Oase Ofenbach - Franziska König - E-Book

Oase Ofenbach E-Book

Franziska König

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Beschreibung

Eine Realdoku in Tagebuchform. Der Leser ist dazu eingeladen, eine Geigerin drei Monate lang auf ihrem Lebenswege zu begleiten, und an den Freuden und Dramen zu partizipieren, die das letzte Quartal 1999 zu einem Wimmelbild, einem Lied oder gar einer Symphonie machen. Der Alltag selber diktiert die Handlung.

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Für meine geliebte Tante Antje zum 82. Geburtstag

Franziska (Kika)

„Wenn ich dereinst verstorben bin, so schweigt auch meine Violine!“ sagt sie.

Und drum bringt Franziska alle vier Wochen ein schlankes bis vollschlankes Taschenbuch heraus.

Erzählt werden Geschichten aus dem Leben, die von erhöhtem Interesse sein dürften.

Jeden vierten Dienstag um 18.05 wird das fertige Manuskript in die Umlaufbahn entsandt.

Die meisten Vorkömmlinge finden sich im Personenverzeichnis am Ende des Buches

Hier die Familie vorweg:

Opa, (*1909) Opa mütterlicherseits in Ofenbach (Niederösterreich)

Oma Ella, (*1913) Omi väterlicherseits in Hessen

Buz (Wolfram), mein Papa (*1938) Professor für

Violine an der Musikhochschule in Trossingen

Rehlein (Erika), meine Mutter (*1939)

Ming (Iwan), mein Bruder (*1964)

Linda(lein), bezaubernde Kusine aus Amerika (*1973)

Ein Buch ohne Vorwort. Sie können gleich anfangen zu lesen…

Inhaltsverzeichnis

Oktober 1999

Freitag, 1. Oktober

Samstag, 2. Oktober

Sonntag, 3. Oktober

Montag, 4. Oktober

Dienstag, 5. Oktober

Mittwoch, 6. Oktober

Donnerstag, 7. Oktober

Freitag, 8. Oktober

Samstag, 9. Oktober

Sonntag, 10. Oktober

Montag, 11. Oktober

Dienstag, 12. Oktober

Mittwoch, 13. Oktober

Donnerstag, 14. Oktober

Freitag, 15. Oktober

Samstag, 16. Oktober

Sonntag, 17. Oktober

Montag, 18. Oktober

Dienstag, 19. Oktober

Mittwoch, 20. Oktober

Donnerstag, 21. Oktober

Freitag, 22. Oktober

Samstag, 23. Oktober

Sonntag, 24. Oktober

Montag, 25. Oktober

Dienstag, 26. Oktober

Mittwoch, 27. Oktober

Donnerstag, 28. Oktober

Freitag, 29. Oktober

Samstag, 30. Oktober

Sonntag, 31. Oktober

November 1999

Montag, 1. November

Dienstag, 2. November

Mittwoch, 3. November

Donnerstag, 4. November

Freitag, 5. November

Samstag, 6. November

Sonntag, 7. November

Montag, 8. November

Dienstag, 9. November

Mittwoch, 10. November

Donnerstag, 11. November

Freitag, 12. November

Samstag, 13. November

Sonntag, 14. November

Montag, 15. November

Dienstag, 16. November

Mittwoch, 17. November

Donnerstag, 18. November

Freitag, 19. November

Samstag, 20. November

Sonntag, 21. November

Montag, 22. November

Dienstag, 23. November

Mittwoch, 24. November

Donnerstag, 25. November

Freitag, 26. November

Samstag, 27. November

Sonntag, 28. November

Montag, 29. November

Dienstag, 30. November

Dezember 1999

Mittwoch, 1. Dezember

Donnerstag, 2. Dezember

Freitag, 3. Dezember

Samstag, 4. Dezember

Montag, 5. Dezember

Montag, 6. Dezember

Dienstag, 7. Dezember

Mittwoch, 8. Dezember

Donnerstag, 9. Dezember

Freitag, 10. Dezember

Samstag, 11. Dezember

Sonntag, 12. Dezember

Montag, 13. Dezember

Dienstag, 14. Dezember

Mittwoch, 15. Dezember

Donnerstag, 16. Dezember

Freitag, 17. Dezember

Samstag, 18. Dezember

Sonntag, 19. Dezember

Montag, 20. Dezember

Dienstag, 21. Dezember

Mittwoch, 22. Dezember

Donnerstag, 23. Dezember

Freitag, 24. Dezember

Samstag, 25. Dezember

Sonntag, 26. Dezember

Montag, 27. Dezember

Dienstag, 28. Dezember

Mittwoch, 29. Dezember

Donnerstag, 30. Dezember

Freitag, 31. Dezember

Oktober 1999

Freitag, 1. Oktober

Ofenbach, Niederösterreich

Zunächst grau. Dann wunderschön. Hie und da ein sahneweißes Wölkchen

Oftmals muß ich mich beim Aufräumen auf leicht verdrossene Weise darüber wundern, warum der Opa sich wohl kein bißchen Mühe gibt, den Tisch ordentlich und adrett zu hinterlassen wie ein normaler Mensch? Überall liegen aufgerupfte Schokoladentafeln herum, und die Tassen mit den erkaltenden Kaffeeresten summieren sich…

Mittags holte ich uns eine Mahlzeit im Gasthaus Turner am Fuße der hügelförmig in die Höhe gebuckelten Kalgasse: Die Schankstube war noch leer, und ich plauderte mit der 13-jährigen Wirtstochter Martina: Die Schulbildung, so erfuhr ich, wird jetzt in einen „braagdischen und einen deoreedischen Dääil“ einen praktischen und einen theoretischen Teil aufgegliedert, was wohl bedeutet, daß der praktische Teil darauf hinzielt, daß viele Schüler bald von der Schule abgehen, weil sie der Meinung sind, das reale Leben spiele sich vor den Toren der Schule ab.

„Mein Bruder leidet darunter, daß er nur so kurz in der Schule war!“ erzählte ich.

„Von mir aus kann er mich gern vertreten!“ sagte die Martina.

Auch mit dem Gastwirt Turner selber verstand ich mich gut, da er heut auf der A-Seite stak, und in herzlicher Jovialitesse die kurzen Satzflickerln zu kleinen Melodien dehnend „Daaanke schön“ und „Bitte schööön!“ sagte. Ich freue mich immer so, wenn jemand auf der A-Seite steckt: Ob´s nun der Opa, der Turner, oder sonstwer ist. Spaßhaft hätte ich jetzt, so wie es Ute M*. an meiner Stelle wohl getan hätte, noch ein launiges „…oder Otto Normalverbraucher aus Hintertupfingen“ hinzufügen können. *Eine Dame, die gerne in geflügelten Worten und vorgestanzten Humorismen spricht

Auf dem Heimweg wurde ich sehr nett von Ming abgeholt, und entwarf ihm sogleich mit den passenden Worten ein Szenarium, wie er morgen für die Martina in die Schule geht:

Leider handelt es sich beim Klassenvorstand um einen sauertöpfischen Niederösterreicher.

„Wer saaan jetzt Sie, bitte??!?“ kläfft er Ming bedrohlich an.

„Oh, lassen Sie sich bitte durch mich nicht stören!“ sagt Ming freundlich, „ich bin nur in Vertretung für das Fräulein Turner hier!“

Der Klassenvorstand verträgt aber keine Gaudi, tritt streng auf Ming zu, und langt sogar auf historisch-respektheischende Weise nach Mings Kinn, damit Ming ihm in die Augen blicken möge.

„Verloussn Sie SOFORT diesen Raum!“ verlangt er barsch. Ming argumentiert noch ein bißchen herum und verweist auf den allgemeinen Wunsch nach flächendeckender Bildung in der Bevölkerung.

Schließlich landen sie beim Direktor, der gottlob ein gutmütig Gemütlicher ist.

„Loussn´s ihn doch dabääisitzen!“ sagt er behäbig und beschwichtigend, „woann er wous lernen wüi!“ Lassen Sie ihn doch dabeisitzen, wenn er was lernen will! und dann darf Ming auch offiziell im Klassenzimmer sitzen. Die Kinder schauen ihn neugierig an, und geben sich mehr Mühe, weil jetzt ein Erwachsener unter ihnen sitzt.

Morgens verlässt Ming mit einem kleinen Ränzl das Haus, und am Nachmittag sitzt er auf dem Dach, und macht emsig seine Hausaufgaben.

Am Nachmittag schlummerte der Opa in seinem roten Häubchen im gelbgepolsterten Sessel auf der Terrasse ganz geistesabwesend vor sich hin, und hat nichts essen mögen. Fast war es ein wenig so, als sei er bereits gestorben.

Zum Tagebuchschreiben setzte ich mich gerne in Opas Aura, und als der Opa nach einiger Zeit ins Wohnzimmer umzog, zog auch ich dort in seine Aura um, weil ich da viel besser schreiben kann.

Heute kam Post vom SOS-Kinderdorf.

„Ich will keine Post mehr!“ sagte der Opa grämlich, „muß ma halt zurückschickö!“

Den SOS-Kindern mag der Opa jetzt als Moribunder nichts mehr geben, aber als ich neulich anbot, daß ich die Arbeit von „der Moser“ (Opas Gedichte ins Reine zu tippen und verlagstauglich zu setzen) kostenlos übernehmen könne, sagte der Opa:

„Dann zahl´ sie trotzdem. Die braucht Geld!“ da er einen Narren an der freudlosen Dichterin aus Wiener Neustadt gefressen hat.

Verzückt las ich einen Brief von Ute M., die im nächsten Jahr heiratet und eine Familie gründen will: „Ich fahre in doppeltem Tempo auf der Überholspur“ und „frisch gewagt ist halb gewonnen!“ (schrieb sie in jubilierendem Tonfall)

Opa & ich schauten gebannt „Aktenzeichen XY ungelöst“. Wie es scheint, hat der Frankfurter Vorstadtwürger wieder zugeschlagen: Eine reife Blonde ging im Wald spazieren und kehrte nie wieder. Ermordet!

Zuvor war einigen Spaziergängern ein Herr mit furchterregender Ausstrahlung aufgefallen.

Abends kehrte Rehlein aus Aurich nach Ofenbach zurück.

Rehlein erzählte von ihren Schülern, und wie froh sie sei, daß der kleine Pascal mit seiner Deckelfrisur jetzt zu einer alten Dame gewechselt habe.

Pascals höchst plaudersame Mutti hatte erzählt, daß der Pascal eigentlich hochintelligent sei. Doch dies merkt man gar nicht.

Er sei schwierig, jähzornig, und ansonsten schweigt er.

Am Abend sagte Ming etwas Lustiges zum Opa. Er sagte: „Der Opa braucht bald einmal Ferien vom Leben!“ Und der Opa lachte fröhlich darüber, weil´s stimmt!

Samstag, 2. Oktober

Beim Ausflug etwas trübe und grau, dann aufgelockert. Heiser verhangen und weißwölkig

Wir mußten uns früh erheben, da wir heut mit unseren Nachbarn, den Vitzthums, zu einem Ausflug hinwegstrebten. Ming nörgelte auf gemäßigte Weise an mir herum, weil ich so langsam bin, und außerdem hatte man vergessen zu bedenken, daß Rehlein doch das Dalton-Syndrom hat. Die Neigung beständig von höheren Mächten vom Pfade ihres Tuns hinweggepustet zu werden.

Ich selber sei sehr pünktlich, erläuterte ich Ming, bloß fuhr ich in diesem Falle als Trittbrettfahrerin auf der Unpünktlichkeit der anderen mit.

Nach Art eines Ei´, das in einem an Obstipation laborierenden Darme festsitzt, so daß es sich weder vor noch rückbewegt, saß ich am Tisch, verzehrte ein bleiches Brot mit glänzendem Nugataufstrich, und hörte mir eine Erzählung darüber an, was Buz doch für ein einfach gestrickter Mensch sei!

Unlängst habe er Herrn Berke bei einem Besuch im „Twardokus“ schon wieder Bratscherwitze erzählt, grad so, wie schon beim letzten gemeinsamen Beieinandersitzen. Buzen geht´s mit dem Twardokus somit so, wie mir mit der Fritzibank.

Kaum laufe ich an dieser Bank, die auf einem malerischen Hügel in Ofenbach steht vorbei, so muß ich an den Fritzi denken, und erzähle Fritzigeschichten, da mir an dieser Stelle immer der Fritzi ins Bewußtsein gespült wird, und so geht´s Buzen im Twardokus mit seinen Bratscherwitzen.

Außerdem schaut Buz auf Seniorenart immer sehr darauf, daß er auch seinen Stammplatz erhasche, wußte wiederum ich lachend beizutragen.

Im Auto:

Ming, Rehlein und ich saßen hinten, Ming in der Mitte, und einmal nahm ich Rehlein über Ming hinweg bei den Händen, und malte uns aus, wie ein Liebespaar im Flugzeug die Sitze so ungeschickt reserviert hat, daß ein fremder Mensch dazwischen sitzt, und man dann eben so turteln muß…dauernd erzähle ich nur solche Dinge, und nie sage ich mal etwas Kluges oder gar Politisches.

Frau Vitzthum erzählte von Zwillingsschwestern aus ihrem Bekanntenkreis, von denen die eine schon einen Freund hat, und die andere sich glühend einen wünscht! Hie und da heißt´s: Heureka! Die große Liebe sei gefunden – während der junge Mann die stürmische Nacht bereits als einmalige Entgleisung für sich abgetan hat.

Bald schon waren wir an unserem Zielort angekommen und wanderten los. Rehlein erzählte plastisch und ausgeschmückt, sich in feinsten Details verästelnd, wie die Omi Ella als junge Mutter einen Brief an die wohltätig und gütig veranlagte Frau Neckermann in Frankfurt verfasst hat, in welchem sie das Talent ihres Sohnes auf der Violine offenbar in derart glühenden Farben schilderte, daß sich Frau Neckermann bereit erklärt hat, selbigen als Dauergast bei sich aufzunehmen, um ihn am Busen ihrer Wohltätigkeit zu nähren.

Ein kunstvoll formulierter Brief schien somit ausgereicht zu haben, Buzens Lebensweg in eine glanzvolle Richtung zu lenken? Genußvoll malte ich Ming aus, wie auch er eines Tages einen Brief bekommt, in welchem Folgendes zu lesen steht:

…Nach Lektüre des Briefes Ihrer Schwester bin ich nun der Idee anheim gefallen,, Ihnen, statt des zunächst anvisierten Autos, in Ihrem Bestreben wieder die Schulbank zu „drücken“, nach Kräften unter die Arme zu greifen: Ich werde für Bücher,, Hefte und Stifte aufkommen,, und wenn ich mich recht besinne,, müsste bei uns auf dem Dachboden sogar noch mein altes Ränzl liegen…

Mitten in einer Kirche, die wir besichtigten, verschwand Rehlein plötzlich spurlos, so daß ich gleich an den Frankfurter Vorstadtwürger denken mußte, der ja wohl kaum in Frankfurt angenagelt ist?

Ich merkte es daran, daß ich nurmehr die Vitzthums und Ming sah. Zunächst trösteten wir uns damit, daß dies doch ein sehr übersichtlicher Ort sei, doch ich war sehr in Unruh! Nach einer Weile ist dann auch noch Herr Vitzthum verschwunden. Das war mir in meiner Sorge aber ganz egal, und ich dachte gar: Wenn ich Rehlein nur wieder hätte, dann dürfte dafür auch noch die Frau Vitzthum gerne verschwinden…doch dann fanden wir Rehlein gottlob, und die Vitzthums waren mir dann auch wieder teuer, so daß ich es nicht so gern gesehen hätte, wenn die verschwänden.

Abends daheim:

Früher habe ich immer von der Terrasse aus durch´s große Fenster auf die Großeltern draufgeschaut, doch jetzt mag ich nicht mehr auf den greisen, mümmelnden Opa ohne die Oma draufschaun.

Wenn die Omi Mobbl jetzt auferstünde, so wäre noch fast alles beim Alten.

Sonntag, 3. Oktober

Meist wunderschön. Sehr herbstlich und erfüllend

Am Morgen ging mir der Opa mit seinem Gerotze und dem moribunden „Ach Gott!“-Gestöhn so auf die Nerven!

Bald darauf zwängte sich die Frage vor, ob ich nun mit Rehlein mitwandern solle oder nicht? Natürlich möchte man sich einerseits an Rehleins Beinkleider hängen, doch andererseits finde ich es ungut, wenn man nach Art Buzens die besten Jahre mit Spaziergängen und dem Buhlspiel verplempert. So begleitete ich Rehlein nur bis zum Gatter der Familie Czisy hinab.

Unterwegs war ich so begeistert von Rehlein. Ich fühlte mich wie ein strammes kleines Buzzewackele, das mit geballter Energie in seinem Gitterbettchen steht, und durch die Gitterstäbe schaut, und dies, obwohl Rehlein grade über IHR Thema sprach: Buz, und wie er oftmals mit den Gedanken ganz woanders zu sein pflegt, während er sich auf der Violine zu verbessern trachtet. Aber ich liebte meine Mama über alle Maßen, und gab sie, bildlich gesprochen, nur ungern aus der Hand.

Im Garten der Familie Czisy hatten sich volljunge Leute zwischen 39 und 51 Jahren (grob geschätzt) zur Herbstwanderung versammelt, und man stellte sich allgemein auf kumpelige, nette Weise mit dem Vornamen vor. (Später schilderte ich dem Opa bildlich, wie man sich vielleicht folgendermaßen vorstellt: „Kurt“ „Ebenfalls!“)

Obwohl man davon ausgehen durfte, daß Rehlein in guten Händen ist, fühlte ich mich doch in Anbetracht dessen, daß ich nicht mitkommen würde, ein wenig so, wie eine Tochter, die ihre Mutti im Altersheim abliefert und mit Blick auf die anderen Sahnehäupter womöglich sagt: „Hier findest du sicherlich rasch neue Freunde, Mutti!“

Ich kehrte zum Opa zurück, und brühte ihm einen Kaffee auf.

Zum Kaffeegenuß entfalteten wir die Zeitung und lasen, daß der Briefträger von Wiesmath beim Briefeausfahren tödlich verunglückt ist!

Der Opa summte ein kleines selbsterfundenes Gedicht vor sich her:

Sein Hinkebein, sein Hinkebein muß wegem Reim das linke sein.

Montag, 4. Oktober

Trübe. Regnerisch

Rehlein erzählte von der Photographie im Arbeitszimmer von Jan T., auf der die Köpfe seiner Lieben abgebildet waren, und Rehlein fand die kleine Paulette auf dem Bild so niedlich.

„Du merkst das!“ sagte Mutti Alma, die das Bild einst auf dem Schreibtisch aufgestellt hatte, dankbar. Aber ihr Mann hat es nie bemerkt, und hat überhaupt Zeit seines Lebens kein großes Aufhebens um die Paulette gemacht, weil sie ja schon die dritte im Reigen seiner Töchter war.

„Aha, daher rührt Paulettes Hunger auf ältere Herren!“ rührte ich gleich eine Diskussion an.

Abends besuchte ich meine Freundin Susi:

Die Susi wirkte heute bleich und käsig und strahlte schwangerschaftsbedingt etwas matt-müdes aus, was vielleicht aber auch am Nikotinentzug liegen könnte?

Ich erfuhr, daß sie einen Chromosomentest hat machen lassen. Der Test ergab, daß das Baby ein Mädchen, aber dafür gesund wird – und das, wo die Susi auf keinen Fall eine Tochter haben wollte! Dies ohne zu wissen warum? Vielleicht, weil es die Frauen im Leben einfach schwerer haben, und dem Manne untertan sein sollen?

„Besser als umgekehrt!“ sagte ich aufmunternd. Ich schaute die ganze Zeit auf die bleiche Susi mit dem leicht gehärmt wirkenden Gesicht drauf, in dem sich so viel ehrliche Anteilnahme an meinem beruflichen Werdegang spiegelte.

Hernach erzählte sie mir, daß die Schipfler Christa bei der vierten Chemo beinah gestorben wäre, und bei der fünften stirbt sie dann womöglich ganz?

Bedrückt begab ich mich auf den Heimweg.

Zu später Stund:

Auch Mobblns Nachthemd, in das ich zu steigen plante, starb. Der Stoff brach…. Und daß ein Kleidungsstück einfach sterben kann, so wie ein Mensch, war mir gänzlich neu.

Dienstag, 5. Oktober

Vormittags sonnig. Herbstlich intensiv. Dann wurde es aber ganz dunkel, weil die Gräue der Wolken ebenso intensiv war. Neblig trübe wie in den Bergen

Wir sprachen über den Leichenbestatter, der Mobblns Sarg geliefert hat. Er und seine Angestellten tragen immer den passenden Gesichtsausdruck zum Unvermeidlichen, und ich walzte die Geschichte ein wenig aus, indem ich bildhaft schilderte, wie er einst in der Schule, als er noch der kleine Waldbauernbub war, immer schon so eine Miene draufgehabt hat. Der Lehrer habe gesagt – und ab hier klang die Geschichte von meinen Lippen so, als habe sie sich wirklich und nicht anders zugetragen - : „Gerhard, bei deiner Leichenbittermiene, solltest Du vielleicht Leichenbestatter werden?“

„Wir besuchen ihn mal in seiner Werkstätte, und sagen, der Opa möchte probeliegen!“ schlug ich vor.

Heute tippte ich drei Gedichte vom Opa in den PC hinein. Rehlein wurde sehr vergnügt davon und regte an, daß ich, wenn ich mal keine Konzerte habe, doch herkommen, und alle Gedichte gegen Bezahlung eintippe? Doch von meinem eigenen Opa will ich mich nicht bezahlen lassen, und dann dachte ich wieder an die Moser, die am Telefon mit jammerndem Untertone gesagt hat: „Letzte Wouchn hob i mir noch die rechte Hand ´brouchn, und die Orbeit geht nurmehr hoib so schnöi! – ich berechne Eana nadürlich nur an hoibn Brääis!“

Letzte Woche hab ich mir die Hand gebrochen, und die Arbeit geht nurmehr halb so schnell. Ich berechne Ihnen natürlich nur den halben Preis.

Der Opa war heut etwas agitiert, in jenem Sinne, daß er sich so gerne nützlich gemacht, und etwas Sinnvolles getan hätte, bloß was?! In vieler Hinsicht ist er aus der Übung gekommen, und die Tätigkeiten, bei denen er noch von Nutzen sein könnte, beschränken sich auf´s Dichten, Äpfel- oder Nüsse auflesen, und die Post hereinzutragen.

Sogar auf die „Lindenstraße“ verzichtete ich, um mit dem Opa ein wenig auf der Kalgasse zu promenieren. Es war aber ungemütlich und nieselig, und der gebeugte Opa erzählte mir wenig Freudvolles: Daß die Bauernbuben früher so roh waren! Man hat sich immer nur gehauen, und was anderes kannte das rohe Pack überhaupt nicht…“ „nicht fähig zu einer echten Freundschaft!“ sagte der Opa enttäuscht.

Rehlein schrieb dem Rainerbuben einen Früchtebrotbrief zum Geburtstag, und der Opa telefonierte mit dem Onkel, der sich durch den Draht so nett anhörte wie Onkel Dölein.

Der Rainer sagte mir am Telefon, daß er die Verwandten in Europa nie vermissen würde. Ich fand das kränkend, und auch wenn´s vielleicht stimmt, empfinde ich solch plumpe Ehrlichkeit als quälend, denn wer lässt sich schon gern mitten ins Gesicht sagen, daß er nicht vermisst wird?

Mittwoch, 6. Oktober

Morgens sonnig. Dann grau und ernst bewölkt

Ich machte Ming vor, wie es damals wohl gekommen wäre, wenn wir in Taiwan geblieben wären: Wenn der Opa anriefe, würde ich mit chinesischem Akzent sagen: „das Oooma – schaaad!“ doch es wäre dann mehr aus Höflichkeit, da wir durch die lange Zeit des Nichtgesehenhabens den Draht zu den Großeltern im Strudel des Lebens verloren hätten, so wie es dem Rainerbuben mit uns ergangen ist.

Es gab bleiche Zwirbelnudeln und köstliches Rotebeetegemüse, von Rehleins zarter Hand kunstvoll zubereitet. Der Opa sah aus, als hätte er sich mit Lippenstift verschönt, und Ming und ich mußten darüber lachen, daß Rehlein sofort unnatürlich ausschaut, wenn man den Fotoapparat auf sie richtet.

Wir sprachen über den Onkel Rainer, von dem man nicht einmal weiß, ob er überhaupt jemals wirklich verliebt war? Eigentlich war der Rainer eher ein Typ, der nie zuhause war – präsent und apräsent zugleich, so wie es viele Ehemänner sind: Präsent z.B. in Form ihrer müffelnden Socken, die gewaschen werden wollen.

Später modulierten wir zu Rainers Enkelin Maika hinüber: Wir stellten uns vor, wie sie mit 14 Jahren von zuhause abhaut. Erst zehn Jahre später kommt eine Karte, worauf in dürren Worten zu lesen steht, daß es ihr gut ginge, und man sich keine Sorgen machen möge.

Überall liegen meine angebissenen Äpfel herum. Immer wenn ich daran vorbeilaufe, beiße ich hinein, und wenn dann der ganze Apfel weg ist, dann ist eine Mikrosekunde der Ewigkeit verstrichen!

Das brachte mich auf die Idee, das Leben vollkommen neu zu gestalten: z.B. in jede Ecke des Hauses einen Blatt Papier mit einem angesetzten Brief zu legen, und wenn man dran vorbeiläuft, einfach ein paar Worte hinzuzuschreiben – so, wie ich halt immer in die Äpfel beiße?

Rehlein erzählte, daß sie langsamer geworden sei: Früher brauchte sie zwanzig Minuten um einen Apfelkuchen zu backen, und jetzt sind´s schon eineinhalb Stunden! Ich regte an, daß man eine Liste anlegen solle, wie lang man früher für etwas gebraucht habe: Klogang, Telefonat etc….

Ich fand einen Brief, den der Opa vor vielen Jahren aus Taiwan an die Mobbl geschrieben hat:

Detailliert schilderte er darin, was wir Kinder gerade übten: Der Iwan spielt die Mozart Sonate Nummer 12, schrieb der süße Opa, und die Kika im zweiten Stock die Romanze in F-Dur von Beethoven.

In „Hallo Deutschland“ wurde heut vom Prozessauftakt gegen den Sägemörder berichtet.

Der Sägemörder gab sich vor dem Richter reuevoll zerknirscht und sprach immer sehr leise, so daß er wiederholt ermahnt bzw. auch freundlich gebeten wurde, bitte etwas lauter zu sprechen. Dann sprach er ganz kurz etwas lauter und verfiel bald wieder in ein undeutliches Murmeln, grad wie ein defekter Televisor.

Ich lenkte die Rede darauf, daß Mobbl eigentlich immer so interessante Briefe geschrieben habe: Alle anderen ergingen sich in Landschaftsschilderungen oder schrieben über´s Wetter, und bloß die Mobbl schrieb spannend, was die Mitschka oder die Mäme wieder Unmögliches gemacht habe, oder wie ihre Schwiegertochter mal wieder unreif war…

Rehlein sah heute so bezaubernd aus.

Donnerstag, 7. Oktober

Vor- und Nachmittags zärtlicher Sonnenschein. Dazwischen war der Himmel mattblau und mit Wolken übersät

„Die Sonne hat den Tag schon angesengt!“ sagte der Opa am Morgen gleichsam poetisch und müde.

Zum Frühstück las Ming die sehr lebendigen Briefe vor, die der Opa im Jahre 1973 an Mobbl geschrieben hat. Der Opa schrieb so viel und begeistert von uns, und man spürte zwischen den Zeilen die freudige Erwartung, uns bald durch Mobblns Sinne wie neu erleben zu dürfen.

Jetzt aber - nur 26 Jahre danach - saß der Opa, wie einst die Uroma am Tisch, mümmelte sein Gnadenbrot, und verstand „koi Wort“.

Einmal sagte der Opa rührend zu Rehlein: „I bin halt vergreist!“

In den Nachrichten hörten wir, daß 1, 3 Millionen Österreicher den Haider gewählt haben.

Ich erzählte, daß die japanischen Schwiegereltern von meinem Kommilitonen Stephan Y. immer so nett sind, so daß er sich nicht scheiden lassen kann.

Seine Frau ist zänkisch und unerträglich, wie andere Ehefrauen auch, aber die Schwiegereltern sind so entzückend und höflich. Beim Empfang am Flughafen Narita bekam der alte Schwiegervater Tränen der Rührung in die Augen, weil er hochromantisch sei.

Dann lebte Stephan Y. ein halbes Jahr lang bei seinen Schwiegereltern in Tokyo, und dort war´s schön wie im Paradies. Die Schwiegermutter brachte ihm morgens Tee ans Bett, sie wärmte ihm die Wäsche vor, und ließ ihm abends ein Bad ein. Doch der Japankundler weiß natürlich, daß ein Bad in Japan nicht einfach nur ein „Bad“ ist: Man steigt in ein sog. „Ofuro“, einen Badezuber, der höchsten Sitzkomfort garantiert, und lässt sich gegebenenfalls von zwei Schönheiten einseifen, unterhalten und massieren.

Jeden Tag gab es Sushi und viele andere, hierzulande unbekannte Köstlichkeiten.

Stephan Y. machte es sich zur lieben Gewohnheit, seine Schwiegereltern einfach so, und völlig grundlos zu besuchen, und vielleicht ist er der einzige Mann den man kennt, der sich bei den Schwiegereltern fröher fühlt als bei seiner Frau?

Ming berichtete, daß die Mutter von Rudolf H. sich als unbequeme Schwiegermutter entpuppt hat. Sie sei sehr kontrollierend. Doch was soll man tun, wenn man so eine unreife Schwiegertochter hat?

Mings Drucker führte plötzlich einen Veitstanz auf und war nicht mehr zu bremsen, weil mit dem Computer ja praktisch immer etwas im Unlot ist. Er zerknüllte die Papiere und spie sie angewidert, fauchend und ungezogen wieder aus.

Freitag, 8. Oktober

Herbstlich sonnig

Immer wenn der eilige Ming, der beständig am Rumorganisieren ist, ins Zimmer kam, brachte er einen kühlen Hauch mit. Einen Hauch von leichter Verärgerung und Befremdung.

Im Auto ging´s darum, daß Rehlein glaubt, Ming wisse nicht, was er wolle.

„Was redest du da?“ sagte Ming konsterniert, und in einem Tonfall, der besagen sollte, daß Rehlein nicht wisse, was sie da rede!

Rehlein sagte mal so süß zu Ming: „Ich wollte Dich ein bißchen amüsieren!“

Am Bahnhof ließen wir Rehlein einfach im Auto zurück.

Beim Kartenkauf raunte ich Ming zu, daß er sich Rehlein gegenüber zuweilen unschön benähme.

„Dann muß ich netter werden!“ sagte Ming sehr nett, denn wenn man dann verreist und sein bespötteltes, oder scheinbar belehrungsbedürftiges Gegenüber nicht mehr sieht, zerfällt alles Negative zu Staub, Zerknirschung macht sich breit, und jetzt konnte Ming seine Fehler gar nicht mehr ausbügeln, weil Rehlein im Auto sitzen blieb und nicht nachkam.

Der durmelige Opa wurde von Rehlein zum Milchholen ausgesandt, und ich lief ihm hernach entgegen. Schon von der Ferne sah ich, wie er am Fuße der Kalgasse mit dem Gehstock in den Nüssen herumstocherte, und eilte freudig auf ihn zu.

Ich erfuhr, daß Opa und Mobbl sich heute vor 66 Jahren verlobt haben.

Daheim lag ein Brief von Onkel Dölein im Briefkasten, und hernach hielt der Opa die Briefbeute so rührend erfreut in seiner warmen Greisenhand.

Einmal frug Rehlein den Opa, seit wann er denn so huste, und der Opa sagte: „Schon mei Muddr hat immer g´sagt: Da ist er ja wieder, der alte Huster!“

Samstag, 9. Oktober

Graumeliert

Ich schrieb Mobblns altem Freund Heinz-Werner Zimmermann, von dem es heißt, er sei spitz darauf, daß wir nächstes Jahr zu seinem 70. Geburtstag ein äußerst kniffeliges Streichquartett von ihm aufführen:

„Ich würd´s ja gern machen, bloß bin ich immer so entsetzlich müüüd! Es handelt sich dabei nicht um die natürliche Müdigkeit, die einen nach einem arbeitsamen Tag befällt, sondern um ein narkotisches Gemisch, das sich in meinem Inneren ausgebreitet hat und nicht mehr weichen will. In der Nacht schlafe ich zuweilen so tief, daß es direkt scheint, als sei ich jetzt schon leicht verstorben, oder zumindest so, als habe die Seele den Körper bereits größtenteils verlassen, denn ich spüre meinen Körper überhaupt nicht mehr! Am nächsten Morgen bin ich dann aber keineswegs ausgeschlafen, wie man doch wohl meinen müsste, sondern fühle mich wie „von Vampiren ausgesaugt“!