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Ein Jahr nach dem Ende des 2. Weltkrieges tötet die Salve aus einer sowjetischen Kalaschnikow einen Familienvater, sodass dessen 13-jährige Tochter nun die Familie ernähren muss. Sie wird von ihrem Dienstherrn missbraucht. Als sie schwanger ist, wird sie von ihrer Mutter nach Berlin abgeschoben. Dort schenkt sie Walter, dem Protagonisten dieses Buches das Leben. Walter wird adoptiert und erfährt das erst als Jugendlicher durch einen Zufall. Seine kranke Adoptivmutter macht ihm das Leben zunehmend schwer. Sie stirbt, als er gerade sein Studium zum Agraringenieur abgeschlossen hat. Er beschließt, ein neues Leben auf dem Land zu beginnen und nimmt eine Arbeit in einer LPG auf. Dort ist er so erfolgreich, dass er nach einigen Jahren sogar deren Vorsitzender wird. Unglücklicherweise gibt es jedoch in seinem neuen Heimatort einen Bürgermeister, der ihn vom ersten Augenblick an schikaniert. Bis zur Wende ist Walter der ewige Verlierer, denn der Bürgermeister hat den gesamten Staatsapparat hinter sich, was er skrupellos ausnutzt. Nach der Wende ändern sich die Machtverhältnisse vorerst nicht. Deshalb will Walter selbst Bürgermeister werden, was sich anfangs jedoch als sehr schwierig erweist. Zu seinem Glück findet er aber endlich eine Freundin, die ihn bei seinen politischen Ambitionen unterstützt. Als Walter die Missbrauchshandlungen und andere Verbrechen des Bürgermeisters anzeigt, eskaliert der Streit zwischen den beiden Kontrahenten vollends. Am Ende wird Walter der Sieger, wird aber auch mit der Tatsache konfrontiert, dass es im Leben zwei große Enttäuschungen gibt. Die eine entsteht, wenn Wünsche sich nicht erfüllen, und die andere, wenn Wünsche sich erfüllt haben. Nach drei humorvollen Büchern und einem ersten Roman zum Thema "Rassismus" präsentiert Wilfried Hildebrandt jetzt ein Buch, das sich mit den kriminellen Machenschaften eines durch und durch korrupten Bürgermeisters und dem Schicksal seiner Opfer beschäftigt.
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Seitenzahl: 421
Veröffentlichungsjahr: 2020
Für meine Oma Else
Wilfried Hildebrandt
Onkel Bürgermeister
Missbrauch und andere Verbrechen
Roman
© 2020 Wilfried Hildebrandt
Umschlag: Wilfried Hildebrandt / Foto von pexels.com/de
Korrektorat: Ingrid Gabriel-Abraham
Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
Paperback
978-3-347-12133-1
Hardcover
978-3-347-12134-8
e-Book
978-3-347-12135-5
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Die Handlung dieses Romans ist frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Ereignissen und lebenden oder verstorbenen Personen wäre zufällig.
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Kapitel 1
Fast könnte man sagen, dass Walter Heidtmanns Leben als Folge eines außerordentlich traurigen Ereignisses an jenem verhängnisvollen 1. Juli 1946 in einer kleinen Stadt östlich der Elbe begann.
Der neu ernannte Bürgermeister Martin von Januszewski machte am Morgen dieses besonders schönen Sommertages seinen üblichen Rundgang durch den Ort. Er erfreute sich am Singen der Vögel und am Quaken der Frösche, denn all das war während des Krieges vom Donner der Geschütze und der Explosionen der Bomben übertönt worden. Der Krieg war vor etwas mehr als einem Jahr zu Ende gegangen, aber es kam ihm vor, als sei es gestern erst gewesen, so präsent waren ihm diese grauenhaften Ereignisse noch.
Martin nahm seine Aufgabe sehr ernst, denn er war unglaublich stolz darauf, dass man ihn, ausgerechnet ihn, einen Polen, zum Bürgermeister gemacht hatte. Er fühlte sich seitdem wie ein kleiner König.
Wenn er auf sein bisheriges Leben zurückblickte, dann konnte er darin nicht allzu viele glückliche Momente erkennen. Er entstammte einer kaschubischen adligen Familie, die in der Nähe von Danzig lebte. Kaschuben waren weder bei den Deutschen noch bei den Polen beliebt. Den Polen waren sie zu deutsch und den Deutschen waren sie zu polnisch. Sein Vater war ein strenger und wie Martin es empfand auch ungerechter Mann, mit dem man sich nur streiten konnte. Kaum erwachsen, hatte Martin deshalb sein Elternhaus im Zorn verlassen und hegte nicht die Absicht, jemals zurückzukehren. War schon die Familie, der er entstammte, trotz Adelstitel nicht gerade mit Reichtümern gesegnet gewesen, so hatte er allein völlig mittellos dagestanden.
Es war ihm nichts anderes übriggeblieben, als sich als Landarbeiter bei deutschen Bauern zu verdingen. Dabei hatte er Maria kennengelernt, die ebenfalls von Gelegenheitsarbeiten in der Landwirtschaft lebte. Sie hatten geheiratet und bald wurde ihre erste Tochter geboren, die sie Ursula tauften. Der Familienzuwachs hatte das Leben nicht gerade leichter gemacht, aber trotzdem zählte Martin die Geburt der Tochter zu den schönsten Momenten seines Lebens.
Dann hatten die Deutschen den Krieg begonnen, den er zutiefst verabscheute. Er war ein überzeugter Kommunist und als solcher strikt dagegen gewesen, die Sowjetunion anzugreifen und womöglich zu besiegen, denn diese war für ihn das Mutterland des Kommunismus, das auf keinen Fall untergehen durfte. Obwohl vorher von den Deutschen nie als deren Landsmann anerkannt, war er zur Deutschen Wehrmacht eingezogen worden und hatte für ein Land kämpfen müssen, das ihm fremd war und für eine Sache, die er abgrundtief hasste. Es war ihm jedoch nichts anderes übriggeblieben, denn die Nichtbefolgung des Einberufungsbefehls hätte unweigerlich die Todesstrafe nach sich gezogen.
Wie durch ein Wunder hatte er den Krieg überlebt und nach der Kapitulation Deutschlands und einer kurzen Kriegsgefangenschaft hatte er mit viel Glück seine Familie wiedergefunden, die inzwischen in einer kleinen Stadt in der sowjetischen Besatzungszone lebte, wohin Maria mit ihrer Tochter vor der heranrückenden Front geflüchtet war.
Nun kam es ihm plötzlich zugute, dass er Kommunist war und polnisch sprach. So hatte es nahegelegen ihn als Bürgermeister einzusetzen. Mit ihm sollte es keine Probleme mit den sowjetischen Soldaten geben, die inzwischen ganz Ostdeutschland besetzt hatten. Martin konnte glaubhaft versichern, dass er Russisch verstehe, da es dem Polnischen sehr ähnlich sei. Zur Freude der übrigen Einwohner hatte er sich auch tatsächlich mehrmals mit den zuständigen sowjetischen Offizieren getroffen und die Erlaubnis erwirkt, das Sägewerk wieder in Betrieb zu nehmen. Außerdem hatte er ein Kontingent Treibstoff für die örtlichen Bauern ausgehandelt, sodass sie ihre Felder bestellen konnten. Obwohl die übrigen Einwohner vorher ausnahmslos Kommunisten und Polen abgelehnt hatten, waren sie jetzt sehr froh, einen kommunistischen Polen als Bürgermeister zu haben. Sie sahen ja, dass es sich lohnte.
Alle diese Gedanken gingen Martin durch den Kopf, als er durch die Hauptstraße des Ortes ging. Er versuchte den Gesang der Vögel zu übertönen, indem er fröhlich und laut Die Internationale pfiff. Dabei lachte er still vor sich hin, denn er dachte daran, dass ihn das vor Kriegsende noch das Leben gekostet hätte.
Plötzlich hörte er aus einer Seitenstraße die verzweifelte Stimme einer Frau sowie Schreie aus kindlichen Kehlen und dazu laute Rufe in russischer Sprache. Er eilte in die Richtung, aus der die Stimmen kamen und sah, als er um eine Hausecke bog, dass einige Sowjetsoldaten dabei waren ein bewohntes Haus auszuplündern. Er wusste, dass darin eine Landarbeiterin mit ihren Kindern lebte. Ihr Mann war im Krieg gefallen Für Führer, Volk und Vaterland, wie auf der Todesnachricht zu lesen war.
Die Russen hatten bereits verschiedene Möbel und viel Geschirr auf ihren Panjewagen geladen und waren gerade dabei die Lampen von den Zimmerdecken zu reißen, um sie ebenfalls mitzunehmen. Auch der Volksempfänger war bereits verladen. Wahrscheinlich wollten sie die Gegenstände in ihre Heimatdörfer an die Familien senden. Dass man für die Lampen und das Radio elektrischen Strom brauchte, der dort möglicherweise gar nicht vorhanden war, schienen sie nicht zu wissen.
Mit schnellen Schritten näherte sich Martin dem Ort des Geschehens und rief: „Stój!“ Die Russen blickten verwundert auf den vermeintlichen Deutschen, der sie auf Polnisch anrief. Wie konnte er es wagen, sie, die Sieger des Großen Vaterländischen Krieges, an ihrem Tun zu hindern? Noch mehr staunten sie, als der Bürgermeister ihnen jetzt in einem Gemisch aus Polnisch und Russisch erklärte, wer er sei und dass sie dabei wären eine arme Witwe auszurauben, die nur eine einfache Arbeiterin sei. Er wies außerdem auf die drei kleinen Kinder hin, um das Mitleid der Russen zu wecken, da deren Kinderliebe sprichwörtlich war. Dann bat er in seinem Kauderwelsch die Soldaten inständig darum, die Gegenstände wieder abzuladen und sie der Frau zurückzugeben. Die Russen hatten ihn offensichtlich verstanden, kamen seiner Bitte jedoch nicht nach, sondern lachten nur höhnisch.
Von früheren Begegnungen mit sowjetischen Soldaten wusste Martin, dass es auf diese stets großen Eindruck machte, wenn man androhte, die Kommandantur zu benachrichtigen, welche streng darauf achtete, dass es zu keinen Übergriffen der Besatzungssoldaten auf die deutsche Zivilbevölkerung kam. Deshalb sagte er energisch: „Ja idu do Komendatury!“ Dann drehte er sich um und ging festen Schrittes in Richtung Rathaus, wo es ein Telefon gab, mit dem er die Kommandantur anrufen wollte.
Wenn er gedacht hatte, die Sowjetsoldaten damit zur Umkehr bewegen zu können, so war das der letzte Fehler seines Lebens. Einer der Soldaten nahm seine Kalaschnikow und drückte ab. Eine Salve traf den Bürgermeister in den Rücken. Martin von Januszewski fiel vornüber auf die staubige Straße. Eine große Pfütze seines Blutes breitete sich aus und er starb innerhalb von wenigen Minuten, auf dem Gesicht liegend, während die Sowjetsoldaten ungerührt ihren Raubzug fortsetzten, ohne dem Erschossenen noch irgendwelche Beachtung zu schenken.
***
Als Maria vom Tod ihres Mannes erfuhr, begann sie fürchterlich zu weinen und jammerte immer wieder: „Meine armen, armen Kinder müssen nun wachsen auf ohne Vater!“ Sie war inzwischen erneut schwanger geworden und erwartete in Kürze ihr zweites Kind.
Alle Versuche, die Täter zu ermitteln und zu bestrafen, waren aussichtslos, denn es galt in der sowjetischen Besatzungszone als erwiesen, dass die sowjetischen Soldaten nur Nazis und Kriegsverbrecher erschießen würden. Deshalb war jemand, der durch die Besatzungstruppe getötet wurde, auf jeden Fall ein Verbrecher, der es nicht anders verdient hatte. Dass in diesen Fällen keinerlei Unterstützung an die Angehörigen gezahlt wurde, war nur folgerichtig.
Maria arbeite bis kurz vor der Geburt ihrer zweiten Tochter auf dem Feld eines Bauern und fing sofort nach der Niederkunft wieder damit an. Ihre älteste Tochter Ursula war die Ersatzmutter für ihre kleine Schwester. Sie musste alles für das Kind tun, was normalerweise eine Mutter tut. Zum Stillen brachte sie die Kleine zur Mutter aufs Feld, denn das konnte sie ihr naturgemäß nicht abnehmen.
So gelang es Maria, die Familie während der Sommermonate finanziell über Wasser zu halten, aber dann kam der Winter, in dem es keine Arbeit und keinen Lohn für eine Landarbeiterin gab. Die Rettung in der Not war der neue Bürgermeister. Er war erst 25 Jahre alt und Kommunist wie Martin von Januszewski. Er suchte eine Haushaltshilfe und da schien ihm die 13-jährige Ursula genau die Richtige zu sein.
Ursula war nicht traurig über dieses Angebot, denn auf diese Weise sparte sie sich den einstündigen Fußweg zur Schule, der vor allem im Winter schwer zu bewältigen war, da sie nur Sandalen hatte. Wegen ihrer kleinen Schwester hatte sie auch schon in der warmen Jahreszeit viel Unterricht versäumt und keine Lust mehr, von Lehrern und Mitschülern ständig als dumm bezeichnet und gehänselt zu werden, nur weil sie keine Ahnung vom Schulstoff der letzten Monate hatte.
Also ging Ursula regelmäßig zum Onkel Bürgermeister, wie sie ihn nennen sollte, um in seinem Haus für Ordnung und Sauberkeit zu sorgen und alle anfallenden Arbeiten zu übernehmen, die der Hausherr ihr zuwies. Er zahlte nicht schlecht und so schien diese Anstellung eine geeignete Möglichkeit zu sein, die Familie zu ernähren.
Wenn Ursula putzte, war der Bürgermeister normalerweise nicht im Haus. Eine Frau hatte er nicht und so war das Mädchen allein bei seiner Arbeit. Wenn er zurückkehrte, überprüfte er stets, ob alles ordentlich und sauber war. Meist fand er irgendwo noch eine Spur von Schmutz, was er damit ahndete, dass er Ursula übers Knie legte und ihr den Hintern versohlte. Diese Art der Bestrafung war das Mädchen von zu Hause gewohnt und sie machte ihr nichts aus, aber dass ihr der fremde Mann nicht nur den Rock hochhob, sondern auch die Unterhose herunterzog, empfand sie als sehr peinlich und erniedrigend.
Noch unangenehmer war es für sie, als der in ihren Augen alte Mann bei einer der nächsten Bestrafungen ihre Scheide berührte. Ihr Körper wurde plötzlich starr vor Schreck. Sie wagte nicht, sich zu wehren, denn sie hatte furchtbare Angst ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Die Situation für die Familie würde katastrophal werden, wenn ihr Verdienst ausfiele. Also ließ sie den Mann gewähren, was dieser wohl als Zustimmung wertete. Nachdem er sie gegen ihren Willen vollständig ausgezogen hatte, fiel er wie ein Wilder über sie her. Sie biss die Zähne zusammen und ertrug tapfer die Schmerzen, die er ihr zufügte, bis er keuchend von ihr abließ. Sie zog sich mit fliegenden Händen wieder an und rannte dann, so schnell sie konnte, nach Hause.
Ihre Mutter wollte von dem, was Ursula ihr erzählte, nichts hören. Sie schien ihr kein Wort zu glauben. Dass das Mädchen nie wieder zu dem Bürgermeister putzen gehen wollte, war für sie keine Option. Sie schrie ihre Tochter an, dass dieser Hören und Sehen verging.
„Willst du ruinieren uns? Du weißt, wir brauchen das Geld! Du nur zu faul bist zum Putzen! Lass dir bloß nie einfallen, deine Spinnereien irgendwo anders zu erzählen. Wir kommen sonst in Teufels Küche, das ich sag dir!“
Ursula ging weinend in ihr Zimmer.
Am nächsten Tag machte sie sich schweren Herzens wieder auf den Weg zu ihrer Arbeitsstelle. Der Bürgermeister war zu ihrem Schreck diesmal anwesend und empfing sie mit wüsten Drohungen. Auch er sagte ihr, dass sie es nicht wagen sollte, irgendjemandem zu erzählen, was sie am Vortag gemacht hatten. Andernfalls würde er im ganzen Ort verbreiten, dass sie eine Diebin und Lügnerin sei. Er fügte hämisch grinsend hinzu: „Du kannst dir ja wohl vorstellen, wem man mehr glaubt.“ Ursula nickte eingeschüchtert, dann wollte sie sich wieder an die Arbeit machen, aber der Mann hatte etwas anderes mit ihr vor. „Komm mal auf den Schoß vom Onkel Bürgermeister!“, befahl er. Sie gehorchte ängstlich. Als sie auf seinem Schoß saß, fuhr er mit seiner Hand unter ihre Bluse. Er streichelte eine Weile ihre kleinen Brüste, dann fiel er erneut über sie her.
So erging es ihr fast täglich während der gesamten Wintermonate, aber sie hatte sich schon bald daran gewöhnt. Es machte ihr nichts mehr aus, wenn der Bürgermeister in sie eindrang, denn es tat nicht mehr so weh wie beim ersten Mal. Sie bekam bei ihm immer gutes Essen und meinte, dass deshalb ihr Bauch so rund wurde. Auch dass ihre Brüste größer wurden, fand sie ganz normal, schließlich wurde sie langsam erwachsen.
Als die Mutter aber das nackte Mädchen eines Tages beim Baden in der großen alten Zinkwanne erblickte, wurde sie fast ohnmächtig vor Schreck. Sie war sich sofort sicher, dass ihre Tochter schwanger war und das überstieg ihre Schmerzgrenze. Deshalb schrie sie in höchster Erregung: „Du verdammtes Flittchen, wie kannst du wagen in dein Alter und unverheirat ein Kind kriegen? Du bringst nur Schande über unsere Familie! Was werden denn Nachbarn sagen? Und in die Kirche ich kann mir auch nicht mehr sehen lassen. Gott wird dir strafen, du schamloses Ding! Verlass sofort dieses Haus und unsere Stadt und komm erst zurück, wenn du dein Balg bist los!“
Ursulas kleine Schwester weinte wegen der lauten Stimme, sodass sich die Mutter um sie kümmern musste.
Nachdem sie die Kleine beruhigt hatte, suchte die Mutter ein paar Kleidungsstücke für ihre ältere Tochter zusammen und steckte diese in einen alten, kleinen Koffer aus Pappe. Dann brachte sie Ursula persönlich zum Bahnhof in der Kreisstadt, kaufte ihr einen Fahrschein nach Berlin und wartete mit ihr, bis der Zug einfuhr. Die Tochter stieg weinend ein und flehte ihre Mutter an, bleiben zu dürfen, denn sie wusste überhaupt nicht, was sie in Berlin sollte. Sie kannte dort niemanden und würde auf der Straße leben müssen. Maria war jedoch nicht zu erweichen. Sie schien nicht das geringste Mitgefühl mit ihrer Tochter zu haben. Ihrer Meinung nach hatte sich das Mädchen seine Kalamität selbst eingebrockt.
Im Zug war es furchtbar voll. Unzählige Berliner kehrten von ihrer Hamsterfahrt zurück und führten Säcke mit Kartoffeln und anderem Essbaren mit sich. Wegen der Enge und wohl auch wegen des Gefühls der plötzlichen Einsamkeit wurde das Mädchen plötzlich ohnmächtig. Umfallen konnte sie nicht, denn dazu war es zu eng in dem überfüllten Wagen. So sackte sie einfach an der Stelle, an der sie stand, zusammen.
Als sie wieder zu sich kam, lag sie auf zwei nebeneinanderliegenden Sitzplätzen, die andere Reisende trotz der drangvollen Enge hilfsbereit für sie freigemacht hatten. Sie schaute sich ängstlich um und begann bitterlich zu weinen. Sie konnte sich das alles nicht erklären, hatte sie doch immer nur artig ihre Pflichten erfüllt und wurde nun zum Dank nach Berlin, in die große fremde Stadt geschickt. Warum wurde sie jetzt so hart bestraft und wie konnte ihre Mutter wissen, dass ihre Tochter ein Kind bekäme?
Draußen glitt die schönste Herbstlandschaft vorbei, aber davon nahm das Mädchen keine Notiz. Sie sah nur ihre Not und ihre Pein und weinte hemmungslos.
Eine ältere Dame, die ihren Platz für das kollabierte junge Mädchen freigemacht hatte, setzte sich auf ihren vollen Rucksack neben Ursula. Mit Sorge sah sie das verheulte Mädel an und fragte: „Was ist mit dir, mein Kind? Bist du krank? Hast du Schmerzen?“ Die Angesprochene wusste nicht warum, aber sie hatte Vertrauen zu der fremden Frau und erzählte ihr von ihrem Rauswurf aus dem Elternhaus. Der Zug ratterte und in dem Abteil wurde laut gesprochen, sodass die Frau dicht an das Mädchen heranrücken musste, um zu verstehen, was dieses ihr berichtete. Sie hörte geduldig und teilnehmend zu, dann setzte sie sich auf den Platz neben Ursula, die sich inzwischen aufgerichtet hatte. Die Dame nahm sie in den Arm und tröstete sie. Als das Mädchen aufgehört hatte zu weinen, fragte die freundliche Frau: „Wie heißt du, mein Kind?“ Das Mädchen antwortete bereitwillig und die Dame machte ein Angebot, das Ursula nicht ablehnen konnte.
„Wenn du willst, Ursula, kannst du bei mir wohnen, bis das Baby da ist.“
Das Mädchen schaute sie voller Erstaunen an, dann nickte sie.
„Ja, ich weiß doch sonst gar nicht, wohin. Danke.“
Nachdem sie in Berlin am Lehrter Bahnhof angekommen waren und die Kontrollen durch die sowjetischen Soldaten hinter sich gebracht hatten, mussten sie noch mit der S-Bahn zum Bahnhof Schönhauser Allee weiterfahren. Dort war es nur ein kurzer Fußweg bis zum Haus Zechiner Straße 20. Die Dame, die sich Ursula inzwischen als Frau Lehmann vorgestellt hatte, stieg mit ihrem schweren Rucksack keuchend die drei Treppen zu ihrer Wohnung empor und das Mädchen folgte ihr.
Die Wohnung war gemütlich eingerichtet, sodass sich Ursula sofort darin wohlfühlte. Zwar war alles anders als bei ihr zu Hause, aber sie empfand eine wundervolle Geborgenheit.
Frau Lehmann machte Tee, den sie am Küchentisch tranken. Dazu gab es für jede von ihnen einen selbstgebackenen Keks.
Später zeigte Frau Lehmann dem Mädchen das Zimmer, in dem dieses schlafen sollte. Es war das Zimmer des Sohnes von Frau Lehmann, der nicht aus dem Krieg zurückgekehrt war. Ursula half ihrer Gastgeberin, das Bett zu beziehen, dann packte sie ihre Siebensachen aus dem Koffer in den kleinen Schrank.
Zum Abendbrot gab es je eine Scheibe Brot mit Schmalz, das Frau Lehmann von ihrer Hamsterfahrt mitgebracht hatte. Dazu tranken sie Pfefferminztee. Während sie aßen, versuchte Frau Lehmann so viel wie möglich über das junge Mädchen in Erfahrung zu bringen. Als sie hörte, was sich im Haus des Bürgermeisters abgespielt hatte und was davor und danach geschehen war, konnte sie ihren Ärger kaum verbergen. Ihre Wut ging zu gleichen Teilen an die Russen, den neuen Bürgermeister und Ursulas Mutter. Warum hatten die Russen den Vater erschossen, der nichts weiter getan hatte, als den Versuch zu machen geltendes Recht einzufordern? Und wie konnte so ein widerlicher Kerl es wagen, dieses unschuldige Mädchen zu entjungfern und zu schwängern? Und wie konnte eine Mutter ihr Kind verstoßen, wenn es ohne eigene Schuld in solch eine missliche Lage geraten war?
Nachdem beide zu Bett gegangen waren, schlief Ursula schnell ein, denn sie war sehr erschöpft von den Strapazen dieses Tages. Frau Lehmann hingegen lag noch lange wach und grübelte, wie es mit dem Mädchen weitergehen sollte. Die Kleine konnte unmöglich für längere Zeit bei ihr bleiben, denn sie bekam keine Lebensmittelkarte und die Ration, die Frau Lehmann zustand, reichte kaum für sie selbst, geschweige denn auch noch für das Mädel. Es musste eine Lösung gefunden werden, soviel war klar, aber wie die aussehen sollte, konnte Frau Lehmann sich in dem Moment noch nicht vorstellen. Irgendwann schlief sie dann aber doch ein.
***
Zum Glück fand Frau Lehmann bald eine Lösung, von der sie annahm, dass sie für Ursula und das erwartete Kind gut sei. Außerdem konnte sie einer alten Freundin, die zwei Häuser weiter wohnte und sich nichts sehnlicher als ein Kind wünschte, einen großen Gefallen tun.
Bis Ursula zur Entbindung in die Klinik ging, blieb sie bei Frau Lehmann. Die Versorgung mit Lebensmittelmarken und Geld übernahm die besagte Freundin von Frau Lehmann.
Kapitel 2
Die Anspannung in der vierten Etage des alten Berliner Mietshauses in der Zechiner Straße 18 hätte nicht größer sein können. Alle Anzeichen sprachen dafür, dass an diesem Tag das sehnsuchtsvoll erwartete Kind das Licht der Welt erblicken würde. Elvira Prüfer lief durch die Wohnung, wie eine gefangene Löwin durch ihren Käfig. Dabei rauchte sie eine Zigarette nach der anderen und murmelte immer nur vor sich hin: „Hoffentlich geht alles gut, hoffentlich geht alles gut. Lieber Gott gib, dass alles gut wird.“ Elise, ihre Mutter, konnte es schon nicht mehr hören und mitansehen. Immer wieder ermahnte sie ihre Tochter, sich nicht so aufzuregen.
„Elvira beruhige dich! Es kommt sowieso, wie es kommt.“
Das waren ihre beruhigenden und gutgemeinten Worte, aber Elvira hörte gar nicht hin, sondern fuhr fort hektisch herumzulaufen.
Am Nachmittag hielt sie es zu Hause nicht mehr aus. Sie schnappte sich den in einem Verschlag auf dem Hof stehenden Kinderwagen und machte sich mit diesem auf den Weg zur Entbindungsklinik, um nachzufragen, ob das Kind schon geboren sei. Wenn nicht, wollte sie dort warten, bis das Baby zur Welt kommen würde.
Um zum Krankenhaus am Friedrichshain zu gelangen, benutzte sie die S-Bahn. Sie wartete ungeduldig auf dem Bahnhof Schönhauser Allee, bis endlich ein Zug einfuhr. In der S-Bahn wählte sie ganz selbstverständlich einen Wagen, in dem das Rauchen erlaubt war, um während der Fahrt ungehindert weiter paffen zu können. Wie in jedem Raucherwagen, war auch in diesem kaum noch Luft zum Atmen vorhanden. Als Nikotinsüchtiger hätte man viel Geld sparen können, wenn man sich ohne brennende Zigarette darin aufgehalten hätte, denn der Schadstoffgehalt in der Luft entsprach annähernd dem des inhalierten Rauches einer Zigarette. Die Nikotinsättigung in der Luft schien sogar so hoch zu sein, dass man das Gefühl hatte, an den Wänden laufe flüssiges Nikotin herunter. Als einzige Frau im Wagen wurde Elvira von den Männern argwöhnisch beäugt, zumal sie einen Kinderwagen mit sich führte. Dass Frauen in der Öffentlichkeit rauchten, war sehr ungewöhnlich und galt als äußerst unschicklich. Die Tatsache, dass Elvira einen Kinderwagen bei sich hatte und das Kind offenbar dem Qualm aussetzte, sprach noch mehr gegen sie. Dies alles machte ihr jedoch nichts aus, denn das war sie gewohnt. Wenn die Emanzipationsbewegung damals Mitstreiterinnen gesucht hätte, so wäre Elvira Prüfer ganz sicher eine der aussichtsreichsten Anwärterinnen dafür gewesen.
Am Bahnhof Landsberger Allee stieg sie aus, wartete bis ihr ein Mann half, den Kinderwagen die Treppe hoch zur Straße zu tragen, dann eilte sie so schnell sie konnte, in Richtung Krankenhaus. Sie musste aufpassen, dass sie nicht ausrutschte, denn der Schnee war teilweise überfroren und gefährlich glatt. Der leere Kinderwagen klapperte laut über das defekte Straßenpflaster des zerbombten Berlin. Manchmal verlor er eines seiner Räder und sie musste schnell hinterherlaufen, damit es nicht für immer in einem Gully verschwand. Zwar hätte sie auf die Straßenbahn warten können, aber es war sehr ungewiss, ob und wann die nächste verkehren würde. Außerdem wäre es schwierig gewesen, mit dem Kinderwagen in den hohen Waggon einzusteigen. Dazu hätte sie wieder einen Mann bitten müssen, was sie aber aus Prinzip so oft wie möglich vermied.
Als sie die Klinik keuchend erreicht hatte, fragte sie an der Anmeldung nach der Geburtsstation. Die diensthabende Schwester wies ihr den Weg und bekam die strenge Auflage, auf den Kinderwagen aufzupassen, dem Elvira noch schnell eine warme Decke entnahm.
Auf der Entbindungsstation fragte sie nach Ursula von Januszewski, bekam aber auf Anhieb keine befriedigende Auskunft, denn die junge Mutter hatte gesagt, dass sie bis auf Weiteres niemanden sehen wolle. Da war die Krankenschwester bei Frau Prüfer aber an der falschen Adresse, denn die verlangte sofort den Chefarzt der Station zu sprechen. Dabei sprach sie so laut und energisch, dass die Schwester Angst hatte, dass sämtliche Mütter und Kinder auf der Station erschrecken könnten. Deshalb gab sie nach und brachte Elvira in das Zimmer, in dem Ursula lag.
Die junge Mutter war nicht begeistert Frau Prüfer jetzt schon zu sehen. Die Geburt war erst wenige Stunden her und Ursula fühlte sich noch sehr schwach. Trotzdem machte sie gute Miene zum bösen Spiel. Sie hatte ihr Kind noch nicht gesehen und wusste nur aus der Geburtsbescheinigung, dass sie einem Jungen das Leben geschenkt hatte. Insgeheim hoffte sie, bei dieser Gelegenheit Frau Prüfer erweichen zu können, ihr das Kind wenigstens einen Moment zu zeigen oder es ihr gar in den Arm zu legen. Elvira hatte jedoch vorher den Rat von guten Freunden eingeholt, die ihr gesagt hatten, dass sie sich auf keinen Fall breitschlagen lassen dürfe, denn wenn bei Ursula erst einmal der Mutterinstinkt aufkommen würde, dann wäre es schwer, ihr das Kind wieder wegzunehmen, wie es vereinbart war. Schnell nahm sie die Geburtsbescheinigung vom Nachttisch, dann holte sie einen Umschlag aus ihrer Handtasche und gab ihn Ursula, die gar nicht daran dachte nachzuzählen, wie viel Geld er enthielt. In dem Moment war es ihr egal, ob der Umschlag die vereinbarte Summe enthielt oder nicht. Sie wollte nur ihr Kind haben, das sie unter Schmerzen geboren hatte oder es wenigstens sehen, aber das versteinerte Gesicht von Frau Prüfer sprach eindeutig dagegen. Schnell verließ Elvira ohne ein Zeichen der Rührung und ohne ein Wort des Dankes das Zimmer. Zurück blieb die bitterlich weinende Ursula. Das Einzige, zu dem sich Elvira durchringen konnte, war ein kurzer Abschiedsgruß an der Tür.
„Leb wohl, Ursula.“
Der nächste Weg führte Elvira zur Säuglingsstation, wo sie ohne Probleme den kleinen, vor wenigen Stunden geborenen Jungen abholen konnte. Sie wickelte ihn in die mitgebrachte Decke, damit er sich nicht verkühlte. In der Eingangshalle legte sie den Kleinen in den Kinderwagen, deckte ihn gut zu, denn es war draußen furchtbar kalt, dann trat sie den Heimweg an. Diesmal schob sie den Kinderwagen etwas langsamer, als auf dem Hinweg, damit das Kind nicht allzu sehr durchgeschüttelt wurde. Wiederum mit leider notwendiger männlicher Hilfe bewältigte sie die Treppe zum Bahnsteig der S-Bahn und wartete auf den Zug. Obwohl nun tatsächlich ein Kind im Wagen lag, wählte sie bei dem einfahrenden Zug erneut einen Raucherwagen. Wieder herablassend von den anwesenden Männern beäugt, qualmte sie vor sich hin. Als der Kleine zu schreien begann, wackelte sie am Kinderwagen, bis er einschlief. Am Bahnhof Schönhauser Allee musste sie sich abermals von einem Mann helfen lassen, den Wagen die Treppe hochzutragen, dann führte sie ihr Weg schnurstracks zum Haus Zechiner Straße 18. Dort angekommen, schob sie den Kinderwagen in den Verschlag auf dem Hof, nahm das Kind, das sie erneut in die Decke gewickelt hatte, heraus und schloss den Verschlag sorgfältig ab. Es waren schlechte Zeiten und der Kinderwagen hatte sie ihren gesamten Schmuck gekostet. Darum musste sie sehr vorsichtig sein, damit ihr der Wagen nicht gestohlen werden würde.
Nachdem sie die vier Treppen zu ihrer Wohnung im Vorderhaus hochgestiegen war, klopfte sie und ihre Mutter öffnete. Als sie ihre Tochter mit dem Kind auf dem Arm sah, stieß sie einen lauten Jubelschrei aus, der den Kleinen erschreckte, weshalb er wieder zu schreien begann. Elviras Mutter, die zwei Kinder großgezogen hatte, wusste genau, was in solchen Fällen zu tun war.
Während Elvira den Jungen auf die Wickelkommode im Schlafzimmer legte und mit einer frischen Windel versorgte, erwärmte ihre Mutter in einem Wasserbad Milch in einer Nuckelflasche. Sie prüfte, ob die Milch die richtige Temperatur hatte, dann übergab sie sie ihrer Tochter. Diese setzte sich nun mit dem Kleinen auf einen Stuhl und gab ihm die Flasche. Der schluckte und schmatzte und bald war das Fläschchen leer. Danach musste ihn Elvira unter der Anleitung ihrer Mutter dazu bringen ein Bäuerchen zu machen. Als das Kind ihr auf dem Arm einschlief, legte Elvira es ins Kinderbett, das aus einem Waschkorb bestand, an den jemand Räder montiert hatte. Innen war er mit Kissen und Decken gepolstert. Trotz der Wärme, die der große Kachelofen spendete, deckte Elvira den Säugling so zu, dass nur noch die Nasenspitze herausschaute. Dann setzte sie sich neben das Bettchen und rauchte erst einmal wieder eine Zigarette. Ihre Mutter schaute kopfschüttelnd zu, sagte aber nichts.
Abends kam Kurt Prüfer von der Arbeit. Er grüßte seine Frau und seine Schwiegermutter nur kurz, dann ging er in die Küche, wo gewöhnlich zu Abend gegessen wurde. An diesem Tag war jedoch nichts vorbereitet, sodass er zurück ins Schlafzimmer ging, um zu fragen, ob und wann es Abendbrot gebe. Da erst sah er den Familienzuwachs; seine Freude hielt sich allerdings in Grenzen. Zwar hatte er gewusst, dass Elvira ein Kind annehmen werde, aber es hatte ihn nicht sonderlich interessiert.
Seine Frau schaute ihn herausfordernd an, damit er sich zu dem Kind äußerte, was er aber nicht tat. Er stand still in der Tür und schaute abwechselnd auf Elvira, ihre Mutter und das Körbchen mit dem Kind. Nach einer Weile unterbrach Elvira das Schweigen.
„Es ist ein Junge und er heißt Walter.“
Ihr Mann war erstaunt.
„Warum Walter?“
„Ich war bei einer Wahrsagerin und die hat mir gesagt, dass der Name Walter meinem Sohn Glück bringen wird.“
„Und diesen Quatsch glaubst du?“
„Das ist kein Quatsch. Sie hat schließlich auch gewusst, dass es ein Junge wird.“
„Da war die Wahrscheinlichkeit auch 50 Prozent.“
„Lass mich gefälligst mit deiner Logik in Ruhe. Ich habe so entschieden und damit basta!“
Er drehte sich um und ging wieder in die Küche. Wenn die beiden Weiber ihm vor Verzückung über das Kind nichts zu essen machten, dann musste er sich selbst helfen. Er fand zu seinem Glück auch noch ein Stück Brot sowie einen recht großen Wurstzipfel, was er beides verspeiste.
Endlich kamen auch Elvira und ihre Mutter in die Küche. Als sie sahen, dass er alle Reste aufgegessen hatte, gab es ein riesiges Donnerwetter. Die Wurst und das Brot hätten bis Ende der Woche für sie alle drei reichen müssen, denn vorher gab es keine neue Ration. Er ließ die Frauen schimpfen und steckte sich eine Zigarette an. Das tat auch Elvira, denn so konnte sie ihr Hungergefühl am besten unterdrücken. Ihre Mutter ging zurück zum Baby und schaute ihm beim Schlafen zu. Sie war es gewohnt, Hunger zu haben und hatte ihre eigenen Bedürfnisse immer zugunsten der Familie hintangestellt. Es hatte im Krieg und erst recht danach schon viele Nächte gegeben, in denen sie vor Hunger nicht eingeschlafen war. So würde sie auch die kommende Nacht überstehen. Morgen war ein anderer Tag. Sorgen machte sie sich nur um Elvira, denn die aß so gut wie gar nichts mehr. Sie hatte ihre Lebensmittelkarte gegen Zigaretten eingetauscht und wurde immer dünner.
Mitten in der Nacht weckte ein bisher unbekanntes Geräusch die Familie. Der kleine Walter schrie aus Leibeskräften. Die beiden Frauen fühlten sich gleichermaßen zuständig und standen auf, um zu seinem Bettchen zu eilen. Elvira nahm Walter hoch und versuchte, ihm noch ein Bäuerchen zu entlocken. Vielleicht hatte er ja nach der abendlichen Milch nicht genug aufgestoßen. Es half jedoch alles nichts, der Kleine schrie weiter. Elviras Mutter versuchte ihn zu beruhigen, indem sie ihm Kamillentee einflößte, aber der Erfolg blieb aus.
Schreikinder sind Gedeihkinder
war Omas einziger Gedanke und so legten sie den Kleinen wieder in seinen Korb und ließen ihn weiter schreien.
Irgendwann reichte es Kurt, der wegen des schreienden Kindes nicht weiterschlafen konnte. Er stand auf und legte ein Kissen auf das Gesicht des Kindes. Dadurch hörte es zwar nicht auf zu weinen, aber es klang gedämpfter. Auch Elvira hatte den Unterschied bemerkt und stand auf, um nachzusehen, warum plötzlich solch eine relative Ruhe eingekehrt war. Als sie die Ursache erkannte, wurde sie fuchsteufelswild und entfernte das schalldämpfende Kissen. Danach stürzte sie sich auf ihren Mann, der gerade wieder eingeschlafen war und rüttelte ihn, dass ihm Hören und Sehen verging. Obwohl sie sehr zart und zerbrechlich aussah, wandte sie eine gewaltige Kraft an, um ihm zu zeigen, wer im Hause Prüfer in Wirklichkeit die Hosen anhatte. Er war noch so verschlafen, dass er zu keiner Gegenwehr fähig war. Leise zischte Elvira ihm ins Ohr, um Walter nicht zu erschrecken: „Wenn du noch einmal meinem Kind zu nahe kommst, dann fliegst du achtkantig hier raus! Merk dir das ein für allemal!“ Bemerkenswert war, dass sie ausdrücklich darauf hinwies, dass es sich bei dem Kleinen um ihr, also Elviras Kind handelte. Er schien in diesem Zusammenhang gar keine Rolle zu spielen. Dass es nicht ganz so war, ergab sich aus seiner Antwort.
„Vergiss nicht, dass du das Kind nur bekommst, solange du verheiratet bist. Zur Adoption brauchst du mich! Und jetzt lass mich endlich schlafen, denn ich gehe schließlich arbeiten und muss morgen früh raus.“
Sprachs, nahm sein Bettzeug und legte sich im Wohnzimmer aufs Sofa, wo er sofort einschlief und zu schnarchen begann.
Das Kindergeschrei wurde immer kläglicher und Elvira und ihre Mutter wussten sich keinen Rat mehr. Sie verabreichten dem Baby alle möglichen Sorten Tee, aber damit konnten sie es nicht beruhigen. Sie trugen den Kleinen die ganze Nacht im Schlafzimmer herum, in der Hoffnung, dass es ihm dadurch besser gehen würde und damit Kurt schlafen konnte. Ständig drang schlechter Geruch an ihre Nasen, denn der Kleine hatte immer wieder die Hosen voll und brauchte dringend eine neue Windel.
Morgens gab es das nächste Fläschchen für Walter. Aber wenn sie gehofft hatten, dass er dadurch satt und zufrieden sein würde, so hatten sie sich gründlich getäuscht. Er erbrach den gesamten Flascheninhalt und schrie hinterher noch viel lauter.
Da sich weder Elvira noch ihre Mutter zu helfen wussten, konsultierten sie die Nachbarinnen im Haus, aber die wussten auch keinen Rat. Sie hatten ihre Kinder alle gestillt und kannten solche Probleme nicht aus eigener Erfahrung. Das Einzige, was sie wussten war, dass reine Kuhmilch für Babys nicht geeignet ist, weshalb man sie verdünnen müsse. Sie nannten das Gemisch 2/3 Milch.
Leider zeigte es sich sehr schnell, dass auch die Verabreichung der dünneren Milch nicht half, denn der Kleine hatte weiterhin Bauchschmerzen und Durchfälle. Er nahm einfach nicht zu, wie man es von Babys erwartet, sondern wurde im Gegenteil immer dünner. Nach einigen Tagen musste man das Schlimmste für das völlig unterernährte Baby befürchten.
Elviras Mutter konstatierte schließlich sachlich, dass es wohl ein Fehler gewesen war, das Kind so früh von der Mutter wegzunehmen. Mit Sicherheit wäre es besser gewesen, wenn diese den Kleinen erst mal eine Weile gestillt hätte. Vielleicht war es ja noch nicht zu spät und Walters Mutter hatte Milch und könnte ihn stillen, bis er aus dem Gröbsten heraus war. Elvira war empört über diesen Vorschlag. Unter keinen Umständen hätte sie den Jungen auch nur eine Sekunde bei Ursula gelassen. Die Gefahr, dass sich bei dem Mädchen mütterliche Gefühle entwickelt hätten und sie ihren Sohn nicht mehr hergeben würde, war viel zu groß. Elvira ließ sich kaum beruhigen, so wütend war sie über ihre Mutter und deren Meinung. Es war deutlich zu spüren, dass bei beiden Frauen die Nerven blank lagen. Sie wussten sich keinen Rat mehr und das Schreien des Kindes erzeugte seelische Höllenqualen bei ihnen.
Als auch nach einer Woche keine Besserung eingetreten war und sich das Kind in einem schrecklich unterernährten Zustand befand, beschlossen die Frauen, eine Kinderärztin aufzusuchen, die in der Nähe praktizierte. Das lange Zögern resultierte aus dem Misstrauen Elviras und ihrer Mutter den Ostärzten gegenüber. Sie hielten sie für unqualifiziert und hatten sie deshalb bisher kategorisch gemieden, denn ein als Aktivist ausgezeichneter Arzt hatte bei Oma eine Operation versaut, wie sie sagte. Die guten Mediziner waren angeblich alle im Osten mit Berufsverbot belegt und deshalb in den Westen gegangen.
Als die ältere, erfahrene Ärztin das Kind sah, bekam sie einen großen Schreck. Sie hatte im Krieg viele tote Kinder sehen müssen, aber die meisten waren bei Bombentreffern oder infolge der Kämpfe in und um Berlin verstorben. Nur wenige waren verhungert. Nach Kriegsende sollten eigentlich wenigstens die Kinder wieder einigermaßen gut ernährt werden, denn sie bekamen Milch per Lebensmittelkarte zugeteilt. Da Elvira glaubhaft versicherte, den Kleinen regelmäßig gefüttert zu haben, nahm die Ärztin an, dass er die Kuhmilch nicht vertrage. Sie fragte deshalb, ob Familie Prüfer Zugang zu frischen Äpfeln hätte. Das konnte Elvira bestätigen, denn Oma Heidtmann war Besitzerin eines Schrebergartens in Pankow. Zum Glück waren noch Äpfel verschiedener Sorten aus dem eigenen Garten vom vorigen Sommer vorhanden, sodass dem Jungen die von der Ärztin verordneten geriebenen Äpfel zu jeder Mahlzeit gegeben werden konnten.
Der kleine Walter erholte sich tatsächlich bald und nahm zu, wie es sich für Babys gehörte. Wenn er zu einer Kontrolluntersuchung bei der Kinderärztin war, nannte sie ihn stets ihren Apfeljungen und war ganz offensichtlich sehr stolz auf ihren Erfolg.
Kapitel 3
Das Erste, an das sich Walter später erinnerte, waren seine Blicke aus dem Küchenfenster der Wohnung in der Zechiner Straße, während Oma in der Küche arbeitete.
Er wuchs behütet auf. Einen Vater hatte er nicht und er vermisste ihn auch nicht. Seine Mutter ging arbeiten und verdiente das Geld, während seine Oma quasi die Mutterrolle bei ihm übernahm. Er kannte sie eigentlich nur in ihrer blau-grünen Kittelschürze. Trotz ihres fortgeschrittenen Alters hatte sie den Haushalt voll im Griff. Sie kochte das Essen für sie drei, backte am Wochenende leckeren Kuchen und hielt die gesamte Wohnung in Schuss. Am Montag war Waschtag. Da schuftete sie mit Zubern und Waschbrett in der Küche. Dann konnte Walter wegen der beschlagenen Scheiben nicht auf den Hof schauen. Wenn die Wäsche sauber war, wurde eine Leine auf dem langen Korridor gespannt, auf die die Wäsche zum Trocknen aufgehängt wurde.
Oma unterhielt Walter bei ihrer Arbeit gern mit lyrischen Werken und anderen damals in der Schule auswendig gelernten Texten. In der Adventszeit rezitierte sie aus dem Stegreif die biblische Weihnachtsgeschichte, vor Ostern hörte er den Osterspaziergang von Goethe und während des gesamten Jahres sagte sie gern Die Glocke und Die Bürgschaft von Schiller und andere lange klassische Gedichte auf. Stets war Walter erstaunt, was Oma alles in ihrer Schulzeit gelernt und wie viel sie sich davon gemerkt hatte.
Andere Töne drangen an seine Ohren, wenn er am Küchenfenster stand, weil jemand sehr laut und auch sehr schön so etwas wie Theo, Thehehehejo sang. Diese Melodie sollte Walter erst viel später im Original hören, dann aber als Banana Boat Song von Harry Belafonte. Das Fragment dieses Liedes, das er fast täglich hörte, wurde geschmettert von einem Arbeiter, der auf dem benachbarten Kohlenplatz die Kästen für die nächste Lieferung füllte. Zwar hatte der offensichtlich keine Ahnung, wie das Lied weiterging und wie es wirklich hieß, aber das, was er sang, klang in Walters Ohren wunderschön, während seine Oma immer über diese schreckliche Negermusik schimpfte.
***
Nach und nach lernte Walter die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen sich und seinen Vorfahren kennen. Da war zuerst seine Mutter, Elvira Heidtmann. Dass sie keinen Mann und er keinen Vater hatte, erklärte sie ihm damit, dass sie geschieden sei, denn ihr Mann hätte versucht, Walter als Baby umzubringen und da hätte sie ihn achtkantig rausgeschmissen. Dass sie genauso hieß wie ihre Mutter, erklärte sie damit, dass sie nach der Scheidung ihren Mädchennamen wieder angenommen und den auch auf ihren Sohn übertragen hatte. So hießen nun alle drei Mitglieder der kleinen Familie mit Nachnamen Heidtmann, wobei es Walter gar nicht gefiel, einen Mädchennamen zu tragen. Dass er keinen Vater hatte, fand er eigentlich gar nicht schlecht, denn wenn er seiner Mutter glauben konnte, war der nicht nur ein ganz schlechter Mensch und potenzieller Kindermörder, sondern er war auch zu nichts zu gebrauchen. Sie brachte es häufig auf den Punkt mit dem Satz
Der war zu blöd, einen Nagel in die Wand zu schlagen.
Als Oma wieder einmal einkaufen gegangen war und Walter allein zu Hause gelassen hatte, wollte er zeigen, dass er mehr konnte als sein ungeschickter Vater. Er ging an den Werkzeugschrank, holte sich einen Hammer und einen Nagel heraus und versuchte diesen Nagel im Wohnzimmer in die Wand zu schlagen. Dabei traf er öfter den Nagel seines Daumen, als den Kopf des Nagels, aber auch wenn er richtig traf, gelang es ihm nicht, den Nagel in die Wand zu treiben. Der ging erst ein Stück rein, aber dann wurde er krumm. Walter holte sich weitere Nägel und versuchte es an verschiedenen Stellen der Wand, bis er merkte, dass es manchmal klappte und manchmal nicht. Viele Jahre später erfuhr er, dass er hin und wieder eine Fuge getroffen hatte, in die die Nägel hineingegangen waren. Kam er aber auf einen Stein, wurden die Nägel krumm. Die Nägel, die steckten, ließ er stecken, denn er wollte seiner Mutter beweisen, dass er nicht so blöd war wie sein Vater, sondern durchaus Nägel in die Wand schlagen konnte.
Als seine Großmutter vom Einkaufen zurückkam, traute sie ihren Augen nicht. Eine ganze Wohnzimmerwand war da, wo keine Möbel standen, in etwa einem Meter Höhe mit Putzschäden und eingeschlagenen Nägeln verunziert. Anstatt nun aber stolz auf seine Leistung zu sein und ihn zu loben, regte sie sich furchtbar auf und schimpfte ganz schrecklich mit ihm. Ihr letzter Satz in dieser Angelegenheit war: „Warte nur bis deine Mutter von der Arbeit kommt!“
Als Mama endlich da war, fiel er ihr auf dem Korridor um den Hals und gab ihr einen Kuss, wie jeden Abend. Dann nahm er sie an die Hand und führte sie ins Wohnzimmer, bevor sie den Mantel ausgezogen hatte. Dort zeigte er stolz auf sein Werk. Aus den Augenwinkeln sah er wie seine Oma die Hände zum Gebet faltete und die Augen schloss.
An diesem Abend bekam er die schlimmste Tracht Prügel von seiner Mutter, die er in seinem ganzen Leben erhalten hatte. Seiner Oma schien jeder Hieb, den er bekam, mindestens so weh zu tun wie ihm. Später warf sie ihm vor, ihr keine Zeit gelassen zu haben, seine Mutter schonend auf die Verunstaltung der Wohnzimmerwand vorzubereiten.
Die Mutter zog wütend die Nägel aus der Wand und klopfte sie gerade, denn neue hätte sie nicht kaufen können. Zum Glück kannte sie jemanden, der wenigstes die Löcher im Putz verschließen konnte. Die Tapete war allerdings versaut. Da es zu dieser Zeit keine Tapeten zu kaufen gab, blieb nichts anderes übrig, als Möbel vor die schadhafte Stelle zu schieben. Allerdings wurden dabei andere Stellen freigelegt, die auch nicht mehr sehr schön aussahen. Walter hatte also ziemlichen Schaden angerichtet, wie er sich über viele Wochen anhören musste.
Später sah er sich als den lebenden Beweis dafür an, dass die damals üblicherweise angewandte Erziehungsmethode Schlagen nichts nützt, denn trotz der schmerzhaften Prügel, die er empfangen hatte, schlug er auch später noch sehr oft Nägel in Wände.
Ebenso deutlich zeigte sich die Unwirksamkeit der Prügelstrafe, als Walter einmal versehentlich eine Schublade des Nähschränkchens seiner Oma vollständig herauszog, sodass sie ihm aus der Hand fiel und sich ihr Inhalt über den gesamten Fußboden verteilte. Ohne mit ihm zu schimpfen oder ihn gar zu schlagen, setzte sich Oma mit ihm auf den Fußboden und gemeinsam sammelten sie die unzähligen Nadeln und Knöpfe ein und verstauten sie wieder in der Schublade.
Obwohl Walter nicht bestraft worden war, nahm er sich dennoch fest vor, nie wieder ein Nähkästchen auszuschütten und blieb diesem Vorsatz sein ganzes Leben lang treu.
***
Der bevorzugte Spielplatz für den kleinen Walter war der Balkon. Im Sommer spielte er mit seinem Auto auf ihm oder er ließ seine Schiffe in einer Schüssel mit Wasser schwimmen. Im Winter baute er einen Schneemann und schlitterte von einem Ende zum anderen.
Keine so große Rolle spielte die ebenfalls vorhandene Loggia für ihn. Sie diente bei Familie Heidtmann vorwiegend zur Lagerung von Holz und Briketts. Auch Äpfel aus dem familieneigenen Garten überwinterten in einem Regal in einer Mauernische, die mit einem alten Teppich zugehängt war. Täglich wurde nachgesehen, ob ein Apfel eine schlechte Stelle hatte. Wenn das zutraf, so wurde dieser zum Verzehr freigegeben. Die braune Stelle wurde herausgeschnitten, der übriggebliebene Rest des Apfels wurde in drei halbwegs gleiche Teile geteilt und dann verspeisten Oma, Mama und Walter je eines dieser Stücke. Auf diese Weise aßen sie den ganzen Winter nur Äpfel, die schon ein bisschen angefault waren und daher schleunigst weg mussten. Manche schmeckten Walter auch schon etwas schlecht, aber Oma sagte stets, das sei nur Einbildung.
An der Decke der besagten Loggia gab es ein Loch, aus dem ein Stück Rohr herausragte. Als Walter seine Großmutter fragte, was es damit auf sich habe, erklärte sie ihm, dass die Wohnungen früher mit Gas beleuchtet worden waren. Deshalb führten in alle Zimmer Gasleitungen, die in der Mitte des Raumes aus der Decke ragten. Offensichtlich hatte es damals sogar für die Loggia eine Gasbeleuchtung gegeben, denn auch dorthin hatte man ein solches Rohr gelegt. Irgendwann wurde auf elektrisches Licht umgestellt und die alten Rohre verloren ihre Bedeutung. Meist wurden die Stummel der Gasrohre in den Zimmern später dazu benutzt die elektrischen Leuchten aufzuhängen.
Um das Gasrohr an der Decke der Loggia herum gab es ein Loch, das wohl dadurch entstanden war, dass jemand mit Gewalt versucht hatte, das Rohr zu entfernen. Dabei hatte er den umgebenden Mörtel beschädigt und der war herausgefallen.
Eines Tages im Herbst musste die Familie feststellen, dass in diesem Hohlraum rund um das Gasrohr ein Wespennest entstanden war. Die lieben Tierchen schwirrten überall herum, kamen sogar in die Wohnung, wenn die Balkontür offen war und stachen, wenn man nicht aufpasste. Da war guter Rat teuer. Aber Walters Mutter kannte ja zum Glück Hinz und Kunz und einer ihrer Bekannten war sich ganz sicher das Problem lösen zu können. Er verwies auf seine langjährige Tätigkeit bei der Berliner Feuerwehr, wo man dergleichen als eine Bagatelle abzutun pflegte.
Eines Tages rückte er mit einem halben Gummiball, einer Tüte Gips und einem Spachtel an. Dann stellte er eine Leiter so auf, dass er von einer der oberen Sprossen aus das Loch in der Decke der Loggia erreichen konnte. Nun mischte er Gips und Wasser in dem mitgebrachten Gummigefäß und stieg auf die Leiter. Walters Großmutter warnte noch, denn es sah sehr gefährlich aus, als er dort oben stand. Die niedrige Brüstung würde ihn nicht aufhalten, falls die Leiter kippen sollte. Er aber beruhigte sie, indem er sagte, dass er sehr genau wisse, was er da tue und schließlich sei das nicht das erste Mal, dass er so etwas erledige.
Walter und seine Oma schauten interessiert zu, um zu sehen, wie der wackere ehemalige Feuerwehrmann zu Werke ging.
Zuerst nahm er etwas von der Gipspampe auf seinen Spachtel und klatschte den Brei auf eine Seite des Loches. Das ganze Loch konnte er nicht auf einmal füllen, denn in der Mitte war ja noch das Gasrohr. Damit hatten die Wespen jedoch immer noch einen Ausgang und ehe der Held mit der zweiten Fuhre Gipsbrei die verbliebene Öffnung verschließen konnte, gingen sie zum Gegenangriff über. Sie stürzten sich auf ihren Feind, der vor Schreck sein Gipsgefäß samt Spachtel fallenließ und furchtbar ins Wanken geriet. Oma konnte die Leiter gerade noch am Umfallen hindern und ermöglichte ihm so die Flucht von der Leiter und der Loggia hinein in die Wohnung. Da die Wespen offenbar nicht genau wussten, wer ihr tatsächlicher Feind war, bekamen Walter und seine Oma auch diverse Stiche ab. Der tapfere Feuerwehrmann rannte indes gefolgt von einem Wespenschwarm durch die Wohnung zur Ausgangstür. Er knallte die Tür hinter sich zu, als er im Treppenhaus war, um die Wespen abzuschütteln. Walter sah ihn nie wieder. Dafür hatten sie jetzt die ganze Wohnung voller Wespen, die sie sich mühsam vom Leib schaffen mussten. Zum Glück waren die lieben Tierchen im Winter verschwunden und tauchten auch in den Folgejahren nicht wieder auf.
***
Am 17. Juni 1953 streikten und demonstrierten die Arbeiter in der DDR. Allerdings waren Streik und Demonstration in diesem Teil Deutschlands verboten. Deshalb schritt die ruhmreiche Sowjetarmee ein, um ihr Bruderland zu unterstützen. Mit militärischen Mitteln wurde der Aufstand blutig beendet und die Russen, wie man sie damals vereinfachend nannte, besetzten alle strategisch wichtigen Punkte, so auch den Arminplatz in der Nähe von Heidtmanns Wohnung. Abends herrschte Ausgangsverbot. Es war sogar verboten und mit dem Tode bedroht, sich am Fenster blicken zu lassen. Es wurde gemunkelt, dass tatsächlich schon Menschen erschossen worden seien, weil sie zu neugierig waren und die Russen unbedingt beim Patrouillieren beobachten wollten. Für die Oma war es also klar, dass sie sich abends vom Fenster fernhalten würde. Dies galt aber nicht für Walters Mutter. Sie schien die Gefahr zu lieben und schlich sich auf den Balkon, um die Soldaten durch die Lücken zwischen den morschen Brettern der Balkonbrüstung hindurch zu beobachten. Die Großmutter, die sich im Hintergrund hielt, starb fast vor Angst, als Elvira auch noch den kleinen Walter dazu nötigte, auf den Balkon mitzukommen. Zwar war ihm auch nicht ganz wohl bei der Aktion, aber er war ein folgsames Kind und gehorchte seiner Mutter.
So sahen sie nach längerem Warten mehrere Soldaten, die mit schussbereiten Kalaschnikows durch ihre Straße patrouillierten und dabei stets die Häuser auf beiden Seiten der Straße von oben bis unten genau musterten. Als sie zu ihnen hochschauten, hätte sich Walter vor Angst fast in die Hosen gemacht, konnte sich aber gerade noch beherrschen. Er tröstete sich mit der Hoffnung, dass die Bretter der Balkonumrandung die eventuell auf sie abgegebenen Schüsse abhalten würden. Dass diese Bretter morsch waren und zwischen den Fingern zerbröselten, wenn man sie anfasste, bemerkte er erst einige Jahre später.
Als die Soldaten vorbei waren, fragte er sich, warum sie eigentlich ihr Leben riskiert hatten, um ein paar Russen von oben zu sehen.
***
Auch nachdem der Aufstand mit Hilfe sowjetischer Panzer blutig beendet worden war, lebte man in Berlin wie auf einem Pulverfass. Ständig kamen irgendwelche schlechten Nachrichten aus dem Radio, das den ganzen Tag im Wohnzimmer der Familie Heidtmann lief und Walter beim Spielen berieselte. Die Familie hörte immer nur den RIAS, denn der war, wie er selbst behauptete
Eine freie Stimme der freien Welt.
RIAS war die Abkürzung von Rundfunk im amerikanischen Sektor. Dieser Radiosender unterhielt ganz Berlin mit Musik, streute aber auch mehr oder weniger wahre Informationen aus, die vor allem von den Menschen in Ostberlin begierig aufgenommen wurden. Die DDR hatte naturgemäß eine andere Meinung zu diesem Sender und propagierte den Spruch
Der RIAS lügt, die Wahrheit siegt!
Manchmal hörte Walter im Radio den Bundeskanzler Konrad Adenauer sprechen und manchmal Walter Ulbricht, den Vorsitzenden des Staatsrates der DDR. Beide mochte er nicht, denn sie sprachen ein ihm unsympathisches Deutsch. Auch andere Politiker, deren Reden im Radio übertragen wurden, sprachen teilweise unverständliches Zeug. Oma hatte immer einen Kommentar für solche Quatschköppe, wie sie sie nannte. Bei Ulbricht sagte sie: „Der alte Spitzbart soll bloß seine Klappe halten, dem hört doch sowieso keiner zu!“ Manchmal ersetzte sie das Wort Spitzbart durch den Ausdruck Sachsenscheißer.
Sprach dagegen Konrad Adenauer, so kommentierte sie seine Rede mit bissigen Bemerkungen, wie
„Die rheinische Frohnatur soll lieber Karneval feiern, statt uns Vorträge zu halten.“
Außerdem verwies sie immer wieder auf seinen katholischen Glauben und war sich sicher, dass Katholiken logen, wenn sie das Maul aufmachten. Von Katholiken hatte sie insgesamt keine gute Meinung.
„Die begehen Verbrechen. Dann gehen sie beichten und alles wird ihnen vergeben. Danach können sie weiter morden und rauben.“
Als irgendwann die erste Frau, die bis dahin fest in Männerhand befindliche Aufgabe des Nachrichtensprechens im Radio übernahm, wurde Oma richtig böse. Sie schimpfte, was das Zeug hielt.
„Müssen sich denn die blöden Weiber überall reindrängen? Man versteht kein Wort von den Nachrichten, wenn die sie vorliest!“
Walter verstand jedes Wort und versuchte seiner Oma zu erklären, dass es an ihrem Gehör liege, wenn sie die Frau im Radio nicht verstehe, aber damit biss er auf Granit. Oma behauptete, so gut zu hören, wie eh und je.
Mit all diesen Sprüchen und Vorurteile wuchs Walter auf und dachte sein Weltbild sei vollständig. Dann kam er in die Schule.