlin

Die Personalauswahl von Helm Stierlin

Beziehung zu Helm Stierlin

Unterschiede als Grundlage für gemeinsame Entwicklungen

Fallbeispiel »Splittinginterventionen«

Fallbeispiel »Utilisation von Polaritäten«

Fallbeispiel: Alle in der Familie sind gleich viel wert

Arbeitsalltag bei Helm Stierlin – Das Manisch-Depressive-Projekt

Mehrhirndenken im kreativen Prozess

Konstruktivismus als Schutz vor Orthodoxie

Unterschiedliche Perspektiven aus unterschiedlichen Biografien

Die eigene Paarbeziehung als Wegbereiter in die Familientherapie bei Gunther Schmidt

Fritz Simons familientherapeutische Ausbildung in der eigenen Familie

Die »systemische« Wende – Kybernetik zweiter Ordnung

Wie lernt man »systemisches Beobachten«?

Fallbeispiel: Therapie als Schachspiel

Transparenz und Plausibilität in Therapie und Beratung

Fallbeispiel: Paradoxe Intervention

Verdinglichung systemischer Konzepte

Selbsterfahrung und praxisnahe Theorien

Soziale Systeme und die Fokussierung der Aufmerksamkeit

Die sysTelios-Klinik und das sysTelios-Wesen

Die Konflikte der Heidelberger Gruppe und deren konstruktive Wirkung

Gründung des Helm Stierlin Instituts

Wozu schreiben?

Selbstorganisation braucht Organisation

Alles agil, oder was?

Faszination Psychose

3 Gunthard Webers Sicht auf die Chronologie der Heidelberger Gruppe – und ein Herzensprojekt

Der Beginn – 1974

Wie ging es weiter?

Entwicklungen im systemischen Feld und Gründung von Institutionen bzw. Organisationen

Humanitäre Herzensprojekte

4 Unter der Lupe

Organisation von Kongressen als strategische Intervention zur Verbreitung der Konzepte

Konkurrenz unter den Systemikern und Gründung der Systemischen Gesellschaft

Gründung des Carl-Auer Verlags

Aufstellungsarbeit nach Hellinger

Die Beziehung von Systemik und Hypnotherapie

5 Ein gemeinsamer Rück- und Ausblick

Spezifika des Teams

Die Heidelberger Gruppe in Beziehung zur Mailänder Gruppe

Der Einzug des Mainstreams in die Psychotherapie

Um Hellinger herum

Helm Stierlins Tod

Und jetzt? Liegt die Zukunft der Heidelberger Gruppe auf La Gomera?

Epilog

Über den Autor

Vorwort

Wer oder was ist die Heidelberger Gruppe? Wenn Sie dazu Suchmaschinen im Internet befragen, werden Sie unterschiedliche Antworten finden. In diesem Buch möchte ich Ihnen eine Gruppe von Ärzten und Psychotherapeuten näherbringen, die ab den 1980er-Jahren das systemische Feld nachhaltig beeinflusst und geprägt hat. Im Speziellen geht es um den Kern der Heidelberger Gruppe in Person von Helm Stierlin, Gunther Schmidt, Fritz Simon und Gunthard Weber. Sie waren es, die an der Abteilung für psychoanalytische Grundlagenforschung und Familientherapie der Universität Heidelberg maßgeblich an der Verbreitung von systemischen Konzepten und der Gründung zahlreicher systemischer Institute mitgewirkt und damit die Anwendungsfelder Therapie, Beratung und Pädagogik nachhaltig verändert haben. Es war mir beim Verfassen dieses Buches besonders wichtig, das Wirken der Heidelberger Gruppe aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. Neben persönlichen, anekdotischen Erzählungen und Fakten geht es auch um Faktoren, die den Erfolg dieser Gruppe begünstigt haben.

Bei der Beschäftigung mit der Heidelberger Gruppe konnte ich mich selbst intensiv mit zweien ihrer Kernthemen auseinandersetzen: Perspektivenwechsel und Kontext. Dabei wurde mir klar, dass dieses Buch unterschiedlichste Reaktionen hervorrufen wird. Für diejenigen, die ihr Wirken in den 1980er-Jahren miterleben konnten, war die Heidelberger Gruppe etwas anderes, als sie für mich heute ist. Es gibt Fans der Heidelberger Gruppe, und es gibt wahrscheinlich auch genügend andere, die mit den Protagonisten Konflikte hatten. Wieder anderen ist die Heidelberger Gruppe vielleicht egal, weil sie die jeweiligen Protagonisten aus anderen Kontexten als Einzelpersonen kennen. Und noch einmal andere – zu denen auch ich zähle – hatten weder zeitgeschichtlich noch im Rahmen ihrer Ausbildung einen direkten Zugang zur Heidelberger Gruppe und ihrem Schaffen, vielleicht nicht einmal zu den Auswirkungen und weiteren Entwicklungen, die durch sie angestoßen wurden. Letztendlich bin ich deshalb den Weg gegangen, die Protagonisten selbst in Form von Interviews in unterschiedlichen Konstellationen ihre Sicht auf die Geschichte erzählen zu lassen.

Lange Zeit war ich auf der Suche nach einem passenden Titel für dieses Buchprojekt. Bei unserem letzten Treffen brachte Fritz Simon dann einen Ausspruch Helm Stierlins ein, den er in seinem Nachruf in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und in seiner Rede bei Stierlins Begräbnis zitierte. Helm Stierlin selbst hatte dabei Goethe zitiert. Der entscheidende Teil des Zitats gehört an dieser Stelle aber nachgeliefert:

Nur die Lumpe sind bescheiden. Brave freuen sich der Tat.

Es mag den einen oder die andere geben, denen der Titel nicht gefällt. Das ist gut so und soll die Anwaltschaft für die Seiten der Ambivalenz hochleben lassen. Bescheidenheit ist unbestritten eine Tugend. Aber macht einen das Bewusstsein eigener Kompetenzen und der Stolz darauf automatisch unbescheiden, wenn man öffentlich dazu steht? Die Antwort auf diese Frage mögen Sie sich bitte selbst geben.

Im weiteren Verlauf des Buches finden Sie zunächst einen Prolog zur Auftragsklärung. Er enthält einen Auszug aus unserem einzigen Gespräch zu viert. Wir haben uns dabei auch darüber unterhalten, was Sie, die Leserinnen und Leser, von diesem Buch für einen Nutzen haben könnten.

In Kapitel 1 geht es um den Kontext der Heidelberger Gruppe. Die Protagonisten werden in kurzen Zügen vorgestellt, und es kommen Auszüge aus Einzelinterviews zum Tragen. Gunther Schmidt beschreibt die späten 1980er-Jahre und den Heißhunger nach Bewusstseinserweiterung. Fritz B. Simon führt in die aus seiner Sicht zentralen theoretischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ein, innerhalb derer sich die Systemik entwickelte.

Kapitel 2 bildet das Herzstück dieses Buches. Sie erleben hier Fritz Simon und Gunther Schmidt in einem Gespräch, in dem sie zum einen über ihre Beziehung und die Arbeit in der Heidelberger Gruppe reden, aber auch über das »systemische Feld«.

Kapitel 3 gibt einen chronologischen Verlauf aus der Perspektive von Gunthard Weber wieder und ergänzt bereits Erwähntes um einen erweiternden Blickwinkel. Daneben vermittelt Gunthard Weber seine Sicht auf die Aufstellungsarbeit und beschreibt seine Rolle bei der Gründung von Institutionen.

In Kapitel 4 werden kontroverse Themen aus den unterschiedlichen Interviews aufgegriffen und vertieft betrachtet. Es beruht auf Ausschnitten aus Einzelinterviews, die eine gesonderte Aufmerksamkeit verdienen. Angesprochen werden u. a. strategische Interventionen ins psychotherapeutische Feld, Konkurrenz unter Systemikern, Gunthard Webers Beziehung zu Bert Hellinger und Gunther Schmidts Sicht auf die zwiespältige Beziehung von Systemik und Hypnotherapie.

Kapitel 5 bildet den Abschluss der Interview-Reihe. Fritz Simon, Gunther Schmidt und Gunthard Weber blicken gemeinsam zurück und nach vorne, versuchen sich auf Spezifika der gelungenen Teamarbeit in der Zeit der Heidelberger Gruppe zu einigen, blicken auf die Entwicklung der systemischen Gesellschaften und Institutionen und auf die Zukunft der Heidelberger Gruppe auf La Gomera.

Den Abschluss bildet ein kurzer Epilog, der die Frage nach der sinnstiftenden Qualität dieses Buches zu beantwortet versucht.

Andreas KollarWien, im April 2022

Prolog

Auftragsklärung

Das Beste kommt immer am Schluss. Für die Auftragsklärung gilt das eigentlich nicht. Aber im Hinblick auf dieses Buchprojekt bin ich froh, dass es überhaupt dazu gekommen ist. Es folgt ein Auszug aus dem letzten Interview, in dem ich zum ersten Mal Gunther Schmidt, Gunthard Weber und Fritz B. Simon gleichzeitig im Gespräch erleben konnte. Es geht um den Rahmen des Interviews und das, was Sie, liebe Leserinnen und Leser, aus diesem Buch von der Heidelberger Gruppe lernen könnten.

ANDREAS KOLLAR Ich habe schon einiges an Material, das sehr aussagekräftig ist. Heute geht es eher um die Perlen. Und da möchte ich, dass wir uns auch um eine Auftragsklärung kümmern. Ich habe noch nie mit euch dreien über den Auftrag für das Buch reden können …

FRITZ SIMON Eigentlich müssten wir doch eine Auftragsklärung mit dir machen. Du willst ein Buch machen.

ANDREAS KOLLAR(lacht) Ja, ich bin halt nur in der Rolle, dass ich immer wieder die Personen zusammentrommle. Wer dann mit wem den Auftrag klärt, ist mir letzten Endes egal. Hauptsache, er wird noch geklärt, bevor wir fertig sind.

FRITZ SIMON Vielleicht beginnen wir mit den Befürchtungen, was den Auftrag angeht, denn Gunthard Weber hatte ja die Sorge, dass wir hier gemeinsam auf einen Egotrip gehen – was ja eine interessante Paradoxie ist, wenn man zu dritt auf …

GUNTHER SCHMIDT … den Egotrip geht. Der »Triple Trip« (lacht).

FRITZ SIMON Ein eingesprungener Rittberger, ein dreifacher. Also, vielleicht sagst du erst mal, was deine Sorge ist, Gunthard, ehe wir anfangen, hier ausschweifend Ziele zu definieren.

GUNTHARD WEBER Na ja, ich frage mich, wie sinnvoll es ist, jetzt – 40 Jahre später – unsere Geschichten über die Gruppe, die natürlich jeder von uns in der Zwischenzeit schon vielfach erzählt und sicherlich auch idealisierend modifiziert hat, wie die vier Musketiere noch einmal zu präsentieren. Für mich war das eine besondere Zeit. Ich könnte es auch dabei belassen. Es war nicht meine Idee, ich wurde dazu genommen, und ich dachte: »Ach, muss ich mich noch an einem weiteren Buch beteiligen?«

GUNTHER SCHMIDT Du Armer! (Lacht)

FRITZ SIMON Gib es doch zu: Du hast immer Bedenken und Sorgen, wenn es nicht deine Idee war.

GUNTHARD WEBER So kann man es auch sehen, diese Reaktionen kenne ich von dir, und arm fühle ich mich überhaupt nicht (lacht). Ich habe meine beruflichen Tätigkeiten 2020 abgeschlossen und baue jetzt mit Landfrauen Gemüse in Afrika an.1 Deshalb dachte ich: »Muss ich mich noch einmal da hineinbegeben? Ihr beide, Gunther und Fritz, seid doch eloquent genug, auch allein die Zeit von 1980 bis 1990 noch einmal lebendig werden zu lassen, und Andreas ist ja auch besonders an euren Konzepten interessiert. Das war, was die Entwicklung der Systemischen Therapie, besonders der Psychosetherapie betrifft, eine sehr spannende Zeit, und ich bin froh, sie miterlebt und mitgestaltet zu haben. Andererseits habe ich mich seit über 30 Jahren besonders der Aufstellungsarbeit verschrieben – die aus verständlichen Gründen nie im Zentrum des Interesses der Heidelberger Gruppe stand. Bevor jetzt wieder einer sagt »Du Armer!«, sage ich: Diese Zeit hat mich enorm bereichert.

FRITZ SIMON Gemüse ist ein gutes Stichwort. Ich finde es gut, dass wir drei noch mal miteinander reden, bevor wir selbst zum vegetable werden.

(Alle lachen.)

FRITZ SIMON Gunther, vielleicht sagst du mal, was dein Ziel ist.

GUNTHER SCHMIDT Ein Ziel? Ich hatte ursprünglich keines. Die Idee kam von Andreas. Dann habe ich aber gedacht: »Na ja, gut, es ist ja eigentlich interessant, noch mal zu reflektieren, wie wir zusammengearbeitet haben, was und wodurch das eigentlich so produktiv war, was uns besonders angeregt hat – auch aus organisationsdynamischer Sicht. Ich halte es durchaus für reizvoll, noch einmal miteinander zu reflektieren, wie das eigentlich war. Bei Helm Stierlins Beerdigung haben wir alle drei gesagt: »In so einem produktiven Team habe ich seitdem nie mehr gearbeitet.« Das war ein unglaublich produktives Treibhaus, fand ich. Das aus heutiger Sicht zu reflektieren, könnte sinnvoll sein. Konkreteres habe ich mir bisher nicht überlegt.

FRITZ SIMON Ich muss ja sagen, es war gar nicht Andreas’ Idee, sondern meine. Andreas wollte ein Buch nur mit Gunther und mir verfassen. Weil wir ja schon öfter diese sagenumwobene Veranstaltung »Gunther und Fritz machen was zusammen« angeboten haben.

GUNTHER SCHMIDT Ja, da hast du recht.

FRITZ SIMON Wir haben ja auch tatsächlich viel miteinander gemacht, viele Therapien, jeden Tag, fünf Jahre lang. Dabei haben sich unsere Unterschiede gezeigt – sie sind und waren relativ deutlich und klar. Was das aus meiner Sicht Besondere ist: Wir haben es geschafft, sie in den Therapien zu nutzen. Aber ich finde, unsere Beziehung wird nur im Kontext dieses größeren Teams, dieser Vierergruppe, verständlich.

GUNTHER SCHMIDT Das stimmt. Das war deine Idee.

FRITZ SIMON Daher habe ich zu Andreas gesagt: »Mach doch lieber was über dieses Viererteam.« Wobei es mir wirklich nicht darum ging oder geht, uns oder mich herauszustreichen, um es deutlich zu sagen. Aber ich finde, es wäre schade, wenn diese sehr spezielle Erfahrung in unserer Teamarbeit verloren ginge und die Wirkfaktoren nicht reflektiert würden. Mir ging das bei dem Projekt, durch das die Psychotherapie in China eingeführt wurde, genauso: Da haben zwei Frauen – zwei eigensinnige Frauen – irgendwann beschlossen: »Wir wollen die Psychotherapie nach China bringen.« Und inzwischen ist das gelungen. Wie konnte das geschehen? Das war ja extrem unwahrscheinlich. Deshalb habe ich dann dieses Buch herausgegeben, »Zhong De Ban« oder: Wie die Psychotherapie nach China kam2, in dem die Erfolgsfaktoren reflektiert werden. Diese Dynamik zu analysieren war für mich sehr lehrreich, und das ging auch vielen anderen Leuten so, die in das Projekt involviert waren oder auch nur das Buch gelesen haben. Ich fände es einfach einen Jammer, unsere Erfahrungen, die wir in unserer Teamarbeit gemacht haben, nicht auszuwerten. Es geht dabei nicht primär um das Institut von Helm Stierlin, denn das hatte vorher auch schon eine hohe Reputation. Da arbeiteten ja schon bekannte und wichtige Kollegen: Michael Wirsching, Norbert Wetzel, Ingeborg Rücker-Embden-Jonasch und und und. Und nachher waren auch noch Leute da ohne unsere Vierergruppe – ob das Arnold Retzer ist oder Hans Rudi Fischer, Jochen Schweitzer oder Andrea Ebbecke-Nohlen. Das sind ja alles keine blöden Leute und alles auch kreative Menschen, aber in meiner Erfahrung als Teilnehmer fand ich den Prozess in diesem Viererteam so außerordentlich, dass ich meine: Das muss man analysieren. Denn das ist ja das, was sich alle Leute von Teamarbeit erhoffen: dass ein Mehrhirndenken stattfindet und eine kollektive Intelligenz erzeugt wird. Unsere Kommunikation hat Ergebnisse hervorgebracht, die keiner allein zustande gebracht hätte.

GUNTHER SCHMIDT Nein, ganz sicher nicht.

FRITZ SIMON Das soziale System ist intelligenter als jeder Einzelne. Das finde ich faszinierend. Und das ist der Hintergrund, warum ich zu Andreas gesagt hab: »Mach das eine Nummer größer. Es sind nicht nur Gunther und ich.«

GUNTHER SCHMIDT Gerade die Art, wie wir unsere bleibenden Unterschiede genutzt haben, in der Art, wie wir an die Themen herangegangen sind, wie wir auf unterschiedliche Aspekte fokussiert haben, Unterschiedliches wichtig fanden und das kommuniziert haben, halte ich für besonders interessant. Für mich ist gerade das ein schönes und wichtiges Beispiel dafür, wie man achtungsvoll und neugierig solche Unterschiede gemeinsam zu einem Lernen und Entwickeln nutzen kann, anstatt z. B. in gegenseitige Abwertung und Kämpfe zu geraten. Damals fand ich das fast selbstverständlich, wir haben es halt einfach gemeinsam so gemacht. Auch viel später noch, als wir zusammen das Buch zu Varianten von Skulptur- und Aufstellungsarbeit3 gemacht haben. Da hatten wir ja schon mindestens zehn Jahre nicht mehr im Team gearbeitet. Und trotzdem fand ich, dass das wieder eine ähnlich wohltuende Selbstverständlichkeit im Umgang mit unseren Unterschieden war, wie damals.

Was können Leserinnen und Leser für die Zukunft lernen?

ANDREAS KOLLAR Was ist für euch das, was ihr Leserinnen und Lesern, die vielleicht etwas lernen wollen von euch, mitgeben wollt? Ihr habt ja damals so etwas wie ein »Sendungsbewusstsein« gehabt. Nicht in dem Sinne von missionarisch, aber ihr habt schon einen ziemlichen Drive gehabt. Ansonsten hättet ihr das ja nicht so gemacht, wie ihr es gemacht habt.

FRITZ SIMON Ich habe das bei einer Rede auf Helm Stierlins Begräbnis zu formulieren versucht: Der gemeinsame Nenner – der von Helm sehr verstärkt wurde – wird auf den Punkt gebracht durch dieses Goethe-Zitat, das er immer wieder verwendete, wenn uns jemand vorwarf, nicht genügend falsche Bescheidenheit zu demonstrieren: »Nur die Lumpe sind bescheiden.« Wir waren alle unbescheiden. Ja, wir wollten halt irgendwas machen, was andere noch nicht gemacht hatten. Und wir waren alle an psychischen Krankheiten interessiert. Ich bin ja Psychiater geworden, weil ich Verrücktheit verstehen wollte. Und die Familienperspektive war für mich ein Tor zu einer neuen Welt, weil man psychisches Geschehen nunmehr ganz anders erklären konnte. Und ich dachte natürlich, man könnte noch viel, viel mehr erklären. Aber das war, glaube ich, unsere gemeinsame Basis: »Wir sind diejenigen, die hier Neuland betreten«, denn niemand arbeitete, zum Beispiel, sonst mit Patienten mit der Diagnose »manisch-depressiv« oder »schizo-affektiv« psychotherapeutisch. Das war hochspannend. Wir gingen mit Neugier in jede Sitzung. Das war ein Abenteuer, denn es gab ja noch kein Richtig oder Falsch, und es ging nicht um die Aufrechterhaltung einer Orthodoxie oder die Bestätigung etablierter Verfahrensweisen, sondern wir waren diejenigen, die probierten und versuchten und dann ihr Hirnschmalz addierten, um zu verstehen und Hypothesen zu bilden. Jeder hat alles, was ihm einfiel, hineingegeben in die Kommunikation, und jeder hat mehr herausgezogen, als er hineingegeben hat. Das war einfach eine tolle Erfahrung. Und das ist für mich, wenn du nach dem Leser fragst, das, was aus unserer Erfahrung gelernt werden kann: Wenn jemand Kreativität will, dann muss er solche Kommunikationsprozesse ermöglichen und wahrscheinlich machen.

GUNTHER SCHMIDT In dieser Hinsicht geht es mir ein bisschen ähnlich wie Fritz. Da war schon Sendungsbewusstsein und – zumindest bei mir – sicher durchaus auch die Tendenz, sich als Einzelperson profilieren zu wollen. Aber ich habe bei keinem von uns erlebt, dass das die vorrangige Motivation war, sondern eher, dass wir gebrannt haben für bestimmte Ideen. Bei mir zum Beispiel war es so, dass ich deswegen überhaupt in die Familientherapieszene gegangen bin. Diese traditionell vorherrschende, den damaligen Mainstream bestimmende Art der Pathologisierung von Menschen, die hat mich persönlich sehr angestachelt, dazu beizutragen, dass das für Betroffene in mehr würdigender Form anders gemacht wird.

GUNTHARD WEBER Das ging mir auch so.

GUNTHER SCHMIDT Und das war die Hauptmotivation: dass wir belegen können – auch durch Forschungsprojekte –, dass man da anders mit Menschen umgehen kann, andere Sinnbezüge herstellen kann, und das auch mit mehr Würde für die Menschen und mit mehr gleichrangiger Achtung. Bei mir hat das auch dazu geführt, dass ich überhaupt noch Medizin studiert habe. Ich hatte ja schon als Diplom-Volkswirt gearbeitet und habe mich dann entschlossen, doch lieber Arzt zu werden, um in diesem Bereich für die erwähnten Anliegen wirken zu können. Ich glaube, wir wollten alle unbedingt etwas in die Welt bringen, etwas Neues, was diese alten, überkommenen, defizit- und pathologieorientierten Konzepte transformiert. Es ging in erster Linie darum, dass diese Ideen in die Welt kommen. Und in dieser Hinsicht haben wir, glaub ich, alle ein Sendungsbewusstsein gehabt.

GUNTHARD WEBER Ja, aber es hat mir doch auch Spaß gemacht, wenn wir morgens am Dienstag zusammengesessen haben – da ist manchmal eine Familie nicht gekommen – und haben über eine andere Familie oder über ein Videoband oder sonst was gesprochen, da flossen die Ideen so zusammen: »Ah! Das könnte so und so sein« oder »Das könnte so oder so zusammenhängen. Lass uns das mal weitergucken!« Und keiner von uns hat beansprucht, dass es seine Idee war, die hinterher rausgekommen ist, …

GUNTHER SCHMIDT Ja.

GUNTHARD WEBER … sondern wir haben dann gemeinsam in Artikeln beschrieben, was dabei herausgekommen ist.

FRITZ SIMON Es war ja auch nicht mehr feststellbar, wer was beigetragen hatte. Man kann das »Mehrhirndenken« nennen. Eigentlich ist es so ähnlich wie individuelles Denken: Du hast eine Idee, und daran schließt sich irgendeine Assoziation oder Folgerung an. Nur dass das hier eben interpersonell abläuft: Einer äußert eine Idee, und ein anderer schließt an, sodass jeder aus seinen Selbstbestätigungsschleifen herauskommt. Das war und ist das Reizvolle: Du wirfst eine Idee in die Mitte, und der Faden wird in eine andere Richtung weitergesponnen und landet irgendwo ganz anders, als du je gedacht hättest. Und am Schluss kannst du wieder in den Prozess einsteigen, aber auf einem ganz anderen Level als vorher. Insofern konnte man nie sagen, wem eine Idee gehörte oder das Konzept oder was immer dann später in einem Artikel publiziert wurde.

GUNTHARD WEBER Es gab ja auch keinen bevorzugten Ansatz wie zum Beispiel in der Psychosomatik, wo du etwas Psychoanalytisches machen musstest. Wir waren alle auf der Suche und haben gedacht: Familientherapie oder diese Art des systemischen Denkens, das könnte was Neues sein. Aber haben dann gemeinsam gesucht, und keiner von uns hat dominiert mit seinem Ansatz, den er mitgebracht hatte.

1 Unter folgendem Link finden Sie mehr Infos zu Gunthard Webers Engagement in Mali: https://www.haeuser-der-hoffnung.org/de/wie-alles-begann/

2 Simon, F. B., M. Haaß-Wiesegart, X. Zhao (2011): »Zhong De Ban« oder: Wie die Psychotherapie nach China kam. Geschichte und Analyse eines interkulturellen Abenteuers. Heidelberg (Carl-Auer).

3 Weber, G., F. B. Simon u. G. Schmidt (2016): Aufstellungsarbeit revisited. … nach Hellinger? Heidelberg (Carl-Auer).

1 Die Heidelberger Gruppe im Kontext

Im Prolog haben Sie die Protagonisten dieses Buches kennengelernt und welche Erwartungen hier hoffentlich erfüllt werden können. In den folgenden Kapiteln geht es nun immer wieder um die Gestaltung von Kommunikationsprozessen in sozialen Systemen. Es sollen Sinnbezüge ermöglicht und konstruiert werden, die Menschen Kreativität, Würde und gleichrangige Achtung erlauben.

Teil 1 wird deswegen, neben einer näheren Beschreibung der Protagonisten, einen Einblick in die besondere Atmosphäre Ende der 1970er- und Anfang der 80er-Jahre geben, die der Entwicklung des »Systemischen« im Allgemeinen und der Heidelberger Gruppe im Speziellen den Nährboden gegeben hat. Einer allgemeinen Analyse des gesellschaftlichen Kontexts durch Fritz Simon folgt Gunther Schmidts biografischer Zugang zu einer Zeit, in der viele Fragen der psychischen und sozialen »Befreiung« aufgekommen sind. Abgeschlossen wird dieser Teil mit einem Überblick über die Entwicklung des Feldes der systemischen Ansätze.

Die Protagonisten

Gute Geschichten brauchen spannende Protagonisten mit Kernbotschaften. An dieser Stelle möchte ich die Protagonisten der hier erzählten Geschichten vorstellen. Ich könnte die vielen Errungenschaften aufzählen, deren sie sich verdient gemacht haben. Sie haben Bücher geschrieben, füllen zig audiovisuelle Medien, haben noch mehr Aus-, Fort- und Weiterbildungen gehalten, Institute und Unternehmen – darunter eine Privatklinik und einen Verlag – gegründet und noch vieles mehr. Anbei folgt eine kurze Vorstellung mit Fokus auf den Beginn ihrer Arbeit.

Gunther Schmidt

1974 gründete Helm Stierlin am Universitätsklinikum der Ruprechts-Karls-Universität Heidelberg die Abteilung für psychoanalytische Grundlagenforschung und Familientherapie. Gleich nach Eröffnung bekam Gunther Schmidt, damals noch Student der Medizin, von ihm die Chance, dort mitzuwirken. Vorher hatte Gunther Schmidt ein Studium der Volkswirtschaft abgeschlossen. Sein Interesse für Psychotherapie brachte ihn dann aber zum Medizinstudium. Er ist Facharzt für Psychosomatische Medizin und hat neben Psychodrama und einer familientherapeutischen Ausbildung auch einige weitere psychotherapeutische Ausbildungen absolviert. An der Heidelberger Abteilung regten die Erfahrungen mit der systemischen Therapie sein Interesse an den Konzepten von Milton Erickson so stark an, dass er 1979 zu ihm nach Phoenix (Arizona) reiste. Hier konnte er von Erickson dessen hypnotherapeutische Arbeit lernen. Diese sehr eindrücklichen Erfahrungen bewegten ihn dazu, aus der Integration systemischer Konzepte und den Erickson’schen Modellen das hypnosystemische Konzept zu entwickeln.

Fritz B. Simon

Nach seinen Ausbildungen zum Facharzt für Psychiatrie und Psychoanalytiker kam Fritz Simon 1982 an die Heidelberger Abteilung von Helm Stierlin. Im Zuge seiner Arbeit als Stationsarzt einer psychiatrischen Anstalt war er von den kommunikationstheoretischen Ansätzen Paul Watzlawicks begeistert, weil sie ihm stimmigere Erklärungsansätze für die Arbeit mit seinen Patientinnen und Patienten ermöglichten.

Gunthard Weber

Bevor Gunthard Weber 1976 an die Heidelberger Abteilung kam, war er ein Jahr als Assistenzarzt am Psychiatrischen Landeskrankenaus in Wiesloch und dreieinhalb Jahre an der Klinik für Allgemeine Psychiatrie und der Medizinischen Universitätsklinik Heidelberg tätig.

Er ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Für seine berufliche Entwicklung war zum einen die Zusammenarbeit mit der Mailänder Gruppe und zum anderen die Auseinandersetzung mit der Aufstellungsarbeit von Bert Hellinger besonders prägend. Seit 2004 engagiert er sich in Mali im Bildungsbereich für Mädchen und junge Frauen. Gunthard Weber hat sich 2020 80-jährig aus allen Tätigkeiten im psychosozialen und beraterischen Bereich sowie auch als Ausbilder für die Aufstellungsarbeit, als Organisationsberater und -entwickler zurückgezogen.

Helm Stierlin

Helm Stierlin war Facharzt für Psychiatrie, Psychoanalytiker und hatte auch in Philosophie promoviert. Er war einer der Wegbereiter der Familientherapie im deutschen Sprachraum. Nach seiner Ausbildung lebte Helm Stierlin mit einer kurzen Unterbrechung von 1957 bis 1973 in den Vereinigten Staaten von Amerika, wo er arbeitete und forschte. Von 1965 bis 1973 leitete er am National Institute of Mental Health in Bethesda, Maryland, die Abteilung für Familientherapie. 1974 wurde er als medizinischer Direktor an die medizinische Fakultät des Universitätsklinikums Heidelberg berufen. Hier gründete und leitete er die Abteilung für psychoanalytische Grundlagenforschung und Familientherapie, die sich dann bis 1991 – bis zu seiner Emeritierung – außerhalb des Universitätsbereichs in einem Zweifamilienhaus in dem Heidelberger Stadtteil Neuenheim befand. Die weiteren Beschreibungen überlasse ich Gunther, Fritz und Gunthard. Leider konnte ich Helm Stierlin nicht mehr kennenlernen. Mir dämmerte bald nach der Erweiterung des ursprünglichen Projekts, dass es auch wichtig sein könnte, Stierlin persönlich zu kontaktieren. Zu diesem Zeitpunkt war sein allgemeiner Zustand nicht mehr gut, sodass das keinen Sinn ergab. Im September 2021, an dem Tag, als ich die Idee mit Fritz Simon in Berlin besprach, starb Helm Stierlin. Ich bedaure sehr, ihm nicht mehr begegnet zu sein.

Der gesellschaftliche Kontext

FRITZ Die allgemeine gesellschaftliche Situation in den Nach-68er-Jahren war eine, in der viele überkommene autoritäre Strukturen infrage gestellt wurden. So kritisierte man damals die »schwarze Pädagogik«, die Studenten demonstrierten gegen den Vietnamkrieg und den »Muff von 1000 Jahren unter den Talaren«, antiautoritäre Pädagogik wurde gepredigt, und es wurden selbstorganisierte Kinderläden eröffnet.

In der Psychiatrie realisierte sich diese gesellschaftliche, antiautoritäre Bewusstseinsveränderung in der Problematisierung der kustodialen Psychiatrie, in der Propagierung sozialpsychiatrischer, gemeindenaher Versorgungskonzepte, in Italien in der sogenannten »demokratischen Psychiatrie«, die zur Schließung der großen Verwahranstalten führte, in Konzepten wie der »therapeutischen Gemeinschaft« und – am radikalsten – in der sogenannten »Antipsychiatrie«.

Aber auch in den Wissenschaften kam es zu einem Paradigmenwechsel: Die Chaos-Theorie und die Komplexitätsforschung stellten klassische, aus der Newton’schen Physik stammende, geradlinige Ursache-Wirkung-Konzepte in Frage, und auch die aristotelische Logik mit ihrem Prinzip der Zweiwertigkeit geriet durch Paradoxietheorie und mehrwertige Logik ins Wackeln.

Für die Praxis der Psychiatrie und Psychotherapie stellte sich die Frage, welche Folgen diese erkenntnistheoretischen Umwälzungen für ihre Methodik haben könnten und müssten. Ganz allgemein verschob sich der Fokus ein wenig (meist nicht sehr radikal) vom Individuum zu sozialen Systemen, und zwar durch Fokussierung auf Kommunikationsstrukturen. Das Problem für alle Theorien und Theoretiker, die einen Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen (z. B. kapitalistischen) Strukturen und psychischen Auffälligkeiten postulierten, war, dass sich daraus nicht unmittelbare therapeutische Konsequenzen ableiten ließen. Man konnte ja schlecht warten, bis sich die gesellschaftlichen Verhältnisse ändern, und hoffen, dass dann alles psychische Leid beseitigt wäre.

Es fehlte das Missing Link, vor allem aber eine Methode, die über irgendwelche, vor allem von der Sozialpsychiatrie vertretene, institutionelle Veränderungen hinausging und mehr darstellte als – um es in einer Metapher auszudrücken – abgesenkte Bordsteine und behindertengerechte Fahrstühle. Da als »Agent« der Gesellschaft die Familie in den Fokus der Aufmerksamkeit geriet, war es nur logisch, dass in diesem Kontext als wohl wichtigstes, neues therapeutische Verfahren bzw. Setting die Familientherapie erfunden wurde. Sozialarbeiter hatten der Familie zwar schon zu Beginn des vorigen Jahrhunderts ihre Aufmerksamkeit geschenkt, aber ihr Engagement war von der Ambivalenz zwischen Fürsorge und Kontrolle bestimmt. Jetzt also wurde auf die Familie mit einem therapeutischen Anspruch geblickt.

Der ideelle Kontext

Heidelberg als Hochburg einer psychotherapeutischen Parallelwelt

ANDREAS Deine erste Erfahrung mit Therapie war ja eine psychoanalytische Paartherapie. Welchen Einfluss hatte die Psychoanalyse auf dich und deine Entwicklung?

GUNTHER Heidelberg war eine psychoanalytische Hochburg. Alexander Mitscherlich war da vorher und Viktor von Weizsäcker und viele weitere wichtige Leute in diesem Feld. Die Psychoanalyse war damals sehr einflussreich. Für mich sah es damals so aus, dass ich gar nicht um Psychoanalyse herumkomme, wenn ich im Feld der Psychotherapie und Psychosomatik arbeiten will, was ja klares Ziel für mich war.

Und bei meiner Einzeltherapie würde ich schon sagen, dass sie mir was gebracht hat. Es war natürlich alles problem- und defizitorientiert, wo ich mir gut vorstellen kann, dass jemand auch ordentlich demontiert rausgeht, wenn er gerade nicht so gefestigt ist. Ich konnte diese Erfahrungen aber gut integrieren und habe dabei auch häufig eine ziemlich kritische Position den Beiträgen des Analytikers gegenüber eingenommen.

Auch in den psychoanalytischen Gruppen, z. B. einer Ausbildung in Foulkes’scher Gruppenanalyse, habe ich viel gelernt. Es war alles ganz gut, aber auch da habe ich eher mein eigenes Lernen draus gemacht. Und dann habe ich Familientherapie-Literatur gelesen, und diese Erfahrungen haben mir immer klarer gemacht: »Das ist überhaupt das, was ich machen will!« Da war die Einzeltherapiesache für mich praktisch fast erledigt.

ANDREAS Was hat dich daran so fasziniert?

GUNTHER Dieser konsequente Kontextbezug aller Phänomene, der war schon enthalten. Intuitiv hatte ich auch vorher schon immer den Eindruck, dass individuelles Erleben nicht sinnvoll verstehbar ist ohne Kontextbezug, auch bei Leuten in meinem privaten Umfeld. Ich habe das bei meiner damaligen Freundin direkt erleben können, als sie nach einer schwierigen Zeit durch familiäre Belastungen und dann auch Konflikten in der Beziehung immer inaktiver und auf eine Art schwächer wurde. Wir haben die Beziehung beendet, und zuletzt habe ich selbst für sie die Bewerbung für das Medizinstudium ausgefüllt und sie erheblich unter Druck gesetzt in meiner Verzweiflung, dass sie die unterschrieb. Ich habe diese dann eigenhändig zur Post gebracht. Nach der Trennung ging es ihr zunächst auch richtig schlecht, aber dann hat sie, ohne jede Therapie, in eigener Regie, weil sich der Kontext geändert hat, wieder andere Ressourcen aktiviert. Das war eine der ersten Grunderfahrungen, die mir klargemacht hat: Rein individuumzentrierte Konzepte und Erklärungsmodelle – wie z. B. »Der ist gestört« – machen für mich einfach keinen Sinn mehr. Und genau in dieser Zeit stieß ich auf die damals aktuellen Familientherapie-Konzepte. Die waren aus meiner späteren Sicht zwar immer noch defizitorientiert – im Sinn von »In der Familie X gibt es dysfunktionale Kommunikation« –, die üblichen Pathologie-Sichtweisen. Das war schon noch da, aber trotzdem wurde doch deutlich die Wichtigkeit des Kontextbezugs beachtet, und das hat mich ganz zentral angesprochen.

Heißhunger nach Bewusstseinserweiterung

ANDREAS Du hast ja auch in anderen Feldern der Psychotherapie deine Erfahrungen gemacht. Inwiefern waren die wichtig für dich?

GUNTHER Mein Hauptmotiv war ja, Familientherapie zu machen. Aber damit ich das alles hinkriege und das Medizinstudium gut überstehe, das ich zum Teil sehr verschult, linear-kausal aufgebaut und verkürzt fand, habe ich – quasi als Belohnung und Motivationshilfe – dann gleich meine Psychodrama-Ausbildung gemacht und mich auch in anderen Bereichen der humanistischen Psychologie bewegt. In Heidelberg gab es die sogenannte Free-Clinic-Bewegung; die Gestalttherapie, Bioenergetik, später dann Hakomi waren sehr einflussreich und ebenso die Transaktionsanalyse. In all das habe ich mich so richtig reingestürzt. Ich war praktisch jedes Wochenende in einem anderen Seminar, zwei, drei Tage war ich stets irgendwo, zusätzlich auch öfter in Seminaren zum sogenannten »New Identity Process«, der Schreitherapie nach Dan Casriel. Das war schon ziemlich lebendig und farbig damals.

ANDREAS Das klingt spannend, so »neben der Hochburg der Psychoanalyse«.

GUNTHER