Nur über meine Leiche! - Ruth Gogoll - E-Book

Nur über meine Leiche! E-Book

Ruth Gogoll

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Beschreibung

Dorothea Dhan trauert nach zwei Jahren noch immer um ihre verstorbene Frau, als Aenne Liebig in ihr Leben fegt – im wahrsten Sinne des Wortes, denn Dorothea stolpert über den Besen, den Aenne gerade schwingt. Fasziniert von dem rothaarigen Wirbelwind vergisst Dorothea für einen Moment ihren Vorsatz, sich nie wieder in eine Frau zu verlieben, glaubt auch, dass sie das gar nicht kann, weil ihre Frau ihre große Liebe war. Doch von Aennes Charme überrumpelt lässt sie sich fast ohne es zu wollen zum Kaffee einladen. Schon bald plagen sie jedoch Gewissensbisse, denn es fühlt sich wie Fremdgehen an. Zudem Aenne von der Sorte Frau ist, die es an keinem Ort und bei keiner Frau länger hält. Dorothea will sich daher wieder in ihr Schneckenhaus zurückziehen, wo sie es sich in ihrer Trauer gemütlich gemacht hatte, aber so leicht wird sie Aenne nicht wieder los – und es scheint für Aenne eine ganz neue Erfahrung zu sein, sich so intensiv um eine Frau zu bemühen . . .

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Ruth Gogoll

NUR ÜBER MEINE LEICHE!

Liebesroman

© 2022édition el!es

www.elles.de [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-360-9

Coverfoto:

1

»Nur über meine Leiche!« Dorothea Dhan, von ihrer Freundin Kirsten, die ihr gerade im Café gegenübersaß, normalerweise Doro genannt, schaute Kirsten missbilligend an.

»Das ließe sich bestimmt arrangieren«, erwiderte Kirsten trocken auf Doros gerade erfolgten Gefühlsausbruch. »Aber so schlimm ist es ja nun auch wieder nicht.«

»Das sagst du!« Immer noch – oder eher schon wieder, denn sie diskutierten dieses Thema nicht zum ersten Mal –, blickte Doro empört.

Augenrollend schüttelte Kirsten den Kopf. »Seit deinem fünfzigsten Geburtstag bist du wirklich komisch geworden.«

Ungläubig beugte Doro sich vor. »Mein fünfzigster Geburtstag war vor fast zwei Jahren, meine Liebe.«

»Und das habe ich auch nicht vergessen, meine Liebe«, gab Kirsten süffisant zurück. »Ich war da, falls du dich erinnerst. Bei deinem . . .«, sie schnalzte mit der Zunge, »Besäufnis. In Tränen«, fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu. »Alkohol trinkst du ja nicht.«

»Willst du mir das jetzt auch noch vorwerfen?« In einer Mischung aus fast vergangener Empörung und neu aufgekommener – oder im Hintergrund immer dagewesener – Resignation blickte Doro zuerst Kirsten an, dann auf den Tisch. »Das hat doch alles keinen Sinn mehr. Schon lange nicht.«

»Seit Ute gestorben ist. Ich weiß.« Auf einmal klang Kirstens Stimme durchaus teilnahmsvoll. »Aber das war vor deinem Fünfzigsten – wie wir gerade festgestellt haben. Und selbst der ist nun schon fast zwei Jahre her. Utes Tod noch länger.«

Bei den Worten ›Utes Tod‹ zuckte Doro zusammen.

»Tut mir leid«, sagte Kirsten sofort. »Aber es hat doch keinen Sinn, um die Sache herumzureden. Das sind nun einmal die Tatsachen. Denen du dich stellen musst. Und nicht in Tränen zerfließen oder in . . .«, sie wies auf die Kaffeetasse vor Doro, »Kaffee. Tut dir gar nicht gut.«

»Wen interessiert das?« Doro blickte kurz hoch. »Gibt nicht mehr viel anderes, das ich habe«, ergänzte sie dann schicksalsergeben, während sie den Blick wieder senkte.

»Um deinen Kummer zu ertränken? Richtig.« Kirsten nickte. »Davon rede ich ja gerade. Du bist noch nicht alt, noch nicht einmal zweiundfünfzig, und du bist noch lange nicht tot.« Sich vorbeugend griff sie nach Doros Hand. »Warum hörst du nicht auf mich? Du weißt, dass ich es nur gut meine.«

»Das weiß ich.« Doro atmete tief durch. »Aber verstehst du nicht, Kiri –«

»Natürlich verstehe ich. Oh ja, ich verstehe sehr gut.« Aufseufzend ließ Kirsten sich in ihren Stuhl zurückfallen. »Du wärst gern mit Ute gestorben. Und ihr dann beide gemeinsam vor der Himmelstür . . . Gleich darauf zusammen auf einer Wolke. Harfenspielend. Für den Rest der Ewigkeit.«

Doro riss die Augen auf. »Du verstehst eben doch nicht. Du hast immer noch Sven . . .«

»Natürlich habe ich ihn. Und darüber bin ich auch froh. So oft ich mich über ihn ärgere.« Kirsten lachte. »Aber das ist hier jetzt nicht das Thema. Du hast recht.« Erneut beugte sie sich vor. »Wenn Sven sterben würde, so kurz vor unserer Silbernen Hochzeit –«

In Doros Augen stiegen Tränen.

»Entschuldige.« Mit tröstender Entschlossenheit griff Kirsten nach Doros Hand und drückte sie fest. »So war das nicht gemeint. Aber du kannst dich wirklich nicht in Kaffee ersäufen für die nächsten dreißig Jahre. Oder mehr. Ganz allein.«

»Du meinst, zu zweit wäre das angenehmer?«, bemerkte Doro sarkastisch. Dann verzog sie die Lippen. »Aber keine Sorge. Dreißig Jahre sind es auf keinen Fall mehr. Dafür werde ich schon sorgen. Denn das hat ja sowieso alles keinen Sinn mehr . . .«

»Wirst du wohl aufhören, so zu reden!« Kirsten drückte Doros Hand so fest, dass Doro einen leisen Schmerzenslaut von sich gab.

»Au! Was machst du da?«

»Dich aufwecken, hoffe ich«, sagte Kirsten. »Ich habe das Gefühl, du bist gar nicht richtig da. Sitzt schon da oben auf einer Wolke mit einer Harfe in der Hand. Aber das ist Blödsinn! Ute war krank. Daran konnte und kann niemand etwas ändern. Und es war furchtbar. Auch daran kann niemand etwas ändern. Aber denkst du wirklich, sie hätte gewollt, dass du hier so versauerst? Sie war ein lebenslustiger Mensch. Wenn sie jetzt wirklich da oben auf einer Wolke sitzt, schüttelt sie bestimmt nur den Kopf über dich.«

»Woher willst du das wissen?« Im Inneren tief verletzt und dadurch auf einmal zu einer Wut fähig, die sie sich selbst gar nicht zugetraut hätte, sprang Doro auf. »Du hast sie nicht so gekannt wie ich. Du hast sie überhaupt nicht richtig gekannt! Sie war . . . Sie war . . . Sie war . . . meine große Liebe! Und so etwas gibt es nur einmal im Leben!«

Mit tränenblinden Augen stürzte sie los, in Richtung des gläsernen Caféausgangs.

»Hoppla! Mal langsam!«

Doro merkte nur noch, wie ein starker Arm ihren eigenen umfasste, sie festhielt, bevor sie den Boden küssen konnte. Denn dazu war sie auf dem Weg gewesen. Sie war über irgendetwas gestolpert.

»Was . . . Was . . .? Lassen Sie mich los!« Ihre Augen schleuderten Blitze. Was sie ehrlich gesagt schon lange nicht mehr getan hatten.

»Uijuijui! Was für ein Temperament!« Die andere Frau – denn es war eine Frau, die sie mit so stahlhartem Griff festhielt – lachte. »Tut mir leid, dass Ihnen mein Besen im Weg war. Aber irgendwann muss man ja mal fegen. Und das ist leider der schlechteste Moment für einen Hans-guck-in-die-Luft.«

»Dorothea«, korrigierte Doro ganz automatisch. »Dorothea-guck-in-die-Luft – wenn schon.«

»Auch recht.« Der anderen schien wirklich nichts die Laune zu verderben. »Und mein Name ist Aenne. Aenne Liebig. Nur falls Sie mich verklagen wollen.« Höchst amüsiert hob sie die Augenbrauen. »Ich möchte nicht, dass das eine unschuldige Kollegin trifft.«

Die Nonchalance der Frau, über deren Besen sie gestolpert war, brachte Doro aus dem Konzept. »Entschuldigen Sie«, murmelte sie, plötzlich wieder ihr normales Selbst. »Das wollte ich nicht. Sie verklagen, meine ich. So etwas käme mir gar nicht in den Sinn. Es war meine Schuld, das weiß ich. Ich hätte nicht einfach so . . .«, sie schluckte, »loslaufen sollen.«

»Loslaufen können Sie, so viel Sie Lust haben«, entgegnete Aenne Liebig, die ihrem Aussehen nach – weiße Bluse, schwarzer Rock, fußfreundliche Schuhe – vermutlich der ehrenwerten Gesellschaft der Kellnerinnen angehörte. »Aber vielleicht mal kurz auf die Füße schauen, wo genau sie hinlaufen.« Sie lachte erneut. »Aber ist ja nichts passiert. Alles gut.«

Schon vor einiger Zeit hatte sie Doro losgelassen und wandte sich jetzt wieder dem Fegen zu. Denn Doros Stolpern hatte etwas von dem kleinen Häufchen, das Aenne Liebig zuvor bereits zusammengefegt hatte, erneut über dem Boden um das Zentrum des Häufchens herum verteilt. Mit konzentrierter Genauigkeit versuchte sie, diese Ausreißer wieder einzufangen.

»Doro . . .« Mittlerweile hatte Kirsten sich zu ihnen gesellt, als hätten sie eine Art Wann treffen wir drei wieder zusamm’? vereinbart.

Aber natürlich waren sie nicht im Entferntesten mit den drei Hexen aus Shakespeares Macbeth zu vergleichen, die Theodor Fontane in dieser deutschen Übersetzung am Anfang seiner Ballade Die Brück’ am Tay zitiert.

Das ging Kirsten durch den Kopf, die Germanistik studiert hatte und Deutschlehrerin auf dem Wege zur Schuldirektorin war, nicht Doro, die einen Handarbeitsladen betrieb.

Im Moment verweilte Kirsten aber bei keinerlei germanistischen Gedanken, die ihr einfach aufgrund ihrer Beschäftigung mit Literatur seit Jahrzehnten immer wieder unvermittelt durch den Kopf schossen, sondern bei ihrer Sorge um Doro. »Ist irgendwas passiert?«

Kurz herrschte eine fast erwartungsvolle Stille zwischen ihnen, dann setzten Aenne Liebig und Doro exakt gleichzeitig an: »Nein, nichts . . .«

Genauso gleichzeitig, wie sie angesetzt hatten, hörten sie auch wieder auf und sahen sich erstaunt ins Gesicht.

Mittendrin begann Aenne Liebig zu lachen. »Entschuldigung. Ich wollte Ihnen nicht vorgreifen. Haben Sie sich wehgetan?«

»N-Nein.« Das war Doro nun allein, die sprach. »Nein, gar nicht.«

Sie war so verwirrt, dass sie wie festgewachsen auf der Stelle stehenblieb, an der Aenne Liebig sie losgelassen hatte. Als ob es ihr nicht erlaubt wäre, sich zu rühren.

In Wirklichkeit war sie jedoch einfach überfordert, eine Entscheidung zu treffen. Hinaus aus dem Café, zu Kirsten zurück – die allerdings ja schon neben ihr stand – oder . . . Ja, oder . . .

»Da bin ich froh.« Aennes Lächeln hatte eine Qualität, die den Raum aufleuchten ließ. »Ich bin heute den ersten Tag hier, und ich möchte den neuen Job nicht gleich mit einem Unfall einläuten. Meine Chefin könnte das für ein schlechtes Omen halten.« Sie lachte wieder. »Und außerdem sollte man es sich nicht schon am ersten Tag mit den Kunden verderben. Das schadet dem Trinkgeld.«

Diese etwas prosaische Bemerkung brachte Doro wieder in die Wirklichkeit zurück, die sie kurz verlassen zu haben schien. Das Ganze hier war ihr wie ein Traum vorgekommen. Oder wie eine Halluzination. Speziell Aennes Lächeln, das sie völlig unvorbereitet erwischt hatte.

»Das will ich natürlich auf keinen Fall«, erwiderte sie mit etwas zusammengepressten Lippen. Sie wollte nach ihrem Portemonnaie greifen, stellte jedoch fest, dass sie ihre Handtasche am Tisch gelassen hatte, als sie so unüberlegt aufgesprungen war. »Ich werde Sie für die Unannehmlichkeiten entschädigen, die Sie durch mich hatten.«

»So war das nicht –« Aenne konnte den Satz nicht zu Ende bringen, da Doro bereits zum Tisch zurückstürzte.

»Heute zeigt sie sich nicht gerade von ihrer besten Seite«, erklärte Kirsten entschuldigend, während sie ihren Blick Doro kurz folgen, dann aber wieder zu Aenne zurückkehren ließ. »So? Es ist also Ihr erster Tag hier im Café? Ich komme nämlich ziemlich regelmäßig her und hatte mich schon gefragt, warum ich Sie noch nie hier gesehen habe.«

»Jetzt wissen Sie’s.« Aennes Blick war ebenfalls zu Doro geschweift, aber nicht wieder zu Kirsten zurück. Er hing weiterhin an der dunkel gekleideten Gestalt am Tisch, die es jetzt fertiggebracht hatte, den gesamten Inhalt ihrer voluminösen, selbstgefertigten Handtasche auf den Boden zu leeren.

»Ja, jetzt weiß ich’s.« Kirsten lächelte. »Doro ist Witwe, wissen Sie? Ihre Frau ist vor gut zwei Jahren gestorben, und sie hat sich immer noch nicht wieder davon erholt. Es war die große Liebe.«

»Das habe ich gehört«, murmelte Aenne, die Kirsten jedoch kaum zu bemerken schien. Anscheinend war ihr Blick wie festgewachsen an Doros fahrigen Bewegungen, die ihr Ziel, alles wieder in die Tasche zu stopfen, immer noch nicht erreicht hatten, da meistens die Hälfte gleich wieder herausfiel. »Sagen Sie ihr . . .« Endlich wand sie den Kopf zu Kirsten. »Sagen Sie ihr, dass es mir leidtut.« Mit einer schnellen, kraftvollen Drehung auf dem Absatz, die einer Ballett-Tänzerin Ehre gemacht hätte, wandte sie sich zur Küche und verschwand hinter der Schwingtür.

»Wo ist sie?« Obwohl sie den Kampf mit ihrer Handtasche nur unzureichend gewonnen hatte, kehrte Doro nun zu Kirsten zurück. »Ich wollte ihr doch noch etwas geben.«

»Ich glaube, meine Liebe . . .«, Kirstens Lächeln war verständnisvoll, aber auch irgendwie wissend, »sie wollte gar nichts.«

»Warum hat sie dann so unglaublich frech auf ihr Trinkgeld hingewiesen?«, fragte Doro gereizt, während ihr Blick Aenne umherirrend suchte, aber nicht fand.

»Das war ein Missverständnis, glaube ich«, sagte Kirsten. »Aber ich würde an deiner Stelle nicht auf sie warten. Ich denke nicht, dass sie so schnell zurückkommt.«

»Sie arbeitet doch hier!« Empörung ließ Doros Stimme wie in einer Welle ansteigen.

»Aber nicht für uns«, erwiderte Kirsten trocken. Sie zog einen Schein aus der Tasche und winkte einer anderen Kellnerin, derjenigen, die sie am Tisch bedient hatte. »Die Rechnung, bitte.«

Die ältere Frau kam, ließ den Bon aus der Kasse und nahm den Schein entgegen.

»Stimmt so«, sagte Kirsten, als sie das Wechselgeld heraussuchen wollte. »Und wir gehen jetzt.« Sie ergriff Doros Arm und schleifte sie fast hinaus. »Bevor du hier noch mehr Unheil anrichtest.«

»Ich?« Ungläubig starrte Doro sie an, stolperte dann jedoch nach anfänglichem Sträuben mit ihr vor die Tür. »Sie hat mir doch ihren Besen zwischen die Beine geschleudert, diese . . . diese Hexe!«

Kirsten lachte. »Na ja, diese feuerroten Haare . . . Und dann auch noch alles Locken. Bis fast runter zum Po. Das hat schon was Hexenhaftes. Das stimmt. Aber ich glaube trotzdem kaum, dass sie eine ist.«

»Locken sind das eigentlich nicht«, widersprach Doro, deren Gedanken schon wieder weitergewandert waren. »Mehr so . . . gekräuselt.«

»Ich frage mich, ob das Natur ist«, bemerkte Kirsten nachdenklich und leicht lächelnd. »Auf jeden Fall passt es zu ihr.«

»So? Denkst du das?« Doro wirkte nicht sehr begeistert. »Wahrscheinlich ist das alles nur gefärbt und von irgendeinem Trend-Friseur aufgemotzt. Sie ist so der Typ.«

Ein wenig irritiert blieb Kirsten stehen. »Was ist denn los mit dir? Du meckerst doch sonst nicht so an anderen Leuten rum. Im Gegenteil. Eigentlich bist du immer sehr kulant.«

»Bin ich das?« In Doro wuchs die Gereiztheit an, die sie schon die ganze Zeit spürte. »Vielleicht ist das mein Problem: Ich bin zu kulant.«

»Aber ganz sicher nicht irgendwelchen Frauen gegenüber, die eventuell Interesse für dich zeigen könnten«, wandte Kirsten mit einem tadelnden Gesichtsausdruck ein. »Da vergisst du jede Kulanz.«

»Ich habe kein Interesse an Frauen, die Interesse für mich zeigen könnten!«, fuhr Doro auf. »Das weißt du ganz genau. Und du weißt auch, warum!«

»Weil du für alle Zeiten an eine einzige Frau vergeben bist.« Kirsten seufzte. »Die aber leider tot ist.«

»Woran du mich nicht ständig zu erinnern brauchst!« Vor lauter Ärger vergaß Doro fast, wie sonst immer bei der Erwähnung von Utes Ableben, traurig zu werden. »Ich gehe jeden Tag zu ihrem Grab!«

»Jeden Tag? Immer noch?« Das setzte Kirsten offensichtlich in Erstaunen. »Kein Wunder, dass du dann nicht vergessen kannst.«

»Nein.« Doros Stimme klang entschlossen. »Das kann ich nicht. Und das will ich auch nicht. Niemals!«

Damit stürmte sie nun endgültig davon und ließ Kirsten stehen, die das nur mit einem weiteren Seufzer quittieren konnte. »Bitte, liebes Schicksal . . .«, sie blickte nach oben in den Himmel, »lass ihr einmal eine Frau begegnen, der das völlig egal ist. Es muss doch eine geben, die sich nicht davon abschrecken lässt.«

Kurz wanderte ihr Blick zurück zum Eingang des Cafés und wurde erneut nachdenklich.

2

»Sagtest du nicht, du bist neu in der Stadt?« Die ältere Kellnerin, die Kirsten und Doro bedient hatte, zählte das Wechselgeld, das Kirsten sich nicht hatte herausgeben lassen, ab und verstaute es in einer Seitentasche ihrer großen Kellnergeldbörse, um es dort mit einem Reißverschluss vom Rest zu trennen.

»Ja, bin ich. Wieso?« Etwas irritiert runzelte Aenne die Stirn.

»Na, das sah gerade so aus, als würdest du die beiden Damen kennen«, bemerkte Gabriele mit einem leicht, aber nicht sehr intensiv neugierigen Seitenblick.

»Nein.« Aenne schüttelte den Kopf. »Ich kenne sie nicht. Hab sie heute zum ersten Mal gesehen.«

»Die eine kommt sehr oft, ist eine richtige Stammkundin«, erklärte Gabriele. »Frau . . .«, sie überlegte kurz, »Steurer. Ja, richtig. Steurer. Sie hat viele Freundinnen, mit denen sie hier Kaffee trinkt. Manchmal kommt auch ihr Mann mit, aber der bleibt meistens nicht lange. Ist so ein Geschäftstyp, der immer im Stress ist.«

»Dorothea Steurer?«, fragte Aenne.

»Nein, Dorothea . . . das ist die andere.« Bereitwillig gab Gabriele Auskunft. »Deren Nachnamen weiß ich gar nicht. Sie ist nicht so oft hier wie Frau Steurer. Allein kommt sie nie, nur immer mit Frau Steurer, und das auch nur ab und zu. Selten. Und sie scheint meistens irgendwie . . .«, sie schloss ihre lange Börse jetzt wieder ganz und steckte sie in das Futteral, das sie um die Hüften trug, »traurig. Geistesabwesend. Ganz das Gegenteil von Frau Steurer. Sie hat einen Handarbeitsladen.«

»Frau Steurer hat einen Handarbeitsladen?« Aenne war erstaunt.

»Nein, nein.« Gabriele lachte. »Die andere. Doro. Der Laden heißt auch so. Doro’s Stübchen. Ich stricke ja nicht, aber ich hab ’ne Freundin, die da öfter hingeht, um Wolle zu kaufen. Die strickt ständig was. Für die ganze Verwandtschaft.«

Mit einem Blick ins Café stellte sie fest, dass neue Gäste gekommen waren, und begab sich zu deren Tisch, um zu fragen, was sie ihnen bringen könnte.

Aenne sah ihr kurz nach, schnappte sich dann statt des Besens einen Handfeger und brachte die Arbeit, in der Doro sie unterbrochen hatte, zu Ende. Als sie die Kehrschaufel in den Schwingeimer entleerte, musste sie wieder an diese Unterbrechung denken.

Eine merkwürdige Unterbrechung war das gewesen. Nichts Besonderes, sollte man eigentlich meinen, und trotzdem kam es ihr so vor, als wäre etwas Besonderes daran gewesen.

Was hatte Gabriele gesagt? Diese Dorothea . . . Doro, wie ihre Freundin sie genannt hatte, würde immer traurig wirken?

Ja. Ja, das stimmte. So hatte sie gewirkt. Und vor allem geistesabwesend. Sonst wäre sie gar nicht über den Besen gestolpert.

»So was hat mir gerade noch gefehlt. Gleich am ersten Tag.« Abwehrend schüttelte Aenne den Kopf.

Solche Frauen bedeuteten nur Ärger. Das wusste sie aus Erfahrung. Sie hatte schon in vielen Cafés und auch Kneipen und Gaststätten gearbeitet, sie war nicht erst seit gestern Kellnerin.

Glücklicherweise kam diese Doro ja anscheinend nicht oft. Und mit Frau Steurer gab es sicher kein Problem.

Aenne fragte sich nur, warum sie ihr gleich die halbe Lebensgeschichte der konfusen Dorothea, die sie jetzt noch immer auf dem Boden hocken und ihre Sachen zusammensuchen sah, erzählt hatte. Dass sie Witwe war, nicht darüber hinwegkam . . . Was ging das Aenne an?

Sie selbst kannte solche Bindungen und Verbindlichkeiten nicht. War immer ein freier Vogel gewesen, der in der Welt herumzog.

Sie hatte schon überall gearbeitet, selbst auf einem Kreuzfahrtschiff. Als junges Mädchen hatte sie Hummeln im Hintern gehabt. Und hatte sie eigentlich immer noch. Deshalb war sie in diese ihr neue Stadt gekommen.

Die Stadt, in der sie vorher eine Weile gelebt und gearbeitet hatte, war ihr – wie so viele andere, in denen sie dasselbe getan hatte, auch – keine Heimat gewesen. Wie schon sehr oft in ihrem Leben hatte sie ein Job nirgendwo lange halten können. Denn sie fand überall einen. Kellnerinnen waren immer gesucht. Besonders welche mit Erfahrung.

Ihr letzter Job war in einer Großstadt gewesen. Was sie eigentlich bevorzugte. Wegen der Anonymität. Aber aus irgendeinem Grund hatte ihr dieses Städtchen hier gefallen, als sie hindurchgefahren war. Sie hatte kein wirkliches Ziel gehabt. Meistens blieb sie da, wo es ihr gerade gefiel.

Und hier, in dieser mittelgroßen Stadt, gab es einiges aus beiden Welten, Großstadt und Dorf. Doch keins war so ausgeprägt. Alles schien gemächlich. Gemütlich. Auf eine gewisse Art beschaulich.

Was Aenne lange Zeit mit langweilig gleichgesetzt hatte, doch auf einmal hatte es sie angezogen, ihren Wagen abzustellen und sich die Stadt näher anzusehen. Die groß genug war, um einiges an Einkaufsmöglichkeiten zu haben. Und eine Menge Cafés. Was Aenne sehr entgegenkam. Zumal lag die Stadt in einer landschaftlich schönen Feriengegend.

Als Kellnerin war es mit der Anonymität ohnehin nie weit her, denn zumindest bei den Gästen, die man bediente, war man schnell bekannt wie ein bunter Hund. In einer Großstadt konnte man dann allerdings in einem anderen Stadtviertel völlig unbekannt sein.

Hier in dieser Stadt gab es auch etliche Stadtviertel, und somit konnte sie es sich aussuchen, ob sie eher einen kurzen Arbeitsweg oder mehr Anonymität haben wollte.

Für den Moment hatte sie ein Angebot der Besitzerin des Cafés angenommen, gleich hier im Haus zu wohnen. Es war nicht direkt eine Wohnung, mehr ein Zimmer unter dem Dach. Aber es war ein sehr großes Zimmer. Das Haus war, wie bei alten Häusern oft so üblich, sehr schmal gebaut, und das Zimmer nahm den ganzen Dachboden ein. Viele Schrägen und Dachbalken begrenzten den Wohnraum, gaben ihm aber auch ein ganz eigenes Flair.

Irgendwo am Haus hatte Aenne die Jahreszahl 1562 gesehen, und auch wenn das Haus sicherlich nicht mehr im selben Zustand war wie damals, war es doch mit Sicherheit das älteste Haus, in dem sie je gewohnt hatte.

Sie hatte sich nie viel aus alten Dingen gemacht. Für sie waren Sachen, die man kaufte, ohnehin nur Verbrauchsgegenstände. Die man benutzte, solange sie funktionierten oder einem Zweck dienten, und die man dann durch neue Sachen ersetzte.

Sie hing nicht an ihrem Besitz – von dem sie nicht viel hatte –, und sie reiste immer mit leichtem Gepäck. Alles, was sie besaß, passte in ein Auto. Sein Herz an etwas zu hängen, von dem man sich dann nicht mehr trennen konnte, war nicht ihr Fall.

Aus irgendeinem Grund kam ihr auf einmal der Gedanke, dass diese Dorothea bestimmt das genaue Gegenteil war. Was sie alles in ihrer riesigen selbstgestrickten und -genähten Umhängetasche gehabt hatte . . . Unglaublich, dass ein Mensch so viel mit sich herumschleppen konnte. Nur um Kaffeetrinken zu gehen.

Sie war bestimmt ein Mensch, der nie etwas wegwarf oder nur sehr ungern. Genauso, wie sie ihre Erinnerungen nicht wegwarf. Die Erinnerungen an ihre tote Frau.

Auch an den Tischen, die Aenne zugewiesen waren, waren neue Gäste gekommen, und sie ging hinüber, fragte nach deren Wünschen, nahm sie auf und gab sie in die Kasse ein, um dann der Besitzerin, die hinter der Theke stand, den Bon zu geben.

Während die die verschiedenen Kaffeespezialitäten mit der professionellen großen Maschine zubereitete, schnitt Aenne Kuchenstücke ab oder holte fertig belegte Brötchen aus der Glasvitrine am Eingang. Dabei musste sie nicht überlegen, weil das seit vielen Jahren Routine für sie war, egal, wo sie arbeitete, und so schweiften ihre Gedanken weiter frei durch ihren Kopf.

Mit einem freundlichen Blick, der ebenfalls zur Routine gehörte, brachte sie die Bestellungen zu den jeweiligen Tischen und wünschte guten Appetit, bevor sie sich wieder an die Theke zurückbegab. Ein automatisches Abchecken durch den Raum hatte ihr gezeigt, dass alle Gäste im Moment zufrieden waren und keiner sie rief.

Warum musste sie nur immer wieder an diese komische Dorothea denken? Das war nur eine ältere Frau um die fünfzig, klein und ein bisschen rundlich in den Hüften, während Aenne sehr groß und schlank war. Worum sie sich allerdings nie kümmerte. Sie war einfach der dünne, langgliedrige Typ, eine Bohnenstange. Schon immer hager gewesen, ganz egal, was sie aß. Aber abgesehen von diesem bedeutungslosen körperlichen Unterschied zwischen ihnen gab es nichts Interessantes, das eine längere Beschäftigung mit einer ihr völlig fremden Frau gerechtfertigt hätte.

Wahrscheinlich war es diese Geschichte mit der toten Ehefrau. Das war neu für Aenne. Eine Witwe, die ihrer Frau nachtrauerte. Und das auch noch so intensiv.

Dazu musste man wohl geboren sein.

Und wenn sich Aenne über eins klar war, dann dass sie auf keinen Fall für so etwas geboren war.

3

Wie so oft saß Doro allein in ihrem Stübchen. Es war früher Vormittag, und da war es meistens so. Sie hätte auch später aufmachen können, aber es spielte ja keine Rolle, ob sie zu Hause in ihrem Wohnzimmer saß oder hier. Sie strickte, häkelte oder nähte und hatte sich den Verkaufsraum hier sehr ähnlich eingerichtet wie ihr Wohnzimmer zu Hause.

Hier war es sogar noch gemütlicher, weil sie in ihrem Laden all die Sachen untergebracht hatte, die Ute in ihrem gemeinsamen Wohnzimmer nicht hatte haben wollen. Doro hatte eine ausgesprochene Vorliebe für Nippes, Häkeldeckchen und Puppen oder auch Keramikfiguren, und auch wenn Ute das bis zu einem gewissen Grad toleriert und darüber gelächelt hatte, hatte sie an dem Punkt, an dem sie auf dem Sessel oder der Couch dann keinen Platz mehr neben den Puppen fand, eine Grenze gezogen.

Vielleicht war es ihre Kinderlosigkeit, die Doro dazu gebracht hatte, so viel Kitsch – denn sie wusste selbst, dass es Kitsch war, aber sie fand daran nichts Schlimmes oder Abwertendes – zu sammeln. Sie hatte sich immer Kinder gewünscht, aber da Ute schon zwei Kinder gehabt hatte, hatte sie keine weiteren mehr gewollt. Nicht einmal, wenn Doro sie bekam.

Sie war sehr viel älter als Doro gewesen, hatte ihre Mutterphase für abgeschlossen erklärt und eher darauf gewartet, Großmutter zu werden. Mit einem Kind, das nur ab und zu einmal zu Besuch kam, aber nicht mit im Haus wohnte und all das täglich verlangte, was kleine Kinder nun einmal verlangten. Inklusive fehlendem Nachtschlaf.

Großmutter war Ute tatsächlich noch geworden, aber dann hatten die dreißig Jahre, die sie älter gewesen war als Doro, ihren Tribut gefordert. Als sie sich kennengelernt hatten, war Doro in ihren Zwanzigern und Ute bereits Anfang fünfzig gewesen. So alt, wie Doro jetzt war.

Für Ute hatte damals ein neues Leben angefangen, ihr zweites nach einer Ehe mit einem Mann und den daraus hervorgegangenen beiden Kindern, die zu jenem Zeitpunkt bereits erwachsen gewesen waren. Für Doro war es das erste Leben gewesen. Das einzige bis jetzt. Und ihrer Meinung nach für alle Zeit. Denn das, was sie mit Ute gehabt hatte, würde sie nie wieder haben.

Und sie brauchte das auch nicht. Ute war ein ganz besonderer Mensch gewesen. Sie hatte Doro das gegeben, was Doro bis dahin vermisst hatte. Bis auf Kinder. Da hatten sie sich nicht einigen können. Beziehungsweise Doro hatte sich Utes Wunsch gebeugt.

Und nun war es zu spät dafür. Aber Doro bedauerte das nicht mehr. Ute hatte ihr so viel gegeben, da würde sie nicht der einen einzigen Sache nachtrauern, die sie ihr nicht gegeben hatte.

Nur Ute trauerte sie nach. Dem Menschen, der Frau, die Doro so sehr geliebt hatte, dass sie sich nicht vorstellen konnte, jemals eine andere zu lieben.

Was Kirsten immer meinte . . . Würde sie wirklich Sven durch irgendeinen beliebigen anderen Mann ersetzen, wenn er starb? Nach fünfundzwanzig Jahren?

Allein über den Gedanken schüttelte Doro nur den Kopf. Natürlich würde Kirsten das nicht tun. Wie taff sie sich auch immer gab, sie liebte Sven genauso, wie Doro Ute geliebt hatte. Immer noch liebte. Wenn man so lange zusammen war, hatte das einen Grund. Man hätte sich schließlich jederzeit trennen können.

Kirsten war Lehrerin, demnächst Schuldirektorin. Sie verdiente genug, um nicht von Sven abhängig zu sein, der ein erfolgreiches Softwareunternehmen hatte. Deshalb war sie nicht bei ihm geblieben. Die beiden hatten sich genauso gesucht und gefunden wie Ute und Doro. Nur dass sie ungefähr im gleichen Alter waren.

Wobei Doro nicht das Gefühl hatte, gesucht zu haben. Ute hatte sie einfach gefunden.

Doro war immer der Meinung gewesen, dass sie nie jemanden finden würde, der sie verstand. Bei Gleichaltrigen galt sie im besten Fall als merkwürdig, im schlimmsten – und das war der Normalfall – als spießig und verrückt. Wobei allein diese Kombination schon darauf hätte hindeuten sollen, dass sie offensichtlich etwas Besonderes war.

Aber so etwas sahen Teenager oder auch viele junge Leute zwischen zwanzig und dreißig nicht. Sie waren nur auf sich selbst konzentriert und sahen nicht ein, warum sie sich irgendwelche Mühe geben sollten, einen anderen Menschen, der offenbar auf so einer unterschiedlichen Schiene fuhr, zu verstehen.

Das war immer Doros Problem gewesen. Sie hatte durchaus versucht, ihre Altersgenossen zu verstehen, aber es war ihr selten, eigentlich nie gelungen. Vieles, was die Jugendlichen, mit denen sie dieselbe Schulklasse besuchte, taten, erschien ihr unverständlich, manchmal sogar geradewegs lächerlich. Obwohl sie das nie gesagt hätte, weil sie ein höflicher Mensch war, der andere nicht verletzen wollte.

Nicht dass sich andere darum kümmerten, ob sie sie, Doro, verletzten. Meistens merkten sie es wahrscheinlich noch nicht einmal, weil sie viel zu oberflächlich waren, um so etwas zu bemerken. Ihr kleines Leben enthielt so viele kleine Dinge, für die sie sich interessierten und die sie trotz ihrer Banalität völlig ausfüllten. Und für Doro interessierten sie sich definitiv nicht.

Auch wenn sie manchmal darunter litt, hatte Doro sich mit der Zeit an diesen Zustand gewöhnt. Sie sah, wie ihre Mitschülerinnen und Mitschüler von Einzelpersonen zu Paaren wurden, sich wieder trennten, neue Paare bildeten. Irgendwann verließen sie alle die Schule und verloren sich aus den Augen.

Niemand bemühte sich, mit Doro Kontakt zu halten, und introvertiert, wie sie war, wäre es ihr selbst nie in den Sinn gekommen, noch einmal Kontakt mit einem derjenigen aufzunehmen, mit denen sie Tag für Tag so viele Jahre verbracht hatte. Was hätte sie auch mit ihnen zu reden gehabt?

Sie machte eine Ausbildung zur Krankenschwester, weil sie gern anderen Menschen helfen wollte, aber dann merkte sie, dass das oft nicht das war, was von ihr verlangt wurde, und wechselte in den Beruf der Erzieherin. Weil sie Kinder liebte.

In der Gesamtschule mit angeschlossenem Kindergarten hatte sie dann Kirsten kennengelernt, die dort nach dem Studium angefangen hatte, als Lehrerin zu arbeiten. Oftmals ging es beim Übergang vom Kindergarten auf die Schule darum, ein Kind auf seine Eignung hin zu überprüfen, was Doro recht gut einschätzen konnte, wie Kirsten schon bald feststellte.

Kirsten hatte eine Menge Freunde und Bekannte, und aus irgendeinem für Doro unverständlichen Grund hatte sie beschlossen, dass Doro auch zu ihrem Freundeskreis gehören sollte. Sie lud Doro ein und ließ keine von Doros Ausreden gelten.

Zwar merkte sie bald, dass Doro viel zu introvertiert war, um an einem großen Freundeskreis, wie Kirsten ihn für selbstverständlich hielt und wohl auch brauchte, Gefallen zu finden, und ließ sie dann bis auf spezielle Anlässe in Ruhe. Aber dennoch war sie zu einer Konstante in Doros Leben geworden, die Doro nicht mehr missen wollte. Was Doro selbst wunderte.

Wie alle extrovertiert veranlagten Menschen wollte Kirsten Doro gern verkuppeln, weil sie sich nicht vorstellen konnte, dass man sich allein wohlfühlte. Doch dabei wurde ihr schnell klar, dass Doro kein Interesse an Männern hatte. Ehrlich gesagt war das Doro noch nicht einmal selbst so ganz klar gewesen.

Kirsten sagte es ihr eines Tages. Beziehungsweise sie stellte eine Frage, die die Antwort bereits in sich trug. »Du stehst nicht auf Männer, oder?«

Auf Anhieb konnte Doro die Frage noch nicht einmal beantworten. Für sie hatte sich diese Frage noch nie gestellt, da es noch nie einen Mann gegeben hatte, der auf sie stand. Und auch keine Frau. Doch sie hatte einmal etwas darüber gelesen, dass es auch noch andere Alternativen gab.

Also lief sie rot an und stammelte: »Ich glaube . . . Ich glaube . . . ich bin . . . asexuell.«

Zuerst hatte Kirsten überrascht aufgelacht. Vielleicht dachte sie, Doro hätte einen Witz gemacht. Doch als sie merkte, dass das nicht der Fall war, hatte sie nur die Stirn gerunzelt. »Denkst du, dass es so etwas überhaupt gibt?«

Hätte ich doch nichts gesagt. Innerhalb einer Sekunde bereute Doro zutiefst, dass ihr das herausgerutscht war. Wie hatte das nur geschehen können? Meistens hatte sie das besser im Griff, dachte sich nur etwas, ohne es zu sagen. Aber hier musste sie wohl etwas sagen. »Doch. Habe ich gehört. Ähm . . . gelesen, meine ich«, brachte sie mühsam hervor.

Zu diesem Zeitpunkt wusste sie schon nicht mehr, wie sie aus dieser Nummer rauskommen sollte. Sie hoffte nur, dass Kirsten das Interesse daran verlieren und sie mit dieser Thematik in Ruhe lassen würde.

»Ich denke nicht«, widersprach Kirsten sofort. »Dafür ist Sex einfach viel zu . . . geil.« Sie grinste Doro fast an, als sie das sagte. »Wie kann man freiwillig darauf verzichten?«

Doro war gar nichts anderes übrig geblieben, als noch roter anzulaufen, ob sie wollte oder nicht. Irgendwelche Worte hervorzubringen, dazu war sie nicht mehr in der Lage.

Das hatte Kirstens Misstrauen geweckt. »Du willst doch nicht etwa sagen . . .« Ungläubig betrachtete sie Doro wie einen sehr exotischen Vogel, den sie in mitteleuropäischen Breiten nicht in der freien Wildbahn erwartet hätte. »Du willst doch nicht etwa sagen, dass du noch nie –?« Noch viel ungläubiger brach sie ab.

Hochrot und mittlerweile kurz vor dem Explodieren oder alternativ dem Davonlaufen konnte Doro nur nicken.

»Nicht möglich . . .« Da Ungläubigkeit nichts war, auf dem Kirsten gern verharrte, starrte sie Doro jedoch nur noch kurz an und beschloss dann, ihre Taktik den Umständen anzupassen. »Also das müssen wir auf jeden Fall ändern. Wie alt bist du jetzt? Genauso alt wie ich? Oder so ungefähr. Und immer noch Jungfrau? Das kann nicht sein.«

»Bitte, Kirsten . . .« Endlich hatte Doro sich überwinden können aufzustehen, um die Flucht aus dem Raum hinaus anzutreten.

Auch wenn man ihr das manchmal gar nicht zutraute, war Kirsten nicht unsensibel. »Jetzt habe ich dich erschreckt«, stellte sie fest. »Das wollte ich nicht. Setz dich wieder.«

Doro war ein Mensch, der sich schwer dagegen wehren konnte, Anweisungen zu befolgen. Deshalb setzte sie sich ganz automatisch zurück auf den Stuhl, den sie gerade erst verlassen hatte.

»Ich will dich bestimmt nicht bedrängen«, lenkte Kirsten ein. »Aber wenn man etwas noch nie ausprobiert hat, kann man doch gar nicht wissen, ob man es mag. Oder nicht.« Sie verzog das Gesicht. »Ehrlich gesagt habe ich noch nie jemanden getroffen, der Sex nicht mag. Das gibt es doch gar nicht.«

»Dann . . . Dann bin ich wohl die erste«, stotterte Doro tapfer. »So etwas muss es ja schließlich auch geben.«

»Wahrscheinlich.« Äußerst zweifelnd schaute Kirsten Doro an. Theoretisch musste sie die Wahrscheinlichkeit zwar in Betracht ziehen, doch praktisch konnte sie es sich einfach nicht vorstellen. »Aber . . . Aber hast du denn gar keine . . . Leidenschaften?«

»Doch«, erwiderte Doro sofort und wurde auf einmal so eifrig, wie sie es während des ganzen Gesprächs nicht gewesen war. »Handarbeiten. Wenn ich könnte, würde ich gern ein kleines Handarbeitsgeschäft eröffnen. Oder in einem arbeiten.«

»Handarbeiten?« Das war Kirsten so fremd wie irgendeine Sprache, deren Hieroglyphen sie nicht lesen oder mit einem Sinn versehen konnte. »Echt? Das magst du?« Sie ließ einen Blick über Doro schweifen. »Falsche Frage«, korrigierte sie sich dann selbst und lächelte. »Natürlich magst du das. Das hätte ich mir denken können.«

»Du . . . Du musst das nicht verstehen.« Mit einem genauso verteidigenden wie entschuldigenden Gesichtsausdruck schaltete Doro voll auf Rückzug. Sie fühlte sich furchtbar. Nun würde sie auch noch Kirsten verlieren. Die einzige Freundin, die sie je gehabt hatte. »Vergiss einfach, dass ich das gesagt habe.«

»Aber nein«, lachte Kirsten. »Du weißt doch, dass ich ein hervorragendes Gedächtnis mein Eigen nenne. Ich vergesse nie etwas.« Sie winkte ab. »Macht nichts. Ich akzeptiere jeden Menschen so, wie er ist. Und das gehört eben zu dir. Handarbeiten. Warum nicht?«

Für Kirsten war die Welt so viel einfacher als für Doro, das hatte Doro an diesem Tag nicht zum ersten Mal festgestellt. Und auch deshalb war sie froh, Kirsten zur Freundin zu haben. Was sich natürlich auch nicht änderte. Weil Kirsten tatsächlich jeden so akzeptierte, wie er war.

Die Sache mit dem Sex . . . Das war allerdings nicht so einfach für sie. Denn da war sie nun einmal der Meinung, dass man nicht über etwas urteilen konnte, was man nicht ausprobiert hatte.

Deshalb befürchtete Doro, dass Kirsten da nicht so schnell lockerlassen würde. Statt Doro mit irgendwelchen Männern bekanntzumachen, würde sie sie jetzt eben mit irgendwelchen Frauen bekanntmachen.

Doch da war glücklicherweise Ute gekommen.

»Sind Sie immer so tollpatschig?«

Das war tatsächlich die erste Frage gewesen, die Ute Doro gestellt hatte.

Und sie traf den Nagel direkt auf den Kopf. Besonders in der Öffentlichkeit war Doro oft tollpatschig. Weil sie sich unsicher und unwohl fühlte. In ihren eigenen vier Wänden war das etwas anderes, aber wenn sie gezwungen war, sich unter Menschen zu begeben, in eine größere Gruppe, ergriff sie manchmal regelrecht die Panik.

Außer wenn diese Gruppe aus Kindern bestand. Da fühlte sie sich durchaus wohl. Kinder bedrohten sie nicht. Aber Erwachsene – Fremde – waren immer und immer wieder eine große Herausforderung.

»Ach, entschuldigen Sie bitte.« Utes Stimme klang jetzt tief und beruhigend, obwohl sie zuvor genervt und dadurch etwas höher gewesen war. »Ist heute nicht mein Tag. Kann ich Ihnen helfen?«

Sie hatte sich zu Doro hinuntergebeugt, die vor einem Supermarktregal hockte, umgeben von Corn-Flakes-Kartons, die herausgefallen waren.

»Nein . . . Nein, danke«, stammelte Doro und fühlte die Hitze der Scham in ihren Kopf steigen. Wenn diese Frau doch einfach nur weitergehen und sie in Ruhe lassen würde. »Das geht schon.«

»Einer der Kartons hätte mich fast erschlagen.« Ein leises Schmunzeln umspielte Utes Lippen. »Sind ganz schön scharfkantig, diese Dinger.«

»Tut . . . tut . . . tut . . . mir leid.« Doro brachte es kaum hervor. Ihre Stimme hatte sich in einen Windhauch verwandelt, der sich in der Gasse der Regale verlor. »Das . . . das . . . Haben Sie sich wehgetan?«

»Schon in Ordnung«, beruhigte Ute sie. »Und Sie?«

»N-nein.« Doro stopfte die Kartons ins Regal zurück. Oder versuchte es, denn vor lauter Nervosität gelang es ihr nicht. Wenn diese Frau doch nur gehen würde.

»Kommen Sie. Ich helfe Ihnen«, beschloss Ute, griff sich einen Karton und schob ihn ins oberste Regal zurück. »Ist aber auch wirklich weit oben.«

»Ich . . . Ich bin zu klein«, entschuldigte Doro sich für etwas, wofür sie nichts konnte. Was allerdings auch nichts Besonderes war. Sie fühlte sich immer für alles verantwortlich, auch wenn es nicht im Entferntesten ihre Schuld sein konnte. »Und diese Sorte tun sie immer ganz nach oben. Deshalb musste ich –«

»Deshalb mussten Sie hier eine halbe Bergbesteigung veranstalten, um da ranzukommen«, nickte Ute, nahm einen weiteren Karton und stellte ihn ebenfalls auf dem Regal ab. »Das ist wirklich unverschämt, dass die nie daran denken, dass es auch kleinere Leute gibt. Aber wissen Sie was?« Sie reichte Doro eine Hand, um sie zum Aufstehen zu veranlassen. »Lassen Sie das liegen. Das ist deren Problem. Sollen sie die Sachen doch da ins Regal tun, wo man drankommt.«

»Ich . . . Ich . . . Ich weiß nicht.« Zweifelnd blickte Doro auf die Kartons. »Es war doch meine Schuld –«

»War es nicht«, unterbrach Ute sie. »Kommen Sie.«

Ihre Stimme und auch der Blick aus den graugrünen Augen, der Doro traf, hypnotisierte Doro fast. Wie in Trance hob sie die Hand und legte sie in die ihr entgegengestreckte von Ute. Der Schlag, der sie bei der Berührung traf, ließ sie jedoch fast sofort wieder zurück zu Boden sinken.

Doch Ute zog sie hoch. »Ich glaube, Sie können einen Kaffee vertragen«, beschloss sie. »Und ich vielleicht einen Kamillentee.« Sie lachte. »War ein höllischer Tag.«

Das war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft gewesen, von der Doro zuvor noch nicht einmal hätte träumen können.

Und das Ende ihrer Jungfernschaft.

4

Während sie so durch die Stadt schlenderte an ihrem freien Tag, dachte Aenne darüber nach, ob sie in diesem Städtchen bleiben sollte. Diese merkwürdige Vertrautheit war gleichzeitig so unvertraut. Sie hatte keinen Vergleich, kein Muster für ein heimeliges Gefühl. Sie hatte immer eher auf der Überholspur gelebt.

Die Überholspur ließ keinen Platz für Ruhe und Gelassenheit, für Freundschaften, die ohnehin nur von beschränkter Dauer sein konnten, für gemütliche Abende zu Hause, allein mit sich selbst. Aennes Leben hatte sich immer vor allem in der Öffentlichkeit abgespielt.

Sie kochte nicht selbst, sondern aß entweder in den Lokalen, in denen sie angestellt war, oder ging in ein anderes Lokal aus. Wenn sie abends nicht arbeiten musste, ging sie tanzen. Manchmal ging sie ins Kino, aber nie allein, sondern immer in Gesellschaft anderer.