Ohne Titel - Nicholas Grünke - E-Book

Ohne Titel E-Book

Nicholas Grünke

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Beschreibung

Von bunten Vögeln, aufgefädelten Schmeißfliegen und kunstfressenden Katzen. Der Kunstbetrieb ist eine ebenso faszinierende wie für Außenstehende unzugängliche und unverständliche Welt. Was unterscheidet denn gute von schlechter Kunst? Warum ist das eine Gemälde Millionen wert, während andere Künstler von ihrer Arbeit kaum leben können? Nicholas Grünke war jahrelang Teil der schillernden Kunstszene. In seinem Buch nimmt er uns mit in die heiligen Ateliers der Künstler und die Villen dekadenter Sammler. Wir lassen mit ihm die Korken knallen auf privaten Dinnerpartys in Paris und am Pool in Miami. Und wir erfahren hautnah, welche Faszination von Kunst ausgeht – und dass sie ihren Zauber verliert, wenn sie zum reinen Investmentgegenstand verkommt.

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Seitenzahl: 377

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Nicholas Grünke

Ohne Titel

Meine verrückten Jahre zwischen Künstlern, Galeristen und Sammlern

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Von bunten Vögeln, aufgefädelten Schmeißfliegen und kunstfressenden Katzen.

Über Nicholas Grünke

Inhaltsübersicht

WidmungVorbemerkungMottoPrologWeihnachten im Wonder RoomKunstschlussverkaufHappy New Year!InterludeWalisisches KoksVon Papageien und PiratenKunstbesessene KatzenInterludeZu viel KunstIm Inneren des VulkansBerlins bellende HundeEpilogDank

JJMCGS

Vorbemerkung

Die Geschehnisse der vorliegenden Erzählung haben sich zwischen 2008 und 2013 abgespielt, obwohl ich die zeitliche Abfolge zugunsten des Erzählflusses nicht immer eingehalten habe. Um Identitäten zu schützen, sind Namen und Aussehen der meisten Personen verändert worden. Entsteht doch der Eindruck einer Übereinstimmung mit existierenden Charakteren, ist das Zufall.

«When things become wholly unbelievable,

all one can do is laugh. There is nothing to fall back

upon but the bare fact of one’s existence;

one must forsake logic for magic.»

 

Paul Bowles

Prolog

London

Ich konnte den Bass des gestrigen Konzerts immer noch spüren. Mein Mund war trocken von all dem Gin, und obwohl ich geduscht hatte, roch ich immer noch nach Alkohol.

Die Elektrobeats und Samples hatten durch die Boxen geknallt, während die Frontfrau sich auf mörderischen High Heels in Ekstase getanzt hatte. Als ob sie, Nataraja, der Figur aus der Hindu-Mythologie gleich, das Universum zerstören und wieder erschaffen wollte. Regelrecht umgehauen hatte die Nacht mich aber, weil da diese atemberaubende Frau neben mir aufgetaucht war, die es verstand, unsere Euphorie bis in die Morgenstunden ins Maßlose zu steigern. Nora kippte die Gin Tonics mit der gleichen fatalen Geschwindigkeit herunter wie ich, und es törnte sie an, Kokain aus ihrem Bauchnabel gezogen zu bekommen. Als ich das Hotelzimmer verließ, lag sie in der Mitte des Bettes und schnarchte leise. Ihre schwarze Haarexplosion lockte sich in alle Richtungen über die Kopfkissen.

Dieses Bild sah ich immer noch vor mir, als das Taxi bereits durch die diesigen Straßen der im Erwachen begriffenen Stadt fuhr. Ich saß auf der Rückbank und hörte im Radio, dass die Three Studies of Lucien Freud von Francis Bacon gestern bei Sotheby’s für unglaubliche 142 Millionen Dollar versteigert worden waren. Ich träumte nicht. Der Kunstmarkt brach nicht zusammen, sondern ergötzte sich an seiner eigenen Superlative. Ein Spiel, das mittlerweile von unvorstellbar vermögenden Menschen zelebriert wurde, die stetig reicher wurden.

Wir hielten vor der Paddington Station. Menschenmassen strebten in alle Richtungen. London wurde in den Morgenstunden regelrecht von Pendlern überströmt. Es war kalt, und der Wind pfiff die Menschen zur Eile. Ich knöpfte meinen Mantel zu und schob meinen Koffer in den über 150 Jahre alten Bahnhof.

Meterlange Werbeplakate der amerikanischen Airline United säumten den Weg. Sie propagierten freundliche Himmel – «fly the friendly skies» stand da. Was sollte mir das sagen? Hieß das, kein Separatist oder Terrorist würde die Maschine abschießen? Oder bedeutete es einfach nur immer freundlichen Sonnenschein? Ich würde es gleich erleben, denn ich war auf dem Weg nach Miami. Genauer gesagt ging es zur Art Basel Miami Beach, dem sonnigen, dekadenten Ableger der Schweizer Kunstmesse. Dahin, wo sich die Superreichen zurückzogen, wenn es in Europa zu kalt und ungemütlich wurde. Und diesmal war ich eingeladen, dabei zu sein.

Der Heathrow Express glitt durch die Stadt, und eine gnadenlose Müdigkeit überkam mich. Zwar kämpfte ich dagegen an, aber ohne die geringste Chance sank ich immer wieder in einen Sekundenschlaf. Ich hätte einen Coffee to go am Kiosk kaufen sollen.

Mir hatte mal jemand erzählt, dass die Aufzüge in Heathrow an die Ankunft der Züge gekoppelt waren, und wie erwartet standen sie unten bereit, um die herauseilenden Passagiere nach oben zu befördern. Dicht gedrängt füllten wir den Raum des Aufzugs bis in die Ecken. Keiner sprach. Jeder starrte blöde ins Leere. Der Sauerstoff wurde knapp, phantasierte ich. Bing. «Departure», ertönte es.

In der gigantischen Halle konnte ich endlich wieder durchatmen. Das geschwungene Dach aus Stahl und Glas, dessen Montage über ein Jahr gedauert hatte, verlieh ihr eine angenehme Leichtigkeit. Die Schlange vor dem Economy-Class-Check-in war lang, und Reisende mit aufgeschichteten Koffern auf den Gepäckwagen folgten dem Slalom durch die Absperrungen im Schneckentempo. Geschäftlich unterwegs zu sein brachte den Vorteil mit sich, dass ich Business Class fliegen durfte. Ohne warten zu müssen und überfreundlich wurde ich von meinem Gepäck befreit, und die fast fünf Kilo Übergewicht wurden erst gar nicht erwähnt. Dann schob eine grazile Hand die Boardkarte über den Counter, und verzierte Fingernägel tippten auf das eingekreiste Gate auf dem Papier. Ich steckte die Karte in die Innentasche meines Anzugs und dachte an Kaffee.

In Terminal 5 erspähte ich die Kunstikone John Baldessari. Diesmal phantasierte ich nicht. Mit seinem weißen Haar und Bart wirkte er wie ein überdimensionierter Santa Claus neben seinen winzigen chinesischen Begleitern. John hatte mal gesagt, dass Kunst aus Kunst hervorgehe. Und dass es der Job eines Künstlers sei, wenn er irgendwie gut ist, seine Spuren zu verstecken, sodass man seine Quellen nicht entdecken kann. Also dass er nicht wiederholt, was jemand anderes bereits vorher getan hat, sondern vielmehr darauf aufbaut und es erweitert. Leider vermisste ich das von Baldessari beschriebene Ideal eines Künstlers immer häufiger in den letzten Jahren. Entweder starb dieser Anspruch an sich selbst aus, oder die Künstler waren: irgendwie nicht gut.

Es gab zu viele Arbeiten, an denen aber auch rein gar nichts erweitert worden war. Auf Messen und Biennalen wurden diese stumpfen Wiederholungen sogar gelobt und gefeiert. Aber in diesem Moment fehlten mir die Kraft und der Elan, John anzusprechen und dies mit ihm zu diskutieren. Sicherlich war es ihm recht, dass mein Hangover und die damit verbundene Antriebslosigkeit ihm meine Fragen ersparten.

Am Security-Check legte ich alles gewissenhaft in die Plastikschale, und doch piepste es. Arme auseinander und sich betasten lassen. Angeblich waren es meine Turnschuhe, auch wenn diese sich in den letzten Jahren immer problemlos verhalten hatten. Ich musste sie ausziehen, aufs Fließband legen und noch mal mit Socken über den dreckigen Flughafenboden durch den Metalldetektor laufen. Jetzt nickte der Sicherheitsmann selbstgefällig.

Lautlos schlossen sich die Türen zur Business Class Lounge. Der Lärm des Flughafens verschwand hinter einem Klangteppich aus Ambient-Musik. Endlich entspannen. Dachte ich. Doch irgendwie verfolgte mich das Pech; immer, wenn ich Ruhe am dringlichsten herbeisehnte, umgaben mich Krach und Lärm. Diesmal waren es drei betrunkene Russen, die laut herumkrakeelten und sich am Alkoholbuffet schadlos hielten. Meinen ersehnten Kaffee musste ich unter dem Schutz meiner Kopfhörer genießen. Gerade als der Refrain «Dear Miami, you’re the first to go. Disappearing …» gesungen wurde, vibrierte mein Telefon. Nora hatte aus dem Hotel geschrieben: «Wach. Miss your body. Thought Iraq was fun. Bin ende der woche in LA mit den aufnahmen fertig, könnte dich in Miami treffen?x»

Ich schrieb lächelnd zurück: «Iraq? Enjoyed it too. Warte auf dich in Miami.x»

Eine Viertelstunde später wurde endlich der Flug nach Moskau aufgerufen, und ich konnte zumindest mein Frühstück in Ruhe einnehmen.

Ein halbes Dutzend Austern und ein Glas Champagner halfen gegen den Kater. Jedes Mal wenn ich dieses Stück Ozean schlürfte, musste ich an Sydney denken und den gigantischen Berg an Muschelschalen. Zwölf Meter hoch soll dieser gewesen sein, als die ersten Siedler in Bennelong Point aufkreuzten, dort, wo jetzt das berühmte Opernhaus steht. Unvorstellbar, wie viele Festmahle dort vor Millionen Jahren stattgefunden haben müssen.

«Fucking Autocorrect. Es sollte it heißen. It was fun. Guten Flug», erschien auf meinem Display.

Ich musste mir erst den Austernsaft von den Fingern wischen, bevor ich antworten konnte: «Mir gefiel Iraq auch gut. Bis bald»

Ich lief, von Laufbändern beschleunigt, an ewig langen Glasscheiben vorbei Richtung Gate. Als ich durch mein Spiegelbild hindurch auf das Rollfeld blickte, konnte ich die Flugzeuge nur schwer im dichten Nebel erkennen. Wie in den Bildern des finnischen Fotografen Miklos Gaàls gab es einen großen Unschärfebereich, sodass die Welt draußen wie eine Modellbaulandschaft anmutete, in der ein matter orangegelber Kreis hinter einer weißen Wand aus Wolken die Sonne nur erahnen ließ.

Am Gate wurde es dann amerikanisch, und ich wurde durchlöchert mit Fragen zu meiner Person und meinem Privatleben. Der Grund für meine Einreise war schnell erklärt, ich wollte auf die Kunstmesse. Aber mit den Stempeln in meinem Pass verhielt es sich schwieriger, und für diese hatte der junge Sicherheitsbeamte besonderes Interesse. Er blätterte durch Vietnam, Russland, China, Kuba. Auch schienen ihm mein Vollbart und die längeren Aufenthalte in muslimischen Länder nicht zu gefallen. Aber was war ich nun, Kommunist oder Terrorist? Dabei wollte ich doch nur durch «friendly skies» fliegen.

«Was haben Sie gestern Abend getan?»

What the fuck?, dachte ich, antwortet aber ruhig: «Im Hotel einen Film gesehen.» Ich konnte ihm ja schlecht erzählen, dass eine super sexy, aber vollkommen durchgeknallte Frau davon besessen war, mit Champagner in ihrem Mund das Kokain auf meinem Geschlechtsteil schäumen zu lassen. Sein Tonfall missfiel mir ungemein, und am liebsten hätte ich ihm einfach nur meinen Mittelfinger in sein Milchbubigesicht gestreckt. Aber dann wäre die Maschine wohl ohne mich abgehoben. Also spielte ich die Frage-und-Antwort-Prozedur wie eine einstudierte Theaterrolle mit. Dann nur noch mal mit gespreizten Beinen und Armen in den Ganzkörperscanner, und endlich konnte es losgehen.

Wir durchbrachen die Wolkendecke aus Betongrau und eroberten das feine Lichtblau. Die Sonne strahlte in mein Oval und wärmte mein Gesicht. Ich nahm meine Sonnenbrille aus dem Etui und setzte sie auf. Alison Goldfrapp sang himmlisch melancholisch durch meine Kopfhörer. Ich war bereit, in den Schlaf zu fallen.

*

Von kulinarischem Genuss kann in Flugzeugen nie die Rede sein. Das ist auch nicht besser, wenn man in der Business Class reist und von einer Speisekarte wählen kann. Während die Hummerkrabben als Vorspeise noch akzeptabel waren, verdarb mir das Lammfilet mit geröstetem Gemüse nach wenigen Bissen den Appetit. Nachdem das Essen abgeräumt worden war, stand mein Sitznachbar auf und nahm seine edle Ledertasche aus dem oberen Fach. Seine Krawatte hatte das Muster einer mexikanischen Königsnatter, die, als Kontrast zu seinem weißen Hemd und dem sandfarbenen Anzug, wirklich ein Blickfang war. Stillvoll, bis auf den goldenen Siegelring, den er am kleinen Finger trug.

Der kräftig gebaute Mann hatte Mühe, die hartnäckig haftende Duty-free-Tüte von der Flasche zu lösen. Als schließlich ein Whisky zum Vorschein kam, drehte er das Etikette in meine Richtung und fragte zu meiner Verwunderung: «Sie trinken doch sicherlich ein Glas von dem guten Tropfen mit mir?»

Bei einem 25 Jahre alten Bunnahabhain konnte ich nicht widerstehen. Wir ließen die Trennwand zwischen uns herunterfahren, da war die Stewardess schon auf dem Weg, zwei Gläser zu holen.

«Steven Swan, sehr angenehm.»

«Nicholas Greenke, sehr erfreut.»

Ich hatte mir über die Jahre angewöhnt, meinen Nachnamen im Ausland leicht zu ändern, da es insbesondere Englischmuttersprachlern unmöglich war, «Grünke» auszusprechen. Wir gaben uns die Hand.

«Was führt dich nach Miami?»

«Art Basel Miami Beach.»

«Ausgezeichnet», sagte Steven entzückt, «da sind wir ja aus demselben Metier.»

Er war Galerist, und es war bereits seine siebte Messe in Miami. Er wollte wissen, was ich machte.

Meine Freundschaft und die daraus entstandene Zusammenarbeit mit dem durchgedrehten Galeristen Simon, der nicht nur die Reise bezahlt hatte, sondern auch wollte, dass ich Miami als Anlass nahm, meine Umtriebigkeit zur Ruhe kommen zu lassen und fest in seine Galerie mit einzusteigen – all das auszuführen wäre zu lang geworden. Um die Sache nicht zu sehr zu verkomplizieren, sagte ich, dass mein Partner Simon und ich zwei neue Künstler auf der Messe präsentieren würden. Steven kannte keinen der beiden Newcomer.

Auf einmal hatte ich das Bedürfnis, ihn zu testen: «John Baldessari war auch am Flughafen. Ist er dieses Jahr wieder Part der Conversation Series?»

Er bestand mit Bravour: «Das weiß ich nicht. Aber ich erinnere mich an die Frage, welche Auswirkung eine Kunstmesse auf ihn als Künstler hätte. Die Metapher, die Baldessari als Antwort gab, war – ich zitiere: ‹Es ist wie bei Kindern, die das Zimmer betreten, in dem ihre Eltern gerade Sex haben.›»

Wir lachten beide, und er schenkte mir ein.

«Cheers, Nicholas!»

«Prost, Steven.»

Das mochte ich an den Amerikanern, alles war sofort so vertraut und herzlich. Auch wenn diese Freundlichkeit häufig aufgesetzt war, zog ich sie der ewig misstrauischen, nörgelnden Art vieler Nordeuropäer vor.

«Ich glaube die Generation von Künstlern wie John hat Glück gehabt. Geld spielte damals noch keine große Rolle, und sie konnten sich freier entwickeln», kam Steven noch mal zurück auf Baldessari. «Sie hatten mehr Möglichkeiten, ihren Arbeitsweg noch zu ändern. Während heute Sammler schon Arbeiten kaufen, bevor die Künstler überhaupt graduieren.»

«Absolut! Der Stil des Künstlers ist dann schnell festgelegt, und der Markt lässt nichts anderes mehr zu. In den letzten Jahren habe ich viele junge Künstler kennengelernt, die, nachdem sie auf den Zug aufgesprungen waren, nur noch Masse produzierten. Und glaub mir, da ging es nicht mehr darum, Grenzen zu expandieren oder Neues zu entwickeln. Nein, nur um Geld, Status und darum, auf der Gästeliste der nächsten Glamour-Party in Soho zu stehen.»

Ich redete mich in Rage, bis Turbulenzen das Flugzeug und meine Worte schüttelten. Wir sanken ruckartig in ein Luftloch; wie immer hatte ich das Gefühl, meine Innereien folgten zeitverzögert und produzierten dabei ein kurzes Unwohlsein. Die Anschnallzeichen blinkten rot auf. Die Stewardess lächelte.

«Miami Beach ist das Paradebeispiel für diese Entwicklung. Es ist erstaunlich, wie viele neue junge Künstler jedes Jahr auf den Markt geworfen werden. Gleichzeitig sind die angesagten Künstler des Vorjahres schon wieder verschwunden. Die einzigen zwei Konstanten sind das wachsende Interesse und die positiven Verkaufszahlen.»

Steven zwirbelte, während er sprach, mit Zeigefinger und Daumen an einem Ende seines pechschwarzen Strich-Schnurrbarts.

«Heute Morgen im Taxi hörte ich die Meldung vom verkauften Bacon für 142 Millionen Dollar. Wahnsinn.»

«Die Reichen werden offensichtlich reicher. Und brauchen neue Wege, um ihr Geld sicher anzulegen. Kunst ist eine bessere Lösung als Bargeld, verstehst du? Außerdem ist die Ein- und Ausfuhr von Kunstwerken auch wesentlich einfacher.»

«Und die Kapitalanlage wird auch nicht irgendwann im Meer versinken so wie viele Immobilien in absehbarer Zeit!»

Steven bestellte Oliven und Käse und versuchte die Stewardess zu überreden, einen Drink mit uns zu nehmen. Sie lächelte wieder und zupfte sich an ihrem Hütchen. Wie selbstverständlich füllte er mein Glas nach. Ich fand es angenehm, mit jemandem zu reden, der einen ähnlich nüchternen Blick auf die Kunstwelt hatte wie ich. Vermutlich auch deshalb erzählte ich Steven irgendwann von dem gestrigen Konzert und von Nora. Mittlerweile war die Flasche Whisky halb leer. Am Anfang hatte ich mir den guten Tropfen noch bei jedem Schluck auf der Zunge zergehen lassen, mittlerweile steigerte ich nur noch meinen Rausch.

«Und so eine Frau lässt du alleine zurück im Hotelzimmer in bloody London? Was macht sie in den USA?»

«Sie ist Vocal-Ingenieurin, hat für Dr. Dre gearbeitet!»

«Dieser Rapper, dessen überbewertete Kopfhörer bei den Kindern so beliebt sind und die er an Apple verkauft hat?»

«Ja, genau der. Habe gelesen, dass er einen Jahresgewinn von 480 Millionen Dollar gemacht hat.»

«Tja. Genau diese Typen überschwemmen gerade den Kunstmarkt. Da ist momentan dieser Promi-Sammelwahn. Kunst zu sammeln ist zum neuen, heißen Statussymbol geworden. Diese P. Diddys und Jay Zs oder wie sie alle heißen, laufen aufgeplustert wie die Pfaue, mit protzigem Goldschmuck behangen herum und kaufen Dekoration für ihre Villen. Solche Typen sorgen dafür, dass die Qualität der Kunst auf den Messen sinkt und meiner Ansicht nach die falschen Künstler gepuscht werden», fluchte Steven, bevor er sich entschuldigte und zur Toilette ging.

Der Atlantik streckte sich unter uns. Die gewaltigen Containerschiffe waren nicht mehr als winzige Schatten in der blauen Weite. Wir flogen entlang des Golfstroms auf die Sargassosee zu. War das nicht der Ort, an dem europäische und amerikanische Aale sich zum Laichen trafen?

Da Kuba auch nicht mehr weit entfernt war, musste ich an die alte Geschichte in Santiago de Cuba denken und fing an zu lachen. Steven setzte sich wieder: «Darf man mitlachen?»

Ich erzählte die Anekdote: «Es war zur Zeit des Karnevals gewesen, und alle Unterkünfte waren ausgebucht. Alle außer dem Zimmer in diesem runtergekommenen Innenhof. Als mein Bruder und ich die Kakerlaken mit Haarspray und Feuerzeug weitgehend ausgerottet hatten, fiel uns dieser beißende Gestank auf. Unerträglich, wirklich, aber wir konnten nicht herausfinden, was es war.» Jetzt musste ich wieder lachen. «Es dauerte zwei Tage in dieser brüllenden Hitze, bis ein Franzose, der uns zum Frühstück abholen kam, uns darauf aufmerksam machte, dass hinter unserer Kammer eine riesige Sau in ihrem Schlamm lag. Er sagte in einem starken französischen Akzent: ‹The Pig is hiding.›»

Die Erinnerung trieb mir die Tränen in die Augen und brachte Steven auf ein Erlebnis von letzter Woche

«Ich war von Miami nach London unterwegs. Wie immer hatte ich eine Flasche Whisky gekauft und bot meinem Sitznachbarn einen Drink an. Zuerst lehnte er ab. Er war ein jüdischer Anwalt aus Antwerpen. Nach einer Stunde nahm er auf einmal seine Kippah in aller Ruhe ab, verstaute sie in seiner Tasche und bat mich um ein Glas Whisky. Das wäre jetzt in Ordnung, weil er ja seine Kopfbedeckung abgenommen hätte, sagte er. Und es blieb nicht bei einem Whisky. Kurz vor der Landung und ziemlich besoffen setzte er die Kippah wieder auf. Mir gefiel dieses Ritual, aber verstanden habe ich es nicht.»

Die Zeit verging tatsächlich wie im Fluge. Die Stewardess lächelte noch ein paarmal freundlich, lehnte aber das Angebot, einen Schluck mit uns zu nehmen, weiterhin ab. Da half es auch nicht, dass der Whisky in unseren Gläsern wie flüssiges Gold schimmerte. Der Alkohol drückte auf meine Augenlider, es war an der Zeit, meinem Körper eine Ruhepause zu gönnen, bevor er gänzlich abschaltete. Besonders weil die Messe noch vor mir lag und die nächsten Tage sicherlich nicht ruhiger würden. Die Kabinenlichter waren bereits gedimmt, als ich die Trennwand wieder hochfahren ließ. Erschöpft im Bett liegend, hörte ich Steven auf der anderen Seite die attraktive Stewardess weiterhin bezirzen.

Entschlummernd dachte ich: Bezirzen – das Wort wird abgeleitet von Circe, der griechischen Zauberin. Sie hatte Odysseus’ Gefährten in Schweine verwandelt. Vielleicht flogen wir ja einen Monat im Kreis 15 Stationen am Pazifik ab, nur um von Tijuana nach San Diego zu kommen, so wie Francis Alÿs, und endeten als Schweine in diesem Flugzeug. Dann müssten wir dem Ganzen nur noch den Projektnamen … Endlich stoppten die wirren Gedanken, und ich schlief ein.

Es war eine unruhige Nacht. Mehrmals wurde ich wach. Als ich schließlich die Blende meines Fensters hochschob, schmerzte mich die grelle Sonne durch den Schlitz. Das Reisen zwischen Zeitzonen verursachte auch nach all den Jahren noch ein Gefühl von Abkopplung, lost sein. Ich dachte an die verrückten letzten Jahre, die ich zwischen Künstlern, Galeristen und Sammlern verbracht hatte und die mich letztendlich auch in dieses Flugzeug bugsiert hatten. Was hätte wohl der 19-jährige Junge mit den Schlaghosen und Dreadlocks gedacht, der in seinem selbstbemalten Fiat Panda auf dem Weg zur Aufnahmeprüfung zum Kunststudium war, wenn er sich selbst ohne Haare auf einem Business-Class-Flug nach Miami hätte sehen können? Für den Preis der Flasche Whisky, die ich mit Steven getrunken hatte, hätten wir damals einen Monat lang unseren Alkoholkonsum finanzieren können. Langsam gewöhnten sich meine Augen an das helle Licht, und ich konnte aus dem Bullauge in die Morgensonne blicken. Die Ideale, die wir damals als Studenten von Kunst hatten, waren, wenn ich nun darüber nachdachte, regelrecht fanatisch gewesen, ja weltverbessernd. Ich musste schmunzeln, von diesem Gedankengut war wirklich nicht mehr viel übrig geblieben. Als ich Simon vor Jahren kennen lernte, hatte ich aus finanziellen Gründen das Künstlersein schon seit längerem auf Eis gelegt und arbeitete als Projektmanager für eine Künstlerin in London. Und auf einmal war ich wieder mitten im Aufbau der Weihnachtsdekoration für Selfridges, und ausgestopfte Spatzen flogen mir um den Kopf.

Weihnachten im Wonder Room

London

Die lufthansablauen Fahrstuhltüren schoben sich langsam, knarrend aufeinander zu. Ein letzter Blick in die noch erhitzten Gesichter, die ich in dem überheizten Besprechungszimmer zu beruhigen versucht hatte, bevor sich die Türen endgültig schlossen. Wäre ich doch wirklich in einer Lufthansa-Maschine gewesen, auf dem Weg gen Sonne, anstatt bei Selfridges in einem saunaähnlichen Fahrstuhl, in dem nur die Farbwahl an die Airline erinnerte!

«Fertig! Mit allem. Wo bist du?», tippte ich in mein Telefon und sendete die Nachricht an Sophie, die unten im Vorweihnachtstrubel auf mich wartete.

Fast zwei Stunden hatte ich in den abgenutzten Räumen in der obersten Etage des Luxuskaufhauses verbracht. Den Schock, dass dieses millionenschwere Unternehmen, welches sich gerade jetzt zur Vorweihnachtszeit in seinem schillerndsten Mantel von Luxusgütern präsentierte, für seine Angestellten so schäbige Räumlichkeiten zu Verfügung stellte, hatte ich immer noch nicht ganz verwunden. Sogar die Computer auf den Schreibtischen waren so alt, dass ich mich fragte, ob die von mir gesendeten Fotos und Zeichnungen für den Aufbau überhaupt geöffnet werden konnten.

Zwei Stunden hatte ich mit der leicht hysterischen, hochschwangeren Filippa darüber diskutiert, wie wir die Deadline einhalten könnten, ja müssten, denn ansonsten würde ihr Kopf rollen. Als verantwortliche Chefin der gesamten Weihnachtsdekoration des Kaufhauses stand sie enorm unter Druck, und ihr Stab von Mitarbeitern bekam das deutlich zu spüren. Und nun war uns, kurz vor der Finalisierung, nicht nur die Firma für die Schweißarbeiten an der Aufhängung abgesprungen, sondern ich hatte Filippa auch beibringen müssen, dass der extra engagierte Tierpräparator erst 15 von 24 Spatzen ausgestopft hatte.

«In sechs Tagen legen wir eine Nachtschicht ein, um das Kunstwerk zu installieren, wie, ist mir F**k-egal», hatte sie mich angefaucht.

Das zweitgrößte Kaufhaus in London, Selfridges, beauftragte jedes Jahr zur Weihnachtszeit Künstler, um im Inneren des Konsumtempels den «Wonder Room» zu bespielen. Dieses Jahr war die Wahl auf Marie gefallen. Ihre für den Wonder Room konzipierte Arbeit bestand aus Tausenden Nylonfäden, zerrissenen Plastiktüten und ausgestopften Spatzen. Der Projektmanager und verantwortlich für diese ins Chaos abdriftende Installation, das war ich.

Mit dem Rücken an die Fahrstuhlwand gelehnt, glotzte ich noch immer auf die Tür. Dass ich beim Betrachten einer Farbe diese direkt mit einer Firma oder einem Produkt assoziierte, irritierte mich.

Es ging nach unten.

Die Zahlen der Etagen flimmerten kurz in leuchtendem Gelb über der Tür auf. Dann verharrte das Licht auf «G». Mit einem leichten Ruckeln hielt der Fahrstuhl, und da fiel mir endlich auch wieder die eigentliche Bezeichnung des Farbtons ein – Nachtblau.

Also, die nachtblauen Fahrstuhltüren schoben sich langsam knarrend auseinander. Eine mich blendende Welt aus Licht und Konsumgütern erwartete mich. Ich kniff die Augen zusammen, aber noch bevor ich mich an die Helligkeit gewöhnen konnte, wurde ich von drei schwarz verschleierten Frauen angerempelt, und eine ihrer unzähligen Louis-Vuitton-Einkaufstüten schlug mir in den Bauch. Der Rempler war so stark, dass ich für einen kurzen Moment überlegte, ob er vielleicht doch von einem Mann gekommen war.

«Hast du die Louis Vuitton von der Kleinen gesehen? Mann, das war eine aus der Murakami-Edition, genau die wollte ich immer haben!»

«Danke der Nachfrage, Sophie, ja, mir geht es gut.»

«Komm, stell dich nicht so an, ich habe eine Ewigkeit auf dich gewartet. Lass uns zum Italiener gehen, ich habe Hunger.»

Sie hakte sich bei mir ein und zog mich Richtung Ausgang. Doch so leicht gab uns das Kaufhaus nicht frei. Das Gedränge an den mit Luxusuhren gefüllten Glasvitrinen war groß. Ein Stimmenwirrwarr, aus dem Wörter wie Rolex, Baume & Mercier und Patek Philippe heraussprangen, überlagerte den Raum. Frauen in sterilen, reinweißen Uniformen, mit clownhaftem, fast lächerlich dick aufgetragenem Make-up versuchten, uns für neue Parfums zu begeistern. Nur knapp entkamen wir einer gesprühten Ladung Dolce Gabbana One, die das hochgehaltene Handgelenk einer älteren Dame verfehlte.

Der Weg nach draußen war regelrecht verstopft. Das überforderte Sicherheitspersonal fuchtelte mit den Funkgeräten und wurde trotzt nutzloser Anweisungen rücksichtslos an die Wand gepresst. Die Menschen konnten nicht mehr zwischen Eingang und Ausgang unterscheiden. Es entstand ein Stau von Verrückten, die sich zwischen der ersten und zweiten goldenen Klapptür wie panische Schweine, die auf die Schlachtbank geführt werden, verhielten. Es könnte einem ja jemand das Super-Weihnachtsschnäppchen vor der Nase wegschnappen!

Irgendwie quetschten wir uns ohne nennenswerte Verletzungen raus aus dem goldenen Käfig. Vorweihnachtszeit. Samstagmittag auf der Oxford Street. Hier sollte man genauso wenig klaustrophobisch veranlagt sein. Denn auch außerhalb der Geschäfte drängelten sich Menschenmassen über die Bürgersteige und bekriegten sich mit ihren Einkaufstüten. Grellgelbe Selfridges kämpften gegen hochgeschwungene FCUK-Taschen, während die kleinen braunen Guccis zum Schutz an den Körper gedrückt wurden. Produzierter Weihnachtswahn in Zeiten des Hyperkapitalismus.

Als wir endlich in die Duke Street in Richtung Grosvenor Square abbogen, wurde es langsam leerer, und wir konnten in Ruhe zu unserem Italiener gehen.

«Überleg doch mal, wenn du sowieso dazu gezwungen bist, eine Burka zu tragen, warum …»

«Du meinst eine Abaya», unterbrach Sophie mich und blickte von ihrem Teller hoch.

Ich griff nach meinem Weinglas.

«Eine was?»

«Das ist eine Abaya und keine Burka, was die Frauen getragen haben, und das Tuch, welches das Gesicht verdeckt, nennt man Niqab.»

Als sich unsere Gläser berührten, erklang ein wohltemperierter C-Dur-Ton. Kristallgläser klingen einfach am besten.

«Würdest du Tausende von Euro für Designerkleidung ausgeben, wenn du sie nicht zeigen kannst?», führte ich endlich meinen Gedanken weiter aus. «Vielleicht fahren diese Frauen aus den Golfstaaten deshalb so auf Handtaschen ab, oder? Die sind immer sichtbar.»

«Da könntest du recht haben. Statussymbole will man zeigen und nicht nur seinem Mann zu Hause. Vielleicht sollten wir mal eine von denen fragen?»

Genüsslich zog Sophie eine Spaghetti durch ihre vollen roten Lippen, und ein winziger Tropfen Arrabiata-Sauce landete auf der schneeweißen Tischdecke. Das Schlürfgeräusch veranlasste unsere Tischnachbarinnen, die in Blusen mit Echtpelzkragen steckten, pikiert herüberzuglotzen.

«Kann ich Ihnen weiterhelfen?», erwiderte Sophie ungeniert deren Blick und erhob erneut ihr Weinglas. Peinlich ertappt, drehten sich die beiden Frauen mit einem «Tststs» wieder weg.

«Hast du jetzt eigentlich den Typen mit den Spatzen erreicht?»

«Er kommt am Montag ins Studio. Und er sollte besser auch eine Nachtschicht übers Wochenende einlegen, denn wenn der bis Freitag nicht die restlichen Spatzen ausgestopft hat, dann stopfe ich ihn aus!»

*

Die Ateliers in dem alten Nonnenheim in der Bow Road waren zu klein geworden. Die Projekte und Ausstellungen folgten jetzt in so kurzen Abständen, dass die Arbeiten wie auch die Assistenten keinen Platz mehr in dem zerfallenden Backsteingebäude fanden. Vor Monaten schon hatten wir teilweise eine Art Zwischendecke in einem der Studios eingezogen, sodass Marie über ihren Arbeitern thronen konnte, während diese sich, im Licht von Baustrahlern, unter ihr abschufteten.

Auf den ersten Blick wirkte sie mit ihren feuerroten, hüftlangen Haaren, Schlaghosen und mit Vogelmotiven bedruckten Blusen und Pullis alles andere als introvertiert. Aber auch ihre tagtäglich wechselnden Eulenohrringe konnten nach den ersten Gesprächsversuchen nicht darüber hinwegtäuschen, dass Marie Menschen scheute. Was bei Vernissagen und Treffen mit Galeristen natürlich ein Problem darstellte. Doch hatte die Welt dafür ja vorgesorgt und als Hilfe Alkohol bereitgestellt. Sobald die ersten Gläser hastig heruntergeschüttet waren, ging alles etwas leichter, nicht gut, aber zumindest konnte ein für beide Seiten angenehmer Smalltalk stattfinden.

Es war unumgänglich gewesen, für das SFCP, das Selfridges Christmas Project, eine neue geeignete Räumlichkeit zu finden. Nach unzähligen E-Mail- und Telefonstunden und frustrierenden Besuchen in lichtdurchfluteten Ateliers mit Blick auf die Themse, die natürlich weit über dem Budget lagen, hatte ich am Ende Glück gehabt und ein Studio im Londoner East End gefunden. Seit fast zwei Monaten arbeiteten meine vier Angestellten, die ich extra für das SFCP eingestellt hatte, und ich nun hier zwischen Columbia Flower Market und Hoxton Square an der Installation.

«Sorry, sorry, mein Handy hat vergessen, mich zu wecken. Ich habe Kaffee mitgebracht, und José hat für alle noch ein Stückchen von seiner neuen Chili-Schokolade dazugelegt.»

Jessamy, verschwitzt vom Fahrradfahren, stellte einen Papphalter mit fünf Bechern auf den Tisch, schmiss ihre schwarze, uralte Prada-Lederjacke in die Ecke und strich sich ihr langes blondes Haar aus dem Gesicht. «Die mit Kreuz sind mit Milch.»

Die auf den Deckeln liegende Schokolade war bereits angeschmolzen. José war unser schwuler chilenische Barista von nebenan, in dessen Café José’s Amanecer wir fast täglich unser Frühstück holten. Er war ein Kaffeebesessener, der ständig an neuen Kaffeeröstungen arbeitete und einzigartige Bilder in den Milchschaum hineinzauberte. Sein ganzer Stolz war der dritte Platz beim World Barista Championship in Tokio und das daraufhin gestochene Tattoo einer Espressokanne auf dem Unterarm. Die eingerahmte Urkunde stand neben ein paar alten Kaffeebohnensäcken im Schaufenster seines kleinen Ladens.

«Ja, ja, dein böses Handy. Das war bis jetzt deine beste Ausrede», gratulierte Joey, indem er Jessamy die Hand schüttelte und sich seinen Kaffee nahm.

«Nerv nicht am frühen Morgen, Morrison-Verschnitt!», gab diese gereizt zurück und spielte auf die Tatsache an, dass Joey seine Welt dermaßen verzerrt hatte, dass er ernsthaft glaubte, er sei die Reinkarnation des Doors-Sängers, und sich dementsprechend auch kleidete.

Emma kam vom Balkon wieder rein und zog einen widerlich riechenden Schweif kalten Rauch hinter sich her, als sie auf den Kaffee zusteuerte. Ihr noch immer anhaltender Liebeskummer spiegelte sich in ihren von schlaflosen Nächten hervorgerufenen schwarzoliven Augenringen und in ihrer drastischen Gewichtszunahme wider. Und Emma war nie wirklich schlank gewesen. Wortlos griff sie einen Becher ohne Kreuz und schlurfte zurück an ihren Arbeitsplatz.

Pünktlich um zehn trat Tierpräparator Saric ein, blieb aber im Türrahmen stehen und beobachtete ungläubig die Aktivitäten in dem mit pechschwarzer Plastikfolie ausgelegten Raum.

«I shot my man yesterday, I did it good», dröhnte es durch das Studio. Es war Emmas Stunde der Musikwahl. Joey hatte seine Stirnlampe eingeschaltet und fädelte gerade abwechselnd lichtblaue und signalweiße Plastikfetzen mit einer Nähnadel auf den angeleuchteten Nylonfaden. Sophie, noch schlaftrunken, saß am Fenster und zerriss mechanisch Plastiktüten in die benötigten Fetzengrößen. Wenn man es nicht besser wusste, konnte man denken, es handelte sich hier um eine Beschäftigungstherapie für geistig Behinderte.

«Hallo», rief Saric, dessen rundes Hornbrillengestell seine zentimeterdicken Brillengläser nur unzulänglich kaschierte, schüchtern und leicht heiser in den Raum.

«Saric, komm rein. Wo sind die Vögel?», winkte ich ihn zu mir, während ich neue Nylonfäden auf Jessamys Tisch einspannte.

«Unten! Das sieht aber kompliziert aus. Was wird das?»

«Das wird die Installation, in der deine Spatzen fliegen werden. In diesem Zustand etwas schwierig vorzustellen, nicht wahr?»

«Ja», kam zögernd seine Antwort, und ich konnte spüren, wie Saric sich bemühte, das fertige Werk im Geist zusammenzufügen.

«Und wozu die schwarze Folie? Erinnert mich an einen Krimi, in dem die Leiche darin eingewickelt wird und …»

«Schutz vor Staub. Der Teppich darunter wäre fatal für die Arbeit. Außerdem brauchen wir den dunklen Untergrund als Kontrast, um die Fäden besser sehen zu können», unterbrach ich ihn.

«Normalerweise bin ich immer der Freak, wenn ich irgendwo mit meinen ausgestopften Tieren auftauche, aber hier …», Saric verstummte und schüttelte den Kopf. «Die Spatzen sind im Auto, es müsste einer mit runterkommen.»

Der alte maigrüne Volvo 240 GL Kombi war in einem schlechten Zustand. Kreisförmige Rostflecken bildeten ein organisches Muster auf der Karosserie, das wie ein langsames Verwelken anmutete. Als Saric die Heckklappe öffnete und ein Gemisch aus Lack- und Rostpartikeln hinunterrieselte, stieg mir ein beißender chemischer Geruch in die Nase, von dem ich vorher schon einen Hauch an seiner Kleidung ausgemacht hatte.

«Ahh, wow, was stinkt das! Das sind aber nicht die Vögel, oder? Dieser Gestank und das glückliche Weihnachtsshopping bei Selfridges wäre keine gute Kombination.»

«Vielleicht doch? Nein, mir ist heute Morgen eine Flasche Formaldehyd im Kofferraum ausgelaufen, die Viecher sind okay», witzelte Saric mit einem zahnlückenvollen Grinsen.

Die präparierten Vögel, in verschiedenen Flugmanövern dargestellt, waren akkurat mit Draht auf einzelnen Holzblöcken befestigt. Ich zählte 19 in den Kartons – Saric musste sich am Wochenende wirklich ins Zeug gelegt haben. Plötzlich brach der seit Tagen vermisste erste Sonnenstrahl durch die betongraue Wolkendecke und erwärmte meinen Nacken. Ein paar weitere Strahlen folgten und wurden von den Außenspiegeln des Volvos auf die perlviolett gesprühte Affenkarikatur mit schwarzer Panzerknackermaske reflektiert. Das mannshohe Graffito an der Mauer der Bahnüberführung der London Overground wirkte nun endlich wieder energiegeladen und zuversichtlich für seinen nächsten Coup.

Der Entzug von Tageslicht taucht nicht nur Menschen in eine Depression, sondern die Stadt selber verlor jegliche Lebendigkeit. Mein eigener Geist befand sich in einem Vakuum, wartend, dem Winterschlaf ähnlich. Es half ein wenig, dass ich im tiefsten Münsterland aufgewachsen war, wo ich über ein Jahrzehnt den Lichtentzug hatte proben dürfen. Endlose Wochen Grau in allen Nuancen, sogar im Sommer. Dagegen mutete London fast balearisch an. Na ja, nur fast.

Oben im Studio tanzte Sophie, aufgeputscht vom Kaffee, nun mit aufgesetzten Kopfhörern vor der Wand und spann den Nylonfaden in einer Unendlichkeitszeichen-Bewegung um die festgeschraubten Spulen. Es waren genau 24,5 Umdrehungen bis zur perfekten Länge des Fadens. Am Tisch schräg gegenüber schrie Jessamy laut auf und schmiss die Nadel, die sie sich gerade selber beim Einfädeln der Plastikfetzen in den Daumen gejagt hatte, auf den Boden. Emma reichte Joey für jedermann sichtbar einen riesigen Joint auf dem Balkon, während sie den Rest des inhalierten Rauchs in die Sonnenstrahlen blies.

Saric schaute mich an, schüttelte noch mal seinen Kopf. Ich zuckte mit den Schultern und sagte: «Mittwoch dann!»

*

In Norman Fosters 30 St Mary Axe gingen die Lichter nie ganz aus. Wenn man den Wolkenkratzer, im Volksmund The Gherkin genannt, über Nacht betrachtete, ordneten sich die erhellten Fenster immer wieder zu neuen Formationen. Das Ausschalten der Deckenbeleuchtung in den einzelnen Büros und die damit verbundene plötzliche Dunkelheit erfolgten abrupt, ohne Vorwarnung, während beim Anknipsen ein kurzes Flackern der Neonröhren durch den Raum zuckte, bevor ein neues Rechteck sein Licht in die Nacht warf.

Seit The Gherkin über der Stadt ragte, begleiteten mich zwei Bilder im Geist. Als Erstes musste ich an die aus dem Wüstensand emporschießenden Sandwürmer in David Lynchs legendärem Film The Dune denken. Ich wollte in die Fußstapfen Kyle MacLachlans treten und auf diesem Sandwurm durch London reiten. Der zweite Gedanke kam mir erst nach einigen Wochen. Egal, wo ich mich in London bewegte, immer wieder trat das Gebäude in mein Blickfeld. Irgendwann hatte ich das Gefühl, mich auf einer Schallplatte zu befinden, die sich um The Gherkin drehte. So, als wäre The Gherkin die Spindel des Plattenspielers.

Ich stand rauchend am geöffneten Fenster, Fosters Werk vor Augen, und zwang mich, den Abend künstlich in die Länge zu ziehen. Ein Versuch, meinen Tagesrhythmus zu ändern, damit ich die Nachtschicht morgen auch ohne Drogen überstehen würde. Das Wohnzimmer in meinem Rücken war still und dunkel. Nur die Sirene eines Polizeiwagens erfüllte die kühle Luft und schrie herein.

Es gibt Lebensabschnitte, da scheint alles wie eingefroren, regelrecht paralysiert, als ob sich etwas unbemerkt aufladen würde. Ich zog kräftig an meiner Zigarette. Wie eine gewaltige Flutwelle weit draußen auf dem Meer, die auf die Küste zurast, aber noch unbemerkt ist. Heftig blies ich den Rauch in die sternlose Nacht. Und dann entlädt sich alles auf einmal. Übereinander, untereinander, nebeneinander, durcheinander und alles viel zu schnell. Eine Flutwelle von unaufhaltsamen Ereignissen. Seien sie nun positiv oder negativ.

Übermüdet und gestresst von den letzten, nervenaufreibenden Wochen, immer die Angst im Nacken, die Deadline nicht zu schaffen, hatte ich, kurz nachdem die Installation verpackt und abgeholt worden war, eine Mail von Marie empfangen. Sie hätte ein paar neue Ideen und es gebe jetzt noch einige Änderungen! Wir sollten uns vor der Nachtschicht morgen noch mal treffen.

Zu allem Überfluss bedrückte mich seit Tagen der Film Irreversible. Seitdem ich ihn gesehen hatte, projizierte der schäbige, geflieste Fußgängertunnel auf dem täglichen Weg zum Studio immer wieder die Bilder dieser widerlichen Vergewaltigungsszene vor mein geistiges Auge.

Und zu guter Letzt, genau in dem Moment, als ich wieder einmal an Monica Belucci denken musste, hatte meine Exfreundin angerufen. Es dauerte nicht lange, und wir führten unser gewohntes Streitgespräch. Am Ende kritisierte sie mich mit den Worten: «Ich bin zu deinem Abstraktum geworden», und erzählte mir, dass sie schwanger war. Ich wusste bis zu diesem Zeitpunkt nicht einmal, dass sie bereits einen neuen Freund hatte. Also vorbei die Zeiten des romantisierenden Zurückblickens und der träumerischen Zukunftsvisionen von einem Neuanfang. Es stimmte mich traurig und förderte meine alljährliche Winteranfangsmelancholie.

Ich ging zum Bücherregal und nahm die deutsche Übersetzung von Haruki Murakamis Noruwei No Muri mit dem völlig idiotischen, unlogischen Titel Naokos Lächeln heraus. Mit einem neongrünen Post-it war die Seite noch markiert: «Auch nachdem der Schein des Glühwürmchens längst erloschen war, blieb seine Lichtspur in mir zurück. Ein trübes, bescheidenes Glimmen im dichten, undurchdringlichen Dunkel, wie ein verirrter Geist auf ewiger Wanderschaft. Immer wieder versuchte ich, dieses Leuchten zu berühren, doch meine Hände griffen stets ins Leere. Das matte Leuchten schien nichts als ein Irrlicht zu sein.»

Einen letzten Hendrick’s vor dem Schlafengehen. Es begann zu regnen. Ich hatte keine Zigaretten mehr. Mir schien, ich konnte das Grummeln der sich auftürmenden Wellen bereits hören.

*

Das Transportunternehmen war nur 15 Minuten zu spät. Der Sprinter fuhr in den Innenhof und parkte rückwärts vor der Rampe zum Aufzug. Die Installation war sicher in Holzkisten verpackt worden und stand abholbereit im Studio. Auch Saric hatte Wort gehalten und die restlichen Spatzen fertig präpariert. Alle 24 Vögel waren fein säuberlich in Noppenfolie gewickelt und in Kartons verstaut.

Nachdem alles vorsichtig verladen und gesichert war, fuhren die beiden Kuriere los zu Selfridges. Kurz darauf machte ich mich auch auf den Weg in Richtung Central London, um mich mit Marie zum Mittagessen und zur Besprechung der angedeuteten Änderungen an der Installation zu treffen. Es war nicht das erste Mal, dass sie im letzten Moment noch etwas geändert haben wollte. Es nervte, weil es willkürlich schien und nur dazu diente, die abgegebene Verantwortung für die Projekte zurückzugewinnen; mir am Ende zu zeigen, dass sie die Chefin war.

Eine Minute vor zwölf betrat ich die Terrasse vor dem Southbank Center. Natürlich war Marie nicht da, wieder einmal musste ich auf jemanden warten. Ein Nachteil an meiner typisch deutschen Eigenschaft, immer pünktlich zu sein. In einer Ecke neben dem Haupteingang saß eine Obdachlose. Sie hatte sich und ihren Hund in mehrere dieser silber-goldenen Wärmefolien eingewickelt, die am Ende von Marathonveranstaltungen verteilt werden. Nur das verlebte Gesicht der noch jungen Frau und die Schnauze ihres Mischlings traten als etwas Lebendiges aus der glitzernden Skulptur.

Ein bizarres Bild, das mich an die in Zellophanpapier eingewickelten Bonbons des Künstlers Felix Gonzalez-Torres erinnerte. Die Ausstellung hatte in Berlin stattgefunden, und eine der Arbeiten mit dem Namen Lover Boys hatte dasselbe Farbspiel wie die Folien vor mir gehabt. Zu einem gold-silber glitzernden Rechteck ausgebreitet, hatten die Bonbons in dem weitläufigen Ausstellungsraum des Hamburger Bahnhofs gelegen. Die Besucher waren frei gewesen, sich die eingepackten Süßigkeiten aus dem Kunstwerk zu nehmen, also aktiv einen Teil zum Verschwinden der Arbeit beizutragen. Ich erinnerte mich an einige ausgewachsene Kunstliebhaber, denen es nicht schnell genug hatte gehen können, das Kunstwerk verschwinden zu sehen, und die sich mit beiden Händen die Taschen vollgestopft hatten.

Es hatte mehrere dieser Bonbon-Skulpturen in jeweils neuen, angenehmen wie auch irritierenden Geschmacksrichtungen gegeben. Jedes Mal, wenn ich nach einem dieser Zuckerovale gegriffen und es im Mund hatte zergehen lassen, hatte der Geschmack meine Wahrnehmung des Kunstwerks beeinflusst – eine zusätzliche Ebene war entstanden.

Tatsächlich hatte ich ein paar Nimm2, die Joey immer aus seinem unerschöpflichen Vorrat ins Studio schleppte, in meiner Jackentasche. Zusammen mit einem Zwei-Pfund-Stück legte ich sie in den Kaffeebecher der Frau.

«Vielleicht verändert das positiv deine Wahrnehmung», murmelte ich, noch immer in meine Gedankenwelt verstrickt. Natürlich konnte sie mir nicht folgen und antwortete etwas verdutzt: «He?»

«Sorry» war das Einzige, was mir einfiel. Schnell huschte ich durch die Tür ins Foyer.

Ich hatte das Programmheft bereits zweimal durchgelesen, als mir Marie von hinten auf die Schulter tippte. 25 Minuten zu spät.

«Lass uns rüber zu Gordon’s gehen. Ich brauche einen Drink», sagte sie, noch bevor sie mich richtig begrüßt hatte.

«Okay.» Dann fragt ich sie, ob sie die Frau mit dem Hund draußen am Haupteingang gesehen hatte.

«Die kaputte Alte in goldener Folie?», fragte Marie abfällig und bestätigte meine Vermutung, dass sie heute wieder einmal in einem unerträglichen Gemütszustand war, der nur durch Wein besänftigt werden konnte.

«Ja, hat mich an Gonzalez-Torres und dessen Bonbon-Installationen erinnert.»

«Der ist doch schon ewig tot. Außer dass die Amerikaner ihn letztes Jahr für ihren Pavillon in Venedig benutzt haben. Als er noch lebte, haben sie ihn abgelehnt, weil er zu kontrovers war. Prätentiöse Mitläufer.»

«Wir hatten damals unser gesamtes Badezimmer mit Wolkenpostern von Gonzalez tapeziert», versuchte ich einzuwerfen, aber Marie redete einfach weiter:

«Leute sollten Stillstand vermeiden. Weitermachen. Die Neunziger hinter sich lassen! Euer deutscher Held, wie heißt der noch? Ach ja, Baselitz. Einfach die alten Malereien noch mal malen, um zu sehen, ob man das Niveau noch hat. What the fuck. So etwas regt mich auf!»

Da fluchte sie über Baselitz’ Strategie der Reproduktion, um einfach noch ein paar Millionen mehr zu verdienen, aber übernahm gleichzeitig die Weihnachtsdekoration in einem Kaufhaus.

«Ja, ja, weitermachen und deine Arbeiten kaufen ergibt natürlich Sinn für dich, Marie.»

«Genau!»

Gordon’s Wine Bar war glücklicherweise noch nicht zu voll. Wir drängten uns durch den Eingangsbereich entlang der Wände mit gerahmten, alten, vergilbten Bildern und Zeitungsartikeln der Krönung von Queen Elisabeth II. und ergatterten einen kleinen Tisch im hinteren Kellergewölbe. Auf den rustikalen Eichentischen steckten brennende Kerzen in alten Weinflaschen, die durch das seit Jahren heruntertropfende Wachs kaum noch als solche zu erkennen waren. Die Flammen flackerten dumpf in der modrigen Luft. Verliebte Pärchen drückten sich in die dunklen Ecken. Banker redeten wie üblich übermäßig laut über ihre Finanzgeschäfte. Eine Frau las tatsächlich in ihrem Mode-Magazin mit Hilfe einer Taschenlampe.

Wir mussten den Kopf einziehen, um nicht an die niedrige, verrußte Decke zu stoßen. Deren Maserung wirkte, als ob Londons Dreck und Geschichte über Hunderte von Jahren von der Oberfläche bis hier hinunter durchgesickert wäre. Kohlenschwarze Flecken hatten sich in das Gestein gefressen, und der letzte Putz bröckelte herunter.

Marie warf ihre Polyester-Schneeleopardenjacke über den Stuhl und rückte ihre Brüste mit beiden Händen zurecht. «Du holst den Wein, ich kümmere mich um den Käse. Irgendwelche Vorlieben?»

«Nein, nur bring extra viel von dem Branston-Zeug. Den üblichen Weißwein?»

«Ja, Fat Bastard Chardonnay, bitte», antwortete sie mechanisch.

Auch die Weintheke war noch nicht voll belagert, sodass ich relativ schnell an der Reihe war. Zuerst probierte ich einen argentinischen Malbec, bei dem mir der Pflaumengeschmack zu sehr überwog. Daraufhin empfahl mir der Barchef einen Pinot Noir aus Ungarn. Der Wein entfaltete gerade seinen ganzen Geschmack in meinem Mund, da drängelte sich plötzlich eine Gruppe Frauen in klassischer Bürorockuniform an mich, und affektiertes Balzgehabe in einer dichten Parfumgemischwolke erfüllte den Raum.

«Bestell den stärksten Wein, den sie haben.»

«Für mich auch», schrillte die massive Blonde direkt neben mir. Dann fügte sie ihrer Stimme etwas Rauchig-Sanftes hinzu: «Halloo, wie geht’s?», und legte ihre Hand auf meinen Arm.

Geistesgegenwärtig entschied ich mich doch für den altbewährten südafrikanischen Shiraz und floh.

Marie hatte ihr MacBook bereits aufgeklappt auf dem Tisch stehen und drückte ihr Messer gerade in den nachgebenden Brie auf der üppigen Käseplatte. Die feuerroten Haare lagen ihr über den Schultern, und ihr Nasenring schimmerte silbern im Kerzenlicht. Sie sah müde und gestresst aus.

«Also, was hast du dir Schönes ausgedacht, um meinen Job noch schwieriger zu machen?»

«Hier», sie zeigte auf den Bildschirm, «wir versetzen zehn der Spatzen nach unten. Ich will, dass die Konsumjunkies die Möglichkeit haben, sie zu berühren und zu beschädigen.»

«Aber hatte Filippa nicht genau das ausgeschlossen?», erinnerte ich mich. Es hatte am Anfang des Projekts lautstarke Diskussionen gegeben, die so weit gegangen waren, dass Marie mehrmals die Besprechungen verlassen hatte.

«Die hat das Projekt von vornherein untergraben. Eifersüchtige Zicke. Und gerade wegen ihrer verfluchten spießigen Befürchtungen und Einschränkungen machen wir es jetzt einfach doch!» Marie spülte die aufkommende Wut mit einem großen Schluck Wein herunter.

«Du weißt, die Nylonfäden für die Vögel sind abgemessen, verpackt und schon auf dem Weg zu Selfridges. Sag mir nicht, ich muss noch mal ins Studio?»

Sie nahm ihre Freitag-Tasche auf den Schoß, holte eine Plastikdose heraus und öffnete diese. In ihr lagen zehn separat aufgewickelte Nylonfäden.

«Keine Panik. Alles bedacht. Ich will, dass etwas passiert und Filippa Probleme bekommt. Und jetzt sag du mir ja nicht: Die ist doch schwanger. Fuck that!»

Der Brie zerging mir gerade im Mund, und ich konnte nur mit einem «Mmh» antworten. Einen Schluck Wein zur Vollendung der Köstlichkeit.

«Spatz acht rutscht auf Position G22. Spatz zwölf runter auf K34 …» Sie diktierte mir die Zahlen und Koordinaten, und ich notierte sie mir in mein Notizbuch, während sich bereits eine unangenehme Nervosität in mir breitmachte. Keiner meiner Assistenten hatte je eine Arbeit von Marie vorher installiert. Es genügte eine Unaufmerksamkeit, eine Unkonzentriertheit, und wir könnten Stunden verlieren. Vor ein paar Monaten war mir in Newcastle ein Layer beim Positionieren aus der Hand geglitten und in den bereits hängenden Teil der Installation geschwungen. Fast zwei Stunden hatte es gedauert, die verhedderte Installation zu entwirren. Wenn das heute passieren würde, wäre das bei der knappen Zeitbemessung von nur einer Nachtschicht desaströs.