Nur für dein Leben - Harlan Coben - E-Book

Nur für dein Leben E-Book

Harlan Coben

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Beschreibung

David, Cheryl und ihr dreijähriger Sohn Matthew sind die perfekte Familie – bis sie eines Nachts durch eine schreckliche Tragödie brutal auseinandergerissen werden. Fünf Jahre später verbüßt der traumatisierte David eine lebenslange Haftstrafe für den angeblichen Mord an seinem Sohn. Da zeigt ihm seine Schwägerin Rachel während der Besuchszeit das vor Kurzem zufällig aufgenommene Foto einer Menschenmenge. Im Hintergrund ein ungefähr achtjähriger Junge mit einem unverwechselbarem Muttermal: Matthew. Zutiefst erschüttert beschließt David herauszufinden, was in jener Nacht tatsächlich geschah. Und seinen Sohn zurückzuholen. Um jeden Preis ...

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Buch

David, Cheryl und ihr dreijähriger Sohn Matthew sind die perfekte Familie – bis sie eines Nachts durch eine schreckliche Tragödie brutal auseinandergerissen werden. Fünf Jahre später verbüßt der traumatisierte David eine lebenslange Haftstrafe für den angeblichen Mord an seinem Sohn. Da zeigt ihm seine Schwägerin Rachel während der Besuchszeit das vor Kurzem zufällig aufgenommene Foto einer Menschenmenge. Im Hintergrund ein ungefähr achtjähriger Junge mit einem unverwechselbaren Muttermal: Matthew. Zutiefst erschüttert beschließt David herauszufinden, was in jener Nacht tatsächlich geschah. Und seinen Sohn zurückzuholen. Um jeden Preis …

Harlan Coben

Nur für dein Leben

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Gunnar Kwisinski.

Die englische Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel »I will find you« bei Grand Central Publishing, New York / Boston.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstveröffentlichung August 2023

Copyright © 2022 by Harlan Coben

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2023

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München.

Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München

Covermotive: Trevillion Images/Michael Trevillion; Silas Manhood

Redaktion: Anja Lademacher

ES · Herstellung: ik

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN: 978-3-641-30614-4V001

www.goldmann-verlag.de

Für

meine Neffen und Nichten

Thomas, Katharine, McCallum, Reilly, Dovey;

Alek, Genevieve, Maja,

Allana, Ana, Mary; Mei,

Sam, Caleb, Finn,

Annie, Ruby, Delia,

Henry und Molly

In Liebe,

Onkel Harlan

Teil Eins

Eins

Ich verbüße das fünfte Jahr einer lebenslangen Haftstrafe für den Mord an meinem eigenen Kind.

Spoiler-Alarm: Ich war es nicht.

Mein Sohn Matthew war drei Jahre alt, als er brutal ermordet wurde. Er war das Beste, was mir im Leben passiert ist, dann habe ich ihn verloren, und dafür büße ich lebenslang. Nicht im übertragenen Sinne. Oder besser gesagt: nicht nur im übertragenen Sinne. Die Strafe wäre auf jeden Fall lebenslang gewesen, selbst wenn man mich nicht verhaftet, angeklagt und verurteilt hätte.

Aber in meinem Fall, in diesem ganz konkreten Fall, ist es eine lebenslange Strafe, sowohl im übertragenen Sinne als auch ganz real.

Aber wie, werden Sie sich fragen, kann es sein, dass ich unschuldig bin?

So ist es einfach.

Aber habe ich mich denn nicht gewehrt und mit aller Kraft dafür gekämpft, meine Unschuld zu beweisen?

Nein, das habe ich nicht. Und das hat mit der Strafe zu tun, die ich im übertragenen Sinne erdulde. Es interessierte mich einfach nicht sonderlich, dass ich verurteilt wurde. Ich weiß, das mag schockierend klingen, aber das ist es nicht. Mein Sohn ist tot. So lautet die Überschrift, das ist die Schlagzeile, in Großbuchstaben, auf der Titelseite. Er ist tot, ich habe ihn für immer verloren, und daran ändert auch ein Urteil der Jury nichts, egal ob es auf schuldig oder nicht schuldig lautet. Schuldig oder nicht schuldig, ich habe meinen Sohn im Stich gelassen. So oder so – Matthew wäre auch dann nicht wieder lebendig, wenn die Geschworenen die Wahrheit erkannt und mich freigesprochen hätten. Ein Vater muss seinen Sohn beschützen. Das ist seine wichtigste Aufgabe. Selbst wenn ich also nicht die Waffe geführt hatte, die die schöne Gestalt meines Jungen in die blutige Masse verwandelte, die ich in jener schrecklichen Nacht vor fünf Jahren vorfand, habe ich es eben auch nicht verhindert. Ich habe meine Aufgabe als Vater nicht erfüllt. Ich habe ihn nicht beschützt.

Ganz egal, ob ich die Schuld an dem Mord trage oder nicht, es war mein Fehler, und daher muss ich meine Strafe verbüßen.

Und so habe ich auch kaum eine Reaktion gezeigt, als die Sprecherin der Jury das Urteil verkündete. Beobachter kamen zu dem Schluss, dass ich ein Soziopath, ein Psychopath, geisteskrank oder sonst wie schwer gestört sein müsste. Ich hätte keine Gefühle, behaupteten die Medien. Mir würde ein Empathie-Gen fehlen, ich könnte keine Reue empfinden, ich hätte tote Augen, oder mit welchen Begriffen und Formulierungen auch immer man mich zum Mörder abstempelte. Nichts davon entsprach der Wahrheit. Ich sah nur einfach keinen Sinn darin, irgendeine Reaktion zu zeigen. Der Schlag, den es mir versetzt hatte, als ich meinen Sohn Matthew in jener Nacht in seinem Marvel-Helden-Pyjama fand, hatte mich niedergestreckt, und ich kam nicht wieder auf die Beine. Damals nicht. Heute nicht. Keine Chance.

Die lebenslange Strafe, die ich im übertragenen Sinne verbüßen musste, hatte sofort begonnen.

Wenn Sie jetzt glauben, dass ich Ihnen eine Geschichte über einen Mann erzählen möchte, dem Unrecht angetan wurde und der seine Unschuld beweisen will, dann liegen Sie falsch. Das wäre keine gute Geschichte. Denn im Endeffekt macht es keinen Unterschied. Aus diesem Höllenloch einer Zelle entlassen zu werden, wäre für mich keine Erlösung. Mein Sohn wäre auch dann noch tot.

Eine Erlösung ist in meinem Fall ausgeschlossen.

Zumindest dachte ich das bis zu dem Moment, in dem der etwas sonderbare Wärter, den wir hier Curly nennen, vor meiner Zelle erscheint und sagt: »Besuch.«

Ich rühre mich nicht, weil ich davon ausgehe, dass ich nicht gemeint bin. Ich bin seit fünf Jahren hier und hatte in dieser Zeit nicht einen einzigen Besucher. Im ersten Jahr wollte mein Vater ein paarmal herkommen. Auch Tante Sophie und eine Handvoll Verwandte, enge Freunde und Bekannte, die mich für unschuldig oder zumindest für nicht richtig schuldig hielten, hatten sich angemeldet. Ich habe nicht mit ihnen gesprochen. Matthews Mutter Cheryl, meine damalige Ehefrau (die heute – keineswegs überraschend – meine Ex-Frau ist), hatte es auch versucht, wenn auch nur halbherzig, aber auch sie habe ich nicht zu mir gelassen. Ich habe allen klipp und klar gesagt: Keine Besucher. Ich versank weder in Selbstmitleid noch in irgendein anderes Mitleid. Besuche helfen weder dem Besucher noch dem Besuchten. Ich sah und sehe keinen Sinn darin.

Ein Jahr verging. Dann das zweite. Danach hat sich kein Besuch mehr für mich angekündigt. Nicht, dass irgendjemand, außer vielleicht Adam, so meschugge gewesen wäre, nach Maine raufzukommen, aber Sie verstehen, was ich meine. Und jetzt ist also zum ersten Mal seit langer Zeit wieder jemand hierher ins Briggs Penitentiary gekommen, um mich zu besuchen.

»Burroughs«, faucht Curly, »auf geht’s. Du hast Besuch.«

Ich verziehe das Gesicht. »Wer ist es?«

»Seh ich aus wie dein Privatsekretär?«

»Der war gut.«

»Was?«

»Der Spruch mit dem Privatsekretär. Sehr witzig.«

»Willst du mich verscheißern?«

»Ich hab keine Lust auf Besuch«, sage ich. »Schick ihn bitte weg.«

Curly seufzt. »Burroughs.«

»Was ist?«

»Erheb deinen Arsch von der Pritsche. Du hast die Formulare nicht ausgefüllt.«

»Welche Formulare?«

»Man muss Formulare ausfüllen«, sagt Curly, »wenn man keinen Besuch will.«

»Ich dachte, ich müsste eine Gästeliste führen.«

»Gästeliste«, wiederholt Curly und schüttelte den Kopf. »Glaubst du, das hier ist ein Hotel?«

»Führen Hotels inzwischen Gästelisten?«, erwidere ich. »Na ja, jedenfalls hab ich irgendwelche Zettel ausgefüllt, auf denen steht, dass ich keinen Besuch will.«

»Als du hier angekommen bist?«

»Genau.«

Wieder seufzt Curly. »Das muss man jedes Jahr erneuern.«

»Was?«

»Hast du dieses Jahr ein Formular ausgefüllt, in dem steht, dass du keinen Besuch willst?«

»Nein.«

Curly breitet die Arme aus. »Na siehst du. Und jetzt hoch mit dir.«

»Kannst du den Besuch nicht einfach wieder nach Hause schicken?«

»Nein, Burroughs, das kann ich nicht, und ich sag dir auch warum. Das würde mir mehr Arbeit machen, als deinen Arsch in den Besuchsraum zu schleifen. Weißt du, wenn ich das tue, muss ich erklären, warum du nicht da bist, und vielleicht stellt dein Besuch noch irgendwelche Fragen, und hinterher muss ich womöglich selbst noch ein Formular ausfüllen, was ich hasse, und später musst du auch noch ein Formular ausfüllen, und ich renne dauernd hin und her, und weißt du, auf den Ärger kann ich verzichten. Und du kannst auch drauf verzichten. Also, es läuft jetzt folgendermaßen: Du kommst mit und kannst von mir aus einfach dasitzen und kein Wort sagen. Hinterher kannst du dann die richtigen Formulare ausfüllen, die Sache ist erledigt, und weder du noch ich müssen das noch mal durchmachen. Alles klar?«

Ich bin schon lange genug hier, um zu wissen, dass zu viel Widerstand nicht nur sinnlos ist, sondern einem richtig schaden kann. Und ehrlich gesagt, bin ich auch neugierig. »Alles klar«, sage ich.

»Cool. Dann los.«

Ich weiß natürlich, wie das abläuft. Ich erlaube Curly, mir erst die Handschellen, dann die Bauchkette anzulegen, mit denen er meine Hände an der Taille fixiert. Die Fußfesseln spart er sich, vor allem, weil es ihm zu anstrengend ist, sie mir anzulegen und dann wieder abzunehmen. Der Weg vom Sicherheitstrakt mit den Einzelzellen zum Besuchsbereich ist ziemlich lang. Wir sind derzeit achtzehn Männer, gegen die eine besondere Sicherungsmaßnahme angeordnet wurde – sieben Kinderschänder, vier Vergewaltiger, zwei kannibalische Serienmörder, zwei ›normale‹ Serienmörder, zwei Polizistenmörder und natürlich ein kindermordender Ex-Polizist, meine Wenigkeit. Was für ein Panoptikum.

Curly mustert mich mit einem strengen Blick, was ungewöhnlich ist. Die meisten Wärter sind gelangweilte Möchtegern-Polizisten und/oder Muskelprotze, die uns Insassen mit erstaunlicher Gleichgültigkeit betrachten. Ich will ihn fragen, was los ist, weiß aber, wann ich den Mund halten muss. Das lernt man hier drinnen. Auf dem Weg zittern meine Beine ein wenig. Ich bin eigenartig nervös. Es ist einfach so, dass ich mich hier eingelebt habe. Es ist schrecklich hier – schlimmer, als Sie sich vorstellen können –, aber an diese spezielle Ausprägung der Schrecklichkeit habe ich mich eben gewöhnt. Der Besuch, wer auch immer es nach all den Jahren sein mag, ist gekommen, um eine Nachricht zu überbringen, die meine Welt erschüttert.

Das gefällt mir nicht.

Ich habe das Blut aus jener Nacht wieder vor Augen. Ich denke oft an das Blut. Ich träume auch davon. Wie oft, weiß ich nicht. Anfangs jede Nacht. Jetzt vielleicht einmal in der Woche, aber ich führe nicht Buch darüber. Im Gefängnis vergeht die Zeit nicht wie gewöhnlich. Sie bleibt stehen, rast los, gerät ins Stocken, bewegt sich im Zickzack. Ich weiß noch, dass ich blinzelnd aufgewacht bin in jener Nacht, im Bett neben mir meine Frau Cheryl. Ich habe nicht auf die Uhr gesehen, aber für alle, die zu Hause mitrechnen: Es war gegen vier Uhr morgens. Im Haus war es still, alles war ruhig, und doch spürte ich, dass etwas nicht stimmte. Aber vielleicht stimmt ja auch das nicht, vielleicht bilde ich mir das im Nachhinein ein. Die Erinnerung kann ein extrem fantasievoller Geschichtenerzähler sein. Vielleicht habe ich also gar nichts »gespürt«. Ich weiß es nicht mehr. Es war nicht so, dass ich mich im Bett aufgerichtet hätte und aufgesprungen wäre. Es dauerte eine Weile, bis ich auf den Beinen war. Ich bin noch einige Minuten im Bett liegen geblieben, während mein Gehirn in dieser seltsamen Phase zwischen Schlaf und Wachsein festhing und sich nur langsam in Richtung Bewusstsein kämpfte.

Aber irgendwann bin ich dann doch aufgestanden und den Korridor entlang zu Matthews Zimmer gegangen.

Und da sah ich das Blut.

Das Rot war intensiver, als ich erwartet hätte – frisches Wachsmalstiftrot, das sich grell und spöttisch wie der Lippenstift eines Clowns vom weißen Laken abhob, sodass ich es schon von Weitem durch die offene Tür sehen konnte.

Sofort geriet ich in Panik. Ich rief Matthews Namen, lief unsicher auf sein Zimmer zu. Und rief erneut seinen Namen. Ich erhielt keine Antwort. Als ich schließlich in sein Schlafzimmer stürmte, dabei heftig gegen den Türrahmen stieß, fand ich … etwas Unkenntliches.

Ich muss zu schreien begonnen haben.

So traf mich jedenfalls die Polizei an. Ich schrie noch immer. Die Schreie verwandelten sich in Glasscherben, die meinen ganzen Körper durchbohrten. Irgendwann habe ich wohl aufgehört zu schreien. Aber auch daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Vielleicht sind meine Stimmbänder gerissen, ich weiß es nicht. Aber der Nachhall dieser Schreie hat mich nie verlassen. Diese Splitter zerreißen, zerfetzen und zerfleischen mich innerlich noch immer.

»Mach hinne, Burroughs«, sagt Curly. »Sie wartet auf dich.«

Sie.

Er hatte »sie« gesagt. Einen Moment lang stelle ich mir vor, dass es Cheryl ist, und mein Herz schlägt schneller. Aber nein, sie würde nicht kommen, und ich würde auch nicht wollen, dass sie kommt. Wir waren acht Jahre lang verheiratet. Den Großteil dieser Zeit glücklich, wie ich dachte. Am Ende war es nicht mehr so gut. Die Belastungen waren größer geworden, es hatten sich Risse gebildet, und an diesen Rissen war es zu Brüchen gekommen. Hätten wir es geschafft, Cheryl und ich? Ich weiß es nicht. Manchmal denke ich, dass wir uns Matthew zuliebe mehr Mühe gegeben hätten und zusammengeblieben wären, aber das kann auch Wunschdenken sein.

Nicht lange nach meiner Verurteilung habe ich diverse Papiere unterschrieben und so der Scheidung zugestimmt. Seitdem haben wir nicht mehr miteinander gesprochen. Was eher von mir als von ihr ausging. Daher weiß ich inzwischen auch nichts mehr über ihr Leben. Ich habe keine Ahnung, wo Cheryl jetzt ist, ob sie noch leidet oder trauert oder ob es ihr gelungen ist, sich ein neues Leben aufzubauen. Ich halte es für besser, dass ich es nicht weiß.

Warum habe ich in jener Nacht nicht besser auf Matthew aufgepasst?

Ich will nicht sagen, dass ich ein schlechter Vater war. Das glaube ich auch nicht. Aber an diesem Abend war ich einfach nicht in der Stimmung. Dreijährige können schwierig sein. Und langweilig. Das wissen wir alle. Eltern geben oft vor, dass jeder Moment, den sie mit ihrem Kind verbringen, von Glückseligkeit erfüllt ist. Das ist nicht wahr. Zumindest empfand ich es an diesem Abend nicht so. Ich habe Matthew keine Gute-Nacht-Geschichte vorgelesen, einfach weil ich keine Lust dazu hatte. Schrecklich, oder? Ich habe mein Kind einfach ins Bett gesteckt, weil ich mit meinen eigenen bedeutungslosen Problemen und Unsicherheiten beschäftigt war. Bescheuert. Völlig bescheuert. Wenn unser Leben gut läuft, verhalten wir alle uns so unglaublich bescheuert.

Cheryl, die gerade ihre Ausbildung zur Fachärztin für Allgemeinchirurgie abgeschlossen hatte, machte eine Nachtschicht in der Transplantationsstation im Boston General Hospital. Ich war mit Matthew allein. Ich fing an zu trinken. Ich bin kein großer Trinker und vertrage Alkohol nicht besonders gut, aber in den letzten harten Monaten für Cheryl und unsere Ehe hatte ich darin vielleicht keinen Trost gefunden, den Kummer aber ein wenig betäubt. Also habe ich mir ein paar Drinks gegönnt, die offenbar schnell und heftig Wirkung zeigten. Kurz gesagt, ich habe zu viel getrunken und bin eingedöst. Statt auf mein Kind aufzupassen, statt meinen Sohn zu beschützen, statt sicherzustellen, dass alle Türen verschlossen sind – was sie nicht waren, oder die Ohren zu spitzen und aufzupassen, dass niemand in die Wohnung kommt oder, verdammt noch mal, statt ein Kind zu hören, das vor Angst und/oder Schmerz schreit, befand ich mich in einem Zustand, den der Staatsanwalt bei der Verhandlung spöttisch als »alkoholinduziertes Nickerchen« bezeichnete.

Weiter kann ich mich an nichts erinnern, bis ich dann mit einem mulmigen Gefühl aufwachte und mir dieser Geruch in die Nase stieg.

Ich weiß, was Sie jetzt denken: Vielleicht hat er – also ich – es doch getan. Schließlich war die Beweislage gegen mich ziemlich erdrückend. Ich verstehe das. Das ist absolut nachvollziehbar. Ich frage mich das auch manchmal. Man müsste völlig blind oder naiv sein, wenn man diese Möglichkeit nicht in Betracht ziehen würde, daher möchte ich Ihnen eine kurze Geschichte erzählen, die meiner Meinung nach ganz ähnlich gelagert ist: Ich habe Cheryl im Schlaf einmal einen kräftigen Tritt verpasst. Ich hatte einen Albtraum, in dem ein riesiger Waschbär unseren kleinen Hund Laszlo angriff, und in meiner Panik habe ich mit aller Kraft nach dem Waschbären getreten und Cheryl so am Schienbein getroffen. Im Rückblick war es auf eine seltsame Art komisch, Cheryl dabei zu beobachten, wie sie versuchte, die Ruhe zu bewahren, während ich mein Tun erklärte – »Hättest du gewollt, dass Laszlo von einem Waschbären gefressen wird?« –, aber in meiner wunderbaren Frau, der Chirurgin, die Laszlo und überhaupt alle Hunde liebte, brodelte es immer noch.

»Vielleicht«, sagte Cheryl damals zu mir, »wolltest du mir unbewusst wehtun.«

Sie sagte das mit einem Lächeln, daher ging ich davon aus, dass es nicht ihr Ernst war. Aber vielleicht war es das doch. Wir vergaßen das Ganze sofort wieder und verbrachten einen wundervollen Tag zusammen. Inzwischen denke ich allerdings oft daran. In jener Nacht habe ich auch geschlafen und geträumt. Ein Tritt ist natürlich kein Mord, aber wer weiß?

Die Mordwaffe war ein Baseballschläger. Mrs Winslow, die schon seit vierzig Jahren in dem Haus hinter dem Wäldchen wohnte, hat gesehen, wie ich ihn vergraben habe. Das hat den Ausschlag gegeben, wobei ich mich gewundert habe, wie ich so dumm sein konnte, ihn so nahe am Tatort zu vergraben, obwohl er mit meinen Fingerabdrücken übersät war. Ich habe mich über viele Dinge gewundert. Natürlich war ich schon ein-, zweimal nach ein paar Drinks zu viel eingeschlafen – wer ist das nicht? –, aber noch nie so wie in jener Nacht. Vielleicht hatte man mir Drogen oder Betäubungsmittel verabreicht, aber zu dem Zeitpunkt, als ich in Verdacht geriet, war es für einen Test zu spät. Die örtlichen Polizisten, von denen viele meinen Vater verehrten, hatten anfangs auf meiner Seite gestanden. Sie sahen sich ein paar Straftäter näher an, die er ins Gefängnis gebracht hatte, aber das passte von Anfang an nicht richtig und kam selbst mir etwas seltsam vor. Dad hatte sich in diesen Kreisen gewiss ein paar Feinde gemacht, aber das war lange her. Warum sollte einer von ihnen aus Rache einen dreijährigen Jungen umbringen? Das ergab einfach keinen Sinn. Es wurden auch keine Hinweise auf einen sexuellen Übergriff oder ein anderes Motiv gefunden, alles in allem gab es daher nur einen echten Verdächtigen.

Mich.

Vielleicht war es also so ähnlich wie in meinem Waschbär-Tritt-Traum abgelaufen. Unmöglich ist das nicht. Mein Anwalt Tom Florio wollte meine Verteidigung in diese Richtung aufbauen. Auch meine Familie, zumindest einige von ihnen, glaubten, dass ich diesen Weg einschlagen sollte. Verminderte Zurechnungsfähigkeit oder so etwas. Schließlich hätte ich auch eine Vorgeschichte mit Schlafwandeln und ein paar anderen Dingen, die man als psychische Probleme bezeichnen könnte, wenn man die Definition etwas weiter fasste. Sie wiesen mich darauf hin, dass ich das vorbringen sollte.

Aber nein, ich würde kein Geständnis ablegen, denn trotz all dieser Ausführungen habe ich es nicht getan. Ich habe meinen Sohn nicht umgebracht. Ich weiß, dass ich es nicht getan habe. Ich weiß es. Und ja, ich weiß auch, dass jeder Täter das sagt.

Curly und ich biegen um die letzte Ecke. Das Briggs Penitentiary ist ganz in frühamerikanischem Beton gehalten. Alles ist verwaschen grau wie eine ausgebleichte Straße nach einem Regenschauer. Ich habe in einem sonnengelben Haus im Kolonialstil gewohnt, mit grünen Fensterläden, drei Schlafzimmern, zweieinhalb Bädern, einer in Erdtönen gehaltenen Einrichtung aus antiken Kiefernmöbeln, das auf einem dreitausend Quadratmeter großen Grundstück am Ende einer Sackgasse steht, und bin direkt an diesem Ort gelandet. Aber das tut nichts zur Sache. Die Umgebung spielt keine Rolle. Hier lernt man, dass Äußerlichkeiten eine Illusion, vergänglich und daher bedeutungslos sind.

Der Summer ertönt und Curly öffnet die Tür. Viele Gefängnisse haben ihre Besuchsbereiche modernisiert. Häftlinge mit geringem Fluchtrisiko oder Gewaltpotenzial können sich ohne Trennwände oder andere Barrieren zu ihren Besuchern an einen Tisch setzen. Ich kann das nicht. Hier in Briggs sind wir noch durch kugelsicheres Plexiglas voneinander getrennt. Mein Platz ist ein am Boden festgeschraubter Metallhocker. Curly lockert meine Bauchkette, sodass ich den Telefonhörer in die Hand nehmen kann. So kommunizieren die Besucher im Hochsicherheitsgefängnis – per Telefon durch eine Plexiglasscheibe.

Die Besucherin ist nicht meine Ex-Frau Cheryl, obwohl sie fast wie Cheryl aussieht.

Es ist ihre Schwester Rachel.

Rachel sitzt auf der anderen Seite der Scheibe, aber ich sehe, wie sich ihre Augen weiten, als sie mich sieht. Ihre Reaktion hätte mir beinahe ein Lächeln entlockt. Ich, ihr einst geliebter Schwager, der Mann mit dem schrägen Sinn für Humor und dem unbekümmerten Grinsen, habe mich in den letzten fünf Jahren stark verändert. Ich frage mich, was ihr zuerst auffällt. Vielleicht der Gewichtsverlust. Oder, was wahrscheinlicher ist, die zertrümmerten Wangenknochen, die nie richtig verheilt sind. Es könnte aber auch mein aschfahler Teint oder das dünne, allmählich grau werdende Haar sein.

Ich setze mich und sehe sie durch das Plexiglas hindurch an. Ich nehme den Hörer in die Hand und fordere sie mit einer Geste auf, es mir gleichzutun. Als Rachel ihr Telefon ans Ohr hält, frage ich:

»Was willst du hier?«

Sie lächelt fast. Rachel und ich standen uns immer nahe. Ich habe gern etwas mit ihr unternommen. Und sie hat gerne etwas mit mir unternommen. »Wie ich sehe, hältst du dich nicht lange mit Höflichkeitsfloskeln auf«, sagt sie.

»Bist du hergekommen, um Höflichkeitsfloskeln auszutauschen, Rachel?«

Das Lächeln, das sich angedeutet hatte, verblasst. Sie schüttelt den Kopf. »Nein.«

Ich warte. Rachel sieht abgekämpft aus, ist aber immer noch schön. Ihre Haare sind genauso aschblond wie Cheryls, ihre Augen vom gleichen Dunkelgrün. Ich drehe mich auf meinem Hocker etwas zur Seite, weil es wehtut, sie direkt anzusehen.

Rachel blinzelt die Tränen weg und schüttelt den Kopf. »Das ist total irre.«

Sie senkt den Blick, und einen Moment lang habe ich die achtzehnjährige junge Frau vor Augen, die ich kennenlernte, als Cheryl mich in unserem ersten Studienjahr auf dem Amherst College nach New Jersey mitnahm, zu sich nach Hause. Cheryls und Rachels Eltern waren nicht uneingeschränkt begeistert von mir. Als Sohn eines Streifenpolizisten, aufgewachsen in einer Reihenhaussiedlung, war ich ihnen etwas zu proletarisch. Rachel hingegen hatte mich sofort ins Herz geschlossen, und auch ich liebte sie bald so, wie ich eine kleine Schwester geliebt hätte. Ich kümmerte mich um sie. Ich wollte sie beschützen. Ein Jahr später habe ich ihr beim Umzug geholfen, als sie auf die Lemhall University ging, um ihren BA zu machen, und ein paar Jahre später noch einmal, als sie von dort zum Publizistikstudium auf die Columbia University in Manhattan wechselte.

»Lange nicht gesehen«, sagt Rachel.

Ich nicke. Ich will, dass sie geht. Es tut weh, sie anzusehen. Ich warte. Sie sagt nichts. Schließlich ergreife ich doch das Wort, weil Rachel aussieht, als bräuchte sie einen rettenden Strohhalm.

»Wie geht’s Sam?«, frage ich.

»Gut«, sagt Rachel. »Er arbeitet jetzt für Merton Pharmaceuticals. Im Verkauf. Er hat’s bis ins Management geschafft und ist viel unterwegs.« Dann zuckt sie die Achseln und ergänzt: »Wir sind geschieden.«

»Oh«, sage ich. »Tut mir leid.«

Sie wischt meine Bemerkung beiseite. Eigentlich tut es mir auch nicht leid. Ich fand immer, dass Sam nicht gut genug für sie war, aber so ging es mir mit den meisten ihrer Boyfriends und Liebhaber.

»Schreibst du noch für den Globe?«, frage ich.

»Nein«, sagt sie in einem Tonfall, der jede Nachfrage verbietet.

Wir sitzen noch ein paar Sekunden schweigend da. Dann versuche ich es noch einmal.

»Geht’s um Cheryl?«

»Nein. Eigentlich nicht.«

Ich schlucke. »Wie geht’s ihr?«

Rachel knetet die Hände. Sie blickt überallhin, nur nicht zu mir. »Sie hat wieder geheiratet.«

Die Worte treffen mich wie ein Schlag in die Magengrube, den ich aber hinnehme, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Deshalb, denke ich. Genau deshalb will ich keinen Besuch haben.

»Sie hat dir nie die Schuld gegeben, weißt du. Wir alle nicht.«

»Rachel?«

»Was ist?«

»Was zum Teufel willst du hier?«

Wir verfallen wieder in Schweigen. Hinter ihr steht ein anderer Wärter, einer, den ich nicht kenne, und starrt uns an. Im Moment sind noch drei weitere Häftlinge im Besuchsraum. Ich kenne keinen von ihnen. Briggs ist ein großes Gefängnis, und ich versuche Distanz zu wahren. Ich überlege, ob ich aufstehen und gehen soll, als Rachel endlich etwas sagt.

»Sam hat einen Freund«, sagt sie.

Ich warte.

»Na ja, er ist kein enger Freund. Ein Arbeitskollege. Er ist auch im Management. Fürs Marketing bei Merton Pharmaceuticals. Er heißt Tom Longley. Er hat eine Frau und zwei Jungs. Nette Familie. Wir haben uns manchmal getroffen. Bei Grillabenden der Firma und so. Seine Frau heißt Irene. Ich mag sie. Irene ist ziemlich witzig.«

Rachel bricht ab und schüttelt den Kopf.

»Ich erzähl das nicht richtig.«

»Doch, absolut«, sage ich. »Bis hierhin ist es eine total faszinierende Geschichte.«

Rachel lächelt. Sie lächelt tatsächlich über meinen Sarkasmus. »Ein Hauch vom alten David«, sagt sie.

Wir schweigen wieder. Als Rachel erneut ansetzt, spricht sie langsamer und bedächtiger.

»Vor zwei Monaten waren die Longleys auf einem Betriebsausflug in einem Vergnügungspark in Springfield. Ich glaube, er heißt Six Flags. Ihre beiden Jungs waren mit. Irene und ich sind auch nach der Scheidung Freunde geblieben, daher haben wir uns vor ein paar Tagen zum Mittagessen getroffen. Sie hat mir von dem Ausflug erzählt – wollte vermutlich einfach ein bisschen quatschen –, wohl auch, weil Sam seine neue Freundin mitgebracht hatte. Als ob mich das interessieren würde. Aber darum geht’s ja nicht.«

Ich verkneife mir eine sarkastische Bemerkung und sehe sie an. Sie hält meinem Blick stand.

»Und dann hat Irene mir ein paar Fotos gezeigt.«

Rachel hält inne. Ich habe keine Ahnung, worauf sie hinauswill, meine aber, so etwas wie unheilvolle Filmmusik zu hören. Rachel holt einen braunen Briefumschlag zum Vorschein. A4-Format, oder so etwas. Sie legt ihn vor sich auf die Ablage. Dann starrt sie etwas zu lange darauf, als überlegte sie, was sie tun soll. Schließlich greift sie nach dem Umschlag, zieht etwas heraus und hält es ans Glas.

Wie schon angekündigt, ist es ein Foto.

Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Das Foto scheint tatsächlich in einem Vergnügungspark aufgenommen zu sein. Eine Frau – ich frage mich, ob das die ziemlich witzige Irene ist – lächelt schüchtern in die Kamera. Zwei Jungs, wahrscheinlich die Longleys, sitzen auf ihren Hüften. Sie blicken nicht in die Kamera. Rechts auf dem Foto steht eine Person im Bugs-Bunny-Kostüm, links jemand, der wie Batman gekleidet ist. Irene wirkt etwas genervt – aber auf eine witzige Art. Ich kann mir die Szene gut vorstellen. Der gute alte Pharma-Marketing-Manager Tom spornt die Ziemlich-Witzige-Irene an, mit den Jungs zu posieren, die Ziemlich-Witzige-Irene ist zwar nicht ganz überzeugt davon, will aber keine Spielverderberin sein, obwohl die beiden Jungs überhaupt keine Lust haben. Wir alle kennen diese Situation. Im Hintergrund ist eine riesige rote Achterbahn zu sehen. Die Sonne scheint den Longleys ins Gesicht, was erklärt, warum sie die Augen zusammenkneifen und sich leicht abwenden.

Rachel sieht mich an.

Ich hebe den Blick. Sie drückt das Foto weiter an die Scheibe.

»Guck noch mal genauer hin, David.«

Ich starre sie noch ein, zwei Sekunden an, dann senke ich den Blick wieder auf das Foto. Diesmal sehe ich es sofort. Eine stählerne Klaue greift mir in die Brust und presst mein Herz zusammen. Ich kann nicht mehr atmen.

Da ist ein Junge.

Er befindet sich im Hintergrund, am rechten Bildrand, fast nicht mehr auf dem Foto. Man sieht sein Gesicht perfekt im Profil, fast so, als würde er für eine Münze Modell sitzen. Der Junge muss etwa acht Jahre alt sein. Jemand, vielleicht ein Mann, hält seine Hand. Jedenfalls blickt der Junge zu etwas hinauf, das ich für den Rücken eines Mannes halte, aber die Person befindet sich außerhalb des Fotos.

Mir schießen Tränen in die Augen und ich strecke zaghaft die Finger aus. Durch die Scheibe streichle ich das Bild des Jungen. Das ist natürlich völlig unmöglich. Ein verzweifelter Mann sieht, was er sehen will – und seien wir ehrlich –, kein durstiger, hitzegeplagter, ausgemergelter Wüstenbewohner, der sich ein Wunder herbeigewünscht hat, ist je so verzweifelt gewesen wie ich. Matthew war keine drei Jahre alt, als er ermordet wurde. Niemand, nicht einmal seine liebenden Eltern, können erahnen, wie er fünf Jahre später aussehen würde. Nicht mit Sicherheit. Es besteht eine Ähnlichkeit, das ist alles. Der Junge sieht aus wie Matthew. Sieht aus wie. Wir sprechen von Ähnlichkeit. Weiter nichts. Eine Ähnlichkeit.

Ein Schluchzen zerreißt mich fast. Ich stecke mir die Faust in den Mund und beiße darauf. Es dauert ein paar Sekunden, bis ich wieder sprechen kann. Als es so weit ist, sage ich nur:

»Das ist Matthew.«

Zwei

Rachel hält das Foto noch immer gegen die Plexiglasscheibe. »Du weißt, dass das unmöglich ist«, sagt sie.

Ich antworte nicht.

»Er sieht aus wie Matthew«, sagt Rachel bewusst tonlos. »Ich gebe zu, dass er so aussieht. Sehr ähnlich. Aber Matthew war noch ein Kleinkind, als er …« Sie bricht ab, sammelt sich und setzt wieder an. »Natürlich ist da dieses Blutschwämmchen auf seiner Wange – aber es ist viel kleiner als bei Matthew.«

»Natürlich ist es das«, sage ich.

Der medizinische Fachausdruck für das riesige Blutschwämmchen, das die rechte Gesichtshälfte meines Sohnes bedeckte, lautet infantiles Hämangiom. Der Junge auf dem Foto hat auch eins – kleiner, weniger farbintensiv, aber fast genau an der gleichen Stelle.

»Die Ärzte haben uns gesagt, dass das passiert«, fahre ich fort. »Irgendwann verschwindet es ganz.«

Rachel schüttelt den Kopf. »David, wir wissen beide, dass das nicht sein kann.«

Ich antworte nicht.

»Das ist nur ein aberwitziger Zufall. Eine große Ähnlichkeit gepaart mit dem Wunsch, das zu sehen, was wir sehen wollen – was wir sehen müssen. Und vergiss nicht die forensische Untersuchung …«

»Stopp«, sage ich.

»Was ist?«

»Du bist damit doch nicht zu mir gekommen, weil du dachtest, er sähe Matthew ähnlich.«

Rachel kneift die Augen zusammen. »Ich bin zu einem Kriminaltechniker der Bostoner Polizei gegangen, den ich kenne. Ich habe ihm ein altes Foto von Matthew gegeben.«

»Welches?«

»Das, auf dem er das Amherst-Sweatshirt trägt.«

Ich nicke. Cheryl und ich hatten es ihm bei unserem Treffen zum zehnten Jahrestag unseres Abschlusses gekauft. Und das Foto hatten wir später auf unserer Weihnachtskarte verwendet.

»Jedenfalls hat dieser Techniker Zugang zu einer Alterungssoftware. Zur aktuellsten professionellen Version. Die Polizei setzt sie bei der Suche nach vermissten Personen ein. Ich habe ihn gebeten, den Jungen auf dem Foto fünf Jahre älter zu machen und …«

»… es passte«, beende ich den Gedankengang für sie.

»Zumindest ziemlich gut. Es hat keine Beweiskraft. Das ist dir schon klar, oder? Das hat mein Bekannter auch betont – und ich hab ihm nicht verraten, warum ich ihn darum gebeten habe. Nur damit du Bescheid weißt. Ich habe niemandem etwas davon erzählt.«

Das überrascht mich. »Du hast Cheryl das Bild nicht gezeigt?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

Rachel windet sich auf dem unbequemen Hocker. »Es ist doch Irrsinn, David.«

»Was?«

»Diese ganze Sache. Es kann nicht Matthew sein. Wir erlauben unseren Wünschen, unser Urteilsvermögen zu trüben.«

»Rachel«, sage ich.

Sie sieht mir in die Augen.

»Warum hast du das Foto nicht deiner Schwester gezeigt?«, hake ich nach.

Rachel dreht die Ringe an ihren Fingern. Sie wendet ihren Blick ab, der wie ein aufgeschreckter Vogel herumhuscht, um sich schließlich wieder zu beruhigen. »Das musst du doch verstehen«, sagt sie. »Cheryl versucht, wieder auf die Beine zu kommen. Sie versucht, das Ganze hinter sich zu lassen.«

Ich spüre den Herzschlag in meiner Brust.

»Wenn ich es ihr sage, würde ihr das noch einmal den Boden unter den Füßen wegziehen. Wenn es sich als falsche Hoffnung herausstellt … es würde sie fix und fertig machen.«

»Aber mir sagst du es.«

»Weil du nichts hast, David. Wenn ich dir den Boden unter den Füßen wegziehe, spielt das doch keine Rolle? Du hast kein Leben. Du hast schon vor langer Zeit aufgehört zu leben.«

Das mag hart klingen, aber in ihren Worten liegen weder Wut noch Drohung. Sie hat natürlich recht. Es ist eine angemessene Beschreibung meiner Situation. Ich habe nichts zu verlieren. Wenn wir uns hinsichtlich dieses Fotos irren – und objektiv betrachtet, muss ich zugeben, dass die Wahrscheinlichkeit hierfür ziemlich groß ist –, wird sich für mich nichts ändern. Ich werde immer noch an diesem Ort sein, weiter dahindämmern und verrotten, mir keinerlei Mühe geben, diesen Prozess aufzuhalten oder auch nur zu verlangsamen.

»Sie hat wieder geheiratet«, sagt Rachel.

»Das sagtest du schon.«

»Und sie ist schwanger.«

Eine kurze, linke Gerade aufs Kinn, gefolgt von einem kräftigen rechten Haken. Ich taumle zurück und lasse mich anzählen.

»Ich wollte es dir nicht sagen …«, murmelt Rachel.

»Schon in Ordnung.«

»… und wenn wir versuchen, damit etwas zu machen …«

»Ich hab’s begriffen«, sage ich.

»Gut, ich weiß nämlich nicht, was ich tun soll«, sagt Rachel. »Schließlich ist das ja kein Beweis, der einen vernünftigen Menschen überzeugen würde. Es sei denn, du willst, dass ich es versuche. Also, natürlich könnte ich damit zu einem Anwalt oder zur Polizei gehen.«

»Die würden sich höchstens totlachen.«

»Stimmt. Vielleicht könnten wir es der Presse zukommen lassen.«

»Nein.«

»Oder … oder Cheryl. Wenn du es für richtig hältst. Vielleicht bekommen wir so die Erlaubnis, die Leiche zu exhumieren. Eine neue Obduktion oder ein erneuter DNA-Test könnten das eine oder andere beweisen. Vielleicht bekämst du dann einen neuen Prozess …«

»Nein.«

»Was? Warum nicht?«

»Jedenfalls noch nicht«, sage ich. »Wir dürfen niemandem etwas davon erzählen.«

Rachel sieht mich verwirrt an. »Das versteh ich nicht.«

»Du bist doch Journalistin.«

»Ja und?«

»Dann weißt du, wie das läuft«, sage ich. Ich beuge mich ein wenig vor. »Wenn das rauskommt, wird es ein Riesending. Sämtliche Medien werden sich wieder auf uns stürzen.«

»Auf uns? Oder meinst du auf dich?«

Zum ersten Mal höre ich so etwas wie Schärfe in ihrer Stimme. Ich warte einen Moment. Sie irrt sich. Das wird sie gleich merken. Als Matthews Leiche gefunden wurde, war die Berichterstattung in den Medien anfangs wohlwollend und mitfühlend. Sie stellten es so dar, als wäre es einfach ein Teil der menschlichen Tragödie, spielten aber auch mit der Angst, dass der Mörder noch frei herumlaufen könnte, sodass Sie, liebe Öffentlichkeit, auf der Hut sein müssen. In den sozialen Medien war man nicht ganz so zahm. »Es ist ein Verwandter«, lautete einer der ersten Tweets. »Ich wette meinen A… darauf, dass es dieser Loser war, dieser Hausmann«, lautete ein anderer, der viele Likes erhielt. »Wahrscheinlich ist er neidisch auf den Erfolg seiner Frau.« Und so ging es weiter.

Als niemand festgenommen wurde und das Interesse an der Story abflaute, reagierten die Medien frustriert und ungeduldig. Vorgebliche Experten fragten, wie ich das Blutbad verschlafen haben konnte. Und allmählich fanden sich auch Antworten auf ein paar offene Fragen: Die Mordwaffe, ein Baseballschläger, den ich vier Jahre vorher gekauft hatte, wurde in der Nähe unseres Hauses gefunden. Eine Zeugin, unsere Nachbarin Mrs Winslow, behauptete, sie habe gesehen, wie ich ihn in der Mordnacht vergraben hätte. Die Kriminaltechnik bestätigte, dass sich meine Fingerabdrücke – und zwar nur meine – auf dem Schläger befanden.

Die Medien waren begeistert von dieser neuen Sicht auf die Dinge, vor allem, weil sie einer hinlänglich durchgekauten Geschichte neues Leben einhauchte und so wieder für Aufmerksamkeit sorgte. Sie schwärmten herbei. Ein Psychiater, der mich in der Vergangenheit behandelt hatte, ließ durchblicken, dass ich unter Nachtangst litt und schlafwandelte. Cheryl und ich hätten ernsthafte Eheprobleme gehabt und sie hätte womöglich eine Affäre gehabt… Sie verstehen schon. In den Kommentaren wurde gefordert, dass man mich festnehmen und vor Gericht stellen müsse. Es hieß, ich würde eine Vorzugsbehandlung bekommen, weil mein Vater Polizist war. Was habe man sonst noch alles vertuscht? Wenn ich nicht weiß wäre, säße ich längst hinter Gittern. Das sei Rassismus, ich würde Privilegien genießen, offensichtlich würde da nicht mit gleichem Maß gemessen.

Vieles davon stimmte wohl.

»Glaubst du, dass ich mir aus schlechter Presse etwas machen würde?«, frage ich Rachel.

»Nein«, sagt sie leise. »Aber ich begreif es nicht. Wie sollten die Medien uns jetzt noch schaden können?«

»Sie werden darüber berichten.«

»Ja, das ist schon klar. Na und?«

Sie sieht mir wieder in die Augen. »Alle werden das erfahren«, sage ich. »Auch …«, ich zeige auf die Erwachsenenhand auf dem Foto, die Matthews Hand hält, »… der da.«

Stille.

Ich warte auf eine Antwort. Als ich keine bekomme, sage ich: »Begreifst du es nicht? Wenn er es erfährt, wenn er herausbekommt, dass wir ihm auf der Spur sind oder was auch immer …, wer weiß, wie er reagiert? Vielleicht flieht er. Taucht unter, damit wir ihn nicht finden. Oder das Risiko wird ihm zu groß. Er hat sich in Sicherheit gewiegt. Wenn sich das ändert, könnte er mögliche Beweise endgültig vernichten.«

»Aber die Polizei«, sagt Rachel. »Die kann doch heimlich ermitteln.«

»Vergiss es. Da sickert immer was durch. Außerdem werden die das sowieso nicht ernst nehmen. Nicht aufgrund dieses Fotos. Das weißt du auch.«

Rachel schüttelt den Kopf. »Was willst du dann tun?«

»Du bist doch eine angesehene investigative Journalistin«, sage ich.

»Nicht mehr.«

»Wieso? Was ist passiert?«

Wieder schüttelt sie den Kopf. »Ist eine lange Geschichte.«

»Wir müssen mehr in Erfahrung bringen«, sage ich.

»Wir?«

Ich nicke. »Ich muss hier raus.«

»Wovon zum Teufel sprichst du?«

Sie sieht mich besorgt an. Ich kann das nachvollziehen. Ich höre es selbst an meinem Tonfall. Etwas von dem alten Schwung ist wieder da. Nach Matthews Ermordung habe ich mich gewissermaßen in Fötusstellung zusammengerollt und auf das Ende gewartet. Mein Sohn war tot. Alles andere war unwichtig.

Aber jetzt …

Der Summer ertönt. Die Wärter betreten den Raum. Curly legt eine Hand auf meine Schulter.

»Die Zeit ist um.«

Schnell steckt Rachel das Foto wieder in den Umschlag. Das weckt in mir eine Sehnsucht, ein Verlangen, das Foto weiter anzustarren, eine Angst, dass alles nur eine Illusion war. Denn jetzt, wo ich es nicht mehr vor Augen habe, auch wenn es erst ein paar Sekunden her ist, verschwimmt alles sofort, und ich habe das Gefühl, mich an Rauch zu klammern. Ich versuche das Bild meines Jungen in mein Gehirn einzubrennen, aber sein Gesicht fängt bereits an, sich aufzulösen wie das letzte Bild eines Traums.

Rachel steht auf. »Ich wohne in der Motor Lodge ein Stück die Straße hinunter.«

Ich nicke.

»Ich komm morgen wieder.«

Wieder nicke ich.

»Und wenn du mich fragst …, ich glaube auch, dass er es ist.«

Ich öffne den Mund, um ihr zu danken, bekomme aber nichts heraus. Doch das macht nichts. Sie dreht sich um und geht. Curly drückt mir die Schulter.

»Was war das denn jetzt?«, fragt er mich.

»Sag dem Direktor, dass ich ihn sehen will.«

Curly lächelt und zeigt mir dabei seine Zähne, die wie kleine Minzbonbons aussehen. »Der Direktor empfängt keine Gefangenen.«

Ich stehe auf. Ich sehe ihm in die Augen. Und zum ersten Mal seit Jahren lächle ich. Ein richtiges Lächeln. Als Curly das sieht, weicht er einen Schritt zurück.

»Mich wird er empfangen, sag es ihm.«

Drei

Was willst du, David?«

Gefängnisdirektor Philip Mackenzie scheint über meinen Besuch nicht erfreut zu sein. Sein Büro ist so karg eingerichtet, wie es für eine solche Anstalt angemessen ist. In einer Ecke hängt eine amerikanische Flagge an einer Stange und daneben ein Foto des amtierenden Gouverneurs. Sein Metallschreibtisch ist grau und funktional und erinnert mich an die meiner Grundschullehrer. Auf der rechten Seite steht ein Stifthalter-Set aus Messing mit Uhr, wie man es in der Geschenkabteilung von TK Maxx findet. Hinter dem Schreibtisch ragen zwei dazu passende graue Metallaktenschränke wie Wachtürme in die Höhe.

»Also?«

Ich habe meine Worte einstudiert, halte mich aber nicht an das Drehbuch. Ich bemühe mich, mit ruhiger, monotoner, ja professioneller Stimme zu sprechen. Ich weiß, dass der Inhalt verrückt klingt, also muss mein Tonfall diesem Eindruck entgegenwirken. Der Gefängnisdirektor lehnt sich zurück, hört mir zu und sieht anfangs gar nicht allzu entgeistert aus. Als ich fertig bin, lehnt er sich zurück und wendet den Blick ab. Er atmet ein paar Mal tief durch. Philip Mackenzie ist über siebzig Jahre alt, wirkt aber immer noch kräftig genug, um eine der Stahlbetonmauern einzureißen, die diesen Ort umgeben. Er hat eine kräftige Brust, sein kahler Kopf klemmt zwischen zwei Bowlingkugel-Schultern, sodass ein Hals offenbar nicht nötig ist. Seine Hände sind groß und knorrig. Sie liegen wie zwei Rammböcke auf dem Schreibtisch.

Schließlich sieht er mich aus seinen von buschigen weißen Augenbrauen gekrönten blauen Augen an.

»Das ist doch wohl nicht dein Ernst«, sagt er.

Ich richte mich auf. »Es ist Matthew.«

Er winkt mit seiner riesigen Hand ab. »Ach, lass gut sein, David. Was soll das werden?«

Ich starre ihn nur an.

»Du versuchst, hier irgendwie rauszukommen. Wie alle Insassen.«

»Du hältst es für einen Trick, damit ich entlassen werde?« Ich versuche, meine Stimme davon abzuhalten, sich zu überschlagen. »Glaubst du, es würde mich einen Scheißdreck interessieren, ob ich je aus diesem Höllenloch rauskomme?«

Philip Mackenzie seufzt und schüttelt den Kopf.

»Philip«, sage ich, »mein Sohn läuft da draußen irgendwo rum.«

»Dein Sohn ist tot.«

»Nein.«

»Du hast ihn umgebracht.«

»Nein. Ich kann dir das Foto zeigen.«

»Das Foto, das deine Schwägerin dir gezeigt hat?«

»Ja.«

»Okay, alles klar. Und darauf soll ich deinen Sohn Matthew erkennen, der vor fünf Jahren als Dreijähriger gestorben ist?«

Ich antworte nicht.

»Und nehmen wir einfach mal an, was weiß ich, dass ich ihn erkennen würde. Was ich nicht kann. Das ist einfach unmöglich, das sagst ja selbst du. Aber nehmen wir dennoch an, der Junge auf dem Foto wäre Matthews Ebenbild. Du hast gesagt, dass Rachel es mit einer Alterungssoftware hat überprüfen lassen, richtig?«

»Richtig.«

»Woher willst du dann wissen, dass sie nicht einfach das von der Alterungssoftware erzeugte Bild mit Photoshop in das Foto eingefügt hat?«

»Was?«

»Weißt du, wie einfach es ist, Fotos zu fälschen?«

»Das soll doch wohl ein Witz sein?« Ich runzle die Stirn. »Warum sollte sie so etwas tun?«

Philip Mackenzie hält plötzlich in der Bewegung inne. »Moment. Ach so, klar doch.«

»Was ist?«

»Du weißt vermutlich überhaupt nicht, was Rachel passiert ist.«

»Wovon sprichst du?«

»Ihre Karriere als Journalistin. Die ist vorbei.«

Ich sage nichts.

»Das wusstest du nicht, oder?«

»Es tut nichts zur Sache«, sage ich. Aber natürlich tut es das sehr wohl. Ich beuge mich vor und fixiere den Mann, den ich mein Leben lang als Onkel Philip kenne. »Ich bin hier jetzt seit vier Jahren«, sage ich so ruhig ich kann. »Wie oft habe ich dich um Hilfe gebeten?«

»Nicht ein einziges Mal«, sagt er. »Das heißt aber nicht, dass du keine bekommen hättest. Hältst du es für einen Zufall, dass du bei mir im Gefängnis gelandet bist? Oder dass du so viel zusätzliche Zeit in einer Einzelzelle verbracht hast? Die wollten dich wieder in den normalen Vollzug schicken, selbst nach der Prügelei.«

Das war drei Wochen nach meiner Inhaftierung. Ich war im Normalvollzug, nicht wie jetzt in der Einzelzelle. Vier Männer, deren Körpermasse allenfalls durch ihre Verkommenheit übertroffen wurde, drängten mich in der Dusche in die Ecke. In der Dusche. Der älteste Trick der Welt. Es war keine Vergewaltigung. Nichts Sexuelles. Sie wollten nur jemanden verprügeln, um in eine Art primitiven Rausch zu geraten – und wer wäre da besser geeignet als der neue, prominente Kindermörder? Sie brachen mir die Nase. Sie zertrümmerten meinen Wangenknochen. Mein gebrochener Kiefer klapperte wie eine Tür, der ein Scharnier fehlt. Vier gebrochene Rippen. Gehirnerschütterung. Innere Blutungen. Auf dem rechten Auge kann ich nur noch verschwommen sehen.

Ich lag zwei Monate auf der Krankenstation.

Ich ziehe mein Ass aus dem Ärmel. »Du bist mir was schuldig, Philip.«

»Korrigiere: Ich bin deinem Vater etwas schuldig.«

»Das ist inzwischen das Gleiche.«

»Glaubst du, ein Schuldschein geht auf den Sohn über?«

»Was würde Vater dazu sagen?«

Philip Mackenzie wirkt gequält und plötzlich auch erschöpft.

»Ich habe Matthew nicht umgebracht«, sage ich.

»Ein Häftling, der mir erzählt, dass er unschuldig ist«, sagt er und schüttelt ein wenig amüsiert den Kopf. »Muss das erste Mal sein.«

Philip Mackenzie steht auf und tritt ans Fenster. Er blickt über die Gefängnismauer in den Wald. »Als dein Vater zum ersten Mal von der Sache mit Matthew gehört hat … und schlimmer noch, als er erfahren hat, dass du verhaftet wurdest …« Seine Stimme wird leiser. »… warum hast du eigentlich nicht auf vorübergehende Unzurechnungsfähigkeit plädiert, David?«

»Glaubst du, ich hätte Interesse daran gehabt, mir ein juristisches Schlupfloch zu suchen?«

»Es wäre kein Schlupfloch gewesen«, sagt Philip, und jetzt liegt Mitleid in seiner Stimme. Er dreht sich wieder zu mir um. »Du hattest einen Blackout. Irgendetwas ist da durchgebrannt. Es muss eine Erklärung dafür geben. Wir hätten alle zu dir gehalten.«

In meinem Kopf beginnt es zu pochen – das ist entweder eine weitere Spätfolge der Prügelei oder es kommt von seinen Worten. Ich schließe die Augen und atme tief durch. »Hör mir bitte zu. Es war nicht Matthew. Und was auch immer da geschehen ist, ich war es nicht.«

»Dann hat dich also jemand reingelegt, ja?«

»Ich weiß es nicht.«

»Und wessen Leiche hast du dann im Bett gefunden?«

»Ich weiß es nicht.«

»Wie erklärst du deine Fingerabdrücke auf der Mordwaffe?«

»Das war mein Baseballschläger. Er war in der Garage.«

»Und was ist mit der alten Dame, die gesehen hat, wie du ihn vergraben hast?«

»Auch das weiß ich nicht. Ich weiß nur das, was ich auf dem Foto gesehen habe.«

Wieder seufzt der ältere Mann. »Ist dir eigentlich klar, wie irre das klingt, was du mir da erzählst?«

Ich stehe jetzt auch auf. Zu meiner Überraschung weicht Philip einen Schritt zurück, als hätte er Angst vor mir. »Du musst mich hier rausholen«, flüstere ich. »Zumindest für ein paar Tage.«

»Bist du verrückt geworden?«

»Gewähr mir einen Sonderurlaub wegen eines Trauerfalls in der Familie oder so was.«

»Bei solchen Verbrechen, wie du sie begangen hast, gibt es so etwas nicht. Das weißt du doch.«

»Dann finde einen Weg, mir einen Ausbruch zu ermöglichen.«

Er lacht. »O klar doch, kein Problem. Und selbst wenn wir rein hypothetisch annehmen, dass ich das könnte, dann wird die gesamte Polizei hinter dir her sein. Das wird brutal, David. Du bist ein Kindermörder. Sie werden dich ohne zu zögern abknallen.«

»Das ist nicht dein Problem.«

»Natürlich ist es das.«

»Stell dir einfach mal vor, dir wäre das passiert«, sage ich.

»Was?«

»Versetz dich mal in meine Situation. Stell dir vor, Adam wäre der ermordete Junge. Was würdest du tun, um ihn zu finden?«

Philip Mackenzie schüttelt den Kopf und sinkt wieder auf seinem Stuhl zusammen. Er legt die Hände aufs Gesicht und reibt es kräftig. Dann drückt er den Knopf auf der Sprechanlage und ruft einen Wärter.

»Auf Wiedersehen, David.«

»Bitte, Philip.«

»Tut mir leid. Tut mir wirklich leid.«

***

Philip Mackenzie wandte den Blick ab, um nicht mit ansehen zu müssen, wie der Gefängniswärter eintrat und David hinausführte. Er verabschiedete sich nicht von seinem Patenkind. Als sie gegangen waren, blieb Philip allein in seinem Büro sitzen. Die Luft um ihn herum fühlte sich schwer an. Er hatte gehofft, dass Davids Bitte, ihn sehen zu dürfen – die erste, die David in den fast fünf Jahren, die er hier verbracht hatte, an ihn herantrug –, in irgendeiner Form ein positives Zeichen sein würde. Dass David endlich bereit war, fachliche Hilfe für seine psychische Gesundheit in Anspruch zu nehmen. Oder dass er anfing, sich mit dem auseinanderzusetzen, was er in dieser schrecklichen Nacht getan hatte. Oder dass er zumindest versuchte, selbst hier, selbst nach dem, was er getan hatte, ein produktives Leben zu führen.

Philip öffnete seine Schreibtischschublade und nahm ein Foto aus dem Jahr 1973 heraus, das zwei junge Männer – Korrektur: zwei dumme Jungs – in Uniform im vietnamesischen Khe Sanh zeigte. Philip Mackenzie und Lenny Burroughs, Davids Vater. Beide waren vor ihrer Einberufung auf die Revere Highschool gegangen. Philip war im obersten Stockwerk eines Dreifamilien-Reihenhauses in der Centennial Avenue aufgewachsen. Lenny hatte einen Block weiter in der Dehon Street gewohnt. Beste Freunde. Kriegskameraden. Polizisten, die am Revere Beach Streife gingen. Philip war Davids Patenonkel geworden, Lenny der von Philips Sohn Adam. Adam und David waren zusammen zur Schule gegangen. Auf der Revere High School waren sie beste Freunde geworden. Der Kreis hatte sich geschlossen.

Philip starrte das Bild seines alten Freundes an. Lenny lag inzwischen im Sterbebett. Niemand konnte ihm helfen. Es war nur noch eine Frage der Zeit. Der Lenny auf dem alten Foto lächelte dieses Lenny-Burroughs-Lächeln, das Lächeln, das Herzen zum Schmelzen brachte, aber sein Blick schien sich direkt in Philips Augen zu bohren.

»Ich kann da nichts machen, Lenny«, sagte er laut.

Der Foto-Lenny lächelte und starrte ihn weiter an.

Philip atmete ein paar Mal tief durch. Es war schon spät. Kurz vor Feierabend. Er streckte die Hand aus und drückte wieder auf den Knopf der Gegensprechanlage auf seinem Schreibtisch.

Seine Sekretärin sagte: »Ja, Herr Direktor?«

»Buchen Sie mir ein Ticket für den ersten Flug nach Boston morgen früh.«

Vier

In einem Gefängnis ist es nie still.

Mein ›experimenteller‹ Trakt besteht aus achtzehn in einem Kreis angeordneten Einzelzellen. In der Zellentür sind immer noch die klassischen, altmodischen Gitter eingebaut, durch die man hindurchsehen kann. Eine der seltsamsten architektonischen Ideen besteht darin, dass sich die Toiletten-Waschbecken-Kombination – ja, es handelt sich um ein multifunktionales Edelstahl-Modul – direkt neben den Gittern befindet. Im Gegensatz zu den normalen Zellen sind hier in der Ecke kleine private Duschen eingebaut – für den Fall, dass jemand zu lange duscht, haben die Wärter draußen Absperrventile. Die Matratze auf dem Gussbeton-Bett ist so dünn, dass man fast hindurchsehen kann. An den vier Ecken des Betts befinden sich Ösen für Fixierungsgurte. Bisher wurden sie bei mir nicht gebraucht. Außerdem gibt es einen Gussbeton-Schreibtisch und einen Gussbeton-Hocker. Ich habe einen Fernseher und ein Radio, in dem nur religiöse oder Bildungsprogramme laufen. Die Aussicht auf ein winziges Stück Himmel durch den schräg nach oben verlaufenden Fensterschlitz quält mich Tag für Tag.

Ich lege mich auf besagtes Betonbett und starre an die Zellendecke. Ich kenne diese Decke in- und auswendig. Ich schließe die Augen und versuche, die Fakten zu ordnen. Ich gehe den Tag noch einmal durch – diesen furchtbaren Tag – und überlege, ob ich vielleicht etwas übersehen habe. Ich war mit Matthew draußen, zuerst auf dem nahe gelegenen Spielplatz am Ententeich und dann im Supermarkt in der Oak Street. Ist mir an einem dieser Orte eine verdächtige Person aufgefallen? Natürlich nicht, aber jetzt blicke ich zurück und suche in meinem Gedächtnis nach Details, die mir bisher entgangen sind. Ich finde nichts. Man sollte annehmen, dass ich mich an diesen Tag besser erinnere, dass ich jeden Augenblick noch lebhaft im Gedächtnis habe, aber die Erinnerungen verschwimmen von Tag zu Tag immer mehr.

Auf dem Spielplatz habe ich auf der Bank neben einer jungen Mutter mit einem dieser aggressiv hypermodernen Kinderwagen gesessen. Die junge Mutter hatte eine Tochter in Matthews Alter. Hat sie mir den Namen ihrer Tochter genannt? Wahrscheinlich, aber ich weiß ihn nicht mehr. Sie trug ein Yoga-Outfit. Worüber haben wir gesprochen? Ich weiß es nicht mehr. Wonach genau suche ich? Auch das weiß ich nicht. Vermutlich nach dem Mann, zu dem diese Hand gehört – die Hand des Erwachsenen, die Matthews auf Rachels Foto hält. Hat dieser Mann uns auf dem Spielplatz beobachtet? Ist er uns gefolgt?

Ich habe keine Ahnung.

Ich gehe den Rest des Tages durch. Wir kommen nach Hause. Ich bringe Matthew ins Bett. Ich schenke mir einen Drink ein. Zappe im Fernsehen herum. Irgendwann muss ich ins Bett gegangen sein. Ich erinnere mich nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass ich den Geruch von Blut in der Nase hatte, als ich dort aufgewacht bin. Ich weiß noch, wie ich den Flur entlanggegangen bin …

Mit einem lauten Knall wird das Licht im Gefängnis eingeschaltet. Ich schrecke hoch. Mein Gesicht ist schweißgebadet. Es ist Morgen. Mir pocht das Herz. Ich schnappe ein paar Mal nach Luft und versuche mich zu beruhigen.

Das, was ich in diesem Marvel-Superhelden-Pyjama gesehen habe, diese schreckliche, entstellte, blutige Masse … das war nicht Matthew. Nur so kann es gewesen sein. Es war nicht mein Sohn.

Wäre das möglich?

Zweifel bohren sich in mein Gehirn. Wieso sollte er es nicht gewesen sein? Aber im Moment kann ich mir keine Zweifel erlauben. Zweifel bringen nichts. Wenn ich falschliege, werde ich das irgendwann erfahren, und dann stehe ich wieder da, wo ich jetzt stehe. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Also für den Moment: keine Zweifel. Nur Fragen, wie es möglich sein könnte. Vielleicht, mutmaße ich, diente das brutale Vorgehen dazu, die Identität des Opfers – ja, so ist es gut, sieh den Jungen im Marvel-Pyjama als Opfer, nicht als Matthew – zu verschleiern. Natürlich war das Opfer männlich. Es war so groß wie Matthew, hatte einen ähnlichen Körperbau und eine ähnliche Hautfarbe. Es hatte keinerlei Fakten gegeben, die die Identität des Opfers infrage stellten.

Oder?

Meine Mitgefangenen vollführten ihre täglichen Morgenrituale. Wir sind zwar allein in unseren dreieinhalb mal zwei Meter großen Zellen, können aber fast alle anderen Insassen sehen. Das soll ›gesünder‹ sein als die älteren Trakte, in denen es überhaupt keine soziale Interaktion gab, sodass man zu stark isoliert war. Ich wünschte, sie hätten sich die Mühe gespart, denn je weniger Interaktion, desto besser. Earl Clemmons, ein Serienvergewaltiger, beginnt den Tag mit einer detaillierten Berichterstattung zu seinem morgendlichen Toilettenbesuch mit Soundeffekten wie jubelnde Menschenmengen oder einer ausführlichen ›Sportberichterstattung‹, bei der er mit einer Stimme den Bericht und mit einer anderen die launigen Experten-Kommentare spricht. Ricky Krause, ein Serienmörder, der seinen Opfern mit einer Rosenschere die Daumen abgeschnitten hat, startet den Tag gerne mit einer Art Songparodie, wobei er den Texten alter Klassiker seinen eigenen perversen Dreh verpasst. In diesem Moment schmettert Ricky immer wieder »Someone’s in the kitchen, getting vagina«, angelehnt an Nat King Coles Someone’s in the kitchen with Dinah. Er schreit immer lauter und lauter, je heftiger die Typen um ihn herum brüllen, dass er still sein soll.

Wir stellen uns in die Schlange fürs Frühstück. Früher wurden den Insassen in diesem Trakt die Mahlzeiten gebracht, so als hätten wir bei DoorDash oder irgendeinem andern Lieferdienst bestellt. Das ist vorbei. Ein Mitgefangener hat protestiert und vorgebracht, dass es gegen die Verfassung verstoße, einen Mann zu zwingen, allein in seiner Zelle zu essen. Er hat sogar Klage eingereicht. Gefangene reichen gerne Klage ein. In diesem Fall hat die Gefängnisverwaltung die Gelegenheit allerdings beim Schopf gepackt, um das System fest zu etablieren. Schließlich war es teuer und arbeitsintensiv, die Gefangenen in ihren Zellen zu bewirten.

In der kleinen Cafeteria sind sowohl die vier Tische als auch die Metallhocker am Boden festgeschraubt. Ich laufe normalerweise ein bisschen hin und her und warte, bis alle anderen Platz genommen haben, um dann den Hocker zu nehmen, der mir den größtmöglichen Abstand zu den lebhafteren Mitgefangenen gewährt. Nicht, dass es hier keine anregenden Unterhaltungen gäbe. Neulich waren mehrere Insassen in einen hitzigen Wettstreit darüber geraten, wer die älteste Frau vergewaltigt hätte. Earl ›übertrumpfte‹ seine Kontrahenten mit der Behauptung, er habe Analverkehr mit einer Siebenundachtzigjährigen gehabt, nachdem er über die Feuerleiter in ihre Wohnung eingedrungen sei. Die anderen Insassen bezweifelten den Wahrheitsgehalt von Earls Behauptung – sie meinten, er übertreibe, um bei ihnen ›Eindruck zu schinden‹ –, aber am nächsten Tag brachte Earl ein paar Zeitungsausschnitte mit, die er aufbewahrt hatte.

Heute Morgen habe ich Glück. An einem Tisch sitzt noch niemand. Nachdem ich mir etwas Rührei aus Trockenei, Speck und Toast geholt habe – ich erspare mir den eigentlich unvermeidlichen Kommentar über die Scheußlichkeit des Gefängnisessens –, nehme ich den Hocker in der hintersten Ecke und fange an zu essen. Ich habe seit Langem zum ersten Mal wieder Appetit. Ich merke, dass meine Gedanken nicht mehr zu jener Nacht zurückkehren, auch nicht zu dem Foto, sondern dass mein Gehirn sich mit etwas Irrwitzigem und Fantastischem beschäftigt.

Wie man aus dem Briggs Penitentiary ausbrechen kann.

Da ich schon lange genug hier bin, kenne ich die Routinen, die Wärter, das Gelände, den täglichen Ablauf, das Personal und so weiter. Ergebnis: Es gibt keine Möglichkeit auszubrechen. Absolut keine. Ich muss über den Tellerrand blicken.

Als ein Tablett vor mir auf den Tisch knallt, schrecke ich auf. Mir wird eine Hand ins Gesicht gestreckt, damit ich sie schüttele. Ich hebe den Blick und sehe dem Mann ins Gesicht. Es heißt, die Augen seien die Fenster zur Seele. Wenn das stimmt, dann steht in diesem Fenster ein Schild mit der Aufschrift: BELEGT.

»David Burroughs, stimmt’s?«

Ich weiß, dass er Ross Sumner heißt. Er wurde letzte Woche hierherverlegt, angeblich um darauf zu warten, dass über seine Berufung entschieden wird, die keinerlei Aussicht auf Erfolg hat. Ich bin allerdings überrascht, dass sie ihn überhaupt aus seiner Zelle gelassen haben. Sumners Fall hat Schlagzeilen gemacht, war Stoff für Dokumentarfilme und True-Crime-Podcasts. Er war der Inbegriff eines Preps – nennt man die jungen Männer aus superreichen Familien eigentlich noch so? –, der übergeschnappt und auf die dunkle Seite gewechselt ist. Ross, gut aussehend im Sinne einer Ralph-Lauren-Werbung, hatte mindestens siebzehn Menschen ermordet – Männer, Frauen, Kinder jeden Alters – und ihren Magen-Darm-Trakt verspeist. Mehr nicht. Nur den Magen-Darm-Trakt. In einem hochwertigen Sub-Zero-Gefrierschrank im Keller seines Familienanwesens hatte man Leichenteile gefunden. All diese Fakten sind unstrittig. Sumners Berufung wendet sich einzig und allein gegen die Bewertung der Jury, dass er zurechnungsfähig ist.

Ross Sumner hält mir immer noch die Hand vors Gesicht und wartet darauf, dass ich sie schüttele. Ein Lächeln liegt in seinem Gesicht. Ich würde lieber einer lebendigen Ratte einen Zungenkuss geben, als ihm die Hand zu schütteln, aber im Gefängnis tut man, was man tun muss. Widerwillig schüttle ich so kurz wie möglich seine Hand. Sie ist erstaunlich klein und zierlich. Als ich meine zurückziehe, kann ich nicht anders, als daran zu denken, was diese Hand alles berührt hat. Angeblich hat er seine Opfer bei lebendigem Leib aufgeschlitzt und den Schlitz dann mit den Händen – auch mit dieser Hand – weiter aufgerissen, ihnen in den Bauchraum gegriffen und die Eingeweide herausgezogen.

So viel zum Thema wieder Appetit haben.

Ross Sumner lächelt, als könnte er meine Gedanken lesen. Er ist etwa dreißig Jahre alt, hat tiefschwarze Haare und feine Gesichtszüge. Er setzt sich auf den Hocker gegenüber. Ich Glückspilz.

»Ich bin Ross Sumner«, sagt er.

»Ja, das weiß ich.«

»Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, dass ich mich zu Ihnen setze.«

Ich sage nichts.

»Es ist nur so, dass die anderen Männer hier …«, Ross schüttelt den Kopf, »… ich finde sie ziemlich derb. Unkultiviert, wenn Sie so wollen. Wissen Sie, dass wir beide hier die Einzigen sind, die einen Uni-Abschluss haben?«

»Tatsächlich?« Ich nicke. Mein Blick bleibt auf meinem Teller.

»Sie waren in Amherst, oder?«

Er hat Amherst richtig ausgesprochen, das H bleibt stumm.

»Gute Uni«, fährt er fort. »Mir gefiel es besser, als sie sich noch Lord Jeffs nannten. Die Amherst Lord Jeffs. Was für ein erlauchter Name. Aber das hat der ach so woken Masse natürlich nicht gefallen, stimmt’s? Sie müssen ja unbedingt über einen Mann herziehen, der im 18. Jahrhundert verstorben ist. Absurd, finden Sie nicht auch?«

Ich stochere mit der Gabel in meinem Rührei herum.

»Also wirklich, jetzt nennen sie sich die Amherst Mammoths. Mammuts? Ich bitte Sie. Diese politische Korrektheit ist doch erbärmlich, oder? Aber ich verrate Ihnen etwas, das Sie gerne hören werden. Ich war auf dem Williams College. Bei den Ephs. Damit wären wir also Rivalen. Komisch, oder?«

Sumner grinst jungenhaft.

»Ja«, sage ich. »Urkomisch.«

Dann sagt er: »Ich habe gehört, dass Sie gestern Besuch hatten.«

Ich erstarre. Ross Sumner sieht es.

»Oh, schauen Sie nicht so überrascht, David.«

Das jungenhafte Grinsen ist immer noch in seinem Gesicht. Wahrscheinlich hat ihn dieses Grinsen weit gebracht. Rein äußerlich ist es ein nettes, charmantes Grinsen, ein Grinsen, das Türen öffnet und Hemmungen abbaut. Wahrscheinlich war es auch das Letzte, was seine Opfer gesehen haben.

»Das hier ist ein kleines Gefängnis. Man hört so einiges.«

Das ist wahr. Gerüchten zufolge scheut sich die Familie Sumner nicht, ihr Geld dafür einzusetzen, ihm eine Vorzugsbehandlung zu sichern. Ich glaube diesen Gerüchten.

»Ich bemühe mich, immer auf dem Laufenden zu bleiben.«

»Mhm«, sage ich und blicke auf mein Rührei.

»Und wie ist es gelaufen?«, fragt er.

»Wie ist was gelaufen?«

»Das Treffen. Mit Ihrer … Schwägerin, richtig?«

Ich antworte nicht.

»Muss doch toll sein, stimmt’s? Ihr erster Besuch nach so langer Zeit. Sie haben etwas abwesend gewirkt, bevor ich zu Ihnen rübergekommen bin.«

Ich blicke auf. »Hören Sie, Ross, ich würde gern essen, okay?«

Ross reißt abwehrend die Arme hoch. »Oh, entschuldigen Sie, David. Ich wollte Sie nicht aushorchen. Ich wollte nur, dass wir Freunde werden. Mich dürstet nach jeder Art intellektueller Stimulation. Ich könnte mir gut vorstellen, dass es Ihnen ähnlich geht. Da wir beide eine Universität absolviert haben, die zu den ›Little Ivies‹ zählt, hatte ich gehofft, dass wir etwas gemeinsam haben. Dass eine Art Verbindung zwischen uns besteht. Aber offensichtlich habe ich Sie zu einem schlechten Zeitpunkt erwischt. Ich bitte nochmals um Entschuldigung.«

»Schon gut«, murmle ich. Ich nehme einen weiteren Bissen. Ich spüre, wie Sumners mich ansieht.

Dann flüstert er: »Denken Sie gerade an Ihren Sohn?«

Ein Schauer läuft mir vom Schädelansatz den Rücken hinunter. »Was?«