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In dem Buch "Was für ein Milieu!" wird die Geschichte des Lebens in einem Haus im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg in der Zeit von 1958 bis 2018 in Form von fünf Episoden erzählt. Die einzelnen Begebenheiten haben einen zeitlichen Abstand von jeweils etwa 15 Jahren und werden ebenso spannend wie humorvoll geschildert. Der Leser wird nacheinander in die Zeit der Lebensmittelkarten, der 25-Jahr-Feier der DDR, der friedlichen Revolution, des Beginns des Onlineshoppings und schließlich des Einfalls der "Schwaben" in den Prenzlauer Berg mit tragischen Folgen für den Autor geführt. Ins Berliner Umland umgezogen, blickt der Autor nun auf das Leben in Berlin zurück.
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Seitenzahl: 279
Veröffentlichungsjahr: 2023
Auf die Sachsen folgten die Schwaben.
Wilfried Hildebrandt
Was für ein Milieu!
Abenteuerland Prenzlauer Berg
© 2023 Wilfried Hildebrandt
Umschlag, Illustration: Edith Hein
Korrektorat: Ingrid Gabriel-Abraham
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany
ISBN Paperback
978-3-347-83369-2
ISBN Hardcover
978-3-347-83370-8
ISBN e-Book
978-3-347-83371-5
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.
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Inhalt
1958
Karlchen ist weg
1974
Acht Tage Terror
1989
Ein heißer Herbst
2004
Keine Pakete
2018
Tschüss, du altes Haus
2022
1958
Immer wenn ich heute einen Kriminalroman lese oder einen Krimi im Fernsehen anschaue, kann ich nicht anders, als an jenes aufregende Wochenende im Januar 1958 zu denken. Ich war damals gerade 10 Jahre alt und ein eifriger Leser. Besonders fesselten mich Indianerbücher von Karl May und Kriminalromane mit Jerry Cotton. Bei allen Helden dieser Schriften faszinierte mich vor allem deren Scharfsinn, mit dem sie Situationen blitzschnell analysierten und alle ihre Probleme lösten. So intelligent wollte ich später auch einmal sein.
Ich lebte zu dieser Zeit mit meiner Mutter und meiner Großmutter in einer typischen Mietwohnung in Berlin-Prenzlauer Berg in der Seeländer Straße 33. Der Krieg war noch nicht lange vorbei, sodass vieles noch an die schrecklichen Bombardierungen und an die letzten Kämpfe um Berlin erinnerte.
Die Ruinen boten uns Kindern eine zwar streng verbotene, aber dennoch äußerst reizvolle Möglichkeit, Abenteuer zu erleben und unseren Forscherdrang zu befriedigen. Manchmal fand man in den zerstörten Häusern außer Möbeln noch andere Gegenstände der früheren Bewohner. Wer Glück hatte, entdeckte sogar Waffen und Munition, die die Soldaten beim Häuserkampf dort zurückgelassen hatten. Wer allerdings Pech bei diesem zweifelhaften Glück hatte, erschoss sich oder einen Spielkameraden mit einer solchen Waffe. Deshalb, und weil man nie wusste, wann die alten halb zerstörten Gemäuer noch weiter einstürzten, war es mir unter Androhung von Schlägen von Oma und Mutter verboten worden, dort zu spielen. Meine Mutter bekräftigte bei derartigen Gelegenheiten stets den Ernst ihrer Worte, indem sie sagte: „Wenn du nicht gehorchst, bekommst du eine Backpfeife und wenn du fragst, warum, dann kriegst du noch eine.“
Heimlich hielt ich mich trotzdem dort auf, denn alle Kinder taten das und ich hatte noch nie erlebt, dass beim Herumtollen in den Ruinen einem meiner Freunde irgendetwas passiert war. Außerdem führte die Abkürzung meines Schulwegs quer über solch ein Ruinengrundstück und ich hatte keine Lust, als Einziger den weiten Weg außen herumzugehen.
***
Die im Folgenden erzählten Ereignisse haben sich so tief in mein Gedächtnis eingebrannt, dass ich darüber berichten kann, als wäre das alles gerade erst passiert.
Karlchen ist weg
Es war ein trüber, verregneter Freitag Anfang Januar. Draußen goss es in Strömen, anstatt zu schneien und ich hatte nicht die geringste Lust, die Wohnung noch einmal zu verlassen, nachdem ich schon auf dem Heimweg von der Schule klitschnass geworden war.
Also konnte ich mit gutem Gewissen meiner Faulheit frönen, indem ich auf dem Sofa lag und in meinem neuen Karl-May-Buch las, das ich von meinem Onkel Kurt aus dem Westen zu Weihnachten bekommen hatte. Oma hatte mir etwas zum Naschen spendiert und vor lauter Spannung beim Lesen bemerkte ich gar nicht, wie ich ein Stück Schokolade nach dem anderen in meinen Mund schob.
Als die Tafel aufgegessen war und meine tastende Hand nur noch das Silberpapier fühlte, bekam ich einen großen Schreck, denn erstens hätte die Schokolade eigentlich viel länger reichen sollen und zweitens gab es bald Abendbrot. Ich fürchtete deshalb, erneut wegen meiner Mäkelei mächtigen Ärger zu bekommen. Ein guter Esser war ich generell nicht, aber an diesem Tag fürchtete ich das Allerschlimmste, denn es würde ein ganz besonders grässliches Essen geben, auf das ich absolut keinen Appetit hatte. Meine Großmutter kochte nämlich Nieren und alleine schon von dem Geruch nach Urin, der den ganzen Nachmittag durch die Wohnung waberte, wurde mir jedes Mal schlecht, wenn ich das Wohnzimmer verließ, um die Toilette aufzusuchen. Leider hatten die Erwachse nen kein Erbarmen. Es hieß stets: „Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt!“
Bis zum Abendessen wollte ich jedoch nicht mehr an diese bevorstehende widerliche Mahlzeit, meinen Ekel und den damit verbundenen Ärger denken, sondern lieber weiterlesen. Schließlich musste ich doch wissen, wie es Winnetou und Old Shatterhand gelingen könnte, sich vom Marterpfahl, an den sie gebunden waren, zu befreien.
Als ich meine Mutter die Tür aufschließen hörte, versteckte ich schnell die Verpackung der aufgegessenen Schokolade unter dem Sofa, damit sie nicht sofort sah, wie vernascht ich wieder gewesen war. Irgendwann würde sie zwar mit Sicherheit bemerken, dass ich alles auf einmal gegessen hatte, aber hoffentlich erst später. Wenn sie von der Arbeit kam, war es nämlich äußerst unklug, sie mit solchen unangenehmen Tatsachen zu konfrontieren, denn dann war sie meist sehr genervt. Da rutschte ihr schnell mal die Hand aus, wie sie es nannte.
Ich legte mein Buch aus der Hand, bezwang meinen Ekel und verließ das noch halbwegs geruchlose Wohnzimmer, um in den Flur zu gehen, wo sich Mami, wie sie von mir genannt werden wollte, gerade den Mantel auszog. Wie jeden Abend musste ich sie mit einem Kuss begrüßen. Das kostete mich immer große Überwindung, da sie stets stark nach Zigarettenrauch schmeckte und roch. Sie zog es leider vor im Raucherabteil der U-Bahn zu sitzen, um selbst tüchtig mitzurauchen.
Heute schien sie zum Glück gute Laune zu haben, denn sie begrüßte mich mit dem von mir so ungeliebten Spitznamen.
„Guten Tag, mein Scheißerchen. Gehts dir gut?“
Ich war mal wieder hin- und hergerissen, denn einerseits war ich natürlich froh, dass sie gut gelaunt war, aber andererseits hasste ich diesen Kosenamen. Besonders peinlich war es, als sie mich vor meinen Klassenkameraden so gerufen hatte. Die lachten sich kaputt und ich hieß fortan in der gesamten Schule nur noch Scheißerchen. Meine Mutter war jedoch der Meinung, dass dies ein liebevoller Ausdruck sei, der schließlich darauf hinwies, dass sie mir vor kurzem noch die vollgeschissenen Windeln gewechselt hatte. Nach meinen damaligen Informationen musste das zwar schon neun Jahre her sein, aber für sie schien es gerade gestern gewesen zu sein.
Ebenso schlimm war es für mich, als meine Mutter mich ohne Rücksicht auf Verluste vor der eigenen sowie der gegnerischen Fußballmannschaft zu sich rief, nachdem ich gefoult worden war und weinend am Boden lag.
„Komm her zu Mamilein, meine Scheißerle, ich puste!“
Damit war fortan mein Ruf bei den Fußballern ebenfalls gründlich ruiniert. Dass ich ein Muttersöhnchen sei, hatte ich mir sowieso schon lange sagen lassen müssen, aber nun war ich auch noch ein Mamisöhnchen und ein Scheißerle. Meine Mutter verstand überhaupt nicht, warum ich mich danach strikt weigerte zum Training zu gehen.
Das alles ging mir durch den Kopf, während Oma die Küchentür öffnete und ihre Tochter begrüßte – allerdings wesentlich leidenschaftsloser, als ich das immer unfreiwillig tun musste.
Ich versuchte den Atem anzuhalten, denn mir schlug nun der geballte Uringeruch aus der Küche entgegen, aber es half alles nichts. Irgendwann musste ich notgedrungen doch wieder atmen, wenn ich nicht ersticken wollte. Ich staunte allerdings, dass ich mich relativ schnell an diesen Gestank gewöhnen konnte und ihn bald gar nicht mehr wahrnahm.
Meine Mutter verschwand erst einmal auf der Toilette, während ich mir unter dem Wasserhahn über dem Ausguss in der Küche die Hände waschen musste, obwohl sie überhaupt nicht schmutzig waren. Mit Argusaugen wachte Oma darüber, dass ich das auch richtig machte. Als meine Mutter von der Toilette zurückkam und sich ebenfalls in der Küche die Hände gewaschen hatte, setzten wir drei uns an den Küchentisch und aßen.
Ich bekam den erwarteten Brechreiz und schluckte unter Aufbietung meiner vollen Willenskraft die kleingeschnittenen Nieren unzerkaut immer zusammen mit einem Stück Kartoffel herunter. Natürlich bekam ich den üblichen Ärger, weil ich zu langsam aß und angeblich nur lustlos auf dem Teller herumstocherte, während die beiden Frauen schon lange fertig waren und ungeduldig warteten.
Nachdem der Tisch abgeräumt war, schimpfte meine Mutter noch eine Weile über ihre unfähigen Kolleginnen und ihren ungerechten Chef. Dann gingen wir zum gemütlichen Teil des Abends über, der darin bestand, dass wir uns im Wohnzimmer an den kleinen Couchtisch am Ofen setzten und Rommé spielten. Obwohl mir dieses Kartenspiel absolut keine Freude bereitete, hatte ich nicht die geringste Möglichkeit es abzulehnen. Zu zweit macht Rommé nämlich angeblich keinen Spaß, sodass meine Teilnahme unabdingbar war. Heute hatte ich allerdings unerhörtes Glück, denn es war Freitag und ich durfte ausnahmsweise die Schlager der Woche auf RIAS Berlin hören. Meine Großmutter und meine Mutter waren davon überhaupt nicht begeistert, denn alles, was aus unserem vorsintflutlichen Radio kam und sich nicht wie Walzer oder Volkslied anhörte, war in ihren Ohren grauenhafte Negermusik. Auch von Verrückten, die aus der Irrenanstalt ausgebrochen wären und nun herumgrölten, war die Rede. So sehr sie die Musik von Elvis Presley, Bill Haley und Peter Kraus auch hassten, an diesem Abend hatten sie ausnahmsweise ein Einsehen, sodass ich die sogenannten Stammesgesänge der Hottentotten hören durfte.
Während wir Rommé spielten, lauschte ich verzückt den Klängen aus dem Volksempfänger, ohne auch nur ein Wort des Textes der amerikanischen Lieder zu verstehen. Auch dass der Westsender von der DDR gestört wurde, wodurch sich mein Musikgenuss in Grenzen hielt, tat meiner Freude keinen Abbruch. Alleine schon das Gefühl, die moderne amerikanische Musik zu hören und am nächsten Tag in der Schule mitreden zu können, war herrlich. Dass ich fast jedes Spiel verlor, weil ich mich nicht darauf konzentrierte, war mir schnurzegal.
Nach jedem Spiel, das ich oder Oma gewannen, gab meine Großmutter für sich und mich einen kleinen Steinkrug mit Enzianlikör aus. Den Likör in einer bauchigen Steingutflasche mit einem anhängenden kleinen Henkelkrug brachte ihr Sohn aus dem Westen bei jedem seiner Besuche für sie mit. Das Zeug schmeckte lecker, denn es war sehr süß.
Meine Mutter bediente sich unabhängig vom Spielausgang lieber den ganzen Abend über aus einer Flasche Weinbrand-Verschnitt und verspürte keinen Appetit auf das süße, labbrige Zeug, wie sie es nannte. Während des ganzen Abends rauchte sie eine Zigarette nach der anderen.
Als der Spieleabend endlich zu Ende war, kniff Oma verschmitzt ein Auge zu und goss sich und mir noch einmal reichlich aus der Steingutflasche ein. Ich hatte damals keine Ahnung, dass Enzianlikör Alkohol ist, wunderte mich lediglich über die wohlige Wärme im Magen, die nach jedem Schluck aufkam. Außerdem machte das Zeug lustig und müde, sodass ich nach dem Ende der Schlager der Woche freiwillig ins Bett ging.
Das abendliche Ritual begann damit, dass ich mich auszog und meine Kleidung ordentlich über einen Stuhl im Schlafzimmer legte. Dann kamen Oma und Mutter an mein Bett, um mit mir zu beten. Zuerst musste ich mein auswendig gelerntes Gebet aufsagen, danach fasste meine Mutter die ihr bekannt gewordenen Ereignisse des Tages in einem Gebet zusammen. Zu meinem Glück kannte sie nicht alle, denn wenn sie das Schokoladenpapier unter dem Sofa gefunden hätte, wäre dieser Teil unserer privaten Liturgie mit Sicherheit anders verlaufen. Zu guter Letzt schloss Oma die ganze Zeremonie mit einem immer wiederkehrenden Stoßseufzer ab.
Allmächtiges Schicksal steh uns bei!
Dann verschwand sie in der Kammer, in der sie schlief.
***
Obwohl ich hundemüde war, dauerte es mal wieder ewig, bis ich einschlafen konnte. Ich hörte lange zu, wie Omas zwei Wecker um die Wette tickten. Erst als beide kurz nacheinander scheppernd klingelten, konnte ich endlich einschlafen.
Aus diesem Grund hatte ich das Gefühl, erst vor einer Minute eingeschlafen zu sein, als ich von Oma um 7 Uhr geweckt wurde. Ich war wie gerädert. Verschlafen schaute ich mich um, aber meine Mutter war nicht mehr anwesend. Sie schien schon zur Arbeit gegangen zu sein. Somit war es auch für mich allerhöchste Zeit, das Bett zu verlassen.
Schlaftrunken stand ich auf und ging zuerst zur Toilette. Nachdem ich die Spülung betätigt hatte, beobachtete ich ängstlich aus sicherem Abstand das aufgeblähte Bleirohr. Würde es heute dem Druck standhalten oder wieder einmal platzen, wenn die Spülung mit einem lauten Rums stoppte? Das Rohr schwoll auch diesmal ein bisschen mehr an, hielt zum Glück aber noch und so konnte ich trocken zu Oma in die Küche gehen, wo es schon schön warm war. Über dem Ausguss putzte ich mir die Zähne und wusch mir Hände und Gesicht. Zum Mundspülen gab mir Oma warmes Wasser aus unserem verbeulten Teekessel.
Vorausschauend hatte meine fürsorgliche Großmutter bereits meine Kleidung aus dem kalten Schlafzimmer in die geheizte Küche geholt und an die Kochmaschine gehängt, sodass ich etwas Angewärmtes anziehen konnte. Dann gab es Frühstück. Zu meiner Schrippe mit Butter und Marmelade trank ich einen starken Kaffee, der mich endlich richtig wach machte.
Auf dem Weg zur Schule musste ich die Holmborner Straße überqueren. Bevor ich das tat, schaute ich noch einmal zu unserem Balkon in der vierten Etage hoch und winkte, denn da lehnte Oma so weit über die Brüstung, dass es ein ausgesprochenes Wunder war, dass sie nicht das Gleichgewicht verlor und herunterfiel. Sie wollte auf diese Weise wohl sehen, ob ihr Enkel wirklich gut über die gefährliche Straße käme.
Die Sorge um meine Sicherheit war durchaus berechtigt, denn die Holmborner Straße war tatsächlich für damalige Verhältnisse sehr verkehrsreich. Sie führte über die Holmborner Brücke, die zu dieser Zeit einen Grenzübergang nach Westberlin bildete. Die Holmborner Straße war vor allem deshalb so gefährlich, weil von den vielen Autos, die es in Westberlin schon gab, hin und wieder auch einige in den Osten fuhren.
Ostautos gab es so gut wie gar nicht, was den Vorteil hatte, dass wir Kinder in den Nebenstraßen unbesorgt auf der Fahrbahn spielen konnten. Es gab zwar ein hölzernes Postauto, mit einem sehr leisen Elektroantrieb, welches Pakete ausfuhr, aber das schnurrende Geräusch des Kettenantriebes warnte uns bei der Annäherung, sodass wir die Fahrbahn stets rechtzeitig verlassen konnten. Die Pferdewagen, die die Ver- und Entsorgung in der Stadt erledigten, machten sich stets lange vorher durch weithin vernehmbares Hufgetrappel bemerkbar.
Eine besonders große Gefahr stellte die in der Mitte der Holmborner Straße verkehrende Straßenbahn dar, welcher immer wieder unaufmerksame Menschen zum Opfer fielen. Sogar Omas jüngere Schwester war ein Jahr zuvor unter die Straßenbahn geraten und gestorben.
Darum war ich beim Überqueren der Gleise besonders vorsichtig. Selbst wenn ich am Horizont eine Straßenbahn sah, wartete ich lieber, bis sie vorbeigefahren war, was manchmal sehr lange dauerte, denn es gab auf dem Weg vom Horizont bis zu meinem Standort noch mehrere Haltestellen.
Glücklich auf der Nordseite der Holmborner Straße angekommen, winkte ich noch einmal meiner Großmutter zu, dann verschwand ich aus ihrem Blickfeld. Mein Schulweg führte mich jetzt in Richtung Westen, was in diesem Fall geografisch und nicht politisch gemeint ist. Ich verweilte einen Moment an einem Zoogeschäft, in dessen Schaufenster mich jeden Morgen ein niedlicher kleiner Affe zu begrüßen schien. Dem schaute ich einen Moment belustigt beim Herumtollen zu, dann setzte ich meinen Weg über ein zerbombtes Eckgrundstück fort, was mir eigentlich streng verboten war. Allerdings gingen alle Leute diesen Weg über die Trümmer, denn es war eine Abkürzung und soweit ich wusste, war da noch nie etwas passiert.
An diesem Sonnabendvormittag wollte die Schule überhaupt nicht vorübergehen. Statt zuzuhören, was die Lehrerin über die Bonner Ultras und die bösen Kriegshetzer in Westdeutschland und Amerika erzählte, hing ich meinen Gedanken nach. Vor allem dachte ich darüber nach, was dieses Wochenende mir wohl bringen würde. Ich hoffte sehr, mit meiner Mutter wieder in Westberlin am Zoo ins Kino zu gehen, um danach in einem Café am Ku'damm einen Eisbecher zu genießen.
Weil es Sonnabend war, hatten wir nach vier Unterrichtsstunden Schulschluss und unser Wochenende begann. Vor dem Schultor verabschiedeten sich meine Klassenkameraden voneinander, während sie mich ignorierten. Ich war nun mal ein Außenseiter. Traurig darüber trat ich den Heimweg an.
Bevor ich mein Zuhause erreichte, musste ich noch etwas Wichtiges erledigen. Ich hatte nämlich meine Stulle nicht aufgegessen, weil sie mit der Teewurst belegt war, die ich nicht mochte, denn sie brannte immer so auf der Zunge und im Hals. Aus leidvoller Erfahrung wusste ich jedoch, dass ich ein nicht aufgegessenes Pausenbrot – ein sogenanntes Hasenbrot – zu Hause unter Aufsicht verspeisen musste. Deshalb hielt ich es für ratsam, es vorher irgendwo loszuwerden. Wegwerfen schloss ich allerdings kategorisch aus, denn von den Erwachsenen, die den Krieg miterlebt hatten, hörte ich immer wieder, wie schlimm es gewesen war, zu hungern und wie sehr sie sich nach einem Stück Brot gesehnt hatten. Darum war es eines der obersten Gebote in unserer Familie, niemals Brot wegzuwerfen.
Als geeignetes Mittel zum Zweck machte ich ein Brauereipferd aus, das vor einer Eckkneipe geduldig wartete, bis sein Kutscher das gelieferte Bier ins Lokal gebracht hatte. Wenn ich das Pferd mit meinem Brot fütterte, könnte ich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Ich wäre die Stulle los und müsste trotzdem kein schlechtes Gewissen wegen weggeworfenem Brot haben.
Ich näherte mich also dem Pferd, das auch gleich Notiz von mir nahm. Das ausgewickelte Wurstbrot nahm ich so zwischen die Finger, als wollte ich selbst abbeißen und hielt es dem Pferd hin. Anstatt aber ein kleines Stück abzubeißen, wie ich es getan hätte, wollte der Gaul offenbar die ganze Schnitte auf einmal verspeisen, was mir große Schmerzen bereitete, denn ich war dadurch zwischen die Pferdezähne geraten. Solche Schmerzen hatte ich erst ein Mal gehabt, als meine Finger von einer sich schließenden Tür eingeklemmt worden waren. Zum Glück gelang es mir aber, die Finger schnell aus dem Pferdemaul herauszuziehen. Ein erster prüfender Blick aus tränenden Augen beruhigte mich, denn alle meine Finger waren noch vollständig erhalten.
Mit dieser neuen schmerzlichen Erfahrung setzte ich meinen Heimweg fort. Immer wieder bewegte ich vorsichtig meine Finger, aber es schien nichts gebrochen zu sein. Ich hatte großes Glück gehabt.
Dass ich jemals wieder ein Pferd füttern würde, schloss ich in diesem Moment kategorisch aus. Ich kann heute als alter Mann sagen, dass ich diesem einmal gefassten Vorsatz immer treu geblieben bin, auch wenn ich später erfuhr, wie man es richtig macht.
Zu Hause musste ich warten, bis meine Mutter, die an jedem zweiten Sonnabend arbeiten musste, von der Arbeit kam. Oma merkte mir an, dass ich Schmerzen hatte und ich erzählte ihr, dass ich mir die Finger an einer Schultür geklemmt hätte, worauf sie mir einen extra großen Enzianlikör gab. Da ich ihn auf quasi nüchternen Magen trank, half er wirklich sehr gut. Die Schmerzen in den Fingern verschwanden und ich konnte wieder lachen.
Nachdem meine Mutter endlich von der Arbeit heimgekommen war, gab es Mittagessen. Zu meinem allergrößten Leidwesen, gab es an diesem Tag Hammelfleisch, das ein schnelles Essen verlangte, wie mir immer wieder deutlich gemacht wurde. Meine Mutter hatte mir schon mehrmals eindringlich erklärt, dass unzählige Menschen alleine deswegen gestorben seien, weil sie Hammelfleisch zu langsam gegessen hätten. Der kalte Talg sei in ihrem Magen geronnen, was zu ihrem qualvollen Tod geführt hätte.
Von großer Angst getrieben, schlang ich das Fleisch fast unzerkaut herunter, war aber trotzdem wieder der Langsamste. Noch während ich die übliche Standpauke wegen meiner angeblichen Mäkelei bekam, wurde mir schlecht. Sofort packte mich die nackte Angst, dass ich nun das Schicksal der erwähnten bedauernswerten Hammelfleisch-Langsamesser teilen würde. Also machte ich mich auf mein unmittelbar bevorstehendes Ableben gefasst. Ich überlegte, ob ich ein Testament schreiben sollte, denn ich wollte, dass mein Freund Karlchen meine schönen Spielsachen bekommen sollte. Am Schreiben wurde ich jedoch gehindert, denn ich musste unbedingt erst einmal mein gesamtes Mittagessen wieder von mir geben.
Als ich mit dem Erbrechen fertig war, durfte ich mir weitere Vorhaltungen anhören, die den Tenor hatten, dass dies eine Vorwarnung vom lieben Gott gewesen sei. Wenn ich das nächste Ham melfleisch wieder so langsam essen würde, wäre jedoch mein sofortiger Tod unvermeidbar.
So schlecht, wie es mir gerade ging, war ich mir allerdings gar nicht sicher, ob ich wirklich die bessere Wahl getroffen hatte. Vielleicht wäre Sterben sogar angenehmer gewesen. Selbst der von Oma gereichte Enziantrunk besserte meine Beschwerden nicht sofort, sondern brannte lediglich wie Feuer in meinem Magen.
Da offenbar nichts anderes half, befahl mir meine Mutter strenge Bettruhe bis zum Kaffee. In dieser Zeit wurde mir auch wirklich nach und nach besser, ja, ich bekam schließlich sogar wieder Hunger.
Deshalb war ich froh, dass ich um 15: 30 Uhr aufstehen durfte, als im Wohnzimmer der Kaffeetisch gedeckt war. Meine Großmutter hatte eine leckere Kalte Torte mit viel Rum bereitet, eine Süßspeise, die meine Freunde Kalter Hund oder Kalte Schnauze nannten. Solche Bezeichnungen kamen bei uns jedoch nicht infrage, denn wir waren schließlich kein Pöbel, wie Oma mir immer wieder erklärte.
Mir war es egal, wie wir den Kuchen nannten, ich hätte ihn am liebsten im Ganzen verspeist. Das wurde mir allerdings verwehrt, denn es sollte schließlich auch noch etwas für Sonntag übrigbleiben. Außerdem bestand angeblich die Gefahr, dass mir gleich wieder schlecht werden würde.
Dass ich diesmal der schnellste Esser war, spielte offensichtlich keine Rolle, dabei wäre es doch auch mal eine Gelegenheit gewesen, mich zu loben, nachdem mein langsames Essen ständig getadelt wurde.
Während Oma den Kaffeetisch abräumte, sagte meine Mutter mehr oder weniger beiläufig: „Der Fritz hat mir vorhin auf der Treppe erzählt, dass Karlchen verschwunden ist.“ Ich horchte auf und wollte mehr wissen.
„Karlchen Müller? Wo ist der denn?“
Meine Mutter verdrehte genervt die Augen.
„Das weiß ich doch nicht! Weg eben! Frag nicht immer so blöd!“
Damit schien das Thema für die Erwachsenen erledigt zu sein. Ich hingegen begann zu grübeln, wo mein bester Freund denn nur sein könnte.
***
Die Fahrt zum Zoo mit Kinobesuch gefolgt vom Genuss eines Eisbechers in einem Café am Ku’damm waren leider wegen meiner derzeitig angeschlagenen Gesundheit gestrichen. Stattdessen sollte ich mich heute Nachmittag schonen und hatte lediglich die Erlaubnis, bis zum Abendessen zu lesen.
Als ich es versuchte, konnte ich mich jedoch überhaupt nicht auf das Buch konzentrieren, das ich bis gestern noch regelrecht verschlungen hatte. Immer wieder ging mir Karlchens Verschwinden durch den Kopf.
Ich zermarterte mir den Kopf, um herauszufinden, was meine Mutter wohl damit gemeint haben könnte, als sie gesagt hatte, dass Karlchen weg sei? Er konnte doch nicht einfach weggelaufen sein, denn wir hatten schließlich vorgestern noch miteinander gespielt. Ich war ganz sicher, dass mir mein bester Freund Bescheid sagen würde, falls er die Absicht hätte, von Zuhause wegzulaufen. Wenn ich es mir recht überlegte, konnte er nur entführt worden sein und der Entführer verlangte Lösegeld von seinen Eltern. So etwas kannte ich von meinen Krimis. Ich hielt ein solches Verbrechen in diesem Fall für gar nicht so abwegig, denn Müllers waren die Inhaber der Schneiderei im ersten Stock unseres Hauses und wenn jemand in dieser Gegend Geld hatte, dann Karlchens Eltern. Sie besaßen als Einzige in unserem Haus ein Telefon, und wie mein Freund mir im Vertrauen erzählt hatte, sogar einen Fernseher aus dem Westen.
In mir reifte der unumstößliche Entschluss, Karlchen zu finden, um seinen Eltern die Zahlung des Lösegelds zu ersparen. Bei der Suche wollte ich mich zuerst auf unser Wohnhaus konzentrieren, war mir aber dessen bewusst, dass auch irgendjemand anderes aus der näheren oder weiteren Umgebung der Entführer sein könnte. Aber irgendwo musste ich ja anfangen.
Ich ließ alle Hausbewohner vor meinem geistigen Auge vorbeidefilieren, um herauszufinden, wen ich für fähig hielt, eine solche Entführung durchzuführen. Jedoch kam ich auch nach gründlicher Überlegung zu keinem Ergebnis, denn ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass jemand in unserem Haus einen 12-jährigen Jungen entführte. Andererseits hatte ich durch meine Lektüre von Krimis und Karl-May-Büchern schon verstanden, dass man es anderen Menschen nicht unbedingt ansieht, ob sie Verbrecher sind oder nicht.
Da ich am Lesen überhaupt keinen Spaß mehr hatte, sondern ständig an Karlchen und sein Schicksal denken musste, beschloss ich, das Lesen zu beenden und sofort damit zu beginnen, meinen Freund zu suchen. Anfangen wollte ich im Keller.
Ohne den wahren Grund zu nennen, bettelte ich so lange, bis meine Mutter mir erlaubte, bis zum Abendbrot noch spielen zu gehen.
Schnell zog ich mich an, steckte mir heimlich meine Taschenlampe ein und verabschiedete mich. Bevor ich ging, ermahnte mich meine Mutter aber noch einmal eindringlich.
„Nicht in den Ruinen spielen und wenn die Glocken läuten, kommst du sofort nach oben! Ist das klar?“
Ich konnte zwar diese von ihr immer wieder vorgetragene Phrase nicht mehr hören, versprach aber artig, ihre Anweisungen zu befolgen und verschwand. Allerdings führte mich mein Weg nicht auf die Straße, sondern ich wollte in den Keller. Ich hoffte sehr, dass die normalerweise immer offene Kellertür nicht gerade in diesem Moment abgeschlossen war.
Eigentlich hasste ich den Keller, denn dort war es stockdunkel und es roch modrig. Das alleine wäre ja noch nicht so schlimm gewesen, aber es gab da unten auch viele Mäuse und angeblich sogar Ratten. Nach allem, was ich wusste, waren Ratten sehr gefährliche Tiere, deren Bisse tödlich sein konnten, weshalb ich keinen Wert darauf legte, einer von ihnen zu begegnen. Zwar klebten auf der Kellertür mehrere Zettel mit Totenköpfen, die darauf hinwiesen, dass jedes Jahr Rattengift ausgelegt worden war, aber diese Bilder erzeugten bei mir nur noch einen zusätzlichen Schauer, anstatt mich zu beruhigen.
Ich hatte Glück. Auch heute war die Kellertür wieder nicht zugeschlossen, sodass ich ohne Probleme in das dunkle Verlies hinabsteigen konnte. Sofort schlug mir der typische modrige Geruch entgegen. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass im Krieg da unten Menschen stundenlang gesessen hatten, um sich vor den Bomben zu schützen. Da es im Keller kein Licht gab, schaltete ich meine Taschenlampe ein. Unten angekommen, bog ich zuerst in den Gang ein, der unter den rechten Seitenflügel führte.
Alle Mieter besaßen einen abgeschlossenen Verschlag und mit meiner Taschenlampe leuchtete ich in jeden davon hinein, um zu überprüfen, ob darin Karlchen gefangen war. Außerdem rief ich mehrmals seinen Namen, denn ich hoffte, dass mein Freund sich bemerkbar machen würde, wenn er hier gefangengehalten wäre. Das würde allerdings nur klappen, wenn man ihn nicht geknebelt hatte, wie man das mit den Gefangenen in meinen Indianerbüchern immer tat.
Zum Glück waren die einzelnen Mieterkeller vom Gang nur mit schmalen Latten abgetrennt, zwischen denen es Lücken gab, durch die ich hindurchleuchten und hineinschauen konnte.
Beim Blick in die einzelnen Verschläge staunte ich, was die Leute alles in ihren Kellern aufbewahrten. Wir schienen die Einzigen zu sein, die nicht ihr Brennholz und ihre Kohlen dort gelagert hatten, was ich gar nicht verstehen konnte. Unsere Heizmaterialien wurden immer die vier Treppen hoch in unsere Wohnung getragen und die Kohlen auf den beiden Balkons gestapelt. Das Brennholz wurde in der Toilette aufgeschichtet und schmückte dort eine der Wände. Das fand ich sehr angenehm, weil ich auf dem Klo nicht lesen durfte, aber Langeweile hatte. Darum versuchte ich während meiner Sitzungen immer so viele Scheite wie möglich aus dem unteren Bereich des Stapels herauszuziehen und oben draufzulegen, ohne dass alles zusammenbrach. Manchmal kam es dann aber doch zum lauten Einsturz und Oma stürzte kreidebleich in die Toilette, um zu sehen, ob ihr Enkel womöglich vor Erschöpfung vom Thron gefallen sei.
Aufgrund meiner soeben gewonnenen Erkenntnisse dachte ich jetzt darüber nach, ob uns vielleicht die Brennmaterialien nur deswegen bis in die Wohnung gebracht wurden, weil der Kohlenträger für jeden Zentner eine Westmark von meiner Oma bekam. Das Westgeld machte ihm die vier Treppen möglicherweise erträglicher. Vielleicht lag unsere bevorzugte Behandlung aber auch daran, dass meine Mutter und die Kohlenplatzbesitzerin alte Schulfreundinnen waren.
Diese Grübelei gab ich schnell wieder auf. Das würde ich später noch herausfinden können. Jetzt ging es erst einmal darum, Karlchen zu finden.
Nachdem ich auf der rechten Seite nichts Verdächtiges gefunden hatte, versuchte ich es noch in der linken Hälfte des Kellers. Auch da leuchtete ich mit der immer schwächer werdenden Taschenlampe in jeden Verschlag.
Plötzlich erstarrte ich, denn in einem der Mieterkeller sah ich eine Gestalt. Mir war sofort klar, dass es sich dabei nur um meinen Freund handeln konnte. Ich rief seinen Namen, aber er antwortete nicht. Also war er tatsächlich geknebelt worden, schloss ich messerscharf. Aber warum bewegte er sich denn nicht? Hatten sie ihn so gefesselt, dass er sich nicht bewegen konnte oder war er etwa schon tot? Mich wunderte allerdings, dass er aufrecht stand. Ich dachte, dass Tote immer liegen. Was es mit dem stehenden Toten auf sich hatte, musste ich genau wissen und so sehr ich mich auch fürchtete, konnte ich doch der Versuchung nicht widerstehen, den Verschlag zu betreten, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen.
Zwar war auch diese Tür mit einem Vorhängeschloss versehen, das ich nicht öffnen konnte, aber auf der anderen Seite der Tür waren zwei Scharniere. Ich musste die Tür an dieser Seite nur ein wenig anheben, dann konnte ich sie aus den Angeln heben und beiseiteschieben. Auf diese Weise gelang es mir, mich in den Kellerverschlag hineinzuzwängen.
Mein Herz klopfte bis zum Hals und meine Hände zitterten, denn ich hielt es jetzt für sehr wahrscheinlich, dass sie Karlchen getötet und dann an die Wand gestellt hatten. Aus meinen Büchern wusste ich schon, dass es eine Leichenstarre gibt und die musste hier wohl eingetreten sein.
Mit ausgestrecktem Arm berührte ich ganz vorsichtig die Gestalt, aber sie fühlte sich nicht wie ein Mensch an, denn die Haut war ganz hart und sehr glatt. Ich hatte keine Ahnung, wie sich Tote anfühlen, aber so stellte ich es mir nicht vor. Als ich gegen den Kopf klopfte, klang er hohl. Da meine Taschenlampe immer schwächer wurde, schüttelte ich sie kräftig, worauf sie für kurze Zeit wieder etwas heller leuchtete. Nun sah ich zu meiner Erleichterung, dass vor mir eine Schaufensterpuppe stand und nicht mein toter Freund.
Beruhigt verließ ich den Mieterkeller und vergaß auch nicht, die Tür wieder ordentlich zu verschließen.
Leider brachte auch meine weitere Suche keinen Erfolg, sodass ich schließlich aufgab. Ich hatte jetzt einfach genug von der modrigen Luft und den Spinnweben, die ich mir, auf dem Hof angekommen, erst einmal mühselig aus den Haaren und von der Kleidung entfernen musste.
Schade, dachte ich. Es wäre so schön gewesen, wenn ich Karlchen gefunden hätte. Wir hätten noch ein bisschen miteinander spielen können, dann hätte ich ihn zu seinen Eltern gebracht, um bei ihnen Ruhm und Dank zu ernten.
Also musste ich mir etwas anderes ausdenken, wenn ich Karlchen aufspüren wollte, aber ich hatte im Moment noch keine Ahnung, was.
An der Wohnungstür empfing mich Oma. Sie schaute mich tadelnd an und sagte so leise, dass ihre Tochter es nicht hören konnte: „Du hast dich doch nicht etwa in den Trümmern herumgetrieben?“ Ich wusste mir nicht anders zu helfen und erzählte ihr eine Halbwahrheit.
„Nein, ich war im Keller und habe U-Bahn gespielt.“
Sie sah mich misstrauisch an, sagte aber nichts, sondern schüttelte nur ihren Kopf. Dann säuberte sie mich von den noch verbliebenen Spinnweben. Als das erledigt war, schickte sie mich in die Küche, wo ich mir die Hände und das Gesicht waschen musste.
Beim abendlichen Rommé-Spielen war ich wieder geistig abwesend, hatte aber endlich eine Idee, wie ich vorgehen könnte, um meinen Freund zu finden, sofern er sich in einer Wohnung unseres Hauses aufhielt.
***
Genau genommen verlief bei uns jeder Sonntagmorgen ziemlich identisch. Er begann damit, dass ich länger schlafen durfte. Nachdem ich wach geworden war, musste ich mich abseifen, wie Mutter es nannte. Zu diesem Zweck wurde ein dreibeiniges eisernes Waschgestell mit Schüssel inmitten der gut geheizten Küche aufgestellt. In die Schüssel kam warmes Wasser und ich musste mich unter den kritischen Blicken von Oma und Mutter von oben bis unten mit einem Seiflappen waschen. Dazu trällerte meine Oma stets dasselbe Lied.
Mich müssten Sie erst mal sonntags seh’n,
wenn ich gewaschen bin.
Wenn ich dann endlich meinte, wirklich sauber zu sein, inspizierte meine Mutter alle kritischen Stellen meines Körpers und fand heraus, dass ich noch an vielen Stellen außerordentlich schmutzig war. Hinter meinen Ohren wuchsen sogar angeblich Mohrrüben und mein Hals war schwarz wie die Nacht. Sie nahm nun den Waschlappen selbst in die Hand und schrubbte die entsprechenden Stellen so intensiv, dass es mir sehr wehtat. Wenn ich jedoch jammerte, lachte sie und sagte, ich hätte eben selbst gründlicher waschen sollen, dann wäre mir diese Nachbehandlung erspart geblieben.
Als ich die unangenehme Prozedur glücklich hinter mir hatte, konnte ich mir saubere Wäsche anziehen, die es an jedem Sonntag gab. Dann durfte ich endlich frühstücken. Da ich so lange geschlafen hatte, musste ich zur Strafe alleine essen, was ich morgens zwar gewohnt war, was jedoch unter der Aufsicht meiner Mutter wahrlich keinen Spaß machte. Sie hatte ständig etwas zu meckern. Mal kleckerte ich mit dem Honig, mal schlürfte ich beim Kaffeetrinken und wie immer aß ich viel zu langsam, weil ich träumte, wie sie meinte.
Ich war kaum mit dem Frühstück fertig, da klingelte es zum ersten Mal an der Tür. Das konnte nur Onkel Poldi sein, dachte ich und sah meine Vermutung bestätigt, als ich die Tür öffnete. Onkel Poldi stand vor mir und ich musste gar nicht hochschauen, denn er war kaum größer als ich. Er begrüßte mich wie immer mit Grüß Gott, was ich sonst nie bei jemand anderem gehört hatte, dann trat er ein. Wie ich wusste, war Onkel Poldi nicht nur Omas Schwager, sondern stammte auch aus Österreich. Oma bezeichnete ihn ironisch stets als Wiener Würstchen, denn er war in Wien geboren und aufgewachsen. Ich vermutete, dass er deswegen so eigenartig sprach. Er erinnerte mich immer an den Schauspieler Hans Moser, den ich in einem Film gesehen hatte, ohne ein einziges Wort von ihm zu verstehen.