Schutzkleidung is nich! - Nicholas Grünke - E-Book

Schutzkleidung is nich! E-Book

Nicholas Grünke

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Beschreibung

Als die Aufträge ausbleiben, der Geldautomat den letzten Fünfer ausgespuckt hat und alle Pfandflaschen zurückgebracht sind, ist der Kunstmanager Nicholas Grünke ganz unten angekommen. Wie könnte er jetzt noch wählerisch sein? Also legt er den Maßanzug ab und fängt widerwillig auf einer Berliner Großbaustelle an. Dort findet er sich in einer skurrilen Parallelwelt wieder, in der der eine nicht zu wissen scheint, was der andere tut, und auf Schutzkleidung gern verzichtet wird, in der ihm vor allem aber jede Menge liebenswert verrückte Charaktere begegnen.

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Seitenzahl: 318

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Nicholas Grünke

Schutzkleidung is nich!

Unter Bauarbeitern

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

WidmungKapitel 1 Ganz untenKapitel 2 «Fliegenschmidt Globalklo»Kapitel 3 «So is dat wohl»Schutzkleidung is nich! Der GehörschutzKapitel 4 Werkzeugkofferspiele und «Fugenfuks»Schutzkleidung is nich! RichieKapitel 5 «Du ju spiek Inglisch?»Kapitel 6 Peters rechte HandSchutzkleidung is nich! LuiKapitel 7 NegerpauseSchutzkleidung is nich! NickKapitel 8 Dachdecker im RückwärtsgangKapitel 9 Wüste GobiSchutzkleidung is nich! Peter & NickKapitel 10 Berlin ist nicht L. A.Kapitel 11 «ZIIIIÖÖÖÖÜÜÜH!»Schutzkleidung is nich! Rainer & AdamKapitel 12 Blut im PorscheKapitel 13 Vom Winde verwehtKapitel 14 TrümmermännerSchutzkleidung is nich! HansKapitel 15 Die Sonne geht aufDanksagung
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Für die hart arbeitenden Bauarbeiter in Berlin. Take the money and run!

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Kapitel 1Ganz unten

Mühsam stapfe ich mit meinen Tüten voller Leergut durch den braunen Berliner Schneematsch. Handschuhe habe ich vergessen, meine Finger werden langsam starr vor Kälte. Als ich gerade auf das Wetter fluche, klingelt mein Handy. Ich bleibe stehen und schaue aufs Display. Katrin. Seit Wochen nicht gesehen. Was will die? Eigentlich habe ich keine Lust zu reden, aber vielleicht ist es wichtig.

«Ja?»

«Hey, alles gut bei dir?», und ohne eine Antwort abzuwarten: «Du meintest doch letztes Mal, dass du dringend Geld brauchst, oder? Ist das noch aktuell?»

«Ja, kann man wohl sagen.»

«Ich hätte da vielleicht was. Ist aber ziemlich harte Arbeit.»

«Mach’s nicht so spannend.»

«Auf dem Bau. So richtige Maloche. So was kannst du doch, oder?»

«Na ja, prinzipiell schon, denke ich. Ich hab mal meinem Vater geholfen, die Wand von unserer Garage abzureißen. Aber aufm Bau? Doch nicht draußen, oder?»

«Doch, ist ’ne Baustelle irgendwo an der Spree.»

«Draußen? Jetzt? Bist du irre? Es sind minus 12 Grad, und ich friere schon in der Wohnung.»

«Ich sag ja, ist ein Knochenjob. Mein Onkel ist der Bauleiter. Der meint, beim Arbeiten wird einem schon warm. Da wäre die Kälte nicht so schlimm.»

«Mhm, wie viel zahlen die denn?»

«Zwölf Euro die Stunde.»

«Ich weiß nicht. Eigentlich warte ich auf die Zusage von so einer Galerie. Das wäre mir schon lieber.»

Ehrlich gesagt rechne ich nicht mit einer Zusage, aber irgendwie wird mir dieses Telefonat unangenehm.

«Na ja, kannst es dir ja überlegen. Ruf mich an, falls du’s dir doch mal angucken willst.»

«Ja, okay. Aber ich denke, eher nicht. Trotzdem danke, dass du an mich gedacht hast.»

Ich schleppe mich langsam weiter. Meine Finger spüre ich jetzt kaum noch. Hat die mir gerade wirklich einen Job auf einer Baustelle angeboten? Und das bei den Temperaturen, die ist ja wohl verrückt.

Irgendwer hat mal gesagt, Berlin sei dazu verdammt, ständig zu werden und niemals zu sein. Wenn man sich die Baugerüste entlang der Warschauer Straße ansieht, scheint da was dran zu sein. Die waren mir vor dem Telefonat gar nicht so deutlich aufgefallen. Genauso wenig wie die Arbeiter, die, eingepackt in dicke Felljacken und Mützen, Zementsäcke die wackeligen Gerüstleitern hinaufschleppen. Jetzt schaue ich in den mit Wolken verhangenen Berliner Winterhimmel und stelle fest, dass auf dieser Ecke beinahe jedes zweite Gebäude eingerüstet ist. Auch das, an dem ich gerade vorbeilaufe. Ein mit Konzertplakaten behängter Bauzaun schützt die Arbeiter vor neugierigen Blicken, zumindest die, die im Erdgeschoss beschäftigt sind. Im zweiten Stock sitzt ein Bauarbeiter auf dem Gerüst.

Das Bauradio hört sich an wie klirrendes Eis. «It’s just another manic monday», klingt es von fern. In diesem Moment pfeift eine sibirische Böe durch die Straße, und mein Gesicht fühlt sich an, als würde es von Rasierklingen traktiert. Bei diesem Wetter sollte kein Mensch draußen arbeiten müssen. Die armen Kerle. Und das zwischen Weihnachten und Neujahr, wenn die meisten Leute gemütlich mit einem Glühwein vor dem warmen Kaminfeuer sitzen.

Nee, Katrin, das mache ich nicht. Auf gar keinen Fall!

Die Schiebetür des Sparkassen-Foyers öffnet sich, und sofort schlägt mir beißender Uringeruch entgegen. Ich kann nicht ausmachen, ob die Pfütze in der Ecke oder der zusammengekauerte Typ vor mir diesen Gestank abgibt. Eine speckige schwarze Mütze mit ein paar hineingeschmissenen Centstücken und eine leere Flasche Wodka liegen neben ihm auf dem Boden. Ach, du wunderschönes Berlin! Ich halte die Luft an, mache einen großen Schritt über das erbärmliche Männchen zu meinen Füßen und schreite schnell zum Geldautomaten.

Hoffentlich bekomme ich noch einen Fünfziger. Der Automat summt nicht. Schlechtes Zeichen! Auszahlungsbetrag nicht möglich. Möglicher Betrag 20 Euro. Mist! Das gibt’s doch nicht. Ich lasse mir meinen Kontostand anzeigen und muss leider feststellen, dass mein Dispo fast ausgeschöpft ist.

Meine Kredikartenabrechnung hatte ich total vergessen. Oh Mann. Ich lasse mir den Zwanziger auszahlen und krame in meinen Hosentaschen. 2,38 Euro für das Leergut und einen Fünfer habe ich noch in der Brieftasche. Macht 27,38 Euro. Nicht gerade viel, um Silvester in Amsterdam zu feiern. «Puh, also schon wieder was leihen», sage ich leise vor mich hin, während ich beim Rausgehen fast wieder über die Schnapsleiche stolpere.

Vor der Bank greife ich zögernd zum Telefon.

«Hey, Tim, wollte noch mal kurz fragen, wann der Zug morgen geht?»

«10:37 Uhr, Gleis 13. Würde sagen, wir treffen uns da so gegen zwanzig nach. Okay? Und sag mal, deine Freundin holt uns ab, oder?»

«Ja, denke schon. Aber Grace weiß noch nicht, wann sie mit den Proben fertig ist. Klären wir morgen im Zug. Ähm, und noch was … Könntest du mir vielleicht noch mal ’nen Fuffi leihen? Bin gerade aus der Bank raus, und auf meinem Konto geht gar nichts mehr.»

«Ja, klar. Das summiert sich nur langsam ganz schön, ne?»

«Ich weiß, ich weiß. Danke. Du bekommst das Geld so schnell wie möglich wieder. Also bis morgen!»

Ich stecke das Handy zurück in die Hosentasche und fühle mich schlecht. Scheiße, so schnell wie möglich wieder? Ja, wie denn? Ich mache mich auf den Heimweg. Es ist erst kurz nach 16 Uhr, und die Straßenbeleuchtung ist schon eingeschaltet. Diese frühe Dunkelheit drückt seit Wochen auf mein Gemüt. Als ich den Briefkasten im Hausflur aufschließe, purzelt mir ein Stapel Papier entgegen und landet auf dem von Schneematsch total verdreckten Boden. Nachdem ich die Werbung weggeschmissen habe, halte ich zwei Briefe in den Händen. Der eine ist vom Amtsgericht Euskirchen und der andere von meiner Bank. Na toll, auch das noch!

Am Schreibtisch öffne ich zuerst den Brief des Amtsgerichts. Ich überfliege den Text, und mich überkommt Übelkeit. Langsam rutsche ich in meinen Stuhl.

Mahnbescheid. Hauptforderung: Versicherungsbeitrag vom 01.08 – 01.12.

Antragsteller: Central Krankenversicherung AG.

Oh fuck. Die Krankenversicherung. Das hatte ich völlig verdrängt. Fünf Monatsbeiträge offen, wie soll ich das bezahlen? Ich hole mir ein Bier. Alles in mir sträubt sich, den zweiten Brief zu öffnen. Aber was nutzt es? Mir wird mitgeteilt:

Nicht nur im Fußball ist Fairplay angesagt.

 

Auf Ihrem Girokonto 6543899, sehr geehrter Herr Grünke, geht seit Wochen kein Geld mehr ein. Wann und wie wird die Rückführung des Sollsaldos von z.Zt. 1978,09 Euro erfolgen? Ich bitte um eine zeitnahe Antwort.

 

Freundlich grüßt Sie

Ursula Lemming

Ich bewege mich schwerfällig zum Kühlschrank und öffne ein weiteres Bier. Ich reiße das Fenster auf und brülle auf die Straße: «So kalt ist es doch gar nicht, was?»

Seitdem ich gestern Abend die beiden Briefe gelesen habe, bin ich wie betäubt. Ich fühle mich ohnmächtig. Vielleicht werde ich das schneller bereuen, als mir lieb ist, aber im Moment bin ich mir fast sicher: Ich werde ihn probieren, diesen Job auf dem Bau.

Ich wische mit der Hand über die beschlagene Fensterscheibe des Zuges, um die dahinfließende Landschaft zu sehen. Wie konnte ich nur in diese Lage kommen? Katrin kenne ich schon seit über zehn Jahren. Wir haben gemeinsam in Amsterdam Kunst studiert. Sie fand direkt nach dem Studium eine Galerie und ging nach Berlin. Ich hatte zunächst weniger Glück und arbeitete mal hier, mal da, nie länger als einige Monate. Nach einer ausgedehnten Asienreise, die meine letzten Geldreserven verschlungen hatte, schien sich das Blatt zu wenden.

In Berlin war ein lukrativer Job als Kurator in Aussicht, aber die Ausstellung wurde im letzten Moment gestrichen. Da war ich natürlich schon von Bangkok an die Spree geflogen. Statt in einer eigenen Altbauwohnung in Mitte landete ich nun bei meinem Bruder auf der Couch in Kreuzberg. Das war zwar für die erste Zeit ganz lustig, aber natürlich kein tragbarer Zustand.

Seit ich in Berlin war, hatte ich wieder mehr Kontakt mit Katrin. Wir liefen uns häufig bei Ausstellungseröffnungen über den Weg. In der letzten Zeit hatte ich sie allerdings etwas aus den Augen verloren. Sie hatte bereits bescheidenen Erfolg als Künstlerin, und ihre eigene Vernissage ist auch der Grund, warum sie jetzt nicht mit uns im Zug nach Amsterdam sitzt, wo wir mit alten Freunden Silvester feiern werden.

Während draußen Spandau vorbeirauscht, nippt Tim an seinem Kaffee.

«Hast du Katrin eigentlich schon erreicht wegen dieses Jobs?»

«Nein, Mailbox. Ich versuch’s gleich noch mal.»

Die Luft vor dem Fenster scheint zu gefrieren. Ich sehe kein einziges Tier auf den Wiesen und Feldern, die geräuschlos an uns vorbeigleiten. Zwischen Vinzelberg und Gardelegen wähle ich wieder Katrins Nummer. Diesmal ertönt ein Freizeichen.

«Ja?», krächzt ihre Stimme am anderen Ende.

«Katrin, sorry, habe ich dich geweckt? Wollte dir nur kurz sagen … äh … ich mach’s. Also das mit der Baustelle. Ich mach’s. Also ich schaue es mir mal an.»

«Baustelle? Ach so, der Job, ja klar. Na, super. Dann sag ich dem Peter Bescheid.»

«Hoffentlich super?»

«Ja, das wird schon. Wie gesagt, ist doch kurzfristig ganz gutes Geld. Ich meld mich dann noch mal und sag dir, wann du anfangen kannst.»

«Alles klar, nochmals danke. Und guten Rutsch!»

Ich lege auf und versinke sofort in Gedanken. Erst als die vier mächtigen Schornsteine der VW-Werke in den graublauen Himmel emporstechen, wird mir bewusst, was ich da gerade zugesagt habe. Ich werde also im klirrend kalten Januar als Bauarbeiter in Berlin arbeiten. Wer hätte das für möglich gehalten? Ich habe keine Ahnung, was mich erwartet, und die Vorstellung ist in diesem Moment auch zu erdrückend. Zum Glück kommt Tim aus dem Speisewagen und drückt mir ein wohltemperiertes Bier in die Hand.

«Cheers, Nicholas! Auf die letzten Tage in diesem Jahr!»

«Cheers, auf dass alles besser wird im nächsten.»

Doch während ich das sage, weht mir plötzlich ein eiskalter Wind ins Gesicht, und ich sehe im Geiste die halb erfrorenen Arbeiter von der Warschauer Straße mit ihren Zementsäcken.

Gegenüber hat jemand das Fenster geöffnet.

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Kapitel 2«Fliegenschmidt Globalklo»

Drei Tage später. Es ist Anfang Januar. Ein schriller Ton reißt mich unsanft aus dem Schlaf. Die digitalen Ziffern meines Weckers spucken mir eine Fünf und zwei Nullen ins Gesicht. Es ist pechschwarze Nacht, und das Thermometer zeigt minus 16 Grad. Silvester steckt mir immer noch in den Knochen. Ich fühle mich wie in einem Albtraum.

Lautes Schnarchen dringt aus dem Zimmer meines Bruders, der über Silvester Gäste nach Berlin eingeladen hat. Ich schleiche durch den Flur. Auf dem Weg ins Badezimmer drehe ich die Heizung in der Küche voll auf, damit es gleich warm ist.

Nach einer Tasse Kaffee und einer Scheibe Toast bin ich endlich ein bisschen wacher. Ist ja nur für kurze Zeit, denke ich und glaube tatsächlich daran, dass ich diesen Job nur für ein paar Wochen machen werde. Eben bis mein Konto wieder ausgeglichen ist oder, wie Frau Lemming es ausdrückte, bis ich endlich wieder fairplay spiele.

Arbeitskleidung? Habe ich natürlich nicht. Nur ein paar alte Klamotten, die ich unten im Schrank gefunden habe. Vielleicht hilft meine alte Skiunterwäsche. Ich ziehe Lage für Lage Kleidung übereinander, schlüpfe in meine Lederstiefel, nehme Skimütze und -handschuhe aus der Kommode und verlasse die Wohnung. Die Kälte der vergangenen Wochen war schon brachial, aber dieser Morgen übertrifft alles. Und Berlin dröhnt mal wieder mit düsterer Tristesse.

Die Straßenränder sind gepflastert mit explodierten Böllern, die den Schneematsch rötlich färben. Ein Teppich aus zerbrochenem Glas knirscht unter meinen Stiefeln. Das klassische Überbleibsel eines Jahreswechsels.

Als ich über die Oberbaumbrücke zur S-Bahn-Station laufe, schneidet mir eisiger Wind ins Gesicht. Nicht weit entfernt prangt in riesigen Buchstaben über mehrere Dächer ein Graffito: Deutschland verrecke. Ich ahne, dass dieser Tag nichts Gutes bringen wird.

Wenigstens kann ich mich in der Bahn kurz aufwärmen. Erstaunlich, wie viele Menschen um diese Zeit bereits auf den Beinen sind. Dabei scheinen zwei Berliner Bevölkerungsgruppen miteinander zu verschmelzen: Hier die berauschten Clubgänger auf dem Weg ins Bett, dort die Angestellten und Arbeiter, auf die Büro und Stechuhr warten. In diesen Minuten sitzen sie sich gegenüber. Und zum ersten Mal habe ich die Seiten gewechselt.

Wirklich wach ist hier niemand. Die Blicke gehen starr aus dem Fenster oder auf den Boden. Niemand spricht. Was mache ich eigentlich hier?

Ich passiere das Ostkreuz. Der Bahnhof ist eine Großbaustelle. Erst 2016 sollen die Bauarbeiten beendet sein. Warum man nach der Wende nicht sofort das Ostkreuz umgebaut hat, anstatt den Ostbahnhof immer weiter zu modernisieren, ist mir ein Rätsel.

Ich fahre am «Darth Vader» vorbei, wie die Berliner den alten Wasserturm am Ostkreuz nennen. Er ist jetzt durch den neuen gigantischen Bahnhof aus Glas und Stahl traurig in der Ecke eingequetscht und wird von den neuen Gleisen fast tangiert. Nach einer gefühlten Stunde muss ich raus und folge an vereisten Autos vorbei den Schienen und biege dann links ins Nirgendwo ab. Am Ende der Straße ist der alte Speicher erkennbar. Der Ostwind ist auf der offenen Fläche noch beißender und brennt schmerzhaft auf der Haut. Die Kälte kriecht unerbittlich durch alle Kleidungsschichten. Selbst die Skihandschuhe nutzen nichts. Mir ist bitterkalt.

Für einen kurzen Moment verlässt mich der Mut, ich denke an mein warmes Bett, und meine Schritte werden langsamer. Gibt es nicht doch eine andere Möglichkeit?

Nein, ich ziehe das jetzt durch, sage ich mir und denke heimlich: zumindest mal für einen Tag. Nur diesen einen Tag.

Je näher ich dem Speicher komme, desto imposanter wirkt das über 100 Jahre alte Gebäude aus rotem Backstein. Gegen Ende des 19.Jahrhunderts erbaut, war es Teil eines Werks und diente als Getreidespeicher. Es ist heute das einzige noch existierende Haus der Fabrikanlage. An der Südfassade sind im Mauerwerk noch Verdunkelungen sichtbar, wo damals eine gläserne Fußgängerbrücke das Gebäude mit dem Rest des Komplexes verband.

Schon von weitem sehe ich mehrere Männer, die Kaffee trinkend und Zigaretten rauchend in Gruppen vor dem Bauzaun stehen. Bevor die Uhr Punkt sieben schlägt, rührt hier offenbar niemand einen Finger.

«Guten Morgen», sage ich laut.

Ich ernte kritische Blicke, und nur wenige nuscheln ein kaum verständliches «Morgen». Lediglich eine Gruppe, die etwas abseits steht und sich aufgeregt auf Arabisch unterhält, grüßt freundlich zurück.

Mir kommt ein hünenhafter Arbeiter entgegen, der seine Maschinen wie Kinderspielzeuge trägt. Auf der linken Seite hat er ein Rührgerät unter dem Arm eingeklemmt und einen mit Steinen gefüllten Eimer in der Hand. Rechts hält er einen Stemmhammer auf seiner Schulter. Ich will ihn ansprechen, doch er ist schneller, setzt den Hammer ab und reicht mir die Hand.

«Hans, Morgen.»

«Nicholas, Morgen», antworte ich und blicke dabei in ein Gesicht mit klaren Linien und freundlichen hellblauen Augen. Er ist tadellos rasiert, und sein Aftershave vermischt sich mit dem Geruch seiner frisch gewaschenen Kleidung, die wie neu wirkt. Ich bin selber kräftig und sportlich gebaut, doch als ich Hans die Hand gebe, fühle ich mich wie ein zehnjähriger Junge.

«Wo finde ich denn den Peter? Der macht hier die Bauleitung, oder?»

«Der is oben. Zweiter Stock. In seiner Hütte.»

«Danke.»

Was für eine Hütte?, denke ich, als ich die Treppe hochsteige. Oben angekommen, traue ich meinen Augen nicht. Da steht tatsächlich eine selbstgezimmerte Holzhütte. Ich klopfe an.

«Ja!»

«Hallo, ich soll mich hier bei Peter melden, ich hatte mit Katrin telefoniert», rede ich mit den Brettern vor meiner Nase. «Komm rein.»

Ich öffne die Tür und muss erst mal eine dicke blaue Wolldecke, die offenbar als Kälteschutz dient, beiseiteschieben. Die Decke ist so dreckig, dass ich direkt eine Ladung Staub einatme. Es riecht nach Heizungsluft, Kaffee und nassem Hund.

Ich sehe mich um. Ein Schreibtisch mit einem Computer. Regale mit Ordnern. Hundefutterkonserven in der Badewanne! Ein riesiger Rhodesian Ridgeback hockt sabbernd auf einer Art Bett. Das muss ich mir doch einbilden. Ich schließe meine Augen und öffne sie wieder. Nein, Bett, Badewanne und Hund sind immer noch da. Unglaublich, der hat sich hier wirklich einquartiert.

Peter hat leicht schütteres graues Haar, ist unrasiert und hat überproportional große Ohren. Alles in allem erinnert er mich an einen Leprechaun, den Kobold aus der irischen Mythologie. Ob er den Goldtopf unterm Bett versteckt hat?

«Morgen, ich bin Nicholas.»

«Peter, Morgen. Willkommen am Speicher! Na, dann schaun wa mal», sagt er und drückt mir kräftig die Hand. «Is dat deine Arbeitskleidung?»

«Äh, ja.»

«Wennde hinter die Hütte gehst, da isn Regal mit alten Arbeitsschuhen, such dir wat Passendes! Muss dat hier eben noch erledigen, dann komm ich raus.» Peter setzt sich wieder an den Computer und ich bin froh, aus der miefenden Bretterbude rauszukommen. Draußen nehme ich eine metallische Note in der Luft wahr. Aus der Ferne höre ich, wie Stahl geschnitten wird – zumindest reime ich mir Geruch und Geräusch so zusammen.

Die Außenwände der Hütte sind bespickt mit Nägeln, an denen unzählige Werkzeuge aufgehängt sind. Das Ganze erinnert mich an eine einsame Holzfällerhütte irgendwo in Sibirien, fehlt nur noch die Bärenfalle an der Wand.

«So, damit fangen wa heute mal an.» Ein riesiger Stemmhammer lacht mir entgegen. «Es wären da noch so einige Kappendecken zu durchbrechen», nuschelt Peter durch seinen Kaffee und reicht mir Handschuhe, Schutzbrille, Staub- und Gehörschutz. «Wird wenigstens schön warm, der Hammer!», ergänzt er noch grinsend.

Hoffentlich hat er recht, denn meine Hände sind bereits Eisklötze, und ich kann es nicht erwarten, die Handschuhe anzuziehen und die Wärme der Maschine zu spüren. Wir laufen zwei Stockwerke höher über die weißgraue Granittreppe, und ich breche beinahe unter dem Gewicht des 30-Kilo-Hammers zusammen. Wie soll ich den nur den ganzen Tag halten?

Das Gebäude ist gigantisch. Im vierten Stock erstreckt sich vor mir ein scheinbar endloser Raum, durchzogen von Stahlträgern auf Stahlstützen. Peter zeigt auf das etwa drei Quadratmeter große Loch im Boden und fragt:

«Haste dat schon mal gemacht?»

«Decken habe ich noch nicht durchbrochen, aber …» Ohne mich meinen Satz beenden zu lassen, unterbricht Peter: «Musst aufpassen, dass de da nich mit runterknallst, wenn die Kappendecke bricht, ne?»

«Äh, Kappendecke, was ist das?»

«Da stehn wir drauf. Dat sind zwei Doppel-T-Träger – die siehste da an der Seite –, die bilden die Widerlager, und da drin sind dann die Steine mit Zement, siehste ja, ne?»

«Hm, ja, okay», sage ich, ohne wirklich verstanden zu haben, was er meint.

«Pass ma auf, ich zeig dir dat kurz.» Und schon lässt Peter den Meißel auf den Beton krachen, und ein ohrenbetäubender Lärm erfüllt den Raum. Ich halte mir die Ohren mit den Fingern zu, während die ersten Steine nach unten sausen.

«Immer schön gucken, wo de stehst. Musste aufpassen!»

«Mhm. Werd dran denken.»

«Denken? Aufpassen sollste!»

«Eine Frage hätte ich noch.»

«Wat denn?»

«Wie machen wir das jetzt, ich meine, Vertrag, Stundenzahl und so. Und zwölf Euro die Stunde stehen, oder? Ich …»

«Ich will erst mal sehen, ob de wat kannst. Dann sehen wa weiter. Aber die zwölf Euro stehen.»

«Ah, mhm, okay. Also ich mach dann mal.»

«Ja, mach du mal.»

Als ich wenig später alleine auf dieser gewaltigen Fläche stehe und in den bereits abgebrochenen Teil durch Beton und in alle Richtung verbogenen Metallstangen zwei Stockwerke nach unten blicke, wird mir leicht schwindelig, und ich trete erst mal einen Schritt zurück. Die unzähligen Fensteröffnungen auf der Etage sind nur notdürftig mit Holz verbarrikadiert, und der Wind pfeift eisig durch die Ritzen.

Den 30-Kilo-Stemmhammer muss ich mit aller Kraft festhalten, wenn er durch die Decke saust und mich jedes Mal mitzieht. Wenn die rausgebrochenen Stücke nach unten fallen und auf den Boden knallen, entsteht eine Rauchwolke, die nach oben zieht und sich im Raum verteilt.

«Immer schön gucken, wo de stehst», fällt mir wieder ein, während ich beschäftigt bin, mich nicht mit den Füßen im Stromkabel zu verheddern. Sehr guter Hinweis. Wenn man hier nicht aufpasst, stürzt man schnell samt Decke sieben Meter in die Tiefe. Bin ich eigentlich versichert? Ach, ist dann auch egal, wenn ich da unten liege.

Die Vibration der Maschine ist immens und schüttelt jeden Muskel in meinem Körper durch. Es dröhnt in meinem Kopf, trotz Gehörschutz. Die mittleren Steinreihen brechen recht leicht in Linien nach unten. Schwieriger ist es an den Seiten, wo die Steine in dem sogenannten Doppel-T-Träger eingesetzt sind. Hier muss ich den Schlaghammer jedes Mal drehen und habe dabei höllische Angst abzurutschen und in das Loch zu fallen. Ist das eigentlich normal, dass man so was hier am ersten Tag ganz alleine macht? Ich meine, das ist doch wirklich nicht ungefährlich.

Auf einmal verliere ich die Kraft in der linken Hand und der Hammer bricht mit dem Betonbrocken nach unten. Ich kann ihn gerade noch mit rechts abfangen und verdrehe mir dabei den Arm.

«Verdammte Scheiße! Und das für zwölf Euro die Stunde, fuck you!», brülle ich und schmeiße den Hammer mit aller Wucht auf den Boden. «Mann, das war knapp», stöhne ich und beruhige mich ein wenig. Mein Arm schmerzt, aber wenigstens ist mir jetzt warm. Peter hatte recht, der ratternde Motor direkt am Körper heizt tierisch ein. Vom Adrenalin ganz zu schweigen.

Es gibt ausgebesserte Teile in der Kappendecke, die mit Beton ausgegossen sind. Die sind extrem hart, sodass ich mich mit meinem gesamten Körpergewicht auf den Hammer lehnen muss. Immer wenn die schwere Maschine auf das Metall im Beton stößt, gibt es einen Rückstoß, der mir durch den ganzen Körper fährt. Auf einmal beißt sich der Meißel fest. Halb in der Decke zwischen Beton und Metallstreben eingeklemmt, bekomme ich die Maschine selbst unter größtem Kraftaufwand nicht mehr bewegt. Oh nein, wie peinlich, nach nicht mal zwei Stunden klemmt das Ding hier fest.

Ich nehme ein paar Schritte Abstand.

Das diffuse Licht, das von Osten durch die breiten Schlitze zwischen den Brettern scheint, zeigt die Silhouette des Schlaghammers, wie er diagonal aus der Betondecke in den staubgefüllten Raum zeigt. Erst jetzt merke ich, dass sich meine Hände völlig verkrampft haben. Nur langsam kann ich meine Finger aus der Faust lösen.

«Boah, ich hab keinen Bock mehr.»

Erst der Arm, jetzt die Hände, und wie winzig das Loch nach fast zwei Stunden schweißtreibender Arbeit erscheint, ist wirklich erschreckend. Ich atme tief durch. «Na los, komm schon», motiviere ich mich noch mal. Ich reiße mit aller Gewalt an dem Hammer, aber er bewegt sich keinen Millimeter. Keine Chance. Ich muss wohl oder übel fragen, ob mir jemand helfen kann. Am besten Peter selbst.

Auf meinem Weg hinunter kommen mir zwei kaffeeschlürfende Fensterbauer entgegen. Ich passe mich an und nuschele jetzt auch ein kurzes «Morgen». Es wird zurückgegrüßt. Der Ältere hält einen Kippenstummel lässig mit den Lippen fest, sein eigentlich grauweißer Schnurrbart ist auf der linken Seite vom Zigarettenqualm braungelb gefärbt. Eine Etage tiefer schleppt sich dann der pickelige Auszubildende ächzend die Treppe hoch. Er ist beladen mit drei Koffern und einigen Metern Kabel über der Schulter. Sein Kopf ist knallrot vor Anstrengung. Ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen.

«Jaja, die Hierarchie auf dem Bau. Und wehe, man ist der Azubi», spreche ich leise vor mich hin. Dabei muss ich unweigerlich an die Werner-Comics aus meiner Kindheit denken und lache beinahe laut los. Meine Güte, das hier ist Realität. Und ich bin mittendrin.

Peter ist nicht zu übersehen in seiner neongelben Arbeitsjacke und den zu Berge stehenden grauen Haaren. Er schraubt gerade an der Steinsäge.

«Der Stemmhammer steckt fest, ich bekomme den nicht mehr raus.»

«Die Meißel sind sauteuer, Mann! Du musst aufpassen, Mann! Hatte ich das nicht gesagt?»

«Äh, doch schon, also durchgebrochen bin ich ja nicht, nur der Hammer, der …»

«Ich kann nicht wieder und wieder neues Zeug kaufen, weil ihr alles kaputt macht!», rastet er ohne Vorwarnung aus. Ein cholerischer Leprechaun in Neon. Scheiße, denke ich, das kann ja noch was werden. «Komm mit!», schnauzt Peter. Also folge ich ihm zu einer selbst zusammengeschweißten Metallkiste im Treppenhaus. «Das wird der zukünftige Fahrstuhlschacht», erklärt er mir und deutet hinter sich, «aber das dauert noch.» Er dreht am Zahlenschloss und hebt dann den massiven Deckel hoch. «Hol die Makita raus!»

«Mykita? Eine Sonnenbrille?»

«MAKITA! Den blauen Hammer da.»

«Ach so der, okay!»

«Ja, ’ne Makita halt. Und den langen spitzen Meißel, musste da drücken, um den zu wechseln.»

«Da?»

«Ja, wo sonst?», braust er schon wieder auf.

Okay, Peter. Relax mal.

Als wir dann vor dem Loch in der Kappendecke stehen, bewundere ich die Leichtigkeit, mit der Peter am Rande des Abgrundes entlangbalanciert und einhändig mit der Makita den großen Hammer langsam frei meißelt. Alles eine Frage der Technik und Gewöhnung.

«Halt das Ding mal fest und ruckel ein bisschen!», brüllt Peter durch den Lärm. Mein Gehörschutz und meine Handschuhe liegen auf dem Boden am Treppenaufgang, da wo ich sie abgelegt hatte. Doch jetzt kann ich das Ding ja nicht loslassen und Peter sagen, er soll mal eben warten. Er trägt sowieso überhaupt keine Schutzausrüstung. «Mach den Großen doch auch an und zieh mal kräftig, Mann! Auf wat wartest du denn?», schimpft er schon wieder.

«Ist ja gut, woher soll ich das denn wissen?», knurre ich zurück, und irgendwie gefällt ihm, dass ich Kontra gebe. Er beruhigt sich etwas und sagt mit normaler Stimme: «Mach!»

Das Piepsen in meinen Ohren bleibt noch für Minuten. Keiner der Arbeiter, die ich bis jetzt gesehen habe, trägt echte Schutzkleidung. Einige tragen Handschuhe, das war’s auch schon. Ich frage mich wirklich, warum das so ist.

«Und jetz pass auf, dat dat nich noch ma passiert. Musste so machen.» Und dann zeigt er mir, wie man das als richtiger Mann so macht und bricht mit ungeheurer Geschwindigkeit ein paar große Brocken heraus. «Ne, so muss dat! Katrin sagte ja, du bist’n Ordentlicher. Dat wird schon! Um 9:30 Uhr ist Frühstück. Bis dahin versuch mal den Rest der Kappe zu brechen.»

Den Rest? Pah! Mann, das sind noch ein paar Meter, was stellt der sich denn vor?

In voller Montur stehe ich wieder am Loch. Langsam finde ich den richtigen Rhythmus und breche Reihe für Reihe. Die Steine stürzen jetzt in kürzeren Abständen in die Tiefe. Raum und Zeit sind schnell wieder verloren in dieser anstrengenden Monotonie. Sonnenstrahlen blinzeln durch die Holzbretter der Giebelseite.

Im Augenwinkel sehe ich im Staub einen Schatten, der mir zuwinkt. Durch die beschlagene Schutzbrille erkenne ich nur Umrisse. Als ich den Stemmhammer ausschalte und auf den Boden lege, vibrieren meine Hände immer noch, und es kribbelt von den Fingerspitzen bis zum Ellbogen. Ich streife die Brille ab und sehe nun einen Mann in hellblauer Jeans und schwarzer Arbeitsjacke. Der Fellkragen ist aufgestellt, darüber wellt sich eine lange blonde Matte. Ein verwaschenes AC/DC-T-Shirt schaut unter der Jacke hervor.

Wow, ein echter Vokuhila! Aus seinem von der Kälte geröteten Gesicht leuchten mir zwei stahlblaue Augen entgegen. Erst will ich sagen: «Du hast Augen wie Terence Hill», aber das verkneife ich mir.

«Bist du der Neue?»

«Ja. Guten Morgen. Ich bin Nicholas.»

«Morgen, Richie, Frühstückszeit, komm, wir gehen runter.»

«Ganz schön kalt heute», sage ich, um irgendwie ein Gespräch zu beginnen.

«Ach dat is nix, wir hatten mal so ’nen Bau in Frankfurt Oder, da an der polnischen Grenze. Junge, dat war kalt, minus 25 Grad, da ging nix mehr.»

«Da kann man nicht mehr arbeiten, oder?»

«Türlich, ham wa durchgezogen, musste ja feddich werden, aber war kalt. Und du? Erster Tach heute, wa?»

«Ja, hab heute angefangen, sozusagen Probetag.»

«Hans und ich sind die Maurer hier. Weißte, der Große mit den kurzen Haaren.»

«Ach so, den habe ich heute Morgen schon kennengelernt. Dieser Hüne.»

«Dieser wat?»

«Na, dieser Riese. Der Kräftige.»

«Jaja, der. Sag ich ja», dabei schnipst Richie seine Zigarette gekonnt in den Gulli.

Wir steuern eine Bäckerei gegenüber der Baustelle an. Peter sitzt schon an einem Tisch und winkt uns zu sich rüber. Vorher geht’s noch zur Theke. Richie bestellt: «Morgen, Kaffee, zwei Würstchen und zwei Schrippen mit Käse-Salami und dat ganze Grünzeug.»

«Und bei Ihnen?», fragt mich die mit Tattoos übersäte Bäckerin mit dem Piercing in der Nase.

«Guten Morgen, könnte ich ein Brötchen mit Käse-Schinken und einen Kaffee bekommen?»

«Natürlich könnense dit bekommen, wat isn dit für ’ne dumme Frage? Und wollnse Salat?», ranzt sie mich an.

«Ja, bitte, Salat», sage ich ein bisschen fassungslos. Muss mich an so einiges gewöhnen, merke ich. Ich setze mich zu den anderen an den Tisch.

Peter schlürft hastig seinen letzten Schluck Kaffee und stellt die Tasse wuchtig zurück auf den Tisch, der darauf kurz, aber heftig wackelt.

«Der Fahrer von Cemex is zu spät! Der sollte um neune hier sein, dat is scheiße, verzögert den ganzen Ablauf! Jimmys Leute stehen blöd rum, rauchen und quatschen!»

«Dat is scheiße», stimmt Richie ihm zu.

«Hans kommt erst um zehn wieder, is noch beim Zahnarzt. Na ja, durch die Verzögerung ist er wenigstens von Anfang an dabei, dat is mir sowieso lieber. Die Araber packen dat nich ohne ihn.»

«Also, Jimmy ist einer von den Arabern, die ich am Bauzaun gesehen habe?», frage ich.

Richie fischt ein bisschen Staub aus seinem Kaffee und sagt, ohne mich anzusehen: «Ja, der Grauhaarige.»

«Wenn der Araber ist, wieso heißt der dann Jimmy?»

«Wat weiß ich, heißt halt Jimmy und die anderen Joe und Michael, glaube ich. Den Rest kenn ich nich, aber die heißen ursprünglich alle Mohammed oder Ali, kannste nich auseinanderhalten!»

«Ah, wie Cassius Clay?», werfe ich lachend ein.

«Wat? Wer?»

Peter hat den Witz nicht verstanden.

«Der Boxer aus den Siebzigern, kennst du doch? Weltmeister. Muhammad Ali.»

«Ja, kenn ich! Toller Kerl», nuschelt Richie. Aber auch er hat den Zusammenhang nicht begriffen.

«Ja, hab ich ma gehört», lügt Peter, schiebt den Stuhl nach hinten und steht auf. Er verlässt die Bäckerei, und wir bekommen unser Frühstück serviert.

«Wobei muss Hans denn helfen?», frage ich Richie.

«Die müssen die Bodenplatte im Erdgeschoss noch gießen.»

In dem Moment klingelt mein Telefon, und meine Freundin Grace ist dran.

«Na, wie läuft dein erster Tag? Are you okay?»

Eigentlich will ich sagen, dass es der allerletzte Scheißjob ist und ich morgen ganz sicher nicht noch mal hingehe. Aber Richie hört zu, und so formuliere ich vorsichtig:

«Viel anstrengender, als ich dachte. Ich bin jetzt schon ziemlich erschöpft. Werde mich wohl erst mal daran gewöhnen müssen.»

«Natürlich, everything is going to be alright.»

«How is Amsterdam?»

«Alles gut, alles okay. Darling. I have to go, wir haben gleich Probe. Wollte nur kurz hallo sagen. Love you, talk tonight.»

Wir bekommen Kaffee nachgeschenkt. Richie hat nichts mehr gesagt, seit ich das Telefonat beendet habe. Offenbar will er mich was fragen, traut sich aber nicht. Dann beißt er in ein Würstchen und murmelt mit vollem Mund:

«Is deine Frau nich deutsch?»

«Nein, Engländerin.»

«Hm, ach so», bringt er kopfnickend zurück.

«Aber sprechen tut ihr auch Deutsch?»

«Ja, wir sprechen Deutsch und Englisch. Wir haben uns in London kennengelernt und dort zusammengewohnt. Sie hat hier in Berlin studiert, daher spricht sie auch Deutsch.»

«Englisch hab ich nie gelernt. Russisch hatten wir, aber dat weiß ich nich mehr. London, hmm, würd ich auch gern ma sehn.»

 

Zurück auf meinem Schlachtfeld, lasse ich den Stemmhammer wieder rattern. Das Frühstück hat mich gestärkt. Der Teil der Decke, auf dem ich stehen muss, wird immer kleiner, das Loch immer größer. Noch bin ich skeptisch, aber zugleich erstaunt, wie stabil die Kappendecken sind. Sogar die letzten paar Reihen Steine sind noch stabil genug, um darauf zu stehen.

Ich muss meine Kraft einteilen, merke ich, ansonsten halte ich das nicht bis 16 Uhr aus. Kurz vor Mittag mache ich eine Toilettenpause. Meine Hände verkrampfen zu diesem Zeitpunkt immer häufiger, ich kann meine Fäuste nur noch unter Schmerzen öffnen. Ein paar Minuten Erholung werden mir guttun.

Auf dem Weg nach unten treffe ich wieder auf Moritz, den Azubi. Sein Gesicht ist immer noch so rot. Vielleicht sieht der einfach so aus, denke ich. Ich frage ihn, ob er immer alles schleppen muss, während die anderen Kaffee trinken.

«Ja, ist halt so als Stift. Aber nächste Woche hab ich die Prüfung hinter mir, und dann bin ich Geselle.»

«Stift ist Auszubildender?»

«Ja.»

«Und wenn du Geselle bist, das verändert dann die Situation?»

«Natürlich! Dann bin ich auf einer Ebene mit meinen Kollegen, und wir kriegen einen neuen Stift, dann lass ich den alles tragen.»

«Was für ein System, oder?», frage ich entgeistert.

Er zuckt mit den Achseln und geht weiter.

Ich komme in die zweite Etage, wo Peters Hütte steht. Auf einmal ist der gigantische Hund neben mir und beißt kräftig in meinen Schuh. Ich erschrecke mich fürchterlich und stoße ihn mit dem Fuß weg, aber das macht ihn nur wilder, und er stürzt sich wieder auf mich. Ich kenne den Hund ja nicht und kann ihn deshalb überhaupt nicht einschätzen.

«AUS!», rufe ich laut und bestimmt, doch der Köter fängt an, böse zu knurren und zerrt an meinem Fuß. Jetzt weiß ich auch, wofür die Stahlkappen da sind.

Ich versuche ihn zu beruhigen. Glücklicherweise hatte ich mein Leben lang immer mit Hunden zu tun, sodass ich merke, dass dieses Riesenvieh nur spielen will. Er ist jung und kennt seine Kraft noch nicht. Peter kommt dazu und lacht: «Der beißt immer in die Schuhe, wenn einer die Treppe runterwill. Aus jetzt, Hump!»

Aber er muss dem Hund tatsächlich erst das Ohr umdrehen, bis der wimmernd von meinem Schuh ablässt. Jetzt tut er mir leid.

«Wie heißt der Hund?»

«Hump! Von Humpen, weißte, Bierhumpen.»

Von allen absurden Hundenamen ist dies wohl der bescheuertste aller Zeiten.

«Ist das ein Rhodesian Ridgeback?»

«Mix zwischen Rhodesian und Schäferhund.»

«Komm, wir gehen gleich zum Mittach. Da is so ’ne Kantine um die Ecke, fährste bei mir mit im Auto.»

Peter muss den Hump fest am Halsband halten, damit wir die Treppe normal runtergehen können.

 

Die besagte Kantine ist eher ein Café, das auch Mittagessen anbietet. Als wir unsere Jacken ausziehen und über die Stühle hängen, entsteht eine Staubwolke über dem Tisch. Im ersten Moment ist mir das wirklich unangenehm. Doch als ich mich umblicke, merke ich, dass ich ausschließlich von eingedreckten Arbeitern umgeben bin. Wortkarg sitzen sie an ihren Tischen, schlingen das Essen in sich hinein und genießen die Wärme des Raumes. Die Schmutzwolke interessiert hier niemanden.

Es gibt Hähnchenkeule mit Reis und selbstgemachter Soße. Das steht zumindest mit weißer Kreide auf einer kleinen Tafel. Aber als serviert wird, kann ich keine Keule entdecken, nur zerfledderte Stücke Fleisch in einem undefinierbaren Brei.

«Na ja. Guten Appetit.»

«Guten Appetit, is echt immer lecker hier», kommt’s aus Peters prall gefülltem Mund.

Ich schmecke eigentlich nur Soßenbinder, und die Pampe sieht aus wie die gesammelten Reste vom Vortag. Aber in dem Moment ist mir das scheißegal, denn ich könnte sterben vor Hunger. Also stürze ich mich aufs Essen.

«Willst du auch noch ’n Stück Kuchen?»

«Einen Berliner, äh, Pfannkuchen bitte.» Ich hole meinen Geldbeutel raus. «Wie viel kriegst du?»

«Lass ma, is schon gut. Geht alles auf mich.»

«Danke, Peter», sage ich erstaunt.

«Is doch klar am ersten Tach.»

Damit hatte ich wirklich nicht gerechnet. Vielleicht haben gewisse Regeln auf dem Bau auch einen Vorteil.

Als wir zurück zum Auto kommen, sitzt der Hump aufrecht auf dem Fahrersitz und starrt auf die Straße. Als Peter die Tür aufmacht, verzieht er sich schwanzwedelnd auf die Rückbank.

«Ist ja geil, sitzt der immer so? Wie menschlich.»

«Ja, hat der sich so angewöhnt. Soll er eigentlich nicht, aber wat willste machen?»

Auf dem Rückweg bläst mir die heiße Heizungsluft ins Gesicht. Ich bin total vollgefressen, und es dauert nur wenige Minuten, bis mir die Augen zufallen. Erst versuche ich noch, dagegen anzukämpfen, um mir vor Peter nicht die Blöße geben zu müssen, aber die Müdigkeit ist übermächtig. Ich nicke ein.

Ein warmer nasser Schwamm wischt mir über den Mund, ich schrecke hoch aus meinem Halbschlaf. Der Hump leckt mein Gesicht ab.

«Wäh!» Ich drücke die Schnauze mit der Hand weg.

«Na, biste eingedöst, he? Keine Sorge. Wirst dich an die Anstrengung gewöhnen!»

«Hoffen wir das mal.»

Aus dem warmen Auto zu steigen und noch verschlafen in die klirrende Kälte zu treten ist unerträglich. «Ich hab keinen Bock mehr», liegt mir auf der Zunge, aber stattdessen sage ich zu Peter: «Boah, ist das kalt, Mann!»

«Du musst dich bewegen, der Hammer hilft. Sach Bescheid, wennde nich mehr kannst. Wenn die Kraft nachlässt, wird dat gefährlich!»

Die Zeit nach dem Mittagessen ist die reinste Qual. Ich bemühe mich vergebens, mein vorheriges Arbeitstempo wiederaufzunehmen. Die Erholungspausen zwischen dem Stemmen werden länger und folgen in immer kürzeren Abständen. Die Zeit vergeht nur langsam und lässt mich an Dalís berühmtes Zifferblatt denken, das zäh herunterfließt. Wann ist es endlich 16 Uhr?

Inzwischen scheint auch niemand mehr auf dem Bau zu sein. Ich fühle mich allein, von der Welt verlassen in dieser dreckigen, lauten, vibrierenden Atmosphäre. Ich habe heute so viel Staub ins Gesicht bekommen, dass meine Zähne knirschen. Die am Morgen noch blütenweiße Staubmaske ist braunschwarz und getränkt mit meinem Schweiß. Der Stemmhammer kracht wieder und wieder unerbittlich auf den Boden. Splitter von Backsteinen und Beton fliegen gegen die Schutzbrille, die noch dazu regelmäßig so beschlagen ist, dass ich nichts mehr sehe. Wie schwer Arme werden können, wusste ich bis zu diesem Zeitpunkt nicht. Ich kann die Maschine kaum noch halten.

Ich kann nicht mehr. Gerade, als ich endgültig abbrechen will, sehe ich Peter auf mich zukommen. Er bewegt seine Arme vor der Brust hin und her, wie ein Ringrichter, der ein K.O. anzeigt. Er spricht die erlösenden Worte:

«Feierabend! Is vier!»

«Gott sei Dank!» Habe ich das wirklich gerade gesagt?

«Fürn ersten Tach okay, muss schneller werden, pack den Hammer wieder in die Kiste. Der Code ist 3333. Dann morgen gleiche Zeit. Erhol dich.»

«Okay.»

Schneller werden? Arschloch! Nee, ich komme morgen nicht wieder. Nein, danke! Fix und fertig, schleppe ich mich die Treppe herunter.

Bevor ich mich auf den Heimweg mache, sollte ich noch mal aufs Dixi-Klo. Und während ich dort von Plastik umgeben stehe, blicke ich nach oben und entdecke über der Tür die Inschrift der Inhaberfirma: FLIEGENSCHMIDT