Otto in der Unterwelt - Sebastian Niedlich - E-Book

Otto in der Unterwelt E-Book

Sebastian Niedlich

0,0
5,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Sind die Götter endgültig verrückt geworden? Das Comedy-Lesevergnügen »Otto in der Unterwelt« von Bestsellerautor Sebastian Niedlich als eBook bei dotbooks. Einmal Hades und zurück … Bei den Bauarbeiten für einen neuen U-Bahn-Tunnel stoßen Arbeiter auf ein Tor – dem zur allgemeinen Überraschung ein waschechtes Monster entspringt. Aber kann es sich bei dem riesengroßen dreiköpfigen Dackel wirklich um Cerberus aus der griechischen Mythologie handeln … und was hat der in Berlin verloren? Während plötzlich überall auf der Welt Fabelwesen und antike Götter für Chaos sorgen und die Menschheit sich fragt, ob sie mit Christentum und Vatikan möglicherweise auf das falsche Pferd gesetzt hat, will der Musiker Otto nur mit seiner Band groß rauskommen. Doch dann hat seine Freundin einen saublöden Unfall … und für Otto steht fest: Er muss Rike aus der Unterwelt retten! Aber ist das so einfach, wie er es sich vorstellt? Jetzt als eBook kaufen und genießen: In der turbulenten Komödie »Otto in der Unterwelt« nimmt Bestsellerautor Sebastian Niedlich nach »Der Tod und andere Höhepunkte meines Lebens« nun die griechische Mythologie aufs Korn – und erzählt den antiken Mythos von Orpheus und Eurydike mit schwarzem Humor neu für die Fans von David Safier und Stephen Fry. Wer liest, hat mehr vom Leben! dotbooks – der eBook-Verlag.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 479

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über dieses Buch:

Einmal Hades und zurück … Bei den Bauarbeiten für einen neuen U-Bahn-Tunnel stoßen Arbeiter auf ein Tor – dem zur allgemeinen Überraschung ein waschechtes Monster entspringt. Aber kann es sich bei dem riesengroßen dreiköpfigen Dackel wirklich um Cerberus aus der griechischen Mythologie handeln … und was hat der in Berlin verloren? Während plötzlich überall auf der Welt Fabelwesen und antike Götter für Chaos sorgen und die Menschheit sich fragt, ob sie mit Christentum und Vatikan möglicherweise auf das falsche Pferd gesetzt hat, will der Musiker Otto nur mit seiner Band groß rauskommen. Doch dann hat seine Freundin einen saublöden Unfall … und für Otto steht fest: Er muss Rike aus der Unterwelt retten! Aber ist das so einfach, wie er es sich vorstellt?

Über den Autor:

Sebastian Niedlich, 1975 in Berlin geboren, schreibt Langes und auch Kurzes, aber vor allem Merkwürdiges und Lustiges. Er lebt in Potsdam und muss deswegen viel Zeit damit verbringen, sich über den Verkehr aufzuregen.

Bei dotbooks veröffentlichte Sebastian Niedlich bereits die Bestsellerromane »Der Tod und andere Höhepunkte meines Lebens«, »Der Tod ist schwer zu überleben«, »Und Gott sprach: Es werde Jonas«, »Dicker Teufel umständehalber in liebevolle Hände abzugeben« und »Otto in der Unterwelt« sowie die Erzählbände »Der Tod, der Hase, die Unsinkbare und ich«, »Ein Gott, drei Könige und zwei Milliarden Verrückte« und »Das Ende der Welt ist auch nicht mehr, was es mal war« (die auch als Sammelband erhältlich sind: »Am Ende der Welt gibt es Kaffee und Kuchen«) sowie »Mafiosi, Drache, Tod und Teufel«. Ebenfalls erhältlich ist die weihnachtliche Story »Jesus’ Fest und Teufels Beitrag«.

Der Autor im Internet:

www.sebastianniedlich.de

www.facebook.com/SebastianNiedlich.Autor

www.twitter.com/AutorSNiedlich

www.instagram.com/Sebastianniedlich

***

Originalausgabe März 2024

Copyright © der Originalausgabe 2024 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Ralf Reiter

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Tomacco, Vector Vision, Alfmaler, Vector Tradition, Notion Pie, Yummy Buum

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (fb)

ISBN 978-3-98690-825-6

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit gemäß § 31 des Urheberrechtsgesetzes ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

***

Sind Sie auf der Suche nach attraktiven Preisschnäppchen, spannenden Neuerscheinungen und Gewinnspielen, bei denen Sie sich auf kostenlose eBooks freuen können? Dann melden Sie sich jetzt für unseren Newsletter an: www.dotbooks.de/newsletter (Unkomplizierte Kündigung-per-Klick jederzeit möglich.)

***

Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort »Otto in der Unterwelt«an: [email protected] (Wir nutzen Ihre an uns übermittelten Daten nur, um Ihre Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)

***

Besuchen Sie uns im Internet:

www.dotbooks.de

www.facebook.com/dotbooks

www.instagram.com/dotbooks

blog.dotbooks.de/

Sebastian Niedlich

Otto in der Unterwelt

Roman

dotbooks.

Prolog

Otto stand auf der Straße und starrte den riesigen, dreiköpfigen Rauhaardackel an. Das Ungetüm bewachte ein klaffendes Loch im Asphalt, welches hinunter zur Baugrube der U-Bahn führte. Auch wenn Otto Hunde mochte, hatte er es noch nie als sonderlich angenehm empfunden, von ihnen angeknurrt zu werden. Bei einem Hund von der Größe eines dreistöckigen Mehrfamilienhauses war das aber noch mal eine ganz andere Nummer. Wenn der zubiss, würde es vermutlich etwas mehr wehtun als der kleine Kniff, den er als Siebenjähriger vom übereifrigen Chihuahua seiner Mitschülerin Sabine bekommen hatte, als er ihren Mathehefter zurückbrachte, den er aus Versehen im Hort eingesteckt hatte. Und die Lederjacke, die er trug, würde ihm hier wohl auch nicht viel nützen.

Eine Haarsträhne fiel ihm ins Gesicht. Er stellte den kleinen, batteriebetriebenen Verstärker ab, den er in der linken Hand trug, und fuhr sich dann durch die welligen, braunen Haare. Irgendwo hörte er eine Frau begeistert kreischen.

Einer der Köpfe des Rauhaardackels gähnte und gab den Blick auf das riesige Maul frei.

Definitiv kein Chihuahua, dachte Otto. Es lag nun ein Vierteljahrhundert zurück, dass ihn das kleine Mistvieh ins Schienbein gezwickt hatte. Merkwürdig, wie man sich plötzlich an Dinge erinnerte, die man eigentlich längst vergessen hatte. Kurz überlegte er, ob das einer dieser »Das Leben zieht an einem vorbei kurz bevor man stirbt«-Momente war. Da hätte er sich lieber an andere Dinge erinnert. An Rike zum Beispiel.

Eine riesige Masse an Schaulustigen begann, ihn aus sicherer Entfernung anzufeuern. »Otto, Otto!«-Rufe hallten über den Platz, der früher mal eine befahrene Straße, jetzt aber weiträumig abgesperrt war, weil sechs Monate zuvor plötzlich dieses Biest die Straßendecke kaputt gemacht hatte und sich seitdem beharrlich weigerte wegzugehen. Stattdessen bewachte es den Eingang. Den Eingang, von dem die meisten Menschen glaubten, dass er der oder zumindest ein Eingang zur Unterwelt war.

Alles an dieser Situation erschien ihm merkwürdig. Die Tatsache, dass ihn ein überdimensionierter Dackel mit drei Köpfen ins Visier nahm, und der Umstand, dass eine Menschenmenge ihn anfeuerte, seinen Namen kannte und wusste, warum er tat, was er tat. Er hoffte nur, dass am nächsten Tag die Schlagzeilen der Zeitungen nicht lauteten »Rockstar stirbt nach idiotischer Idee« oder etwas in der Art.

Er umfasste die Gitarre, die er in der Hand hielt, noch etwas fester. Es war der vergebliche Versuch, das Zittern zu unterdrücken.

»Otto, Otto!«, ertönte es weiterhin aus der Menschenmenge. Hier und da riefen ihm Frauen und Männer zu, dass er sein Leben nicht wegwerfen und stattdessen sie oder ihn nehmen solle. Irgendwer hielt ein »Otto, ich liebe dich!«-Schild hoch. Eine andere Frau hielt sogar ein Banner über den Kopf gereckt, auf dem »Otto, ich will ein Kind von dir!« stand, weil das auch in keiner Weise merkwürdig war oder irgendwie gruselig wirkte. Das waren die Momente, in denen er eine Ahnung davon bekam, wie es richtigen Rockstars oder Berühmtheiten ergehen musste. Er war gerade mal ein paar Wochen im deutschsprachigen Raum bekannt, wie musste es Leuten gehen, die wirklich auf der ganzen Welt geliebt und gefeiert wurden?

Ihm entging nicht die Ironie, dass er gerade genau das erfuhr, was er sich seit dem Teenageralter gewünscht hatte – dass es ihn aber in diesem Moment nicht die Bohne interessierte, was die Menschen dachten. Als untersetzter Kerl mit etwas, was man im Internet neuerdings als »Dad Bod« bezeichnete – nicht wirklich unsportlich, aber ein Wampenansatz war durchaus zu erkennen –, hatte er sich in den letzten Jahren nicht als Schwarm der Mädchen- und Frauenwelt gefühlt. Und jetzt warfen sie sich ihm an den Hals. Ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, an dem er aus Liebe zu einer anderen vermutlich etwas sehr Dummes tun würde.

Einer der Polizisten, der die Menschenmenge aufhielt, sah zu ihm herüber, offenbar unschlüssig, ob er ihm hinterherrennen sollte, weil er durch die Absperrung gegangen war, oder darauf achten sollte, dass nicht noch mehr Leute auf dumme Ideen kamen. Ihre Blicke kreuzten sich einen Moment, aber dann sah der Polizist über die andere Schulter hinüber zum haushohen Rauhaardackel und schüttelte nur den Kopf.

Von vier provisorisch aufgebauten Gerüsten, die in sicherer Entfernung standen, filmten Fernsehkameras aus allen Himmelsrichtungen das Geschehen. Reporter standen in der Nähe der Schaulustigen und berichteten darüber, was geschah. Eine von ihnen drehte sich mitten im Satz zu ihm um und sah ihn mit einem Gesichtsausdruck an, der so viel ausdrückte wie »Ich hab Journalismus studiert, nur um einem Volltrottel dabei zuzusehen, wie er sich von einem riesigen Hund fressen lässt«.

»Na, schönen Dank auch für die Unterstützung!«, murmelte Otto so leise, dass nur er es hören konnte.

Hinter dem linken Haupt des Rauhaardackels konnte Otto die Überreste der Tankstelle und des Wohnhauses erkennen, die beim Kampf gegen das Biest aus der Unterwelt dran glauben mussten.

Alles schien ihm zu sagen, dass er es lassen sollte.

Er atmete tief durch und machte den ersten Schritt nach vorn.

Das übliche Musikschuldrama

Sechs Monate zuvor

Der Muff des Vortages schlug Otto entgegen, als er die Tür seines Raumes in der Musikschule öffnete. Der Lehrer, der tags zuvor darin Unterricht gegeben hatte, hielt es offenbar nicht für nötig, die Instrumente an die dafür vorgesehenen Plätze zurückzustellen. Oder sein halbgegessenes Baguettebrötchen in den Müll zu werfen. Das lag stattdessen auf der Klappe des Klaviers und versuchte Fliegen zu produzieren. Mit spitzen Fingern fasste Otto es an und warf es in den Müll. Dann öffnete er die Balkontür, um etwas frische Luft in den Raum zu lassen.

Er arbeitete nun schon seit fast sieben Jahren an der Musikschule und hatte Höhen und Tiefen mitgemacht. Zu den Tiefen gehörten sicherlich Dinge wie das halbgegessene Baguettebrötchen, aber auch übervorsorgliche Eltern und absolut desinteressierte Schüler, sodass sich übervorsorgliche Eltern bei ihm beschwerten, warum er sie denn partout nicht dazu bringen konnte, interessiert zu sein. Sicher war meistens nur, dass er irgendwie Schuld hatte. Die Bezahlung reichte zum Leben auch nicht wirklich. Aber zu den Höhen zählte auf jeden Fall, wenn wirklich talentierte Schüler bei ihm anfingen oder er Kindern alte Rock-Klassiker beibringen konnte, an denen sie Spaß hatten. Und das Allergrößte war, wenn Schüler tatsächlich Bands gründeten. Dann hatte er das Gefühl, dass er der Welt etwas bewahrte, was ansonsten vom Aussterben bedroht war: Rockbands.

Immer wieder ertappte er sich bei dem Gedanken, dass die vergangenen zehn Jahre keine große Rockband mehr hervorgebracht hatten. Es gab nur noch Hip-Hop, Electronic Dance und Popmusik. Oder irgendwelche Singer-Songwriter mit ihrem weichgespülten Kram. Bis zu einem gewissen Grad bewunderte er diese sogar, denn immerhin schrieben sie – wie er selbst – eigene Songs, aber er hatte das Gefühl, dass nichts davon mehr richtig Biss hatte.

Seine Gedanken wurden jäh unterbrochen, als er aus den beiden Nachbarräumen die Versuche der Schüler vernahm, ihre aktuellen Stücke zu perfektionieren. »Massakrieren« hätte wohl eher gepasst.

Schräg links gegenüber unterrichtete die russischstämmige Lehrerin Anastasia Gesang. Die Schülerin, die seit drei Wochen die Arie der Königin der Nacht probte, war der Aufgabe schlichtweg nicht gewachsen. Wie er aus Gesprächen mit Anastasia wusste, hatte sie der Schülerin mehrmals gesagt, sie wäre noch nicht so weit, eines der schwersten Gesangsstücke aller Zeiten anzugehen. Aber die Mittzwanzigerin hatte daraufhin einen solchen Trotzanfall bekommen, dass man annehmen musste, es käme zu einem Amoklauf, wenn sie nicht entsprechend unterrichtet wurde. Die Folge war nun, dass Otto regelmäßig zusammenzuckte, wenn die Schülerin statt des hohen F etwas sang, was nur irgendwo in der Nähe lag. Vielleicht wäre es erträglich, wenn es nicht so ein Krächzen gewesen wäre. Interessanterweise schien das Anastasia aber nie die Laune zu verderben. Sie hatte immer ein Lächeln auf den Lippen und organisierte trotz zum Teil fragwürdiger Leistungen ihrer Schützlinge Vorspiele und Konzerte. Sie gehörte wohl zu der Art von Lehrern, denen die große Karriere versagt geblieben war, die aber Erfüllung darin fanden, ihr Wissen weiterzugeben. Otto bewunderte das und fragte sich manchmal, ob er auch so werden könnte. Aber so richtig wollte er den Traum des Rockstars noch nicht aufgeben.

Im anderen Zimmer, genau gegenüber von Ottos Raum, probte der amerikanische Lehrer Dave mit zwei Mädchen im Teenageralter das Stück »Probier’s mal mit Gemütlichkeit« aus dem Film »Das Dschungelbuch« auf dem Saxophon. Otto hätte nicht erkannt, dass es sich um dieses Stück handelte, hätte sein Kollege es ihm nicht vor Wochen verraten, nachdem Otto ihn gefragt hatte, ob die beiden Mädchen sich denn wirklich für Free Jazz interessierten. Nach einem großen Seufzer gab Dave zu, um welches Musikstück es sich handelte und dass die Mädchen es zur Übung viel langsamer und obendrein falsch spielten. Otto fiel auf, dass Daves Augenlid dabei zuckte. Aber das war vielleicht nur Zufall. Dave schien eher zur zweiten Gruppe Musiklehrer zu gehören, nämlich denen, welchen die große Karriere versagt geblieben war und die darüber verzweifelten. Der Amerikaner war zweifelsohne ein guter Jazz-Musiker, aber das Problem mit Jazz-Musik war: Die hörten noch weniger Leute als Rock. Und noch weniger Kinder und Jugendliche hatten Interesse daran, sich dahingehend zu entwickeln. Diese nicht sonderlich guten Aussichten hatten bei etlichen bekannten Leuten des Genres dazu geführt, dass sie sich entweder durch Alkohol oder Drogen das Leben ruinierten. Otto hoffte inständig, dass Dave dies erspart blieb.

Er räumte das Zimmer auf und holte seine Gitarre aus dem Koffer, als die Mutter seines aktuellen Schülers ihr Kind durch die Tür schob.

»Entschuldigen Sie, aber die Parkplatzsituation«, sagte sie gehetzt, als sie ihrem Sohn noch einmal übers Haar strich, während dieser versuchte, sich unter ihr wegzuducken.

»Hallo, Matteo«, sagte Otto zu dem Jungen, der seinen Gitarrenkoffer in die Ecke stellte und die Jacke auszog. »Na, wie geht’s?«

»Ganz gut«, sagte der zwölfjährige Junge. Wie es seinem Lehrer ging, interessierte ihn offenbar nicht.

»Ich warte hier draußen«, sagte die Mutter, als wäre das in den drei Jahren, die Matteo zu ihm kam, jemals anders gewesen. Sie drehte sich um und setzte sich draußen auf einen der Stühle.

Otto hatte noch nie verstanden, weshalb die Mutter ihren Jungen, der bereits an die weiterführende Schule ging, noch immer mit dem Auto zum Gitarrenunterricht brachte, zumal die Musikschule nicht einmal einen Kilometer davon entfernt lag. Allerdings hatte er auch gelernt, dass er solche Dinge lieber nicht ansprach, weil die meisten Eltern darauf sehr empfindlich reagierten. Helikoptereltern wollten in der Regel nicht hören, dass sie Helikoptereltern waren.

Natürlich hatte die Mutter nicht die Tür geschlossen. Für sie war das die Aufgabe des Lehrers, der damit den Unterricht einläutete. Otto ging also zur Tür, während Matteo begann, seine Gitarre auszupacken, und sah, wie im Raum gegenüber Dave gerade die beiden Schülerinnen verabschiedete. Die Blicke von Dave und Otto trafen sich, und nach einem kurzen Begrüßungsnicken seufzten sie beide simultan. Dann rief Dave den nächsten Schüler herein, und Otto schloss die Tür.

Er zog sich einen Stuhl zurecht und setzte sich hin. Bin gespannt, welche Ausrede er diese Woche hat, warum er nicht üben konnte, dachte Otto und fragte: »Und? Bist du mit dem Stück weitergekommen?«

»Ich hatte keine Zeit zu üben«, sagte Matteo.

Otto nickte wissend.

»Wir hatten ganz viele Hausaufgaben. Und am Freitag hatten wir eine Klassenarbeit. Außerdem musste ich für gestern noch einen Vortrag vorbereiten.«

»Hm-mh«, sagte Otto.

Matteo schaute ihn an. »Wirklich!«

»Ja, okay. Schon gut«, sagte Otto und versuchte, dabei ehrlich zu wirken, aber innerlich tat es ihm jedes Mal ein wenig weh, wenn einer seiner Schüler ihn anlog.

Von nebenan ertönte ein quietschender Saxophon-Sound, und sowohl Matteo als auch Otto zuckten kurz zusammen.

»Kann man denn die Räume nicht mal dämmen?«, fragte der Junge, als er sich hinsetzte. »Die Leute von nebenan zu hören ist schlimm genug, aber die spielen ja auch noch falsch. Wie soll man sich da konzentrieren?«

Otto musste schmunzeln, denn Matteo war ja auch kein Virtuose auf seinem Instrument. »Ja, man würde sich wünschen, dass die Schüler mehr üben, dann würden sie nicht so oft falsch spielen.«

Matteo nickte. Offenbar ging der kleine Hinweis völlig an ihm vorbei.

»Nimm mal deine Gitarre in die Hand«, sagte Otto. »Wenn du erstmal spielst, dann fällt das gar nicht mehr so auf.«

Natürlich kam aus dem Nachbarraum genau in diesem Moment das Geräusch des Saxophonsolos von »Careless Whisper«, als würde es durch den ausgestopften Körper eines röhrenden Hirschs gespielt, der ein Kazoo verschluckt hatte.

Bis sie mit dem eigentlichen Unterricht beginnen konnten, vergingen noch ein paar Minuten. Die Gitarre war natürlich noch nicht gestimmt, obwohl das so abgesprochen war. Und jedes Mal, wenn ein Saxophon quietschte, zog das das Stimmen noch mehr in die Länge.

Seit ein paar Wochen spielte Matteo ein Stück von Ed Sheeran. Otto war das sehr recht, denn dessen Stücke waren in der Regel recht einfach gestrickt. Simple Akkorde, die gut für Anfänger geeignet waren. Matteo gelang es trotzdem immer wieder, daneben zu greifen. Geduldig erklärte Otto ihm, wie er sich mit einem Barré-Griff die Sache viel leichter machen konnte. Er hatte dasselbe schon in der Woche zuvor erklärt, aber offenbar hatte Matteo das Ganze über das Nicht-Üben wieder vergessen.

»Ich kriege das nicht hin«, sagte Matteo.

»Deswegen ist es so wichtig, dass du übst«, erwiderte Otto, aber Matteo wirkte plötzlich eingeschnappt.

»Ich will ja üben, aber ich komme nicht dazu!«

Diese Diskussion führten sie alle paar Wochen wieder. Otto lehnte sich zurück und seufzte. »Sicher, du hast an keinem Tag der Woche mal fünfzehn Minuten Zeit, um ein wenig zu üben.«

»Wirklich!«

Okay, dachte Otto, dann eben noch einmal. »Am Wochenende?«

»Da muss ich zum Fußball. Oder wir besuchen Oma.«

»Und nach der Schule in der Woche? Immer irgendwelche Vorträge vorbereiten, für Klassenarbeiten lernen und Hausarbeiten, richtig? Weil du jede Woche irgendwelche Vorträge und Klassenarbeiten hast, ja?«

Matteo schaute verärgert.

»Ich weiß, ihr habt alle in der Schule viel zu tun«, sagte Otto, »aber sei doch mal ehrlich: Wenn du Zeit hast, dann spielst du doch bestimmt mit deinen Freunden Ovamorrow oder irgendeinen anderen Shooter, der gerade angesagt ist. Und da mal etwas Zeit abzuzwacken, um Gitarre zu üben, ist nicht drin?«

Nun sah Matteo ertappt aus. »Ich muss doch meinen Clan unterstützen.«

»Seit wann sind eigentlich die knallbunten Shooter cooler geworden, als ein Instrument zu spielen?«, fragte Otto rhetorisch.

An Matteo gingen allerdings die Feinheiten rhetorischer Fragen vorbei, und er entgegnete, dass Computerspiele eben mehr Spaß machten.

»Ja, ich weiß«, sagte Otto seufzend. »Ich meine ... ich habe vor zwanzig Jahren selbst nach der Schule mit meinen Kumpels immer Octagoon gespielt.«

»O Gott«, sagte Matteo.

»Schon klar, für dich ist das, als hätte ich bei den alten Griechen gelebt. Aber damals war das eben der heiße Scheiß, und wenn man so will, ist Octagoon der Großvater der heutigen Ballerspiele. Der Unterschied ist eigentlich nur, dass damals die Grafiken viel schlechter waren.«

Das stimmte. Während bei Octagoon die Leute aussahen, als würden sie über eine blockige Landschaft fliegen, sah Ovamorrow aus, als wäre man in einem animierten Disneyfilm. Einem sehr, sehr gewalttätigen Disneyfilm.

»Trotzdem habe ich immer Gitarre geübt, denn man wird kein Rockstar, wenn man nicht übt«, sagte Otto.

Matteo sah ihn unsicher an. So als wüsste er nicht, wie er Otto beibringen sollte, dass er immer noch kein Rockstar war.

»Ja, schon gut«, sagte Otto. »Aber was nicht ist, kann ja noch werden.«

»Trittst du denn irgendwo auf?«, fragte Matteo.

»Natürlich tue ich das. Dachtest du, dass ich nur Gitarrenlehrer bin?«

Matteo nickte zögerlich.

»Nein, ich habe eine Band, und wir treten an Wochenenden öfter mal auf. Ich schreibe sogar meine eigenen Songs.«

»Wow«, sagte Matteo. »Wo streamt ihr denn?«

»Streamen?«

»Na ja, im Internet. Ihr streamt doch bestimmt eure Auftritte?«

»Hm … auf die Idee sind wir noch gar nicht gekommen. Wir treten einfach ... hier und da mal auf.«

Irgendwie wollte Otto nicht über die Lippen kommen, dass seine Band hauptsächlich auf Dorffesten auftrat. Es tat weh, sich einzugestehen, dass er mit seinen 32 Jahren noch immer kein Rock-Gott war.

»Hm«, machte Matteo. »Trotzdem komme ich eben einfach nicht zum Üben.«

»Ich verstehe schon«, sagte Otto. »Du willst Zeit mit deinen Freunden verbringen, und wenn du nicht mit denen Ovamorrow spielst, bist du halt irgendwie außen vor.«

Matteo nickte.

»Aber wenn du dann und wann mal eine halbe Stunde weniger rumballern würdest, hättest du auch Zeit zum Üben.«

Matteo ließ die Schultern hängen. »Aber ... aber so gut wie die Leute bei GNTB werde ich doch eh nie.«

Otto zuckte zusammen. »Germany’s Next Top-Band« oder kurz »GNTB« war eine dieser Shows im Fernsehen, in denen Musiker versuchten, Aufmerksamkeit zu erhaschen, und sowohl Otto selbst als auch alle Musiker, die er kannte, hassten die Sendung, weil sie im Grunde den Kindern sagte: »Schaut mal, heute könnt ihr nur noch bekannt werden, wenn ihr generische Lieder vor einer Jury singt, die euch beleidigt.«

»Du könntest so gut werden wie die Leute bei GNTB, wenn du mal üben würdest«, sagte Otto diplomatisch.

»Meinst du echt?«, fragte der Junge.

Otto nickte. »Die kommen da nur hin, weil sie immer geübt haben.« Und sich verkauft haben, fügte er im Geiste hinzu.

Matteo schien darüber nachzudenken. Otto stupste ihn an und zeigte ihm dann noch einmal, wie er den Griff auf der Gitarre besser wechseln konnte. Matteo schien ihm jetzt mehr Aufmerksamkeit zu widmen und probierte weiter, seinen Zeigefinger quer über den Gitarrenhals zu legen, als es draußen auf dem Gang plötzlich einen erschreckten, spitzen Aufschrei gab.

»Mama?«, fragte Matteo und schaute besorgt zu Otto, als würde er auf die Erlaubnis warten, rausrennen zu dürfen.

Otto nickte in Richtung Tür.

Matteo legte die Gitarre ab und öffnete die Tür. Otto konnte erkennen, dass Matteos Mutter auf einem der Stühle saß und auf ihr Handy starrte.

»Ist alles okay, Mama?«, fragte Matteo, und die Türen der anderen Räume gingen ebenfalls auf.

Otto blieb auf seinem Stuhl sitzen, weil es der Frau offensichtlich gut ging. Durch die Tür sah er, wie die Mutter ihrem Sohn etwas auf dem Handy zeigte.

»Ist das ein neuer Film?«, fragte der.

»Nein, das passiert gerade. In Berlin.«

»Was ist denn los? Alles gut?«, fragte die Gesangslehrerin Anastasia von schräg gegenüber in ihrem russischen Akzent.

Wild gestikulierte die Mutter und schob ihr das Handy hinüber. Otto sah, wie Anastasia die Stirn runzelte.

»Was soll das? Ist Computergrafik«, sagte sie.

»Nein, eben nicht, das ist ja das Verrückte.«

Dave trat nun ebenfalls dazu und starrte fasziniert auf das Handy der Mutter.

Anastasia ging zurück in ihren Raum und holte ihr eigenes Handy aus der Handtasche, um dann im Flur darauf zu schauen. »O mein Gott!«, rief sie plötzlich.

Nun wurde es Otto zu bunt. Er stand ebenfalls auf und schaute, was die Mutter zu zeigen hatte, während sein Handy in der Hosentasche brummte.

Auf dem Handy lief ein Video von einer Straßenkreuzung, deren Mitte eingestürzt war und auf der ein riesiger dreiköpfiger Rauhaardackel die davonrennenden Menschen anfauchte.

»Ist das echt?«, fragte er ungläubig, und Anastasia hielt darauf ihr Handy in die Runde, auf dem eine aktuelle Sondersendung der Nachrichten lief.

Die Nachrichten I

Vor einem Studiohintergrund, der in einem marktforschungsgruppengerechten Graublau gehalten war, standen ein Nachrichtensprecher mittleren Alters und eine jüngere Kollegin und warteten auf das Ende des nachrichtentickerartigen Musikintros. Der Nachrichtensprecher sah aus, als hätte ihm jemand die Frisur an den Kopf getackert. Der Anzug, den er trug, war absolut nicht bemerkenswert, aber um das auszugleichen, hatte er offenbar die hässlichste Krawatte angezogen, die er finden konnte, ein Stoffungetüm, welches aus der unheiligen Verbindung einer 70er-Jahre-Tapete mit einem Modedesigner ohne Geschmack hervorgegangen zu sein schien. Am unteren Ende des Bildes wurde der Name des Sprechers eingeblendet: »Ulrich Motzenbäcker im Studio in Berlin«. Mit ernstem Gesicht begrüßte er die Zuschauer.

»Guten Tag, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer. Das Thema heute: ›Monster in Berlin?‹ Mit mir im Studio Petra Sühlfleisch.«

»Hallo«, sagte die deutlich jüngere Nachrichtensprecherin und zuckte mit den Mundwinkeln, als wüsste sie nicht, ob sie freundlich lächeln oder besonders ernst schauen musste. Oder was sie von der Anmoderation halten sollte.

»Es sind Bilder, die uns erschüttern«, sagte Motzenbäcker mit besonders betroffenem Gesicht in die Kamera. »Bei Arbeiten an einer U-Bahnstrecke in Berlin sind Bauarbeiter auf ein riesiges Tier gestoßen. Nach Augenzeugenberichten ist es ungefähr zehn bis fünfzehn Meter hoch und sorgte für den Einsturz der Straßendecke an der Heerstraße in Berlin-Spandau. Was danach folgte, haben einige Augenzeugen mit ihren Handys festgehalten. An dieser Stelle eine Warnung an die Zuschauer. Die Bilder, die Sie jetzt sehen werden, zeigen Gewalt und Verletzungen und sind besonders für jüngere Zuschauer nicht geeignet.«

Man spielte wackelige Bilder ein, die zeigten, wie der große dreiköpfige Rauhaardackel aus einem eingestürzten Loch im Boden kam und in alle Richtungen schnappte. Ein paar Bauarbeiter rannten aus der Grube, wobei einer von einem Kopf des Tieres geschnappt, herumgewirbelt und dann wie eine Puppe durch die Luft geschleudert wurde. Ein weiteres Video zeigte einen verletzten Bauarbeiter, der von der Einsturzstelle wegkroch, wobei einer der Rauhaardackelköpfe in seine Richtung blickte und knurrte, während ein paar Leute von der Straße versuchten, näher an den Mann zu kommen, um ihm zu helfen.

Wieder im Studio, schaltete man auf die Moderatorin, die ein betroffenes Gesicht machte. »Schlimme Bilder, die uns da heute um die Mittagszeit erreichten. Mittlerweile ist unsere Reporterin Laura Gurgel vor Ort.«

Das Bild teilte sich. Auf der linken Seite war die Moderatorin zu sehen, rechts Laura Gurgel, hinter der in sicherem Abstand der Rauhaardackel zu erkennen war, der sich gerade mit der Hinterpfote hinter seinen drei Köpfen kratzte.

»Hallo, Petra«, sagte die Reporterin.

»Wie ist die Lage vor Ort, Laura?«

»Nach dem anfänglichen Angriff des riesigen ... Hundes scheint sich das Ganze wieder etwas beruhigt zu haben. Das Tier scheint weiter den Eingang zur Baustelle der U-Bahn zu bewachen und vermittelt nicht den Eindruck, als würde es die Gegend verlassen wollen. Vereinzelte Polizisten haben versucht, es zurückzudrängen, aber es scheint so, als beginne das Tier erst dann aggressiv zu werden, wenn man sich der Grube auf wenige Meter nähert.«

»Kann man schon genauer sagen, um was es sich bei dem Tier handelt?«, fragte die Moderatorin.

»Abgesehen davon, dass es aussieht wie ein dreiköpfiger Rauhaardackel, kann man bisher nur spekulieren. Ein paar Leute hier vor Ort und auch in den sozialen Medien vermuten, dass es sich bei dem Tier um einen entfernten Verwandten von Kerberos – oder auch Cerberus –, den Höllenhund der griechischen Mythologie, handeln könnte, der den Eingang zur Unterwelt bewacht – oder sogar um Cerberus selbst. Diese ... hoffentlich abwegige Hypothese rührt aber lediglich daher, dass der Cerberus als Hund mit drei Köpfen beschrieben wurde. Bis man das näher untersuchen kann, muss es wohl Spekulation bleiben.«

»Sie haben gerade eben schon die Polizei erwähnt. Gibt es dort irgendwelche Erkenntnisse? Wie reagieren die Ordnungskräfte?«

»Die Polizei ist mit einigen Mannschaftswagen, Wasserwerfern und auch einem Panzerwagen angerückt, hat sich bislang aber größtenteils darauf beschränkt, den Bereich zu sichern. Der bereits erwähnte Versuch, sich dem Tier zu nähern, endete damit, dass eine Polizistin verletzt wurde. Als einer ihrer Kollegen ihr helfen wollte, attackierte das Tier ihn ebenfalls, dabei machte er Gebrauch von seiner Dienstwaffe. Allerdings schienen die Kugeln dem Tier nichts auszumachen.«

»Hat man die Polizisten retten können?«

»Beide Polizisten haben es mit relativ leichten Verletzungen aus der Zone herausgeschafft, die das Tier offenbar für sich beansprucht. Man hat das Tier mit Wasserwerfern so lange ablenken können, dass einige Feuerwehrleute sie bergen konnten. Allerdings ist jetzt das erweiterte Umfeld des Tieres nass, nachdem es sich geschüttelt hat. Auch dabei wurde ein Polizist leicht verletzt, als ihn ein großer Wasserschwall von den Füßen riss. Eine Sprecherin äußerte später, dass man nun zunächst einmal die Situation analysieren will, bevor man noch einmal vorschnell handelt und es zu einem ähnlichen Unglück kommt. Man bittet die Bevölkerung darum, sich vom Einsatzort fernzuhalten. Allerdings scheint der Aufruf bisher ins Leere zu gehen, denn immer mehr Schaulustige finden sich ein.«

»Das Tier ist ja während der Bauarbeiten an der Verlängerung der U7 in Berlin entdeckt worden. Hat man von besagten Bauarbeitern bisher eine Stellungnahme gehört?«

»Ja, mir ist es vor einigen Minuten gelungen, ein kurzes Interview mit einem der beteiligten Bauarbeiter zu führen.«

Das Bild wechselte zu einem Einspieler, in dem ein Mann um die Fünfzig, dessen Haut den Eindruck machte, als würde er abends gerne mehr als ein Bier trinken, seinen Helm abnahm und die Stirn wischte. Mit verstörtem Blick schaute er in die Kamera und wirkte dabei so, als käme er geradewegs aus einem Kriegsgebiet.

»Was können Sie uns über den Vorfall sagen?«, fragte Reporterin Gurgel den Mann.

»Wir haben mit der S-788 gebohrt, und alles lief gut, als das Ding plötzlich nach vorne wegbrach. Das muss man sich mal vorstellen! Ich meine, allein der Bohrkopf wiegt fast sechzig Tonnen. Wir konnten da gar nicht ... also wir wussten nicht ... und dann hörten wir plötzlich das Knurren. Die Maschine war einfach weg. Überall Staub. Und dann hat sich das Vieh den Harry geschnappt ... und den Selim. Und dann brach wegen der Erschütterungen alles ein. Nur ein paar von uns haben es über die Trümmer nach oben geschafft, und immer das knurrende Vieh hinter uns.«

Die Sendung schaltete wieder zurück zu Moderatorin und Reporterin, die sagte, der Arbeiter werde in psychologische Behandlung gebracht.

»Ich muss hier kurz einhaken«, unterbrach plötzlich der Moderator die Sendung. »Wir erhalten gerade die Meldung, dass der Vorfall in Berlin kein Einzelfall gewesen ist. Offenbar sind heute an mehreren Stellen der Welt merkwürdige Tiere aufgetaucht, die, soweit man es im Moment beurteilen kann, der griechischen Mythologie entspringen.«

Während er weitersprach, zeigte man Amateuraufnahmen, die mit Handy- oder Videokameras aufgenommen wurden.

»In der chinesischen Provinz Gansu wurde eine Sphinx gefilmt, welche eine Straße gesperrt hat und Personen Rätselfragen stellt. Am anderen Ende der Welt in Peru landete auf einem Feld gleich ein ganzer Schwarm geflügelter Pferde. Oder eine Herde. Entschuldigen Sie bitte, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, ich bin mir nicht sicher, wie der korrekte Ausdruck für eine Gruppe von geflügelten Pferden lautet.«

»Pegasusse«, warf Frau Sühlfleisch ein und zuckte dabei mit den Schultern.

»Wäre die Mehrzahl da Pegassi? Oder vielleicht eher Pegasoi?«, überlegte der Moderator. »Aber die eigentliche Frage ist doch, ob das dann eine Herde, ein Schwarm … oder ein Rudel Pegasoi …?«

»Eine Rotte?«

»Ein Schoof?«, fragte der Moderator und hielt sich kurz darauf einen Finger ins Ohr, als würde er gerade Anweisungen aus der Regie bekommen. Dann sagte er wieder mit ernstem Gesicht: »Wir verschieben diese Frage auf ein anderes Mal.«

Es wurde noch einmal zu Sühlfleisch geschaltet.

»Ursprünglich wurde auch darüber berichtet, dass in Kleinmachnow in Brandenburg eine Chimäre gesehen wurde. Mittlerweile geht die örtliche Polizei aber davon aus, dass es sich hierbei um ein Wildschwein handelt.«

Fabelwesen und Götter

Draußen war es bereits dunkel, als Otto die Tür von Rikes Wohnung aufschloss, die sie seit etwa drei Jahren gemeinsam bewohnten. Er trat ein, schloss die Tür und legte sein Schlüsselbund auf das kleine Schränkchen neben der Tür, lehnte den Gitarrenkoffer daran und zog dann die Schuhe aus, um sie auf das kleine, metallene Schuhregal daneben zu stellen.

»Hallo?«, fragte er in die Wohnung hinein, weil er sich wunderte, dass ihn seine Freundin nicht begrüßte, wie sie es üblicherweise tat.

Rike arbeitete in der Marketingabteilung eines Online-Pflanzenhändlers und hatte reguläre Bürozeiten von neun bis fünf. Was bedeutete, dass sie deutlich früher aus dem Haus musste und deutlich früher nach Hause kam als er. In der Regel war sie es also, die ihn abends an der Tür begrüßte, während er noch damit beschäftigt war, sich der Dinge, die man am Tag so brauchte, zu entledigen. Doch sein Ruf in die Wohnung brachte keine Antwort, obwohl am Ende des Flurs Licht aus dem Wohnzimmer kam. Er hörte das dumpfe Gemurmel des Fernsehers, und als er durch die Tür trat, sah er Rike auf der Couch sitzen, noch in ihrem schicken dunklen Hemd mit den roten Punkten drauf und der guten Stoffhose, die sie oft zur Arbeit trug. Sie starrte ungläubig den Fernseher an.

»Schönen guten Abend«, sagte er im Türrahmen stehend.

Sie drehte sich verwirrt zu ihm um und musste eine Strähne ihres kastanienroten Haares hinter das Ohr schieben, um ihn zu betrachten. »Oh, tut mir leid. Ich habe gerade Nachrichten gesehen und ... hast du das mitbekommen? Ist das nicht verrückt?«

»Du meinst die Sache mit den mythologischen Monstern?« Er lächelte breit und schaute zum Fernseher, der den dreiköpfigen Rauhaardackel zeigte, der sich mit einem Kopf putzte, mit einem Kopf gähnte und mit dem dritten Kopf hechelte.

»Ja ... ich meine ... also Monster muss man da vielleicht in Anführungsstriche setzen, aber ... das ist alles echt!«, sagte Rike, offenbar völlig überrumpelt von der ganzen Situation.

»Total abgedreht, oder? Ich meine ... ein Riesendackel! Ich hätte ja auf was Cooleres gehofft, wie zum Beispiel eine riesige Echse. Oder einen Riesenskorpion! Meinst du, dass der sich von Strahlung ernährt?«

Rike runzelte die Stirn. »Das ist nicht Godzilla.«

»Ich weiß«, sagte Otto und setzte sich neben sie. »Aber Godzilla wäre cooler gewesen. Und von irgendwas muss der sich ja ernähren. Irgendwie muss er ja so groß geworden sein.«

Rike schaute bestürzt zum Fernseher. »Bauarbeiter scheinen wohl seine Mahlzeit zu sein.«

»Ein Glück, dass wir da bessere Jobs haben, was?«, erwiderte Otto, und Rike schaute ihn an, als würde sie in Frage stellen, dass sein Job in diese Kategorie passte. »Hallo übrigens«, sagte Otto und gab Rike einen flüchtigen Kuss auf die Lippen, woraufhin sie gleich wieder zum Fernseher schaute.

»Aber es ist ja nicht nur dieser komische Hund«, sagte sie. »Auf der ganzen Welt tauchen anscheinend irgendwelche Monster auf. Und so wie es aussieht, stammen alle aus der griechischen Mythologie. Da fragt man sich schon, was eigentlich los ist. Und ob das auch bedeutet, dass es die griechischen Götter wirklich gibt.«

»Dass es Göttinnen auf der Welt gibt, weiß ich doch, weil ich eine auf der Couch sitzen habe«, sagte er, zog eine Augenbraue hoch und versuchte, verführerisch zu lächeln, wobei ihm eher die Imitation eines gruseligen Onkels gelang, der unpassende Dinge zu Minderjährigen sagte.

Rike runzelte ihre blasse Stirn. »Diesen komischen Blick solltest du lieber lassen.« Trotzdem zog sie ihn an sich. »Aber Komplimente kannst du mir öfter machen.«

Sie küssten sich, und diesmal trafen sich ihre Lippen richtig.

»Ich versuche es mir zu merken«, sagte Otto, als er wieder aufstand.

»Was du dir übrigens auch merken kannst«, sagte Rike, »wäre, dass du deine Gitarre abends bitte wegräumst, bevor du ins Bett kommst. Ich musste das Ding vorhin schon wieder wegstellen.«

Sie zeigte in Richtung der Heizung, wo eine Stratocaster angelehnt war.

»Nicht an die Heizung!«, sagte Otto und stürzte hinüber, um sie zu retten. »Warum stellst du sie denn nicht ins Musikzimmer?«

Rike atmete tief durch. »Das Musikzimmer ist eigentlich mein Arbeitszimmer. Nicht, dass ich es vor lauter Gitarren noch benutzen könnte. Und da hineinstellen kannst du sie selber, weil ich dir nicht immer alles hinterherräumen möchte.«

Otto seufzte und huschte schnell ins Nachbarzimmer, um die Gitarre in den dafür vorgesehenen Ständer zu stellen.

»Und wenn du es schon Musikzimmer nennst, warum spielst du dann abends nicht da noch ein wenig statt im Wohnzimmer? Dann würdest du die Gitarre auch nicht hier liegen lassen.«

Otto kam zurück ins Wohnzimmer gelaufen und biss sich auf die Lippe, weil er nicht zugeben wollte, dass er mittlerweile im Arbeitszimmer keinen Platz mehr hatte, weil dort zu viele Gitarren standen. »Ich gelobe Besserung«, war alles, was er herausbrachte.

Rike drehte sich kurz zu ihm um und murmelte lediglich: »Hm-mh.«

Im Fernsehen erzählte der Nachrichtensprecher, wie unterschiedlich die weltweiten Reaktionen auf die mythologischen Kreaturen ausfielen. In Japan befürchtete man wohl Angriffe von weiteren Kaiju, also anderen Arten von Riesenungeheuern.

»Siehste, siehste!«, rief Otto. »Die glauben auch, dass Godzilla vielleicht noch kommt.«

In den Nachrichten wurde berichtet, dass in den sozialen Netzwerken eine Diskussion darüber ausgebrochen war, inwieweit das Erscheinen von Kreaturen aus der griechischen Mythologie Auswirkungen auf die Religion haben könnte. Es wurden Bilder vom Petersplatz in Rom gezeigt, wo sich mehrere tausend Leute eingefunden hatten, um auf eine Stellungnahme des Vatikans zu warten. Der Nachrichtensprecher sagte, dass sich in Berlin nicht nur der Senat zu einer Sondersitzung einfinden würde, um über das weitere Vorgehen zu beraten, sondern auch der Bundestag.

»Das ist doch absolut verrückt«, sagte Rike und griff nach der Kette mit dem Kreuz, welche sie um den Hals hängen hatte. »Hast du das von den fliegenden Pferden gehört?«

Otto nickte.

»Was kommt als Nächstes? Einhörner?«

»Sind Einhörner griechischen Ursprungs?«

Rike zuckte mit den Schultern.

»Wie war denn eigentlich dein Tag?«, fragte Otto und setzte sich auf die Kante der Couch.

»Kann ich dir gleich erzählen, komm erstmal an und mach dich schlumpig.« Sie lächelte ihn kurz an, schielte dann aber wieder herüber zum Fernseher.

Otto hatte immer noch seine Jacke und Arbeitskleidung an, wenn man denn bei Lederjacke, Jeans und flauschigem Flanellhemd von Arbeitskleidung reden mochte. Aber als Rockmusiker hatte man eben einen gewissen Stil zu pflegen.

»Und was ist mit dir? Du hast dich doch auch noch nicht umgezogen.«

Rike winkte ab. »Ach, ich will hier noch kurz schauen, was los ist, und gehe dann vermutlich bald ins Bett.«

»Ach schade, ich dachte, wir könnten noch etwas auf der Couch kuscheln.«

»Heute nicht, das nimmt mich hier alles zu sehr mit.« Sie zeigte auf den Fernseher.

»Hast du schon gegessen?«, fragte Otto, während er in Richtung Wohnzimmertür ging.

»Ja, ich war vorhin mit den Kollegen. Mach dir einfach irgendwas. Ich brauche heute nichts mehr.«

»Kannst du mir zwei Stullen schmieren? Bitte?«, fragte er Rike.

Die schaute stirnrunzelnd zu ihm herüber. »Schmier dir doch deine Stullen selber.«

Otto stöhnte. »Ich komme aber gerade von der Arbeit und will mich auch mal lang machen. Ich bin echt erledigt.«

»Und ich nicht, oder was?«

»Du bist ja schon eine Weile daheim und konntest dich ausruhen.«

»Ja, und?«

»Es wäre halt einfach lieb.«

»Ich bin nicht deine Mutter, und du nicht sechs Jahre alt. Außerdem interessiert mich das im Fernsehen gerade.«

»Meine Güte, ist ja gut, ich hab ja nur gedacht, dass du vielleicht so nett wärst, wenn ich schon so spät nach Hause komme, weil ich noch Geld verdienen musste.«

»Ernsthaft jetzt?« Rike sah ihn mit erhobener Augenbraue an. »Willst du jetzt wirklich eine Diskussion darüber anfangen, wer hier das Geld in die Beziehung bringt? Oder wer schon morgens auf Arbeit ist, während der andere bis mittags schlafen kann?«

»Ich sage ja, ich mache mir die Stullen selber.«

Rike stand auf und ging auf ihn zu. »Nein, nein. Schon gut. Ich bin ja offenbar ausgeruht. Brauchst du noch irgendwas? Soll ich dir ein Steak braten? Oder Canard à l’Orange zubereiten?«

Otto seufzte. »Ich kümmere mich gleich selber.«

»Jetzt bin ich schon aufgestanden«, sagte sie und ging an ihm vorbei in die Küche.

Er hingegen schlurfte ins Schlafzimmer, um sich seiner Tageskleidung zu entledigen und bequemere Sachen anzuziehen – eine Trainingshose und ein T-Shirt, die mehr Löcher aufwiesen als der Käse, der auf seinen Broten landen sollte.

Rike legte gerade letzte Hand an und schnitt noch ein paar Tomatenscheiben auf, um sie auf die bereits mit Wurst und Käse belegten Stullen zu tun, als er in die Küche kam, ihre Haare etwas beiseitezog und sie dann in den Nacken küsste. »Vielen Dank, mi corazón.«

Sie lächelte, konnte sich aber einen gewissen Ton nicht verkneifen. »Reinbringen kannst du es aber selber, oder bist du dafür auch zu erschöpft, Osito?«

»Nein, das kriege ich schon hin.« Er nahm das Stullenbrett und folgte ihr ins Wohnzimmer. »Und siehst du ... ich hätte das nie so schön gemacht, mit Tomate und allem.«

»Na, irgendwas Gesundes musst du ja mal essen. Wenn du erst abends nach Hause kommst und dann Chips und Schokolade frisst, wird das mit deinem Bäuchlein nie besser.«

Otto fühlte einen kleinen Stich im Herz. Rike schien zu bemerken, dass sie vielleicht etwas zu weit gegangen war.

»So war es nicht gemeint, Bärchen. Du weißt, ich mag dein Bäuchlein«, sagte sie, während sie ihm über selbiges strich. »Trotzdem musst du etwas auf deine Gesundheit achten.«

Otto seufzte und nickte. Dann gingen sie beide zurück zur Couch.

»Du kannst dir beim nächsten Mal deine Stullen trotzdem selber schmieren«, schob sie nach, während sie sich setzte.

Im Fernsehen lief immer noch die Sondersendung über die mythologischen Kreaturen. Mittlerweile interviewte man Bewohner der peruanischen Metropole Lima, die sich darüber beschwerten, dass die Herde von geflügelten Pferden über der Stadt ihre Runden zog und sich dort entleerte.

»Schätze, in Lima regnet es Pferdeäpfel«, sagte Rike.

Otto hatte gerade abgebissen und antwortete mit vollem Mund: »Genau das richtige Thema zum Abendessen.«

»Man kann wohl von Glück sagen, dass die Griechen keine fliegenden Elefanten hatten.«

Otto hörte kurz auf zu kauen und sah Rike an.

»Was denn? Ist doch wahr ... wenn jetzt alles aus der griechischen Mythologie wahr wird, dann wäre das doch schlimm. Ich überlege schon die ganze Zeit, was die noch so für Fabelwesen hatten. Gab’s da nicht auch so Typen mit Pferdekörpern?«

»Zentauren«, sagte Otto, als er heruntergeschluckt hatte.

»Sowas. Ich meine, da will man sich ja auch nicht vorstellen, wie die überhaupt ... na du weißt schon.«

»Was jetzt genau?«

»Na, ich sag mal so ... die müssen ja irgendwo herkommen.«

»Wahrscheinlich da, wo die fliegenden Pferde und dieser Riesendackel auch herkommen.«

»Das meinte ich nicht ... ich meinte ... Mensch, Pferd ... wer hat denn da mit wem ... und so.«

Otto schmunzelte. »Vor allem fragt man sich, wie das Kind eigentlich aussieht. Ich meine, so ein Babytorso auf einem Fohlenkörper ist ja auch irgendwie albern. Kann noch nicht sprechen oder den Kopf von allein oben halten, aber rennt schon über die Wiese. Oder was ist, wenn sich mal einer ein Bein bricht? Gibt man dem dann auch den … Gnadenschuss?«

»Was ich mich frage«, sagte Rike und wirkte so, als hätte sie Angst vor dem, was sie gleich sagen würde, »wenn dieser Riesendackel da tatsächlich den Eingang zur Unterwelt bewacht, dann heißt das doch, dass es die griechische Unterwelt gibt, oder? Und wenn Verstorbene nach dem Tod in die Unterwelt kommen, heißt das dann, dass es keine Hölle gibt? Und wenn es die Hölle nicht gibt, gibt es dann vielleicht auch keinen Himmel? Oder Gott?«

»Den es ja ohnehin nicht gibt«, sagte Otto und schaute auf die Kette mit dem Kreuz um Rikes Hals. »Aber ich schätze, ich habe gerade begriffen, weswegen so viele auf eine Äußerung vom Papst warten«, meinte Otto, biss ein weiteres Mal ab und deutete auf den Fernseher, wo erneut Bilder vom Petersplatz zu sehen waren.

Rike grübelte.

Otto schob nach: »Vielleicht sollten wir was anderes schauen? Wenn Godzilla doch noch kommt, kriegen wir das wahrscheinlich schon irgendwie mit. Ansonsten betrifft uns das Ganze ja ohnehin nicht.«

Rike sah ihn erstaunt an. »Spinnst du jetzt?«

»Was?«, erwiderte er.

»Ist dir nicht klar, was das für die ganze Welt bedeutet?«

Otto zuckte mit den Schultern. »Mehr coole Tierarten auf der Welt?«

Rike schüttelte ungläubig den Kopf. »Hier werden ganze Weltreligionen in Frage gestellt, und du tust so, als ginge es nur um die Fauna.«

Otto verdrehte die Augen. »Sieh es doch mal so ... Leute haben schon Ewigkeiten an Gott, Allah oder sonst wen geglaubt, obwohl es dafür keine schlüssigen Beweise gab. Deswegen heißt es ja Glaube und nicht Wissen. Warum sollte ich sich daran etwas ändern, nur weil plötzlich Godzilla über die Erde latscht?«

»Es geht hier nicht um Godzilla. Es geht um Wesen aus der griechischen Mythologie. Und dass es vielleicht bedeutet, dass auch die griechischen Götter echt sind.«

»Willst du mir etwa sagen, dass du plötzlich nicht mehr an einen netten Herrn mit Bart glaubst, der dich total liebt, aber dich wirklich doll bestraft, wenn du nicht misogyn, homophob und generell intolerant bist, weil plötzlich irgendwelche fliegenden Pferde in Peru den Leuten auf den Kopf kacken?«

»Ich habe dir schon hundertmal gesagt, dass du dich nicht über meine Religion lustig machen sollst.«

»Tu ich ja nicht, das schafft sie ja schon selber.«

Rikes Lippen wurden schmal, und sie begann zu schnaufen. Plötzlich nahm sie eine Stulle vom Brettchen, warf sie Otto ins Gesicht und ging davon.

»Rike ... warte ... Rike!«, rief Otto, aber sie war schon verschwunden. »Schade um die schöne Stulle«, murmelte er, hob die Teile sorgsam wieder auf und legte sie auf das Brettchen. Dann ging er Rike hinterher ins Schlafzimmer, wo sie sich auf ihrer Seite des Bettes zusammengerollt hatte.

»Geh weg, ich will dich jetzt nicht sehen«, sagte sie.

Die Situation war nicht neu für ihn. Über die Jahre, die sie jetzt zusammen waren, waren sie immer wieder mal in Glaubensfragen aneinandergeraten. Meistens, weil er sich nicht verkneifen konnte, eine blöde Bemerkung zu machen, das musste er selbst zugeben. Besonders wenn sie eine Kirche besuchten, wie zu Weihnachten oder Ostern. Rike nahm ihre Religion ernst, verstand aber durchaus die Kritik, die man als Atheist daran haben konnte. Immerhin war sie Protestantin, die sich die meiste Zeit nicht sehr um die Kirche scherte, und keine Hardcore-Katholikin, die jeden Sonntag in die Kirche musste. Auf dieser Basis hatten sie es immer wieder geschafft, sich zusammenzuraufen, wenn es zu einem Streit gekommen war.

Otto ging hinüber zum Bett und legte sich auf seine Seite. Ihr Rücken war ihm zugewandt, er rutschte an sie heran und legte einen Arm um sie, den sie aber gleich wieder abschüttelte.

»Es tut mir leid«, sagte Otto. »Ich weiß, es ist ein schwieriges Thema für dich. Ich hätte einfach den Mund halten sollen.«

»In der Tat«, murmelte Rike.

»Ich glaube trotzdem, dass ...«

»Otto ...«

»Ja?«

»Einfach den Mund halten.«

»Okay.«

Sie griff nach seinem Arm und zog ihn über sich, sodass sie aneinander kuschelten. Schließlich bemerkte sie etwas an seiner Hand.

»Du hast noch Tomate an den Fingern.«

»Ja. Im Gesicht auch.«

»Hättest dich ja waschen können.«

»Hätte ich, aber ich wollte erstmal nach dir schauen.«

Rike seufzte. Dann schwiegen sie eine Weile. Schließlich brach Rike die Stille. »Weißt du, warum ich glaube, dass sich alles ändert?«

»Nein«, murmelte Otto.

»Wir haben heute, ohne dass wir dafür Werbung gemacht hätten, einfach mal die fünffache Menge an Zypressen und Olivenbäumen verkauft.«

»Und?«

»Typisch griechische Pflanzen.«

»Und?«

»Meine Güte, du bist aber schwer von Begriff.«

»Dann erkläre es mir.«

Sie drehte sich zu ihm. »Wir haben auf der Website immer mal Schwankungen drin. Zum einen kaufen Leute natürlich Pflanzen je nach Saison. Zum anderen merkt man auch, wenn in irgendeinem Film eine bestimmte Pflanze vorkam oder es einen Trend im Internet gibt.«

»Pflanzentrends aus dem Internet?«

»Lass irgendeinen C-Promi eine Sukkulente in die Kamera halten, und Leute sind der Überzeugung, dass sie das schon immer brauchten. Die kaufen dann mehr oder weniger, weil besagte Pflanze halt gut oder schlecht wegkam. Aber dieser Anstieg bei den Zypressen und Olivenbäumen ist ... ungewöhnlich. Und ich kann mir das nur erklären, weil jetzt plötzlich diese Tiere aus der griechischen Mythologie auftauchen und die Leute denken, dass alles, was irgendwie griechisch ist, sie besser bei den Göttern dastehen lässt.«

Otto schaute skeptisch. »Darf ich was sagen?«

»Natürlich darfst du was sagen. Du sollst nur nichts Gemeines oder Dummes sagen.«

»Das lässt sich nicht immer vermeiden.«

»Was denn nun?«

»Du willst also sagen, dass eure Firma mehr griechische Pflanzen verkauft hat, weil es heute, nur ein paar Stunden nachdem da ein paar Fabelwesen aufgetaucht sind, Leute gibt, die plötzlich wieder an die griechischen Götter glauben?«

»Ja, genau.«

»Mein Gott, Menschen sind so bescheuert.«

»Weil sie an Götter glauben?«, fragte Rike spitz.

»Nee, dazu äußere ich mich jetzt nicht.«

»Na, immerhin hast du was gelernt«, sagte Rike und stand wieder auf. »Ich würde jetzt gerne weiter im Fernsehen schauen, was gerade die Welt verändert.«

Otto nickte.

Sie gingen beide zurück ins Wohnzimmer, wo der Fernseher immer noch lief. Rike setzte sich auf ihren Platz, während Otto ein paar Tomatenreste von der Couch nahm, bevor er sich setzte. Plötzlich rüttelte Rike ihn am Arm.

»Schau, ich habe es doch gesagt!«

»Was?«

»Schau ...«, insistierte sie und zeigte auf den Fernseher, wo die Nachrichtensprecherin Sühlfleisch in einem weißen Kleid saß, das erhebliche Ähnlichkeit mit einer griechischen Toga hatte. Motzenbäcker sah sie abschätzig an und fragte, ob ihr nicht kalt sei, aber Sühlfleisch ignorierte die Frage zunächst. Als der Kollege allerdings ein zweites Mal ihre merkwürdige Tracht ansprach, erklärte die Journalistin, sie wolle sich einfach an die korrekten griechischen Sitten halten.

»Siehst du?«, rief Rike. »Selbst bei der geht es schon los.«

Otto nickte und starrte auf den Fernseher, wo die nächsten beunruhigenden Bilder aus der Welt gezeigt wurden.

Die Nachrichten II

Auf dem Bildschirm erschien ein großer Strudel, offensichtlich von einem Hubschrauber aus gefilmt. Ein kleines Fischerboot wurde von der Macht des Stroms erfasst und trudelte für ein paar Momente am äußeren Rand umher, bis es in dem Schlund verschwand. Der dazugehörige Fischer, der anscheinend schon vorher von Bord gesprungen war, versuchte, etwas abseits des Strudels ein Motorboot zu erreichen, welches selber Schwierigkeiten zu haben schien, dem Sog zu entkommen. Gerade noch rechtzeitig konnte der Fischer ein ihm zugeworfenes Seil greifen, woraufhin das Motorboot Gas gab, um aus der gefährlichen Zone zu kommen.

Der Nachrichtensprecher Motzenbäcker schaute ernst in die Kamera. »Diese aufregenden Bilder wurden uns vom italienischen Fernsehen zur Verfügung gestellt, wo in der Straße von Messina plötzlich dieser riesige Mahlstrom aufgetaucht ist. Die italienischen Behörden haben bis auf weiteres jeglichen Schiffsverkehr zwischen Kalabrien und der Insel Sizilien eingestellt. Wissenschaftler sind sich noch uneins, was die Ursache für diesen Mahlstrom sein könnte ...«

»Aber es ist die griechische Mythologie, die wieder auftaucht«, warf Frau Sühlfleisch ein, was ihr Kollege durch einen irritierten Seitenblick quittierte.

»Vielleicht«, so Motzenbäcker, »sollten wir weniger spekulieren und zunächst auf genauere Erkenntnisse warten. Derzeit gibt es noch keine wissenschaftliche Erklärung dafür.«

»Aber es ist die griechische Mythologie«, sagte Frau Sühlfleisch erneut. »Und ich persönlich begrüße Zeus und alle griechischen Götter zurück auf Erden.«

Motzenbäcker schaute an der Kamera vorbei, als wolle er die Regie fragen, was zum Teufel er jetzt machen sollte, aber dann fasste er sich kurz ans Ohr, wo er offenbar über einen kleinen Stecker neue Informationen erhielt, und machte dann weiter.

»Ebenfalls aus Italien erreichen uns diese Bilder von der Festlandseite in Kalabrien, wo Tausende Menschen ihre Wohnungen und Orte verlassen.«

Es folgte ein Einspieler, der Menschen mit Koffern und Taschen zeigte, die sich zu Fuß oder in Autos auf den Weg machten, wobei recht eindeutig war, dass die Leute, die zu Fuß liefen, dies nur taten, weil die Autos hoffnungslos im Stau standen. Ein italienischer Reporter fragte eine Frau mittleren Alters, warum sie denn die Gegend verließ. Mit weit ausholenden Gesten erklärte sie, dass nach der Rückkehr von Charybdis nun alle erwarteten, dass auch Skylla erscheinen würde. Danach wurde wieder ins Studio geschaltet.

Motzenbäcker schaute ernst in die Kamera. »Für diejenigen unter unseren Zuschauerinnen und Zuschauern, die nicht in griechischer Mythologie bewandert sind: Charybdis war der Mahlstrom, der sich zwischen Sizilien und dem Festland befunden haben soll, und Skylla war ein Monster, das gegenüber von Charybdis an der Meerenge positioniert war und dort Seefahrer fraß. Offenbar glauben viele nun, dass eines dieser Monster wieder aufgetaucht ist.«

Frau Sühlfleisch zupfte ihre Toga zurecht. »Sie glauben nicht, sie wissen. Es ist ja offensichtlich, dass die griechische Mythologie wieder da ist.«

Herr Motzenbäcker sah unsicher von einer Kamera in die andere, und es entstand eine unangenehme Pause.

Frau Sühlfleisch setzte das Programm fort. »In Berlin versucht man unterdessen die Lage mit dem Cerberus von Spandau, wie man das Monster aus der U-Bahnbaustelle mittlerweile nennt, in den Griff zu kriegen. Vor Ort ist Laura Gurgel mit dem Generalmajor der Bundeswehr, Hieronymus Wallschläger.«

Das Bild wechselte nicht sofort nach Berlin, stattdessen konnte man noch kurz sehen, wie Herr Motzenbäcker sich zu Frau Sühlfleisch beugte und irgendwas Verärgertes sagte, weswegen sie ihn mit einem genervten Blick bedachte. Dann wurde umgeschaltet.

Frau Gurgel stand auf einem erhöhten Podest. In der Ferne konnte man zwischen ihr und dem in grauer Uniform gekleideten Generalmajor den Cerberus sehen, der mit seinen drei Köpfen hechelnd in drei verschiedene Himmelsrichtungen schaute.

Generalmajor Wallschläger stand mit auf dem Rücken platzierten Armen und mit stolzgeschwellter Brust vor Frau Gurgel. Sein schwarzes Barrett zeigte als Abzeichen einen stilisierten Panzer mit Eichenlaubumrandung.

»Herr General«, sagte Frau Gurgel, »der Verteidigungsminister hat Sie nach Rücksprache mit dem Innenminister damit beauftragt, militärisch gegen den Cerberus vorzugehen. Viele sehen das als eklatanten Verstoß gegen Artikel 87a des Grundgesetzes, wonach Streitkräfte nicht im Inneren des Landes eingesetzt werden dürfen.«

»Das ist natürlich eine Sicht der Dinge. Eine andere Sicht ist, dass es sich hier um einen Notstand handelt, dem die Polizei schlichtweg nicht gewachsen ist. In dem Fall ist es durchaus angedacht, dass die Bundeswehr zum Einsatz kommt. Außerdem erwarten wir natürlich noch die finale Abstimmung im Bundestag.«

»Aber die Frage ist doch, ob die Polizei wirklich alle Möglichkeiten ausgeschöpft hat. Sicherlich wurden ein paar Schüsse auf den Cerberus abgegeben, die ihm augenscheinlich nichts ausgemacht haben, aber ist der Einsatz der Bundeswehr nicht eine Eskalationsstufe, die zu diesem Zeitpunkt verfrüht erscheint?«

»Nein, nein«, sagte der Generalmajor bestimmt.

»Aber normalerweise sollten Soldaten nur im Katastrophenfall Hilfe leisten, wie beispielsweise beim Elbhochwasser. Jetzt wird allerdings darüber gesprochen, dass der Cerberus mit militärischen Mitteln im Inneren des Landes angegriffen wird. Ich kann nur annehmen, dass damit nicht Pistolen und Wasserwerfer gemeint sind.«

»Wir werden eruieren, wie wir genau vorgehen werden. Sicherlich ist der Einsatz auch von großkalibrigen Waffen bis dato nicht ausgeschlossen. Ich habe bereits die Verlegung eines Panzerbataillons angeordnet, welches sich der Sache, sollte es so weit kommen, annehmen wird.«

»Sie möchten ernsthaft mitten in der Stadt, vor Zuschauern und allem, mit Panzern schießen?«

»Auch die Möglichkeit eines Luftschlags möchte ich nicht ausschließen.«

Vereinzelt waren Buh-Rufe aus der Menge zu hören, die um die Plattform versammelt war, auf der Frau Gurgel und der Generalmajor standen.

Frau Gurgel schaute irritiert. »Sie erwägen, Berlin zu bombardieren?«

»Wir sprechen hier natürlich nicht von einer Flächenbombardierung. Das wäre sicher eine der äußersten Maßnahmen, die wir treffen würden. Ich gehe aber im Moment davon aus, dass wir das Monster bereits vorher besiegt haben werden.«

Erneut wurden Buh-Rufe laut. Eine Kamera schwenkte hinunter zur Menschenmasse. Etliche Schaulustige waren in Togen gekleidet, und einige Personen hielten Plakate mit Aufschriften wie »Kein Stuss mit Cerberus!« oder »Tierliebe ist Nächstenliebe!« hoch. Auch ein paar Personen in Waidmannskleidung hatten sich eingefunden, die ein Banner des deutschen Teckelvereins 1885 e.V. ausgerollt hatten und lauthals den Schutz des Riesenteckels forderten.

Als zurück zur anderen Kamera geschaltet wurde, sah Frau Gurgel gerade hinüber zum Cerberus, der sich auf den Rücken geworfen hatte und auf dem Boden herumrutschte, weil ihn offenbar der Pelz juckte. »Der Begriff Monster erscheint etwas übertrieben«, sagte sie.

Der Generalmajor schaute ernst. »Man sollte nicht vergessen, dass das Monster einen erheblichen Schaden verursacht und mehrere Menschen zum Teil schwer verletzt hat.«

»Aber bevor man gleich mit Panzern darauf losgeht oder eine Stadt bombardiert, könnte man doch zum Beispiel versuchen, ob man das Tier erstmal betäuben kann.«

Der Generalmajor schaute überrascht und verdrehte die Augen nachdenklich, als wäre ihm die Möglichkeit, es erst einmal mit weniger drastischen Maßnahmen zu versuchen, gar nicht in den Sinn gekommen.

Frau Gurgel warf ihm einen abschätzigen Blick zu. »Es stellt sich außerdem die ethische Frage, ob man ein Tier, von dem man derzeit annehmen muss, dass es einzigartig auf der Welt ist, überhaupt töten darf.«

»Es ist unsere Pflicht, die Bürger zu beschützen.«

»Indem man seltene Tiere, die offenbar nur ihre Territorialansprüche durchsetzen wollen, attackiert? Oder die Gegend, in der besagte Bürger leben, bombardiert?«

»Das ist Polemik, und meine Zeit ist zu kostbar dafür.«

Etwas unbeholfen zog der Generalmajor am Mikro, welches an seinem Revers angebracht war. Offenbar hatte er keine Lust mehr, das Interview weiterzuführen. Erneut wurden Buh-Rufe laut, und Frau Gurgel gab mit einem verdrießlichen Blick zurück.

Sühlfleisch nahm den Faden im Studio wieder auf.

»Unterstützung zum Plan, das Tier mit allen Waffen zu beschießen, gab es vom Berliner Bürgermeister, der auf einer Pressekonferenz im Roten Rathaus sagte, dass man das Tier zur Fortsetzung der Bauarbeiten schnellstmöglich beseitigen sollte. Sprecher der Grünen hielten dagegen, dass er nur von dem Umstand ablenken wolle, dass die U-Bahnverlängerung bereits weit über den Zeitplan hinaus sei und das Ganze zu einem weiteren Debakel wie der Bau des Flughafens BER werde.«

Wir sind die Band

Einige Tage später fuhr Rike das Auto auf das Feld in der Brandenburger Einöde, welches mit Flatterband abgesperrt und ganz offensichtlich als Parkplatz für die Veranstaltung gedacht war.

»Wie viele Leute erwarten die denn hier?«, fragte sie mit einem Blick auf die riesige abgesperrte Fläche.

»Offenbar ist das kleine Dorffest doch ein größeres Ding als gedacht«, sagte Otto, ebenfalls überrascht. »Andererseits ... bei unserem Glück haben sie mit tausend Wagen geplant, und nachher stehen hier nur fünf oder so.«

Rike seufzte. Ihrem Gesichtsausdruck nach schien sie etwas viel Kleineres erwartet zu haben. Sie fuhr in eine Ecke, die so nah an der Bühne war wie möglich, und stellte den Wagen ab.

»Was genau gibt es denn hier eigentlich zu feiern?«, fragte sie.

»Sinan schrieb in einer E-Mail, dass es sich um das Angerfelder Frühkartoffellegefest handelt.«

»Das was?«

»Irgendso’n Bauernding. Die Kartoffeln werden gepflanzt, also hat man einen Anlass, um sich ordentlich die Kante zu geben. Oder so.«

Rike schüttelte den Kopf, fragte aber nicht weiter nach.

Die mittägliche Frühlingssonne wärmte ein wenig, als sie aus dem Auto stiegen. Otto genoss die Strahlen, die sein Gesicht erreichten, aber Rike schloss ihren Mantel und steckte die Hände in die Taschen, nachdem sie den Wagen abgeschlossen hatte. Sie war eher von der frostbeuligen Sorte, also eine jener Personen, die schon die Heizung anmachen wollten, während er noch darüber nachdachte, ob man mal einen Pullover anziehen sollte. Manchmal fragte sich Otto, ob ihre Blässe damit zusammenhing, dass sie ständig fünf Schichten Kleidung trug. Allerdings neigte sie auch dazu, im Sommer wirklich schnell einen Sonnenbrand zu kriegen, während er knallbraun wurde. Es wäre vermutlich eine interessante evolutionstheoretische Frage, wo genau so eine Person wie Rike eigentlich natürlich zu verorten wäre. Zu anfällig für die Kälte in Skandinavien und zu anfällig für die Sonne in Mitteleuropa.

Rike schaute ihn verwundert an, weil er kurz die Frühlingssonne genoss. Dann erst bemerkte sie den übergewichtigen Typen mit Warnweste, der schnaufend auf sie zu rannte. Rike schaute ihm erwartungsvoll entgegen, während Otto seine Gitarre und den Rest seines Equipments vom Rücksitz nahm.

»Anscheinend ist sonst noch keiner von der Band da«, sagte er.

Mit hochrotem Kopf und einer auf der Stirn pulsierenden Ader kam der Warnwestenmann an, stützte sich allerdings erstmal schnaufend und vornübergebeugt auf seinen Oberschenkeln ab, bevor er irgendein Wort herausbrachte.

»Drei Euro«, keuchte er schließlich.